Die Lüge im Bett - Gaby Hauptmann - E-Book

Die Lüge im Bett E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Für Nina ist Brasilien ein Geschenk des Himmels: Es wird Zeit, Sven loszuwerden. Doch in Rio kommt es nicht nur zu turbulenten Ereignissen während der Dreharbeiten ihres Fernsehsenders, sondern ernsthaft neue Perspektiven in Sachen Liebe tun sich auf: Hals über Kopf verliebt sich Nina in den smarten Nic. Ihr Puls klopft, ihr Herz rast – nur Nic scheint es nicht zu merken ... Mit hinreißend leichter Hand und sprühendem Witz schickt Gaby Hauptmann ihre hellwache und erfrischend durchtriebene Heldin Nina in einen scheinbar undurchdringlichen Dschungel der Gefühle.

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Für meine Schwester Karin. Ganz ohne Lüge.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

15. Auflage 2010

ISBN 978-3-492-95661-1

© Piper Verlag GmbH, München, 1997 Umschlagkonzept: semper smile, München Umschlag: Cornelia Niere mit Bettina Steenbeeke Umschlagabbildung: Anna Kurkovska / shutterstock images (oben) / mauritius images / moodboard (unten)

»HAT ES DIR SPASS GEMACHT?«

»Mmh.«

»Was soll das heißen, mmh?«

»Natürlich hat es mir Spaß gemacht!«

»Wirklich? Du siehst aber nicht so aus!«

»Es ist dunkel. Wie willst du da sehen, wie ich aussehe!«

Er dreht sich um, sie liegt still neben ihm. Dann lauscht sie seinen regelmäßigen Atemzügen und ärgert sich, wie immer, am meisten über sich selbst.

Am nächsten Morgen sitzt Nina brütend an ihrem Schreibtisch. Nichts läuft momentan in ihrem Leben so, wie sie es sich vorstellt. Mit Sven hat sie in jeder Hinsicht den Höhepunkt überschritten. Aber sie fürchtet das offene Gespräch, weil er bei der privaten Fernsehanstalt, bei der sie als freie Redakteurin arbeitet, ihr Vorgesetzter ist. Sie weiß nicht, wie er auf eine Trennung reagieren würde. Sicherlich nicht mit Beförderung.

Nina seufzt und zwirbelt eine Haarsträhne. Auf der anderen Seite sieht sie mit Sven als Chef beruflich auch keine Zukunft. Er fördert und hemmt sie zugleich. Er gibt ihr zwar Aufträge, aber verhindert gleichzeitig ihren Aufstieg. Sie ist jetzt neunundzwanzig und von ihrem Ziel, es mit dreißig geschafft zu haben, weiter entfernt denn je.

Wütend starrt Nina Löcher in die Luft. Er lässt ihr einfach keine Chance! Den Drehauftrag in Brasilien, auf den sie so scharf war, bekommt ihre Kollegin Sarah, weil ein Kameramann mitfliegt, der angeblich ein Auge auf Nina geworfen hat. Meint zumindest Sven. Und sie ist machtlos.

Neidisch schaut sie zu Sarah hinüber, die gut gelaunt ihr Projekt vorbereitet. Seit Tagen hängt sie mit herausfordernder Fröhlichkeit am Telefon und organisiert mit ihrem brasilianischen Kontaktmann die Drehtermine, Unterkünfte, Interviewpartner. Eine Low-Budget-Produktion. Keine Kohle, wie immer. Deshalb ist Sarah Redakteurin, Autorin, Moderatorin und Aufnahmeleiterin zugleich. Wenigstens eine Funktion hätte Sven ihr übertragen können!

Nina zwirbelt die nächste Strähne ihres schwarzen Pagenschnitts. Gerade lacht Sarah laut nach Südamerika hinüber. Für den heißen Draht reicht das Budget offensichtlich. Nina mustert Sarahs lange Beine, die sie genüsslich unter dem Schreibtisch hervorstreckt. Könnte sie sich nicht wenigstens eines davon brechen? Kleiner Treppensturz? Dann müsste sie, Nina, einspringen.

Sei nicht so gemein, sagt sie sich gleichzeitig. Kündige, zieh bei Sven aus und werde erfolgreich! »Wenn du zurück bist, fliege ich erst mal in Urlaub!«, sagt sie unvermittelt zu Sarah, die erstaunt ihr Telefongespräch unterbricht.

»Ach, so?« Sarah verzieht ihren Mund spöttisch »Und Sven?«

»Ich fliege allein!«

Sarah grinst nachsichtig und flirtet auf Englisch weiter.

Blöde Kuh! Aber wie war das? Wegfliegen? Allein? Nina hat überhaupt kein Geld dazu. Sie ist das ärmste Mäuschen auf Gottes weiter Erde. Nina seufzt einmal tief, als die Tür aufgeht und Sven hereinkommt. Er streift sie mit einem schnellen Blick. Sarah beendet sofort ihr Telefonat in kühlem Geschäftston: »See you!« Und zu Sven: »Alles in Butter, die spuren gut, das wird ein Reißer!«

»Na denn!«

Er nickt ihr kurz zu, eine Spur zu wohlwollend, findet Nina, aber vielleicht macht er das ja nur, um sie zu ärgern. Dann nimmt er sich eine Tasse Kaffee. Nina beobachtet ihn. Er ist groß und blond, stolz auf seine unbehaarte Brust und seine mickrigen fünfzehn Zentimeter. Ein Jeanstyp, der auch im Anzug wirkt. Nina erinnert sich gut, was sie alles veranstaltet hat, ihn zu kriegen. Sie war rettungslos verliebt, sah in ihm ihren Prinzen, ihre Zukunft, ihr Leben. Schlichtweg alles. Zwei Jahre ist das her. Und jetzt?

Er rührt sich gerade fünf Würfelzucker in den Kaffee. Früher fand sie das witzig, jetzt nervt es sie. Zu Hause schüttet er in alles Süßstoff, um bloß kein Gramm zuzunehmen. Hier tut er so, als könne ihm Zucker nichts anhaben.

»Hast du deine Story zusammen?«, will er plötzlich von ihr wissen.

Fast hätte sie gefragt, welche Story denn? Aber sie kann sich gerade noch beherrschen. Sie hat mit der Recherche noch nicht einmal angefangen. Und überhaupt. Der Machtkampf bei Daimler interessiert sie nicht. Die Tochtergesellschaft Mercedes noch viel weniger. Sie fährt einen alten Golf ohne Chancen auf die nächste TÜV-Plakette. Mit dreißig wollte sie spätestens ein Cabrio ihr eigen nennen. Wollte sie.

Nina seufzt: »Mittagszeit. Habe noch keinen erreicht!«

Sven schweigt.

Nina zuckt die Schultern. »Um die Zeit arbeitet doch keiner!«

Außer mir, sollte das heißen.

»Außer Sarah!«, brummelt Sven.

»Kunststück«, faucht Nina, »in Rio ist jetzt nicht Mittag, sondern Vormittag!« Er runzelt die Stirn. »Falls du das nicht wissen solltest«, fügt sie giftig hinzu.

»Personalabbau dürfte ein Thema sein, über das sich die Leute auch in der Mittagszeit unterhalten. Oder sogar gerade in der Mittagszeit.« Er tritt an ihren Schreibtisch und schaut auf sie herunter.

»Die Arbeiter vielleicht«, entgegnet Nina gelangweilt. »Die Leitung sicherlich nicht!« Nina spürt Sarahs Blick in ihrem Nacken brennen. Sie weiß natürlich, dass Nina heute noch keinen Finger gerührt hat. »Und außerdem bin ich urlaubsreif!«, greift sie ihn an.

»Du spinnst!« Sven dreht sich um und geht zur Tür, dort bleibt er kurz stehen. »Daimler ist ein Auftrag! Keine Bitte! Zwei Minuten für die Nachrichten sind eingeplant! Du hast noch fünf Stunden Zeit.« Damit ist er draußen.

»Klappt’s nicht mehr so zwischen euch beiden?«, fragt Sarah unschuldig.

»Doch, klasse! Besser denn je!« Unter der Tischplatte ballt Nina die Faust.

