Die Macht der Geografie - Tim Marshall - E-Book

Die Macht der Geografie E-Book

Tim Marshall

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Beschreibung

Weltpolitik ist Geopolitik ♦ Der Bestseller zum 10-jährigen Jubiläum komplett überarbeitet und aktualisiert ♦ Alle Regierungen, alle Staatschefs unterliegen den Zwängen der Geografie. Gebirge, Ebenen, Flüsse, Meere, Wüsten und der Zugang zu natürlichen Ressourcen setzen ihrem Entscheidungsspielraum Grenzen. Um Geschichte und Politik zu verstehen, muss man die Menschen, ihre Kultur und Ideen verstehen. Lässt man aber die Geografie außer Acht, bleibt das Bild immer unvollständig.  Russland, China, die USA, Europa, Afrika, der Nahe Osten, Indien und Pakistan, Japan und Korea, Lateinamerika und die Arktis – in zehn Kapiteln zeigt der Politikexperte Tim Marshall, wie die Geografie die militärischen, wirtschaftlichen und strategischen Ziele der zentralen Weltmächte beeinflusst hat und es bis heute tut. Eine brillante und unverzichtbare Analyse für alle, die die Welt besser verstehen wollen. Tim Marshall trägt den Entwicklungen der letzten 10 Jahre Rechnung. Dazu zählen: •    Der Russland-Ukraine-Konflikt und Moskaus Bündnis mit autoritären Staaten •    Der Krieg zwischen Israel und Gaza und die Lage im neuen Nahen Osten •    Chinas wachsende militärische und strategische Macht, auch mit Blick auf Taiwan •    Amerikas globale Macht und die Verlagerung in den pazifischen Raum •    Europas Trend zu nationalistischer Politik und der neue Eiserne Vorhang •    Japans Remilitarisierung und wachsende Macht •    Das Spiel der Großmächte in Afrika •    Indiens wirtschaftlicher Wachstum und seine militärischen Ambitionen

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Seitenzahl: 621

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Um Geschichte und Politik zu verstehen, muss man die Menschen, ihre Kultur und Ideen verstehen. Lässt man aber die Geografie außer Acht, bleibt das Bild stets unvollständig, denn alle Regierungen, alle Staatschefs unterliegen bei ihren machtpolitischen Entscheidungen deren Zwängen.

Anschaulich und spannend erklärt Tim Marshall daher, wie die USA zu der Weltmacht werden konnte, die sie heute ist, und warum es aktuell zu einer Interessensverlagerung in den indopazifischen Raum kommt. Er untersucht, warum Polen und die Ukraine für Russland geostrategisch enorm wichtig sind und Moskau verstärkt das Bündnis mit autoritären Staaten sucht. China als wachsende Weltmacht weitet seine territorialen Einflusszonen zielstrebig aus, während Europa um Stabilität kämpft und Afrika zunehmend zum Spielball der Großmächte wird.

In zehn Kapiteln legt Marshall überzeugend dar, wie die geografischen Gegebenheiten die ökonomischen, militärischen und strategischen Ziele der Global Player bis heute entscheidend beeinflussen. Eine brillante und unverzichtbare Lektüre für alle, die die Welt von morgen besser verstehen wollen.

Tim Marshall

Die Macht der Geografie

Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt

Aus dem Englischen vonBirgit Brandau und Lutz-W. Wolff

Für Grace und Franklin, graziös und frei

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1 Russland

2 China

3 USA

4 Westeuropa

5 Afrika

6 Der Nahe Osten

7 Indien und Pakistan

8 Korea und Japan

9 Lateinamerika

10 Die Arktis

Schlusswort

Dank

Literatur

Register

Vorwort

Die Zukunft ist eine andere Version der Vergangenheit. In dieser Vergangenheit gibt es Epochen, die unsere Zeit widerspiegeln – sie helfen uns, unsere eigene turbulente Zeit zu verstehen, wie sie sich heute, am Ende der Epoche nach dem Kalten Krieg, darstellt. Die russische Invasion in der Ukraine, die Spannungen um Taiwan, der Anbruch des Zeitalters der KI, der Klimawandel und zahlreiche andere Ereignisse der letzten Zeit fügen sich in historische Muster ein. Sie zeigen, wie das letzte Jahrzehnt bestimmt hat, wo wir stehen und wohin wir gehen.

Viele Ereignisse der letzten zehn Jahre machten Schlagzeilen, andere, die auf lange Sicht nicht weniger wirkmächtig waren, schafften es kaum in die Nachrichten. Einige aus beiden Kategorien finden Eingang in diese aktualisierte Ausgabe der Macht der Geografie, andere haben es nicht geschafft. Es sind einfach so viele, dass man einen Gabelstapler holen müsste, um das Buch zu heben, wenn sie alle hineingepackt worden wären …

Die Tendenzen sind eindeutig. Die autoritären Staaten, angeführt von China, schließen sich zusammen, um die von den USA und ihren Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute »regelbasierte Ordnung« infrage zu stellen. Die Amerikaner haben Peking in den Club eingeladen, halfen dabei, China stärker zu machen, und stellten dann fest, dass es sich an ihre Regeln nicht halten würde. Dies führte zu einem weiteren Trend – dem »De-Risking«, dem Sich-unabhängig-Machen von China. Einige Unternehmen haben das Land verlassen, und viele Regierungen versuchen, ihre Lieferketten zu diversifizieren und den Verkauf von Hightechwissen und -produkten an China einzuschränken, um Chinas Fortschritt in bestimmten Bereichen auszubremsen.

Die USA sind mit einiger Verspätung auf der Suche nach einem neuen System, in dem sich die fortgeschrittenen industrialisierten Demokratien unter ihrer Führung zusammenschließen. Washington fängt nicht bei null an. Es gibt die verbleibenden Partnerschaften und Bündnisse, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschmiedet wurden – allen voran die NATO. Die Bindungen von einst haben sich aber gelockert. Wir haben uns von einer bipolaren Welt durch das unipolare Jahrzehnt der amerikanischen Hegemonie in eine multipolare Welt bewegt, in der die Länder mehr Auswahl haben, mit wem sie Handel treiben und Bündnisse eingehen wollen.

Am Ende des Kalten Krieges verleitete eine unzureichende Analyse der historischen Situation viele europäische Politiker und Intellektuelle zu dem Glauben, dass die liberale Demokratie die unausbleibliche Zukunft des Kontinents und der Krieg ein Anachronismus sei, der mit dem 20. Jahrhundert erledigt wäre. Mit dieser naiven Einschätzung haben sie übersehen, was passieren kann, wenn eine scheinbar vernünftige Erwartung auf unvernünftige Gewalt trifft, wie sie gegen die Ukraine verübt wurde. Sie ahnten nicht, dass nach der Niederlage des Sowjetsystems Wellen von »altmodischem« Nationalismus, religiösen Herrschaftsansprüchen und autoritärem Populismus auf der neuen Landkarte Europas auftauchen könnten. Der scharfsinnige sowjetische Diplomat Georgi Arbatow hingegen warnte bereits 1988 davor. Arbatow, ein Berater von Michail Gorbatschow, wusste, dass der Zusammenhalt der Westmächte zum größten Teil auf der kollektiven Angst vor der UdSSR beruhte. »Wir werden euch etwas Schreckliches antun«, versprach er. »Wir werden euch des Feindes berauben.«

Die Europäer dachten, sie wüssten, was gut für sie ist. Die Militärbudgets wurden gekürzt, Munitionsfabriken geschlossen und die Waffenbestände abgebaut. Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen in Washington forderten die Europäer auf, einen größeren Teil der NATO-Kosten zu übernehmen, wurden aber ignoriert. Das überhebliche Gerede von einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsmacht führte zu nichts. Und dann marschierte Russland in die Ukraine ein, und Europa fühlte sich an etwas aus der Antike erinnert: den Satz von Sallust über den metus hostilis.

Sallust war ein römischer Historiker, der glaubte, dass Bündnisse nur dann wirklich stark sind, wenn sie aus Angst vor einem gemeinsamen Feind gebildet werden. In seinem Fall war es die Angst der römischen Republik vor Karthago. Heute teilen die meisten europäischen Nationen wieder einmal die kollektive Angst vor einer wahrgenommenen Bedrohung aus dem Osten und beeilen sich, ihr zu begegnen.

Ein wesentlicher Unterschied zum Kalten Krieg besteht darin, dass sich Amerikas außenpolitische Prioritäten von Europa auf den Indopazifik verlagert haben, genauer gesagt auf China. Es ist nicht so, dass Washington über Russlands Verhalten nicht beunruhigt wäre, aber die Welt hat sich weitergedreht, das Geld ist knapp und Amerikas Geduld ist begrenzt, vor allem, wenn Donald Trump Präsident ist. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die europäischen NATO-Mitglieder daran erinnert, warum es diese Organisation gibt, und sie neben der Wiederwahl Trumps auf den desolaten Zustand ihrer Verteidigung aufmerksam gemacht.

Die europäischen Staaten haben ein weiteres Problem, das in den letzten zehn Jahren stärker in den Fokus gerückt ist. Die Mitgliedstaaten der EU sind möglicherweise an einem Punkt angelangt, wo die Menschen nicht länger bereit sind, noch mehr staatliche Souveränität an Brüssel abzutreten. Darüber hinaus stehen alle Westeuropäer vor der Herausforderung, die Auswirkungen der massenhaften Migration unter Kontrolle zu bringen. Sowohl die EU als auch die modernen europäischen Nationalstaaten bauen auf gemeinsamen kulturellen, historischen und in geringerem Maße auch religiösen Normen auf. Dies ist einer der Gründe, warum es dem Kontinent schwerfällt, die große Zahl nicht europäischer Zuwanderer zu integrieren, die auf der Suche nach einem besseren Leben hereindrängen, und es stellt sich die Frage, wie viele davon die europäischen Länder aufnehmen können, ohne ihre politischen Systeme damit zu destabilisieren. Aber jede Debatte darüber muss immer auch berücksichtigen, wie viel Zuwanderung nötig ist, um die Zahl der Erwerbstätigen aufrechtzuerhalten, die zur Unterstützung einer alternden Bevölkerung erforderlich ist.

Der Satz von Sallust gilt auch für autoritäre Staaten wie China, Russland, Iran und Nordkorea. Sie befürchten, dass sie von den USA beherrscht werden, wenn sie die Weltordnung nicht verändern. Daher die von den Präsidenten Xi und Putin im Jahr 2022 angekündigte »Freundschaft ohne Grenzen« und die Versuche Russlands, den Einfluss der BRICS-plus-Organisation (Gründungsmitglieder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zu vergrößern. Und daher Putins jahrelange Bemühungen, den Dollar als globale Währung abzuschaffen.

Die Art und Weise, wie in der Ukraine gekämpft wird, erinnert ebenfalls an Lehren aus der Geschichte. Nationen, die einen Vorsprung bei neuen Technologien haben, verfügen über die Mittel, ihre Nachbarn zu beherrschen und manchmal die ganze bekannte Welt. Das galt von den Römern über das britische Empire bis hin zu den USA.

Mit der russischen Invasion begann auch der erste »Weltraumkrieg«: ein Konflikt, in dem beide Seiten Zugang zu weltraumgestützten Waffen, Aufklärungs- und Kommunikationsmitteln hatten. Es ist auch der erste Krieg, in dem ein massenhafter Drohnenkrieg in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist, und das erste Mal, dass Hyperschallraketen eingesetzt wurden. All diese technischen Mittel erfordern Technologien wie Laser, Sensoren und Halbleiterchips, alle nutzen KI oder werden sie nutzen. Zukünftige Kriege werden große Mengen von all diesen Dingen verlangen.

Und wer hat diese Dinge? China. Nun, genauer gesagt, es hat die meisten von ihnen, aber es beherrscht auch einen wichtigen Teil der dafür notwendigen Lieferkette. Das ist ein wesentlicher Grund, warum Trump Grönland unter seine Kontrolle zu bringen versucht. Die größte Insel der Welt verfügt über Vorkommen von Titan, Grafit, Nickel, Zink, Wolfram, Lithium und wahrscheinlich auch seltene Erden. Eine Umfrage der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2023 ergab, dass 25 von 34 Mineralien, die sie als »kritische Rohstoffe« einstuft, dort zu finden sind.