Ihre Laune hat sich nicht gebessert, als sie spätabends den Sender verlässt. Sie ist unzufrieden – und das hat mit der Uhrzeit nichts zu tun. Sie ist es morgens, mittags und abends. Tief in ihr drin bohrt etwas, sitzt als Kloß im Magen, zieht die Mundwinkel nach unten. Fehlt nur noch, dass sie davon die ersten Falten bekommt.

Nina winkt dem Pförtner zu, er nickt freundlich: »Na, alleine?« Sie nickt zurück, zuckt bedauernd die Achseln. »Ja, ja, die Arbeit!«, sagt er wissend hinter der Glasscheibe und vertieft sich wieder in sein Kreuzworträtsel.

Die Nacht ist warm, fast erstaunlich warm für Ende November. Nina atmet tief ein, es riecht irgendwie nach Frühling. Soll es doch, das ändert auch nichts. Sie geht zu ihrem Wagen, der rostig im Dunkeln steht. Sven ist noch im Schneideraum, kommt später nach. Soll er doch, sie ist nicht scharf darauf. Richtig, denkt sie und schließt ihr Auto auf. Das ist es. Ich bin auf überhaupt nichts mehr scharf. Nicht auf meine Arbeit, nicht auf Sven, nicht auf mein Leben. Alles Mist, ich fahre zu Mutter!

ZURECHTTRÄUMEN

Ilse Wessel staunt nicht schlecht, als sie ihre Tochter völlig unerwartet vor der Tür stehen sieht.

»Nina, ist etwas passiert? So spät? Wo ist Sven?«

»Erstens ist es nicht spät, noch nicht einmal zehn Uhr, zweitens ist nichts passiert, und drittens ist es mir egal, wo Sven ist!«

»Habt ihr etwa Krach?«

»Wie kommst du bloß da drauf?«

Ilse Wessel schließt leise die Tür hinter Nina.

»Wo ist Vati?«

»Beim Stammtisch. Es ist Mittwoch!«

»Na, das trifft sich ja gut!«

Kopfschüttelnd geht ihre Mutter voraus ins Wohnzimmer. Wie immer läuft der Fernseher um diese Zeit, schön eingepasst in den maßgefertigten Einbauschrank, alles ist aufgeräumt, bürgerlich, spießig, in diesem Augenblick für Nina aber trotzdem warm und gemütlich. Denn hier ist sie aufgewachsen, am massiven Esstisch hat sie das Einmaleins gelernt und später fürs Abi gebüffelt. Ihn gegen einen neuen auszutauschen wäre unverzeihlich.

Ihre Mutter rückt ihr einen Stuhl zurecht. »Hast du Hunger? Magst du was essen?«, fragt sie.

Nina scheint gar nicht hinzuhören. »Warst du beim Friseur?«

Ninas Mutter hat sich ihre schlanke Figur bewahrt, die vierundsechzig Jahre sieht man ihr nicht an. Auch im Gesicht nicht, das noch immer zart und ebenmäßig wirkt. Nina hätte gern mehr von ihr gehabt, aber zu ihrem Leidwesen hat sie die derberen Gesichtszüge ihres Vaters geerbt. »Meine kleine Indianerin«, hat Sven sie anfangs liebevoll genannt. Aber für sie war die Anspielung auf ihre hohen, breiten Wangenknochen eher verletzend als schmeichelnd.

Ihre Mutter fährt sich schnell mit der Hand durch ihre stufig geschnittenen Haare und lacht: »Wie dein Vater. Der sieht auch nichts. Die Farbe trage ich jetzt schon seit drei Wochen!«

»Ach ja?« Nina schaut erstaunt hin. Für sie war der Schnitt neu, nicht die Farbe. Sie setzt sich seufzend.

Ihre Mutter schaltet den Fernseher aus und öffnet die Vitrine mit dem Sonntagsgeschirr. »Was möchtest du denn trinken?«

»Ein eiskaltes Bier – falls Vati eines übriggelassen hat!«

Sie weiß plötzlich nicht mehr, was sie eigentlich hier wollte. Mit Mutti über Sven reden? Unmöglich. Über ihre Arbeit? Ausgeschlossen! Über Sex? Völlig undenkbar!

»So, was ist denn nun los? Ist etwas mit Sven?« Ihre Mutter schenkt sich ebenfalls ein Bier ein.

»Es ist nichts! Oder doch! Beschissen ist es. Ja, genau das! Sagt dir der Begriff der inneren Kündigung etwas, Mutti?«

»Die Firma hat dir gekündigt?« Erschrocken beugt sich Ilse Wessel vor.

»Nein, nein. Ich! Ich habe gekündigt! Ich kündige zur Zeit alles. Jedem und allem! Verstehst du? Ich sprech’s nicht aus, aber eigentlich bin ich schon weit weg. Verstehst du das?«

Ilse Wessels Gesichtszüge verändern sich. Die Besorgnis der Mutter schleicht sich hinein, die Furcht, etwas könne schieflaufen, sie habe versagt, in der Erziehung, als Vorbild, bei der Unterstützung.

»Schläfst du noch mit Vati?« Nina taut auf. Der Sex ihrer Eltern war stets tabu. Sozusagen nicht existent. Ein Wunder, dass sie überhaupt auf der Welt ist. Aber jetzt will sie es wissen.

»Ob ich … ja, Nina, was ist denn das für eine Frage?«

»Wieso? Du brauchst ja bloß zu sagen, wie das so ist nach – warte mal – zweiunddreißig Jahren Ehe. Ist es nicht fürchterlich? Entsetzlich?« Sie beugt sich vor, wartet keine Antwort ab. »Ich bin jetzt zwei Jahre mit Sven zusammen und gähne mir dabei einen ab. Verstehst du? Das Prickeln im Bauch ist weg. Ich bin überhaupt nicht mehr in ihn verliebt. Wenn er mit mir schläft, denke ich über meinen nächsten Film nach. Manchmal muss ich direkt schon aufpassen, dass ich das Ende noch mitkriege. Verstehst du? Seinen Höhepunkt. Es ist … ich muss mich von ihm trennen!«

Ilse nimmt einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. Ein zartroter Schimmer überzieht jetzt ihre Haut.

»Du bist … warum? Kannst du dir das denn leisten?«

Kannst du dir das denn leisten? Da ist die Frage, die ihr seit ihrer Schulzeit durch Mark und Bein geht. Und sie verdient noch immer nicht genug, um ganz auf eigenen Beinen zu stehen. Weil sie wie ein Wickelkind an Svens Rockzipfel hängt. Gib mir Arbeit, gib mir Brot, liebe mich dafür, bis ich einschlafe! Was für ein Irrsinn, was für eine Falle.

»Ich kann es mir nicht leisten, verdammt! Aber ich will wieder Schmetterlinge im Bauch spüren, wenn ich mit einem Mann im Bett bin. Es ist so … gähnend langweilig!«

In einem Zug trinkt Nina ihr Glas aus. Sie zeigt auf das Hochzeitsbild ihrer Eltern. »Sag bloß, es ist bei euch noch so wie damals!«

Ilse Wessel schenkt ihr nach. »Doch«, nickt sie zögernd, »genau gleich!«

»Genau gleich gut oder genau gleich schlecht?«

»Euer Vater ist ein guter Vater. Er sorgt für uns alle, betrügt mich nicht, lügt mich nicht an.«

»Ja, ja! Aber im Bett, Mutti, im Bett! Wie hältst du das aus? Oder läuft gar nichts mehr?«

»Ich meine, das ist im Leben nicht so wichtig. Es gibt andere Werte. Dein Sven hat Erfolg, er sieht gut aus, er ist großzügig und ehrlich. Durch ihn hast du eine gute Arbeitsstelle, eine schöne Wohnung, bist versorgt. Und schließlich – du wolltest ihn doch unbedingt! Er war doch dein Traummann? Träum ihn dir im Bett doch einfach zurecht!«

Nina reißt die Augen auf. »Zurechtträumen? Machst du das so mit Vati? Einfach zurechtträumen?«

Ilse Wessel holt tief Luft. »Man kann nicht alles haben, Nina. Die Männer fürs Leben sind meistens nichts fürs Bett, und die fürs Bett sind meistens nichts fürs Leben! Irgendwann muss man sich entscheiden.«

Als Nina nach Hause kommt, ist es zwei Uhr morgens. Sven schläft schon. Sie geht leise durch die Wohnung. Ja, schön ist sie schon. Stuck an den hohen Decken, altes Parkett, große Flügeltüren. Sie allein könnte sich die mitten in Köln nicht leisten. Die Designermöbel auch nicht. Wieso habe ich eigentlich nie Geld?, fragt sie sich unglücklich und öffnet den Kühlschrank. Die letzte Flasche Bier reckt den Hals hervor. Selbst die hat Sven bezahlt. Nina schlägt die Tür zu, um sie gleich darauf wieder aufzumachen. »Ich kill dich jetzt!«, knurrt sie und greift nach dem Flaschenöffner.