Die Lagerstätten solcher Materialien sind ein wichtiger Bestandteil der geopolitischen Landkarte des 21. Jahrhunderts. Eine Voraussetzung, um in den Bereichen KI, Quantencomputing, Biotechnologie, Raumfahrt und Telekommunikation mitspielen zu können, ist eine sichere Versorgung mit kritischen Rohstoffen. Deshalb haben große Länder und Unternehmen in den letzten zehn Jahren auch ernsthafte Schritte in diese Richtung unternommen, Schritte, die in der Regel unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit bleiben, etwa im »Lithium-Dreieck« in Südamerika und im zentralafrikanischen »Kupfergürtel«.

Die größten Anstrengungen in diesem Sinne unternehmen die USA und China, was uns zu einer weiteren Lektion aus der Geschichte bringt, der »Thukydides-Falle«. Wenige Jahre nach dem Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) schrieb der griechische Historiker: »Es war der Aufstieg Athens und die Angst, die dies in Sparta auslöste, die den Krieg unvermeidlich machten.« Sie müssen jetzt nur Sparta durch die USA und Athen durch China ersetzen. Das bedeutet nicht, dass es einen Krieg zwischen ihnen geben muss oder wird, aber es ist eine Warnung, dass es ohne kluge Staatskunst und Kompromisse auf beiden Seiten so weit kommen könnte.

Ich glaube, dass sich die multipolare Welt gerade wieder in eine Form der bipolaren Welt und des Kalten Krieges verwandelt. Es wird anders sein als zwischen 1950 und1990, weil China eine Wirtschaftsmacht ist, wie es die UdSSR nie gewesen ist, und weil Indien das Potenzial hat, später in diesem Jahrhundert eine Supermacht zu werden. Aber als grobes Konzept, mit dem wir vertraut sind, ist es eine nützliche Vorlage für weitere Überlegungen.

Eine von China geführte Ordnung entsteht gerade, ebenso wie neue Formen amerikanischer Führung, insbesondere im Indopazifik. Einzelheiten darüber, wie sich das letzte Jahrzehnt in den laufenden Aufbau der geopolitischen Architektur des 21. Jahrhunderts einfügt, finden Sie in jedem Kapitel dieser neuen Ausgabe. Covid-19 hat dazu beigetragen, dass das Misstrauen gegenüber China gewachsen ist, der Klimawandel in der Arktis hat den nördlichen Seeweg entlang der russischen Küste bedeutsamer gemacht, und der Aufstieg der Denkmaschinen hat die Aufmerksamkeit auf Mineralien und ihre Lagerstätten gelenkt, genau wie der Bedarf an Öl im 20. Jahrhundert.

In den letzten zehn Jahren ist noch etwas anderes passiert. Wir haben zur Weltbevölkerung noch eine weitere Milliarde Menschen hinzugefügt. Jede Geburt war ein wichtiges Ereignis. Denn jeder Mensch teilt jetzt die Geografie, die unser Leben prägt.

Einleitung

Wladimir Putin bezeichnet sich als religiösen Menschen, als engagiertes Mitglied der russisch-orthodoxen Kirche. Es könnte also gut sein, dass er, wenn er abends zu Bett geht, seine Gebete spricht und Gott fragt: »Warum hast du nicht ein paar Berge in die Ukraine gestellt?«

Hätte Gott in der Ukraine Berge geschaffen, dann würde das ausgedehnte Flachland der nordeuropäischen Tiefebene nicht zu Angriffen auf Russland einladen, wie es mehrfach der Fall war. So, wie es ist, bleibt Putin keine Wahl: Er muss zumindest versuchen, die Ebene im Westen zu kontrollieren. Allen anderen Staaten der Welt, seien sie klein oder groß, ergeht es ähnlich: Die Landschaft nimmt die Regierungschefs gefangen, lässt ihnen weniger Optionen und Raum für Manöver, als man denkt. Dies galt für das Athener Imperium, für die Perser wie die Babylonier und frühere Reiche. Es traf auf alle Führer zu, die auf hoch gelegenes Gelände aus waren, um ihren Stamm zu schützen.

Seit jeher hat uns das Land, auf dem wir leben, geformt. Es hat die Kriege, die Macht, die Politik und die gesellschaftliche Entwicklung der Völker bestimmt, die mittlerweile nahezu jeden Teil der Erde bewohnen. Technologien überwinden scheinbar die mentalen wie räumlichen Entfernungen zwischen uns, sodass leicht vergessen wird, dass das Land, in dem wir leben, arbeiten und unsere Kinder aufziehen, von höchster Bedeutung ist und dass die Entscheidungen derer, die die acht Milliarden Bewohner dieses Planeten führen, in gewissem Maße schon immer durch die Flüsse, Berge, Wüsten, Seen und Meere, die uns alle eingrenzen, bestimmt werden.

Es gibt keinen einzelnen geografischen Faktor, der einflussreicher ist als irgendein anderer. Berge sind nicht ausschlaggebender als Wüsten, Flüsse nicht wichtiger als Dschungel. In den unterschiedlichen Gebieten der Erde sind es unterschiedliche geografische Merkmale, die zu den dominanten Faktoren gehören, die letztlich bestimmen, was Menschen tun können und was nicht.

Allgemein gesagt: Geopolitik zeigt auf, wie internationale Angelegenheiten vor dem Hintergrund geografischer Faktoren zu verstehen sind. Dabei geht es nicht nur um die tatsächliche Landschaft – die natürlichen Barrieren durch Berge oder die Verbindungen durch Flusssysteme beispielsweise –, sondern auch um Klima, Demografie, Kulturregionen und den Zugang zu natürlichen Ressourcen. Solche Faktoren können Auswirkungen auf viele Bereiche unserer Zivilisation haben, von politischen und militärischen Strategien bis hin zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft samt Sprache, Handel und Religion.

Die physischen Realitäten, die der nationalen und internationalen Politik zugrunde liegen, werden zu oft außer Acht gelassen – sowohl bei der Geschichtsschreibung als auch bei der aktuellen Berichterstattung aus aller Welt. Geografie ist eindeutig ein grundlegender Teil des »Warum« und auch des »Was«. Sie ist vielleicht nicht der bestimmende Faktor, aber ganz sicher jener, der am häufigsten übersehen wird. Nehmen wir zum Beispiel China und Indien: zwei gewaltige Länder mit einer riesigen Bevölkerung, die eine sehr lange gemeinsame Grenze haben, aber weder politisch noch kulturell auf einer Linie sind. Es würde also nicht überraschen, wenn sich diese beiden Giganten mehrere Kriege geliefert hätten – doch das haben sie, abgesehen von einer einen Monat dauernden Auseinandersetzung1962, nicht getan. Warum? Weil zwischen ihnen die höchste Gebirgskette der Welt liegt und es praktisch unmöglich ist, mit großen Militärkolonnen durch oder über den Himalaja vorzustoßen. Mit immer ausgefeilteren Technologien werden natürlich auch Möglichkeiten eröffnet, dieses Hindernis zu überwinden, aber die physische Barriere bleibt eine Abschreckung. Deshalb konzentrieren sich beide Länder bei ihrer Außenpolitik auf andere Regionen, während sie einander argwöhnisch im Auge behalten.