Aus der Flasche trinkend steht sie kurz darauf vor dem Badezimmerspiegel. »Du bist alleine nicht lebensfähig«, prostet sie ihrem Spiegelbild zu. »Du bist zu blöd, richtig Kohle zu machen! Alle können das, nur du nicht!«

Nina nimmt einen tiefen Schluck. »Träum ihn dir doch zurecht! Auch wenn er dich im Sender wie den letzten Arsch behandelt. Sag danke und träum ihn dir zurecht. Er ist doch dein Traummann! Leck ihm die Eier und sag noch danke!« Die Flasche fällt ihr aus der Hand, poltert laut klirrend in das italienische Designerwaschbecken. Erschrocken greift Nina nach ihr. Das dicke braune Glas ist heil geblieben, nur das Waschbecken nicht. Mit dem Zeigefinger fährt Nina die tiefe Schramme entlang.

»Was zum Teufel …!« Sven steht in der Tür. Seine Haare stehen zerzaust zu Berg, er trägt nur eine kurze Pyjamahose.

»Ooh, guten Abend!« Nina stellt sich schnell vor das Waschbecken, die Flasche in der Hand.

»Willst du jetzt unter die Brücke ziehen, oder was?« Mit zusammengezogenen Brauen starrt er auf die Flasche.

»Ich, nein … ich hatte bloß Durst!«

»Dann komm jetzt endlich! Aber putz dir vorher noch die Zähne. Du weißt, ich kann Biergeruch nicht ausstehen!« Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und verschwindet wieder in Richtung Bett.

»Putz dir die Zähne!«, äfft Nina ihn nach und würgt den Flaschenhals mit beiden Händen. »Ich bring dich um!« Dann aber schleicht sie barfuß über die knackenden Holzdielen in Svens Arbeitszimmer, horcht mit klopfendem Herz in Richtung Schlafzimmer und sucht im Schreibtisch nach der kleinen Tipp-Ex-Flasche. Was auf weißem Papier Buchstaben überdeckt, könnte ja vielleicht auch in dem hellen Emaille dunkle Schrammen verschwinden lassen.

Während der nächsten Tage gibt sich Nina für ihre Begriffe relativ viel Mühe mit Sven. Teils, weil ihre Mutter mit der finanziellen Abhängigkeit recht hat, teils aus Dankbarkeit gegenüber Sven, weil er die übermalte Schramme bisher nicht erwähnt hat. Und das, obwohl er sein Edelbadezimmer eigens aus Italien hatte anliefern lassen. Aber ihr stockt jedesmal der Atem, wenn er ins Bad geht. Vorsichtshalber hat sie zwei Glühbirnen herausgedreht und behauptet, sie seien kaputtgegangen. Und sie spielte die sinnliche Verführerin, als sie sah, wie sich Sven zu lange und zu tief über das Becken gebeugt die Zähne putzte. Dabei ist es ihr nach wie vor nicht klar: Macht er sich einen Spaß aus ihrem schlechten Gewissen, oder hat er die Verunstaltung einfach noch nicht bemerkt? Könnte sie es im Fall der Fälle nicht vielleicht auf die Italiener schieben?

PANIK IM BÜRO

Am Dienstagmorgen erscheint Nina etwas später im Sender. Der Luxus der Freien, und Nina war es heute danach.

Als sie die Redaktionstür öffnen will, wird sie von innen so heftig aufgerissen, dass sie fast in den Raum hineingestolpert und gegen Sven geprallt wäre, der eben hinausstürmen will.

»Schön, dass du auch mal reinschaust«, schnauzt er sie an.

»Was ist denn los?« An ihm vorbei sieht Nina, wie Elke und Sabrina an Sarahs Schreibtisch stehen und wild darin herumkramen. Es herrscht augenscheinlich Panik im Büro.

»Wo warst du bloß?«, faucht er.

»Du weißt doch, dass ich …«

»Interessiert keinen Menschen! Unser Brasiliendreh ist am Platzen! Das interessiert!«

»Ach nee!« Nina bleibt stehen und schaut ihn an. »Warum denn das?«

»Weil Sarah die Windpocken hat. Seit heute Nacht. Sie kann morgen nicht fliegen. Ansteckungsgefahr. Wer setzt sich mit so einer schon in eine Maschine? Ganz abgesehen davon, dass sie hohes Fieber hat!«

Nina sagt nichts. Sie überlegt. Jetzt muss er den Dreh ihr anbieten. Er kann nicht anders.

»Sabrina, wenn du ihre Unterlagen gefunden hast, dann kommst du gleich zu mir ins Büro. Und lass den Flug auf dich umbuchen!«

Nein!, schreit es in Nina. Sabrina ist zu blöd für einen solchen Auftrag. Sie hat kürzlich das Feature über Celine Dion in den Sand gesetzt. Und bei der Frau hätte sie doch wirklich nur draufhalten müssen!

»Ich muss die ganze nächste Woche meinen Film über die Kölner Kulturszene schneiden. Und dann habe ich auch noch Abnahme. Und gleich darauf Sendetermin. Wie sollte ich das deiner Meinung nach schaffen?«

Überhaupt nicht!, gellt es in Nina.

»Dann fliegt eben Elke!«

Du Schwein! Ninas Magen krampft sich zusammen.

»Ich habe Sendung! Das weißt du doch! Warum fliegt nicht Nina?«

Oh, ich liebe dich, Elke, ich liebe dich! Nina hätte sie am liebsten geküsst.

»Ja, warum fliege nicht ich?«, fragt Nina unschuldig.

»Weil Leo ein geiler Bock ist!«, bricht es aus Sven heraus.

Völlige Stille, alle sind sprachlos.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, schüttelt Elke den Kopf. »Deshalb soll Nina nicht fliegen? Weil du Angst vor dem Kameramann hast? Das ist ja … ha!« Sie lacht schallend los.

Sven bereut seinen Ausbruch offensichtlich, seine Mimik und Gestik deuten auf Rückzug hin. Jetzt schnell, denkt Nina. Nutze die Gunst der Sekunde.

»Ich habe keine festen Termine die nächste Zeit. Ich könnte einspringen!« Mit einem treuherzigen Augenaufschlag lächelt sie ihn an.

Sven hebt abwehrend die Hände: »Wir haben noch andere Abteilungen!«

»Oh nein, das tust du nicht!«, empört sich Sabrina.

Oh Gott, Frauensolidarität. Viel davon gehört, nie gespürt. Und jetzt stecke ich mittendrin!

»Es …« Sven bricht ab, wendet sich zum Gehen. »Ich überleg’s mir!«

»Was, bitte, gibt’s da noch zu überlegen?«, hält ihn Elke scharf zurück. »Du kannst doch Nina nicht wie deine Leibeigene behandeln. Sklavin, Sadomaso oder sonst noch was?«

»Sagst du nichts darauf?« Herausfordernd schaut sie Nina an.

Die Tür knallt zu, und Sven ist weg.

»Ja, doch! Du hast völlig recht! Ich sehe auch keinen Grund, weshalb …«

»Ich glaub, ich spinne!« Elke mustert Nina wie eine Außerirdische. »Behandelt er dich immer so? Das lässt du dir gefallen?«

Nicht immer, aber immer öfter, liegt Nina auf der Zunge, sie beschränkt sich aber darauf, heftig den Kopf zu schütteln. Ganz bescheuert will sie vor ihren beiden Kolleginnen nun auch nicht dastehen. »Ich habe keine Ahnung, was er hat!«

»Eifersüchtig ist er. Hast du doch gehört!« Sabrina klopft Nina auf die Schulter. »Ausgerechnet auf Leo! Als ob du keinen anderen haben könntest!« Sie lacht lauthals und verächtlich über so viel männliche Dummheit.

Ja, als ob ich keinen anderen haben könnte! Aber Nina ist nicht nach Lachen zumute.

Eine halbe Stunde später bekommt Nina die telefonische Bestätigung von Svens Sekretärin, dass sie offiziell für Sarah einspringen soll. Sie versucht sofort, Sarah telefonisch zu erreichen. Es meldet sich der Anrufbeantworter. Regelmäßig und immer dringlicher bittet sie um Rückruf. Bis zum Abend ist sie fast panisch. Obwohl sie Sarahs gesamten Schreibtisch durchwühlt hat, konnte sie kaum Unterlagen zu den Dreharbeiten finden. Sarah muss sie bereits mitgenommen und verpackt haben. Was, wenn Sarah überhaupt nicht mehr in ihre Wohnung kommt, sondern im Fieberwahn bei ihren Eltern liegt? Nina schaut ins Telefonbuch. Braun ist zu häufig, keine Chance. Sie versucht, über die Personalabteilung irgendetwas herauszufinden, aber sie ist zu spät dran. Um fünf Uhr ist dort Feierabend. Auch sonst kann ihr im Sender keiner weiterhelfen. Nina legt eine Nachtschicht ein, ordnet jeden Schmierzettel, jede Telefonnummer, jede Notiz, die sie in Sarahs Schubladen findet, auf ihrem Schreibtisch zu einem undurchschaubaren Brasilienpuzzle. Sie schiebt Teile hin und her, starrt minutenlang darauf, dann gibt sie es auf und denkt nach. Sie hat die Nummer des Verbindungsmanns in Rio. Und außerdem das Thema: eine Reportage über Jugendliche, mit noch unbestimmtem Titel. Und es gibt ein Kamerateam plus Flugticket. Alles weitere muss sie dann eben sehen.

ABFLUG INS CHAOS

Sven bringt sie zum Flughafen, die fünf Mitarbeiter der freien Produktionsfirma sind schon da. Sie stehen um große Alukisten herum, in denen Kameras, Licht und Zubehör stoßsicher verstaut sind.

Sven schaut mürrisch zu Leo, dem Kameramann, der sich soeben leidenschaftlich von seiner Freundin verabschiedet. Nina beobachtet ihn ebenfalls. Leo sieht zwar gut aus, ist aber nicht ihr Typ. Er lässt seine Freundin los, gibt ihr zum Abschied einen Klaps auf den Hintern und zwinkert dabei Nina zu. Sie dreht sich rasch zu Sven um. Er hat es gesehen und runzelt die Stirn: Wenn da was ist, bring ich ihn um!, scheint er zu denken.

Unter den taxierenden Blicken von Leo fällt ihre Verabschiedung kühl aus. »Ihre Aufgabe ist es, gute Bilder mitzubringen!«, warnt Sven seinen mutmaßlichen Nebenbuhler. »Und sonst nichts!«

»Ich tu genau das, was Nina mir sagt«, antwortet Leo nur und grinst frech.

Sven macht auf dem Absatz kehrt und geht.

Nina fühlt sich etwas verloren. Bis auf Leo sind ihr alle fremd, sie ist unvorbereitet, hat keine Ahnung, was auf sie zukommt. Sarah hat sie bis zum Schluss nicht erreicht. Schlamperei, nicht im Sender anzurufen. So krank kann doch kein Mensch sein! Gott sei Dank hat Nina ihren Kontaktmann Bernd Rollnitz noch erreicht, der die neue Situation allerdings mit hörbarer Enttäuschung aufnahm. Sicherlich hatte er sich auf seinen kleinen Flirt gefreut. Aber zumindest beruhigte er sie, was die Dreharbeiten anging. Die meisten Interviewpartner habe ja ohnehin er organisiert, sodass zumindest diese Termine gesichert seien. Worüber Nina zunächst glücklich ist, obwohl sie auf der anderen Seite jetzt natürlich von diesem Menschen abhängig ist, was ihr eigentlich nicht passt. Sie würde lieber ihren eigenen Film machen.

Nina, von Natur eher zurückhaltend und schüchtern, gibt sich einen Ruck und stellt sich dem verschworenen Produktionsteam. Allein gegen alle, denkt sie dabei, aber sie weiß aus Erfahrung, dass die meisten Produktionsleute weniger Probleme mit wechselnden Gesichtern haben. Eher mit Inkompetenz, zögerlichem Verhalten, unklaren Entscheidungen und vor allem mit Redakteuren, die eine Einstellung fünf Mal wiederholen lassen, obwohl sie die Profis hinter der Kamera bereits für abgedreht erklärt haben.

Nina beschließt, Zuversicht zu mimen, begrüßt jeden Einzelnen mit Handschlag und erklärt allen kurz die Situation und ihre Funktion. Keinen wundert es, keiner hält sich darüber auf. Sie wird schon wissen, was sie zu tun hat.

Und sie weiß es. Zumindest für den Augenblick. Sie braucht Informationen über das Land. In der Abflughalle erspäht Nina einen Buchladen und deckt sich dort mit allem ein, was nur entfernt nach Brasilien aussieht. Wenn man es ihr auch nicht ansieht: Aber in ihrem Magen zwickt und zwackt es, und je näher der Abflug rückt, desto stärker werden ihre Zweifel. Keine vierundzwanzig Stunden Vorbereitungszeit, keinen vergleichbaren Film eines erfahrenen Kollegen angeschaut, keinen blassen Schimmer vom Land, von den Leuten, vom Thema. Ihr Wissen beschränkt sich auf Lambada, Tanga und Zuckerhut. Ist der Tanga überhaupt aus Brasilien? Das Chaos ist vorprogrammiert, sie spürt es in jeder Faser ihres Körpers. Fast wünscht sie, Sarah wäre wieder gesund und würde doch noch in allerletzter Sekunde auftauchen.

Aber keine Sarah, kein Entrinnen. Und dann ist es zu spät. Im Tross wird Nina ins Flugzeug geschoben und durch den schmalen Gang bis zu ihrer Sitzreihe gedrängt.

Ein kleiner Trost, sie sitzt am Fenster! Gut, sagt sie sich, während sie sich an zwei Japanern vorbei zu ihrem Platz zwängt, sich in den schmalen Sitz sinken lässt und nach dem Sicherheitsgurt sucht, jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück, jetzt musst du durch!

Der Start durch die Wolkendecke hindurch berauscht sie. Gleißendes Sonnenlicht zerstreut alle Bedenken, die Erde ist unter gigantischen Wolkentürmen verschwunden.

Nina atmet auf, lehnt sich zurück. Hier will sie bleiben, hier ist es gut. Als Erstes bestellt sie sich ein Glas Sekt, danach studiert sie die Zeitungsausschnitte über Jugendliche in Rio. Das zentrale Thema in diesem Zusammenhang ist Gewalt. Mehr als 8000 Morde in einem einzigen Jahr, liest sie in einer Statistik, 48 Raubüberfälle und 646 Diebstähle auf 100 000 Einwohner. Ihr fehlen die Vergleiche zu anderen Großstädten, aber die Zahlen kommen ihr gewaltig vor. Und dann stößt sie auf eine andere Information: Innerhalb von zehn Jahren wurden 6100 Kinder ermordet. Sie versucht sich diese Zahl bildlich vorzustellen. Es gelingt ihr nicht. Sie liest von dem Massaker an der Candelaria-Kathedrale in Rio. 1993 hatten dort mehrere Männer das Feuer auf siebzig schlafende Kinder eröffnet. Angeblich waren drei Militärpolizisten dafür verantwortlich. Acht Kinder starben. Der nächste Artikel beschreibt die Rolle der Kinder als Handlanger der Drogenbarone. Werden die Kinder erwischt, werden sie auf offener Straße erschossen. Mitten ins Gesicht, zur Abschreckung.

Nina schließt die Augen und versucht in Gedanken eine klare Linie für ihren Film zu finden. Die beschriebenen tatsächlichen Fälle von Gewalt, Folter und Mord verdrängen in ihrem Bewusstsein das Bild vom tanzenden, durchtrainierten und gebräunten jugendlichen Luxuskörper. Sie hat sich einige Namen von Personen herausgeschrieben, Namen von Drahtziehern, tatenlos zuschauenden Politikern, mitschuldigen Polizeiorganen und von Mitgliedern verschiedener Hilfsorganisationen.