Einzelne Führungspersönlichkeiten, Vorstellungen und Technologien spielen eine Rolle bei der Ausformung von Ereignissen, aber sie sind vergänglich. Jede neue Generation steht wiederum vor der physischen Blockade, die Hindukusch und Himalaja darstellen. Das Gleiche gilt für die Herausforderungen durch die Regenzeit und die Nachteile aufgrund des beschränkten Zugangs zu Bodenschätzen oder Nahrungsquellen.

Mein Interesse an diesem Thema wurde geweckt, als ich in den 1990ern über die Kriege auf dem Balkan berichtete. Ich konnte aus nächster Nähe beobachten, wie die Führer verschiedener Völker, seien es Serben, Kroaten oder Bosnier, ihre »Stämme« in dieser von Vielfalt gekennzeichneten Region mit voller Absicht an alte Spaltungen und ein uraltes Misstrauen erinnerten. Sobald es ihnen gelungen war, die Völker auseinanderzubringen, war es ein Leichtes, sie gegeneinander aufzubringen.

Der Fluss Ibar im Kosovo ist ein sehr gutes Beispiel. Die osmanische Herrschaft über Serbien wurde mit der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 gefestigt. In der Nähe liegt die Stadt Mitrovica, durch die der Ibar fließt. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte begann sich die serbische Bevölkerung auf die andere Seite des Ibar zurückzuziehen, als muslimische Albaner aus der Bergregion Malësia e Madhe nach und nach in das Kosovo einwanderten, wo sie bis Mitte des 18. Jahrhunderts zur Mehrheit wurden.

Nun ein Zeitsprung ins 20. Jahrhundert: Nach wie vor bestand eine klare ethnische und religiöse Spaltung, die in etwa durch den Fluss markiert wurde. 1999 zog sich das jugoslawische (serbische) Militär, bombardiert von der NATO aus der Luft und der UÇK am Boden, hinter den Ibar zurück, rasch gefolgt vom Großteil der noch vorhandenen serbischen Bevölkerung. Der Fluss wurde de facto zur Grenze dessen, was einige Länder heute als unabhängige Republik Kosovo anerkannt haben.

Mitrovica war auch der Ort, wo der Vormarsch der NATO-Bodentruppen stoppte. Während des dreimonatigen Kriegs hatte es versteckte Drohungen gegeben, die NATO plane, ganz Serbien zu besetzen. In Wahrheit bedeuteten die Einschränkungen sowohl durch die Geografie als auch durch die Politik, dass diese Möglichkeit der NATO-Führung nicht unbedingt offenstand. Ungarn hatte deutlich gemacht, dass es eine Invasion von seinem Gebiet aus nicht erlauben würde, weil man Repressalien gegen die 350 000 ethnischen Ungarn in Nordserbien fürchtete. Die Alternative wäre eine Invasion von Süden her gewesen, was die NATO doppelt so schnell an den Ibar gebracht hätte, aber dem standen die Berge oberhalb der Stadt entgegen.

Ich arbeitete damals mit einem serbischen Team in Belgrad und fragte, was passieren würde, wenn die NATO käme. »Wir legen unsere Kameras weg und nehmen uns Gewehre, Tim«, lautete die Antwort. Es handelte sich um liberale Serben, gute Freunde von mir, die in Opposition zu ihrer Regierung standen, aber sie holten trotzdem Karten hervor und zeigten mir, wo die Serben ihr Territorium in den Bergen verteidigen würden und wo die NATO sich festfahren würde. Es war einigermaßen beruhigend, anhand dieser Geografielektion zu erfahren, dass die Möglichkeiten der NATO begrenzter waren, als die Brüsseler PR-Maschine zugab.

In den folgenden Jahren kam mir das auf dem Balkan erworbene Verständnis, wie entscheidend die Beschaffenheit der Landschaft war, bei der Berichterstattung zugute. Beispielsweise merkte ich 2001, ein paar Wochen nach dem 11. September, wie sehr, selbst bei heutiger moderner Technologie, das Klima immer noch die militärischen Möglichkeiten sogar der mächtigsten Armee der Welt beherrscht. Ich war mit einem Schlauchboot über den Grenzfluss von Tadschikistan nach Nordafghanistan gekommen, um zu den Truppen der Nordallianz (NA) aufzuschließen, die gegen die Taliban kämpften.

Die amerikanischen Kampfflugzeuge und Bomber waren bereits in der Luft und beschossen Taliban- und al-Qaida-Stellungen in den kalten, staubigen Ebenen und Hügeln östlich von Masar-e Scharif, um den Weg für den Vormarsch auf Kabul zu ebnen. Nach ein paar Wochen machte sich die NA offensichtlich bereit, nach Süden vorzustoßen. Doch dann veränderte die Welt plötzlich ihre Farbe.

Es kam der heftigste Sandsturm auf, den ich je erlebt habe, und überzog alles mit senfgelber Farbe. Selbst die Luft um uns herum schien diese Farbe zu haben, so voll war sie mit Sandpartikeln. 36 Stunden lang bewegte sich nichts mehr außer dem Sand. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hatte, konnte man nur ein paar Meter weit sehen, und klar war einzig, dass der Vormarsch das Wetter abwarten musste.

Die amerikanische Satellitentechnologie, eine Speerspitze der Wissenschaft, war nutzlos, das Klima in diesem wilden Land hatte sie blind gemacht. Alle, von Präsident Bush und den Joint Chiefs of Staff bis hin zu den NA-Truppen am Boden, konnten nur warten. Dann regnete es, und der Sand, der auf allem und jedem lag, verwandelte sich in Matsch. Der Regen war so stark, dass die Lehmziegelhütten, in denen wir hausten, zu zerfließen drohten. Erneut war klar, dass ein Vorstoß nach Süden unmöglich war. Die Gesetze der Geografie, die bereits Hannibal, Sunzi und Alexander der Große kannten, gelten für die heutigen Führer noch genauso.