Schließlich denkt Nina über Rollnitz nach. Keine Ahnung, wen oder was der organisiert hat. Irgendwie fühlt sie aber, dass er von diesem Elend und dem Unrecht nichts wissen will, sondern lieber eine heile Welt vorführt. Es hat sie stutzig gemacht, dass er gestern seine Unterlagen partout nicht nach Deutschland faxen wollte und beteuerte, sie hätten nach ihrer Ankunft noch genügend Zeit, alles zu koordinieren. Was sagte er noch wörtlich: »Schließlich habe ich ja bereits alles geregelt!«

Dieses penetrante Gockelgehabe geht ihr schon jetzt auf den Nerv. Wahrscheinlich auch wieder so einer, der alle Fäden ziehen will. Und zwar in alle Richtungen. Überall groß rauskommen. Bei den Senderbossen in Deutschland und bei den Machthabern in Brasilien.

Nina gähnt. Eine gefährliche Mischung. Und vor allem wird er versuchen, sich über dich hinwegzusetzen, sein eigenes Süppchen zu kochen! Also, Augen auf, altes Mädchen! Sie prostet sich zu und bestellt an den Japanern vorbei noch ein Glas Sekt.

Ihr Nachbar nickt Nina freundlich zu: »Your first time in Brazil?«

Nimmt denn sein Lächeln nie ein Ende? Sagt sie jetzt Ja, wird er sie in ein spannendes Gespräch über lohnende Fotomotive verwickeln, sagt sie Nein, wird er wissen wollen, welche Sehenswürdigkeiten sie schon fotografiert hat. Nina schaut ihn entschuldigend an und antwortet auf Französisch: »Presque!«

»Fast?«, fragt der zweite Sitznachbar ungläubig und schüttelt verständnislos lächelnd den Kopf: »How presque?«

Italienisch kann sie nicht. Russisch auch nicht. Deutsch kann er offenbar! »Das soll heißen, dass ich mit dem Finger auf dem Globus dort war!«

Beide brechen in helles Gelächter aus. Nina hat keine Ahnung, was daran so witzig ist, vielleicht haben die beiden sie ja auch missverstanden.

Heftiges Nicken. »Ja, ja!« Ihre Blicke heften sich unübersehbar auf ihre Oberweite. »Ja, ja!« Sie lachen unentwegt.

»Rund wie Globus!«, gluckst der eine und sticht mit seinem Finger mehrmals in die Luft, was für Nina bedrohlich nach einer Expedition in Richtung ihrer Halbkugeln aussieht. Hat Globus in Japan eine andere, zweite Bedeutung? Will er jetzt etwa auf ihrem Globus Brasilien suchen? Sie will gerade heftig reagieren, da serviert der Steward das bestellte Glas Sekt. Die Unterbrechung kühlt die beiden Herren ab, sie beginnen sich leise zu unterhalten. Nina nimmt einen großen Schluck und hört zu. Wahrscheinlich hecken sie japanische Schweinereien aus, denkt sie. Oder koreanische. Könnten aber auch taiwanesische sein.

Irgendwann schließt sie die Augen und lässt ihre Gedanken treiben. Eine Weile denkt sie noch über Brasilien nach, dann schieben sich andere, längst vergangene Bilder vor ihr geistiges Auge. Sie sieht die private Rundfunkstation wieder vor sich, bei der sie sich direkt nach dem Abitur beworben hat. Damals galten die privaten Radiomacher als Pioniere in der althergebrachten, festgefügten und verkrusteten Rundfunklandschaft. Ihre Bewerbung war ein Versuchsballon ohne rechten Glauben an den Erfolg. Was konnte sie einem solch jungen Medienbereich schon bieten? Nina erinnert sich noch genau an ihre Gefühle, als sie tatsächlich angenommen wurde und sogar einen Ausbildungsvertrag über zwei Jahre unterschrieb. Sie jubilierte vor Glück und Stolz, dachte, dies sei der Zenit, das Größte überhaupt. Danach würde nur noch der märchenhafte Aufstieg zur Radioprominenz kommen können.

Doch der Sender stand auf wackeligen Füßen. Die Geschäftsführer hatten vom Radiogeschäft nicht sehr viel mehr Ahnung als sie. Die guten, erfahrenen Leute suchten sich bald was anderes. Anfangs war sie darüber nicht unglücklich, denn so konnte sie bald an allen Hebeln sitzen. Mit ihrem Aufnahmegerät war sie ständig auf Streifzügen, schnitt ihre Beiträge selbst, bastelte Reportagen, Features, Kommentare. Sie fand alles toll, bis sie sich nach den zwei Jahren mit ihrem selbst erkämpften Know-how auf dem Medienmarkt umsah. Da musste sie feststellen, dass sie kein anerkanntes Volontariat hinter sich hatte. Eigentlich war sie nichts. Keine Journalistin, keine Redakteurin. Ein Wesen, das man bei Bewerbungen milde belächelte. Die arme Kleine. Sie blieb bei ihrem Sender, bis er nach einem Jahr vollends auf Musikprogramm umschaltete. Da war sie dreiundzwanzig. Und noch immer nichts. Schließlich ließ sich ein Anzeigenblatt erweichen. Es folgte die harte Schule der Karnickelzüchter, Musikvereine, Sportvereine. Und dann Gemeinderatssitzungen, Karnevalssitzungen, Treffen der Jungunternehmer. Am Ende hatte sie kapiert, wie dumm sie vorher gewesen war, dass sie jetzt aber den Stein der Weisen in der Tasche hatte. Trotzdem konnte sie noch immer kein richtiges Volontariat vorweisen. Dafür aber ein beachtliches Telefonregister mit den Geheimnummern der örtlichen Prominenz und eine Menge Bekannte aus allen Sparten des Gemeindelebens. Jeden Abend war sie unterwegs, beruflich und privat. Sie war die favorisierte Schreiberin, wurde zu jeder Veranstaltung eingeladen, zu jeder Privatparty.

Als der erste Erfolgsrausch vorbei war, bewarb sie sich bei allen möglichen Tageszeitungen, Illustrierten und Fachblättern in Deutschland. Außerdem bei allen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Und allen Fernsehsendern. Wochenlang schrieb sie Bewerbungen, gab ein Vermögen für Briefmarken aus und las wochenlang Absagen. Wenn überhaupt. Viele ignorierten sie einfach. Irgendwann sank ihr Mut. Sie war vierundzwanzig und haderte mit ihrem Schicksal. Ihre Mutter riet ihr zu einem Studium. Aber da bot ihr die Tageszeitung, der ihr Anzeigenblatt angehörte, aus heiterem Himmel ein ordentliches Volontariat an. Sie griff zu und war mit sechsundzwanzig endlich Redakteurin. Mit siebenundzwanzig brach dann Sven über sie herein. Er befreite sie aus der sicheren, gut bezahlten Stellung in der Provinz und brachte sie als freie Mitarbeiterin eines Privatsenders nach Köln. Alle ihre Wünsche gingen in Erfüllung. Köln! Fernsehen! Ein Traum von einem Mann! Mit einem Traum von einer Wohnung! Und einen tollen Wagen fuhr er obendrein. Kurzum, der perfekte Schwiegersohn für ihre Mutter! Selbst ihr Vater war gewillt, mit seiner Tochter und ihrem neuen Freund zu Abend zu essen. Und Nina pflegte sich plötzlich. Legte Wert auf gutes Aussehen, stieg vom Journalisten-Nonchalance-Look um auf Journalistin von Welt, vorzugsweise in Schwarz. Sie färbte sich ihre dunkelbraunen Haare kohlrabenschwarz, ließ sich aus kreuznormal schulterlang einen Pagenschnitt schneiden und kaufte sich zwei Paar schwarze Schuhe mit Blockabsatz. Und gehörte fortan dazu, zur Gilde der neuen Medienmacher in Deutschland!

Nina zwirbelt an einer Strähne ihres teuren Haarschnitts und bestellt sich noch ein Glas Sekt.