Später, im Jahr2012, sollte ich eine weitere Lektion in Geostrategie erhalten: Als Syrien in einen ausgewachsenen Bürgerkrieg abrutschte, stand ich auf einer syrischen Bergkuppe mit Blick auf ein Tal südlich der Stadt Hama und sah in der Ferne einen Weiler brennen. Syrische Freunde verwiesen auf ein viel größeres Dorf in etwa einer Meile Entfernung, aus dem der Angriff angeblich gekommen war. Sie erklärten, dass das Tal – wenn es denn einer Seite gelänge, genügend Menschen der anderen Seite daraus zu vertreiben – mit einem anderen Landstück verbunden werden könne, welches zur einzigen Autobahn des Landes führe, und dass das ungeheuer nützlich wäre, um ein zusammenhängendes, lebensfähiges Territorium zu schaffen. Denn dieses könne dann eines Tages dazu dienen, einen neuen Ministaat zu gründen, falls Syrien nicht wieder zusammengefügt werden könnte. Wo ich vorher nur einen brennenden Weiler sah, konnte ich nun seine strategische Tragweite erkennen. Und mir wurde wieder klar, wie sehr politische Realitäten von den grundlegendsten physischen Gegebenheiten geprägt werden.

Die Geopolitik betrifft alle Länder, sei es im Krieg, wie in diesen Beispielen, oder im Frieden. In jeder einzelnen Region lassen sich Beispiele dafür finden. In diesem Buch kann ich nicht alle anführen: Kanada, Australien und Indonesien etwa werden nur kurz erwähnt, obwohl allein Australien und die Art und Weise, wie seine Geografie die physischen wie kulturellen Verbindungen zu den anderen Teilen der Welt formte, ein ganzes Buch verdiente (über Australien und andere Länder schreibe ich in meinem Buch DieMachtderGeographieim21. Jahrhundert). Stattdessen habe ich mich hier auf die Mächte und Regionen konzentriert, die die Kernpunkte des Buches am besten illustrieren: Ich beschäftige mich mit dem historischen Erbe der Geopolitik (Staatenbildung), behandle die dringlichsten Probleme, denen wir heute gegenüberstehen (Krieg in der Ukraine, wachsender Einfluss von China), und werfe einen Blick in die Zukunft (zunehmender Wettbewerb in der Arktis).

Nehmen wir Russland. Dort sehen wir ein sich abmühendes früheres Imperium, das nervös nach Westen schaut, den Einfluss der Arktis und wie das eisige Klima seine Möglichkeiten einschränkt, zu einer echten Weltmacht zu werden, wenngleich der Klimawandel nun umgekehrt ganz neue Optionen eröffnet. In China erkennen wir, dass die Macht ohne eine global agierende Marine Beschränkungen unterliegt – und mittlerweile ist deutlich wahrnehmbar, mit welcher Geschwindigkeit China dies ändern will. Das Kapitel über die USA beweist, wie kluge Entscheidungen zur Erweiterung des Territoriums in Schlüsselregionen es den Vereinigten Staaten möglich machten, ihre heutige Position als Supermacht an zwei Weltmeeren zu erlangen. Europa zeigt uns den Vorteil von Tiefebenen und schiffbaren Flüssen beim Aufbau von Verbindungen zwischen den Regionen und der Entwicklung einer Kultur, die den Anschub der modernen Welt ermöglichte, während Afrika ein Paradebeispiel für die Auswirkungen der Isolation ist.

Das Kapitel über den Nahen Osten demonstriert, warum das Ziehen von Linien auf Landkarten ohne Berücksichtigung der Topografie und, ebenso wichtig, der geografischen Kulturen eines Gebiets nur Probleme mit sich bringen kann. Probleme, die uns in diesem Jahrhundert weiterhin begleiten werden. Das gleiche Thema kommt in den Kapiteln über Afrika und Indien/Pakistan zum Tragen. Die Kolonialmächte zogen auf dem Papier künstliche Grenzen und kümmerten sich überhaupt nicht um die physischen Gegebenheiten der Region. Heute werden blutige Versuche unternommen, sie zu korrigieren; das wird noch einige Jahre andauern, und danach wird die Karte der Nationalstaaten nicht mehr so aussehen wie heute.

Ganz anders als die Beispiele Kosovo oder Syrien sind Japan und Korea, da sie ethnisch überwiegend homogen sind. Allerdings haben sie andere Schwierigkeiten: Japan ist ein Inselstaat ohne natürliche Ressourcen, während die Teilung von Korea ein Problem ist, das noch auf eine Lösung wartet. Lateinamerika hingegen ist eine Anomalie. Sein äußerster Süden ist so abgeschnitten von der übrigen Welt, dass ein globaler Handel schwierig ist, und die Geografie im Inneren des Kontinents steht der Schaffung eines erfolgreichen Handelsblocks nach EU-Vorbild entgegen.

Zum Schluss kommen wir zu einem der unbewohnbarsten Teile der Welt – der Arktis. Die längste Zeit haben die Menschen die Arktis ignoriert, aber im 20. Jahrhundert haben wir dort Energiequellen entdeckt, und die Diplomatie des 21. Jahrhunderts wird festlegen, wer Eigentümer dieser Ressourcen ist – und sie verkaufen kann.

Die Geografie als maßgeblichen Faktor für den Verlauf der menschlichen Geschichte anzuerkennen, kann auch als pessimistische Weltsicht interpretiert werden, weshalb dies in manchen intellektuellen Kreisen wenig beliebt ist. Denn es legt nahe, dass die Natur stärker als der Mensch ist und wir nur ein Stück weit Herren unseres Schicksals sind. Sicherlich haben eindeutig auch andere Faktoren Einfluss auf den Gang der Ereignisse. Jeder vernünftige Mensch kann sehen, dass die moderne Technologie dabei ist, die ehernen Regeln der Geografie zu brechen. Sie hat Wege über, unter oder durch einige der Barrieren gefunden. Die Amerikaner können jetzt bei einer Bombermission die gesamte Strecke von Missouri nach Mossul fliegen, ohne unterwegs eine Betonpiste zum Auftanken zu benötigen. Dadurch und durch ihre zum Teil autarken großen Flugzeugträgerkampfverbände brauchen sie nicht mehr unbedingt einen Verbündeten oder eine Kolonie, um ihre Reichweite weltweit auszudehnen. Natürlich gibt es noch mehr Optionen für sie, wenn sie einen Flugzeugstützpunkt auf der Insel Diego Garcia haben oder ihnen der Hafen in Bahrain immer offen steht, aber dies ist keine Voraussetzung mehr.

Die Luftfahrt hat also die Regeln verändert und ebenso – auf andere Weise – das Internet. Aber die Geografie und die Geschichte, wie Staaten sich in dieser Geografie etabliert haben, bleiben wesentlich für unser Verständnis der heutigen Welt und unserer Zukunft.

Einige Konflikte in Afrika und im Nahen Osten wurzeln darin, dass Kolonialmächte die Regeln der Geografie missachtet haben, während die chinesische Besetzung von Tibet dem Gegenteil zuzuschreiben ist. Die amerikanische Außenpolitik weltweit wird von ihnen bestimmt, und selbst das technische Genie und der Machteinsatz der größten Supermächte der Welt können die Regeln, die die Natur – oder Gott – uns gegeben hat, höchstens abschwächen.

Wie lauten diese Regeln? Lassen Sie uns die Erkundung in dem Land beginnen, in dem Macht schwer zu verteidigen ist und seine Führer dies seit Jahrhunderten damit kompensieren, dass sie nach außen vorstoßen. Es ist das Land, das keine Berge im Westen hat: Russland.

Erstes Kapitel Russland

weit (Adjektiv; weiter, am weitesten): von großer räumlicher Ausdehnung, unermesslich, riesengroß

Russland ist riesig. Am größten. Gewaltig. Es ist über 17 Millionen Quadratkilometer groß und erstreckt sich über elf Zeitzonen. Es ist das größte Land der Erde. Seine Wälder, Seen und Flüsse, seine Tundra, Steppe, Taiga und Berge sind alle unendlich groß. Diese Größe hat sich längst in unserem kollektiven Gedächtnis festgesetzt. Wo immer wir uns befinden, Russland ist da. Vielleicht ist es östlich von uns, vielleicht westlich, vielleicht nördlich oder südlich – der russische Bär ist immer da.

Der Bär ist nicht zufällig das Symbol dieses immens großen Landes. Da hockt er, manchmal in Winterruhe, manchmal grollend, majestätisch und wild. Die Russen vermeiden es, das Tier bei seinem wahren Namen zu nennen, aus Angst, seine dunkle Seite heraufzubeschwören. Sie nennen ihn medwed, »der gerne Honig isst«.

Mindestens 120 000 dieser medweds leben in dem Land, das sich über Europa und Asien erstreckt. Westlich des Urals liegt das europäische Russland, östlich davon Sibirien, das sich bis zum Beringmeer und zum Pazifik ausdehnt. Selbst im 21. Jahrhundert dauert die Durchquerung per Bahn sechs Tage. Russische Führer müssen diese Entfernungen – und Unterschiede – im Blick haben und ihre Politik entsprechend ausrichten. Seit Jahrhunderten haben sie in alle Richtungen geschaut, aber der Blick ging vor allem nach Westen.

Wollen Autoren zum Wesen des Bären vordringen, zitieren sie oft Winston Churchills berühmten Satz aus dem Jahre 1939: »Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt.« Aber wenige nennen den zweiten Teil des Zitats: »Doch es gibt vielleicht einen Schlüssel. Und dieser Schlüssel ist das nationale Interesse der Russen.« Sieben Jahre später benutzte er diesen Schlüssel und behauptete: »Ich bin überzeugt, dass sie nichts so sehr bewundern wie Stärke und nichts mehr verachten als Schwäche, insbesondere militärische Schwäche.«

Als er das sagte, hätte er auch die gegenwärtige russische Führung gemeint haben können, die, auch wenn sie sich jetzt in einen fadenscheinigen Mantel von Demokratie hüllt, vom Wesen her autoritär, in ihren Handlungen imperialistisch und im Kern von Nationalismus geprägt ist. Die Invasion des Jahres2022, mit der die Ukraine unterworfen und von der Landkarte wieder entfernt werden sollte, enthüllte die ganze Verkommenheit Russlands, das unter Wladimir Wladimirowitsch Putin zum Gangsterstaat wurde.

Wenn Putin nicht über Gott oder Berge nachdenkt, denkt er an ein Stück Pizza. Das spitze Ende dieses Pizzastücks ist Polen. Hier, zwischen Ostsee und Karpaten, ist die nordeuropäische Tiefebene, die sich vom Ärmelkanal bis zum Ural (der sich über 2000 Kilometer bis nach Kasachstan zieht und eine natürliche Grenze zwischen Europa und Asien bildet) erstreckt, nur knapp 500 Kilometer breit. Aus russischer Perspektive stellt dieses Pizzastück eine Chance und gleichzeitig eine Gefahr dar. Polen ist ein relativ schmaler Korridor, durch den Russland attackiert werden könnte, man aber im Bedarfsfall auch selbst seine Armee schicken kann, um einen westlichen Vormarsch auf Moskau zu stoppen. Im Osten ist das Pizzastück schon etwas größer: An der russischen Grenze ist es über 3200 Kilometer breit, und das Land ist bis nach Moskau und dahinter nur flach. Selbst mit einer riesigen Armee hätte man Schwierigkeiten, sich entlang dieser Linie erfolgreich zu verteidigen. Trotzdem wurde Russland auf diesem Weg nie besiegt, was der strategischen Tiefe des Pizzastücks zu verdanken ist. Bis eine Armee Moskau erreicht, muss sie Nachschublinien bedienen, die unhaltbar lang sind – ein Umstand, den weder Napoleon 1812 noch Hitler 1941 bedacht hatten.

Ähnlich schützt die Geografie Russlands Osten. Es ist schwierig, eine Armee aus Asien herauf Richtung Moskau zu führen, denn außer Schnee gibt es nicht viel, was man angreifen kann. Zudem käme man nur bis zum Ural. Das Ergebnis wäre, dass man – unter schwierigen Bedingungen – ein riesiges Gebiet halten müsste, in dem die Nachschublinien lang wären und man immer mit einem Gegenangriff rechnen müsste.