Sie seufzt. Aber nicht jeder war von ihrer Radikalveränderung begeistert. In ihrer Heimatgemeinde, eine halbe Stunde von Köln entfernt, hielten sie sie für ziemlich abgedreht, und ihre Busenfreundin Karin hat ihr vorgeworfen, sie würde eine Rolle spielen, sich selbst verleugnen. Außerdem passe Sven nicht zu ihr. Der sei doch nur auf Show aus. Oberflächlich und geltungsbedürftig.

Und sie, Nina, mit jetzt fast dreißig? Sie fand den Wechsel gut. Eine weitere Zwischenstation in ihrem Leben. Die wirklich großen Dinge kommen erst noch.

Mit einem entspannten Lächeln schläft sie ein.

RIO DE JANEIRO

In Rio empfängt sie Bernd Rollnitz. Er trägt ein buntes Seidenhemd, ist braun gebrannt, auch auf seinem kahlen Schädel. Kein einziges Kopfhaar, das verriete, ob er ehemals dunkelhaarig oder blond war. Die stechenden blauen Augen und die buschigen, aschfarbenen Brauen lassen Nina allerdings auf blond tippen. Er wirkt aufgeschwemmt, und das erstaunt Nina. In ihrer Vorstellung stand in Rio die Körperkultur an erster Stelle. Bei Bernd ist es wohl eher der Alkohol. Und er wirkt auch nicht wie der dominante Macher, den Nina erwartet hat, sondern wie ein dienstbarer Mitläufer. Keiner, der ihr die Führungsrolle streitig machen wird, aber auch nicht gerade ein fester Rückhalt in brenzligen Situationen.

Sie beobachtet, wie ihr Gepäck in einen Bus verladen wird. Kisten um Kisten, Koffer um Koffer. Es gibt keine brenzligen Situationen, denkt Nina, einen Film über Jugendliche in Brasilien kriegst du allemal zusammen! Mit oder ohne Bernd Rollnitz.

»Können wir uns im Hotel dann gleich mal zusammensetzen?«, fragt Leo beim Einsteigen.

»Klar, das wird das Beste sein.« Nina nickt und denkt, jetzt schlägt dir die Stunde. »Wann kommt der Regisseur eigentlich?«, fragt sie Bernd, der sich mit einem großen Taschentuch über die Glatze wischt.

»Mit einer späteren Maschine. Ich zeige euch jetzt erst mal das Hotel!«

Das ist Nina recht, denn es ist feuchtheiß, und unter ihrem schwarzen Anzug kündigt sich bereits ein Sturzbach an. Im Bus ist es dagegen so kühl, dass ihr der nasse Schweiß kalt am Rücken klebt. Du wolltest es nicht anders, sagt sie sich und schaut aus dem Fenster. Rio de Janeiro! Sie fahren auf hohen Stelzen auf der Linha Vermelha, der Straße, die eigens für den Umweltgipfel der Vereinten Nationen 1992 gebaut wurde. Nina hat im Flugzeug darüber gelesen, weiß, dass es eine Art Kosmetik war, um stinkende Kanäle und Elendsviertel elegant darunter verschwinden zu lassen. Trotzdem ist sie beeindruckt, als sie in der Postkartenwelt der Lagoa ankommt und die weiße Christusfigur auf dem Corcovado sieht. Und den Zuckerhut. Sie kann es noch gar nicht fassen, dass sie das tatsächlich mit eigenen Augen sieht! Es ist wie in einem Reiseprospekt!

Dann fährt der Bus am endlos breiten, himmlisch hellen Strand entlang und biegt schließlich in eine der abgehenden Straßen ein.

»Jetzt bin ich aber gespannt«, sagt Nina zu Tom, dem Tonmann, der neben ihr sitzt.

Er sagt eine Weile nichts, bis er beim Anblick einiger Transvestiten am Straßenrand brummelt: »Ja, da bin ich auch gespannt.«

Der Bus hält. Nina und Tom schauen sich erstaunt an. Ein Hotel ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Das Gebäude vor ihnen sieht eher wie eine heruntergekommene Mietskaserne aus. Eine dunkle Passage mündet in eine Glastür mit zahlreichen Klingelschildern. In die vordere linke Hausecke zwängt sich eine schmuddelige kleine Kneipe, abgerissene Veranstaltungsplakate schmücken die blinden Fensterscheiben.

Die Bustür öffnet sich langsam.

Bernd Rollnitz erhebt sich schwerfällig und dreht sich zu den ungläubigen Gesichtern um. »Nicht ganz so luxuriös«, entschuldigt er sich, »aber Low Budget – ihr wisst schon!«

»So low kann ein Budget überhaupt nicht sein!« Leo schaut Nina anklagend an. Will er jetzt sie dafür verantwortlich machen?

»Ich bin nicht die Produktionsleitung! Ich hatte keine Ahnung!«

Sie rutscht aus der abgewetzten roten Kunstlederbank heraus.

»Was nicht gerade für dich spricht!« Leo schnappt seine Kamera, die er während der Fahrt wie ein Baby behutsam auf dem Schoß gehalten hat, und springt aus dem Bus.

Es ist eine echte Absteige, in die Bernd sie so selbstbewusst führt, als sei dies das Natürlichste auf der Welt. »Da habt ihr’s nicht so weit«, flüstert er, als er Nina an der Rezeption außer Hörweite wähnt. Keiner geht darauf ein.

Leo drückt auf den Liftknopf. »Kommt ihr gleich mit?«

»Nein, wir müssen erst mal alle Kisten aus dem Bus holen!«, entgegnet Herbert.

Nina muss lachen. »Glaubt ihr allen Ernstes, die seien in diesem Etablissement hier sicherer als im Wagen?«

»Wenn wir drauf schlafen, schon!«

»Na, dann viel Spaß!«

Der Lift hält, bietet aber höchstens drei Personen ohne Gepäck Platz.

»Wir sehen uns später.« Nina geht an den verdutzten Männern vorbei hinein und drückt auf den Knopf für die dritte Etage.

Eine einsame Glühbirne erhellt den Flur. Nina schleppt ihren Koffer vor die Zimmertür mit der aufgemalten 34. Sie schließt auf, tappt mit geschlossenen Augen hinein, um das Elend nicht sofort sehen zu müssen. Mein Gott, wenn dich jemand so sieht, denkt sie dabei, die nehmen dich nie mehr für voll! Dann blinzelt sie vorsichtig durch den linken Wimpernrand. Ein Schlauch von einem Zimmer, so viel ist zu erkennen. Sie öffnet die Augen. Du lieber Himmel. Das wäre das Fegefeuer für Sven! Hier könnte er seine Sünden büßen! Ein heruntergekommener, ehemals weiß gekalkter Raum mit undefinierbarem Teppichboden, einem alten Schrank und kräftig durchgearbeitetem Bett. Die halb heruntergelassenen Rollläden tauchen Gott sei Dank alles in ein freundliches Halbdunkel. Grelles Tageslicht wäre auch zu störend für die empfindsamen Kakerlaken. Eine huscht direkt vor Ninas Füßen quer durch den Raum. Nina weicht instinktiv einen Schritt zurück. Hätte sich das Tierchen nicht bewegt, wäre sie sicherlich draufgetreten. Denn auszumachen ist es auf dem grauschwarzen Boden kaum. Wie groß wohl die Familie dieses Tierchens sein mag? Das hält sie nicht aus! Sie will ein anderes Zimmer. Auf dem Weg zur Rezeption überlegt sie krampfhaft, was Kakerlake auf Englisch heißt. Ob ein anderes Zimmer überhaupt etwas nützt?

Vor dem Lift trifft sie auf Tom. Sie fragt ihn, ob er auch Kakerlaken in seinem Zimmer habe.

»Keine Ahnung«, entgegnet er und zuckt gleichgültig seine breiten Schultern. »Aber könnte schon sein, jetzt, wo du es sagst.« Er hebt den rechten Fuß. Platt klebt eine schwarze Schabe mit ausgestreckten Beinen an der Ledersohle. »Oh, entschuldige«, sagt er und stapft unverdrossen in den Lift. Nina ist sich nicht sicher, ob die Entschuldigung ihr oder dem Insekt galt.

»Macht dir das nichts aus?«, fragt sie, während sich der Lift schüttelnd in Bewegung setzt.