Man könnte also meinen, dass niemand vorhat, nach Russland einzumarschieren, aber die Russen sehen das anders. Aus gutem Grund. In den vergangenen 500 Jahren wurde Russland immer wieder vom Westen her überrannt. 1605 kamen die Polen durch die nordeuropäische Tiefebene, es folgten 1708 die Schweden unter Karl XII., 1812 die Franzosen unter Napoleon und die Deutschen zweimal, in beiden Weltkriegen, 1914 und 1941. Oder wenn man es anders betrachtet und von der napoleonischen Invasion 1812 bis zum Zweiten Weltkrieg 1945 rechnet und den Krimkrieg 1853–56 diesmal einbezieht, waren die Russen durchschnittlich alle 33 Jahre in Kämpfe in oder an der nordeuropäischen Tiefebene verwickelt. Selbst der ukrainische Vorstoß in Richtung Kursk im Sommer 2024 erfolgte von dort, obwohl das Ziel nur darin bestand, Verhandlungsmasse für eventuelle Waffenstillstandsgespräche zu schaffen.

Ende des Zweiten Weltkriegs besetzten die Russen 1945 jene Gebiete in Mittel- und Osteuropa, die Deutschland erobert hatte und von denen einige dann Teil der UdSSR wurden, womit man sich zunehmend dem alten Russischen Reich anglich. 1949 rief ein Zusammenschluss europäischer und nordamerikanischer Staaten die North Atlantic Treaty Organization (NATO) ins Leben, um Europa und den Nordatlantik gegen die Bedrohung durch den Sowjetkommunismus zu schützen. Als Antwort gingen die meisten kommunistischen Staaten in Europa 1955 – unter russischer Führung – den Warschauer Pakt ein, einen Pakt zur militärischen Verteidigung und zum wechselseitigen Beistand. Der Pakt sollte aus Eisen gemacht sein, doch im Nachhinein betrachtet, begann er schon in den frühen 1980er-Jahren zu rosten und zerfiel nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 zu Staub.

Präsident Putin ist kein Anhänger des letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Er wirft ihm vor, die russische Sicherheit unterminiert zu haben, und bezeichnet den Zerfall der Sowjetunion in den 1990ern als die »größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts«.

Seither haben die Russen besorgt beobachtet, wie die NATO immer dichter herankroch und Länder aufnahm, die Russland zufolge versprochenermaßen nicht Mitglieder werden sollten: die Tschechische Republik, Ungarn und Polen1999,Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien und die Slowakei 2004 sowie Albanien2009, Montenegro2017, Nordmazedonien 2020 und, nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, auch Finnland und Schweden. Die NATO behauptet, es habe keine Zusicherungen gegeben. Außerdem habe sie ja nicht in allen neuen Mitgliedstaaten NATO-Truppen dauerhaft stationiert, sondern sogar 1997 den NATO-Russlandrat geschaffen, der es Russland erlaubte, ein mit zwanzig Mitarbeitern besetztes Büro beim NATO-Hauptquartier zu errichten. Das wurde allerdings 2022 wieder geschlossen, nachdem acht russische Beamte wegen Spionageverdachts aus Belgien ausgewiesen wurden. Russland denkt wie alle Großmächte auch in großen Zeiträumen und geht davon aus, dass in den nächsten 100 Jahren alles passieren kann. Und wer hätte vor 100 Jahren gedacht, dass amerikanische Streitkräfte nur einige Hundert Kilometer von Moskau entfernt in Polen und im Baltikum stationiert sein würden? Bereits2004, nur 15 Jahre nach1989, war jeder einzelne ehemalige Mitgliedstaat des Warschauer Pakts außer Russland selbst Mitglied der NATO oder der Europäischen Union geworden. Davon und von der russischen Geschichte wird das Denken der Moskauer Regierung bestimmt.

Russland als Herrschaftsgebilde geht zurück auf eine lockere Vereinigung ostslawischer Stämme im 9. Jahrhundert, die als Kiewer Rus bezeichnet wird und in Kiew und anderen Städten am Dnjepr, also in der heutigen Ukraine, beheimatet war. Die Mongolen griffen die Region kontinuierlich von Süden und Osten her an, bis sie sie im 13. Jahrhundert schließlich überrannten. So ließ man sich daraufhin erneut nordöstlich in und um Moskau nieder. Dieses frühe Russland, das als Großfürstentum Moskau bezeichnet wird, war nicht zu verteidigen. In jede Himmelsrichtung erstreckte sich Flachland, und jenseits der Steppe im Süden und Osten befanden sich die Mongolen. Invasoren konnten nach Belieben jeden Ort einnehmen.

Auftritt Iwans des Schrecklichen, des ersten Zaren. Er setzte das Konzept vom Angriff als Verteidigung in die Praxis um – das heißt, seine Expansion mit der Festigung der Stellung in der Heimat zu beginnen und dann nach außen vorzustoßen. Dies führte zu Größe. Hier haben wir einen Mann, der die Theorie, dass ein Einzelner die Geschichte verändern kann, untermauert. Ohne seine Charakterzüge, die geprägt waren von äußerster Rücksichtslosigkeit und totalen Visionen, wäre die russische Geschichte wohl ganz anders verlaufen.

Das flügge werdende Russland hatte unter Iwans Großvater, Iwan dem Großen, eine bescheidene Expansion begonnen, die sich erheblich beschleunigte, als sich 1547 der sechzehnjährige Großfürst Iwan IV. zum Zaren krönen ließ. Sein Reich drang nach Osten zum Ural vor, nach Süden zum Kaspischen Meer und nach Norden bis zum Polarkreis. Es erlangte Zugang zum Schwarzen Meer und nutzte den Kaukasus als partielle Barriere zwischen sich und den Mongolen. In Tschetschenien wurde eine Militärbasis errichtet, um mögliche Angreifer abzuschrecken, seien es die mongolische Goldene Horde, die Osmanen oder die Perser.

Es gab Rückschläge, aber im Lauf des nächsten Jahrhunderts sollte Russland über den Ural hinaus nach Sibirien vorstoßen, wo es nach und nach das gesamte Land bis an die Pazifikküste im Osten einnahm und sogar noch eine Kolonie in Alaska gründete.

Jetzt besaßen die Russen Pufferzonen und ein Hinterland und damit eine strategische Tiefe, in die man sich im Fall einer Invasion zurückziehen konnte. Vom Nordpolarmeer her würde sie niemand angreifen, und kaum jemand würde sich über den Ural kämpfen, um sie zu attackieren. Wenn man von Süden oder Südosten her eindringen wollte, musste man eine riesige Armee und eine sehr lange Nachschublinie haben, um sich einen Weg durch hohe Gebirge und über ausgedehnte Binnenmeere zu suchen. Ihr Land wurde zu dem, was wir heute als Russland kennen.