»Was?« Tom schaut sie fragend an. Anscheinend hat er es schon wieder vergessen. »Ach das. Damit muss man leben!«

Der Lift hält mit einem Ruck, Tom geht zum Getränkeautomaten. »Du auch?« Nina würde schon gern, aber sie muss erst noch Geld wechseln. Sie schüttelt verneinend den Kopf und drückt wieder auf die dritte Etage. Es hätte keinen Sinn, hysterisch zu werden. Sie betrachtet den Fußboden. Toms toter Passagier hat auf dem Linoleum ein Andenken hinterlassen.

Kaum hat sie den Koffer auf die geblümte Tagesdecke gelegt und geöffnet, da klopft es. Es ist Leo. »He, gemütlich bei dir!« Er sieht sich bewundernd um.

»Ja, danke, bei meiner verantwortungsvollen Aufgabe benötigt man einfach ein bisschen Komfort!« Nina klappt den Kofferdeckel wieder zu. Sie hat nicht vor, hier etwas auszupacken.

»Hast du ’ne Minute Zeit? Wir sollten uns mit deinem Kontaktmann mal über den Dreh unterhalten. Wegen des Materials und so!«, sagt Leo. Es wäre eigentlich ihre Aufgabe gewesen, die Leute zusammenzutrommeln. Aber Leo scheint kein Problem mit irgendwelchen Kompetenzen zu haben. »Warum Frauen bloß immer die besten Zimmer bekommen?«, knurrt er beim Hinausgehen.

»Wie bitte?!« Nina schließt die Tür sorgfältig hinter sich ab.

»Tatsache! Du kannst mich gern besuchen und dir mein Schlafgemach mal anschauen!« Nina beäugt ihn misstrauisch. Aber Leo scheint tatsächlich keine Hintergedanken zu haben. Man stelle sich vor: Seinetwegen wollte Sven sie nicht fliegen lassen. Darüber muss sie jetzt fast lachen. Der hat ja keine Ahnung von Männern, denkt sie sarkastisch. Selbst im engen Aufzug verhält sich Leo äußerst zurückhaltend.

Bernd Rollnitz wartet bereits vor einem Getränk in einer Ecke des Cafés. »Wenn ihr Geld tauschen müsst …?« Er nickt in Richtung Tresen. »Der Kurs ist hier besser als bei der Bank!«

Nina wechselt 100 Mark und kommt sich dabei vor wie in einer illegalen Spielhölle. Gleich würde der Laden durch eine Spezialeinheit gestürmt werden.

Aber alles um sie herum wirkt wenig temperamentvoll. Eher träge, auf Zeitlupentempo reduziert. Der Brasilianer an der Bar schiebt ihr einige abgegriffene Scheine in verschiedenen Größen hin. Dazu spannt er kurz seine Brustmuskeln unterm weißen Unterhemd und flüstert ihr etwas zu, das Nina nicht versteht, aber trotzdem höflich lächelt. Schnell setzt sie sich zu Bernd und Tom.

»Keine Angst, er betrügt nicht. Er kennt mich«, nuschelt Bernd. Kann er Gedanken lesen? Wahrscheinlich kassiert er Provision.

»Was trinken Sie denn da?« Nina mustert das dicke Wasserglas mit der hellen Flüssigkeit, dem gestampften Eis und den Limonen. Sieht gesund aus. Nach Zitronensaft. Sicherlich ein Mittel gegen die Hitze.

»Caipirinha. Wollen Sie mal kosten?« Er schiebt ihr das Glas hin, sie betrachtet den Strohhalm, den er eben noch in seinem fleischigen Mund hatte.

»Nein, danke. Ich bestelle mir das Gleiche!«

Leo grinst breit, und Bernd ruft etwas auf Portugiesisch.

Nina fragt nach dem Regisseur. Keiner aus der Gruppe habe schon mit ihm zusammengearbeitet, erklärt Leo, aber er sei wohl ein Spezialist für schnelle Schüsse.

Nina fragt sich laut, wozu sie überhaupt einen Regisseur brauchten. Bisher habe sie ihre Filme immer selbst gedreht.

Leo verdreht demonstrativ die Augen. »Filmchen, meine Süße. Filmchen. Wir sprechen hier von einer Reportage von zwanzig Minuten Länge. Nicht zwei Minuten. Das ist wie mit den Zentimetern. Die Länge macht’s!«

Ninas Schlagfertigkeit fällt einem ersten, tiefen Schluck aus ihrem Glas zum Opfer. »Was ist denn das?«, keucht sie.

»Caipirinha«, erklärt Bernd nachsichtig, »ist das brasilianische Nationalgetränk.«

»Ich dachte, es sei Zitronensaft!«

»Ist es ja auch. Zu einem Teil zumindest. Und nicht Zitronen, sondern Limonen!«

»Und der Rest?«

»Zuckerrohrschnaps, cachaca!«

»Du meine Güte! Und das am helllichten Tag.«

Nina erspart sich jedes weitere Wort zu diesem Thema. Sie bestellt sich eine Cola, das ist international, und dabei kann nichts schiefgehen. Sie hätte zwar lieber ein Mineralwasser getrunken, aber noch ein Experiment muss vor den anderen auch nicht sein.

Bernd hat seinen Terminplan dabei. Für heute Nacht sind Aufnahmen in einer Sambaschule vorgesehen. Also steht heile Welt auf dem Programm, ganz wie Nina sich das gedacht hat. Oder hat es einen anderen Hintergrund? Einen, den sie nicht kennt? Gibt es in der Sambaschule einen Verbindungsmann, eine Organisation, irgendetwas anderes als nur Tanz und Folklore? Soll sie eine weitere Blamage riskieren und Bernd fragen? Nina zieht ihr Glas heran und nuckelt ein bisschen an ihrem Strohhalm.

Sie schaut in Bernds feistes Gesicht, das gibt den Ausschlag. Sie wird warten. Sinn und Zweck der verschiedenen Drehorte hat Sarah garantiert mit dem Regisseur besprochen. Wenn er am Nachmittag eintrifft, reicht das noch allemal für eine genaue Absprache. Nina lehnt sich zurück und grinst. Man muss sich nur anpassen. Anderes Land, anderer Rhythmus. Langsam, langsam, keine Hektik. Brasilien beginnt entspannend auf sie zu wirken. Oder ist es die Caipirinha? Am liebsten würde sie sich jetzt einen Mittagsschlaf gönnen – trotz ihrer Haustierchen. Nina stochert mit dem Strohhalm in der Cola und nimmt noch einen Schluck. Sie wird heute nach den Dreharbeiten eine Caipirinha ausprobieren. Vielleicht versöhnt sie ein solcher Schlummertrunk ja mit ihrer krabbelnden Umgebung. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie, wie Bernd nachbestellt. Es muss in der kurzen Zeit sein viertes, wenn nicht gar fünftes Glas sein. Ob er direkt in der Kakerlakenzentrale wohnt? Als König der Schaben und Kerbtiere?

Auf dem Weg in ihr Zimmer verlangt sie an der Rezeption nach dem Telefon und versucht noch einmal Sarah zu erreichen.

In der Redaktion ist nur noch Elke. »Wie vom Erdboden verschwunden«, sagt sie. »Wieso? Gibt’s Probleme?«

»Probleme? Nein, überhaupt nicht!«

Bloß keine Probleme! Probleme signalisieren, dass man alleine nicht klarkommt. Nina hinterlässt ihre Telefonnummer und versucht dann Sven zu erreichen. Zu Hause springt der Anrufbeantworter an. Sie schildert kurz die Lage und legt auf.

Diesmal nimmt sie die Treppen. Das baut den Alkohol schneller ab, den sie trotz des winzigen Schlückchens spürt. In ihrem Zimmer schaut sie sich mit Bernds Unterlagen unter dem Arm skeptisch um. Nein, hier kann sie die nicht durcharbeiten, dazu graust es ihr zu sehr. Aber bevor der Regissseur eintrifft, will sie wenigstens wissen, worüber sie spricht. Zunächst einmal muss sie sich dringend umziehen. Der schwarze Anzug ist völlig fehl am Platz.

Sie hat eben, mit vorsichtigen Blicken auf den Fußboden, eine kurze alte Jeans und ein T-Shirt übergestreift, da klopft es. Es ist Leo.

»Schreibst du für uns mal so ’ne Art Dispo, damit wir ungefähr wissen, wo’s die nächsten Tage langgeht?«

»Ich muss mich erst selbst mal durch Bernds Material kämpfen und einen Überblick kriegen. Aber ich wollte gleich damit anfangen!«

»Gleich geht nicht – der Regisseur ist da. Heißt übrigens Nic Naumann. Er will dich im Frühstücksraum sprechen!« Sagt Leo, und damit ist er weg.

Nina fährt sich kurz mit den Fingern durch die Haare. Jetzt muss sie auftreten wie eine Frau von Welt. Bloß keine Unsicherheit anmerken lassen, sie hat alles fest im Griff. Wie immer.

Sie klemmt ihre Papiere unter den Arm und geht nach unten. Schwungvoll öffnet sie die dunkelbraune Lacktür zum Frühstücksraum, setzt ein selbstsicheres Lächeln auf. Aber es erstirbt ihr sofort, ihr Herz schlägt schneller, ihr Adrenalinspiegel steigt, ihr Kopf wird heiß.

Er ist schwarzhaarig, trägt die Gesichtszüge von Rock Hudson in seinen besten Jahren und die Figur von Kevin Costner. Da steht er, der Mann ihrer Träume. Nina schmilzt auf der Stelle dahin. Liebe auf den ersten Blick, denkt sie und schluckt. Wenn er jetzt nicht schwäbelt oder sächsisch spricht, dann macht sie ihm sofort einen Heiratsantrag.

Er mustert sie freundlich, aber distanziert. Nina spürt, wie ihre Selbstsicherheit vergeht. Er reagiert überhaupt nicht auf sie. Sie begrüßt ihn und betrachtet geistesabwesend sein weißes T-Shirt und die schwarze lange Leinenhose. Warum hat sie sich bloß umgezogen! Klar, dass sie in ihren alten Klamotten keine gute Figur macht. Und sie hat noch nicht einmal in den Spiegel geschaut. Sicherlich hat sie Schweißspuren auf ihrem Make-up, die Wimperntusche ist verlaufen, ihre Haare sind verklebt – und das Schlimmste, sie hat gut drei Kilo zu viel auf den Knochen! Scheiße!

Leo kommt herein. »Ich dachte, es ist das Beste, wenn ich mich dazusetze. Dann kann das Chaos seinen Lauf nehmen!«

»Chaos?«, fragt Nic verdutzt. Seine Stimme ist tief, samtweich.

Ein Panther, denkt Nina und seufzt.

»So schlimm?«, fragt Nic sie, und Nina nickt schnell.

Nic weiß von überhaupt nichts. Noch nicht einmal, dass eigentlich eine Sarah das Projekt vorbereiten sollte. Nina fällt aus allen Wolken: Nic wurde von Sarah überhaupt nicht instruiert. Ihr schwirrt der Kopf, sie muss Farbe bekennen. Es gibt kein Drehbuch, noch nicht einmal ein Exposé. Es gibt nur ein Puzzle, zusammengesetzt aus Interviews mit Leuten, von denen Nina noch nie etwas gehört hat – das ist alles! Ein Dreh ins Blaue.

»Das kann ja heiter werden!« Nic lehnt sich in seinem Stuhl zurück, Leo schaut zur Decke, und Nina fühlt sich, typisch Frau, für den Schlamassel verantwortlich und schweigt schuldbewusst.

LAND UNTER

Spätabends kommt ein Bus, der sie zu der Sambaschule bringen soll. Als Nina erfährt, dass sie dazu in die Favelas, die Armenviertel von Rio, fahren müssen, ist sie freudig überrascht. Ganz so farblos, wie sie befürchtet hat, wird der Dreh also nicht werden. Gespannt, aber auch etwas beunruhigt, weil es nach Regen aussieht, steigt sie in den Bus ein.

Sie sind kaum zehn Minuten unterwegs, da fängt es an zu schütten, wie es nur in den Tropen gießen kann. Der Bus schlingert, bleibt zeitweise einfach stehen. Sturzbäche rauschen über die Straßen.

Nina verkriecht sich in ihren Laptop und schielt immer wieder zu Nic, der anscheinend ungerührt nach draußen starrt. Nina schaut auf ihre Armbanduhr. Schon fast elf. Um zehn wollten sie dort sein. Um Mitternacht packen die Tänzer alles zusammen.

Nina schaut schräg nach vorn zu Nic. Warum hat er sich nicht neben sie gesetzt? Sie hätten manches miteinander besprechen können!

Sie mustert ihn von Kopf bis Fuß. Er hat so eine zurückhaltende, fast aristokratische Ausstrahlung. Sie holt tief Luft. Dieses klassische, edle Profil. Eine gerade, ebenmäßige Nase, ein kräftiges Kinn. Das weist auf Durchsetzungsvermögen hin. Sagt ihre Mutter. Die hat sie stets vor fliehenden Kinnen und dünnen Lippen gewarnt. Er hat keine dünnen Lippen. Sie sind geschwungen, sinnlich.

Ob er verheiratet ist? Kinder hat? Sicher. Sie schätzt ihn auf Mitte dreißig. Zumindest wird er eine Freundin haben. Ein blondes Klasseweib, groß, schlank, biegsam, intelligent, reich! Mist! Und sie sitzt da und träumt ihn sich zurecht!

Sie zieht die Beine hoch, umschlingt sie mit den Armen. Der Regen platscht vom Busdach am Fenster herunter, sie fühlt sich wie hinter einem Wasserfall.

Als sie endlich ankommen, ist es fast Mitternacht. So plötzlich, wie der Regen begonnen hat, hat er auch wieder aufgehört. Die Erde dampft, und der Lehmboden vor der Sambaschule hat sich in zähen Schlamm verwandelt. Nina und Nic balancieren vorsichtig über die ausgelegten schwimmenden Bohlen zum Toreingang, um die Lage zu inspizieren. Die Schule besteht eigentlich nur aus hohen gekalkten Mauern. Eine Art Vorhof zu einem kleinen, überdachten Gebäude, das sich längsseitig anschließt. Könnte auch ein Gefängnishof sein, überlegt Nina.

Frauen in weißen Rüschenkleidern tanzen zu ohrenbetäubenden Klängen. Ihre Röcke bauschen sich in der Bewegung, fächern sich in viele Unterröcke auf, wippen nach vorn und hinten, es wirkt wie ein grandioses Hochzeitsfest mit unzähligen ausgeflippten Bräuten. Ein weiß gekleideter Mann kommt auf sie zu, sagt etwas, aber es ist unmöglich, ihn zu verstehen. Gemeinsam gehen sie hinaus. Er versucht ihnen klarzumachen, dass die Tänzer gleich aufhören würden. Leider seien sie zu spät dran. Nina erklärt die Situation und beschwört ihn, eine halbe Stunde weiterzumachen. Sie spürt, wie Nic sie groß anschaut. Es ist ihr auch klar, dass in einer halben Stunde das Licht sicherlich noch nicht aufgebaut ist, aber irgendwo muss sie ja ansetzen. Ihr Gegenüber zuckt die Achseln und geht.

»Heißt das jetzt ja oder nein?«, fragt Nina ratlos Nic, aber der zuckt auch nur die Achseln. Er schaut zum Bus, wo alle untätig herumstehen und nicht wissen, was sie nun tun sollen.

»Na, schön, gehen wir’s an!« Nic gibt ihnen einen Wink, und Leo und die anderen beginnen die technische Ausrüstung auszupacken, im Nu umlagert von jungen Brasilianern. In der Zwischenzeit versuchen Nina und Nic, im Innenhof mit den Tänzern ins Gespräch zu kommen. Zwei schlanke junge Männer bringen zwei aufwendige Kostüme, fragen, ob sie die für die Dreharbeiten anziehen sollten. Nina ist begeistert. Wird aber lange dauern, deutet der eine an. Das ist Nina sehr recht, je länger, desto besser. Sie beobachtet, wie Herbert zusammen mit Gerd, dem Assistenten, Licht setzt, und ist froh darüber, dass sie so viel Material dabeihaben.

Ende der Leseprobe