Mit dem Sieg über die schwedische Invasionsarmee bei Poltawa im Jahre 1709 machte Peter der Große Russland zur europäischen Großmacht und gründete 1721 das Russische Reich. Katharina die Große richtete den Blick nach Westen und erweiterte und stärkte das Reich durch Städtegründungen, Handel und Nationalgefühl. Dieses stabilere und mächtigere Russland konnte die Krim besetzen und bis zu den Karpaten vordringen. Es unterwarf den Großteil dessen, was wir heute das Baltikum nennen – Litauen, Lettland und Estland. Somit war es gegen Einfälle auf dem Landweg oder über die Ostsee besser geschützt.

Jetzt existierte ein riesiger Schutzwall um Moskau, das schon seit jeher das Herz des Landes bildete, obwohl der Regierungssitz von 1712 bis 1918 nach St. Petersburg verlegt wurde. Von der Arktis erstreckte sich das Reich über das Baltikum, die Ukraine und die Karpaten, das Schwarze Meer und den Kaukasus bis an das Kaspische Meer hinunter und schwang sich um den Ural herum wieder hinauf zum Polarkreis.

Die Ausdehnung des riesigen russischen Reiches im Jahr 1914.

Im 20. Jahrhundert schuf das kommunistische Russland die Sowjetunion. Mit dem rhetorischen »Proletarier aller Länder vereinigt euch« der UdSSR wollte man schlicht das Russische Reich großschreiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg reichte sein Herrschaftsgebiet vom Pazifik bis nach Berlin, von der Arktis bis zur Grenze von Afghanistan – eine politische und militärische Supermacht, der nur die USA gleichkamen. Als die Sowjetunion zusammenbrach, schrumpfte Russland erheblich. Viele ehemalige Sowjetrepubliken verlangten, unabhängig zu werden, und Russland stieß plötzlich in Estland, Lettland, Litauen, Norwegen, Finnland, Belarus, der Ukraine, Georgien und Aserbeidschan an Grenzen.

Russland ist immer noch das größte Land der Erde, doppelt so groß wie die USA, fünfmal so groß wie Indien, siebzigmal so groß wie das Vereinigte Königreich. Doch seine Bevölkerung ist mit rund 144 Millionen relativ klein, kleiner als die von Nigeria oder Pakistan. Russlands landwirtschaftliche Wachstumsperiode ist kurz, und es tut sich schwer damit, das, was in den elf Zeitzonen geerntet wird, gleichmäßig zu verteilen. Das relativ kleine Zentralrussland, in dem Moskau liegt und in dem der finanzielle Reichtum des Landes konzentriert ist, hat nur etwa 40 Millionen Einwohner und grenzt an Belarus und die Ukraine.

Sarah Palin, die frühere Kandidatin für die Vizepräsidentschaft der USA, erntete Spott, als sie 2008 sagte: »Hier in Alaska kann man Russland vom Land aus sehen.« Dabei hatte sie gar nicht so unrecht: Die russische Ratmanow-Insel ist nur vier Kilometer von Little Diomede Island, einer amerikanischen Insel in der Beringstraße, entfernt, und man sieht sie mit bloßem Auge. Ja, man kann Russland auch von Amerika aus sehen.

Bis zum Ural ist Russland insofern ein europäisches Land, als es an die europäische Landmasse grenzt, und aufgrund seiner Grenzen zu Kasachstan, der Mongolei, China und Nordkorea sowie seiner maritimen Grenzen zu mehreren Ländern, darunter Japan und die USA, ist es zwar eine asiatische Macht, aber keine entscheidende.

Oben auf einem Uralgipfel steht ein Kreuz, das die Grenze zwischen Europa und Asien markiert. Bei klarem Wetter ist dies ein wunderschöner Fleck, und man kann durch die Tannen kilometerweit nach Osten schauen. Im Winter liegt hier Schnee, ebenso wie im darunterliegenden Sibirischen Tiefland, das sich weit über die Stadt Jekaterinburg hinaus erstreckt. Touristen kommen gerne hierher, um mit einem Fuß in Europa und dem anderen in Asien zu stehen. Wenn man bedenkt, dass sich das Kreuz an einer Stelle befindet, an der man erst ein Viertel des Landes durchmessen hat, wird deutlich, wie groß Russland ist. Auf dem Weg von Sankt Petersburg zum Ural hat man bereits 2500 Kilometer durch Westrussland zurückgelegt, aber es liegen noch weitere 7250 Kilometer vor einem, bis man die Beringstraße erreicht.

Kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion war ich im Ural, an der Stelle, wo Europa zu Asien wird. Damals begleitete mich ein russisches Filmteam. Der Kameramann war ein stoischer, wortkarger, angegrauter Veteran, der Sohn eines Reporters der Roten Armee, der 1942/43 in Stalingrad gefilmt hatte. Ich fragte ihn: »Sind Sie eigentlich Europäer oder Asiate?« Er dachte ein paar Sekunden darüber nach und sagte dann: »Weder noch – ich bin Russe.«

Ganz davon abgesehen gibt es verschiedenste Gründe, warum wir Russland nicht als asiatische Macht bezeichnen können: Zwar liegen 75 Prozent seines Staatsgebiets in Asien, doch es leben dort nur 22 Prozent der Bevölkerung. Sibirien ist die »Schatzkiste Russlands«, wo der überwiegende Teil der Bodenschätze und Öl- und Gasvorkommen zu finden ist, aber es ist auch ein raues Land mit riesigen Wäldern (der Taiga), schlechtem Ackerland und endlosen Sümpfen, in dem über viele Monate Frost herrscht. In West-Ost-Richtung verlaufen nur zwei Bahnlinien – die Transsibirische Eisenbahn und die Baikal-Amur-Magistrale. Und nur sehr wenige Transportwege außer den Flüssen führen von Norden nach Süden. Lange war es Russland nicht möglich, Öl oder Gas nach China und in die Mongolei zu liefern: Es fehlten schlichtweg Arbeitskräfte und Pipelines.

Das Fehlen eines eisfreien Hafens mit direktem Zugang zu den Weltmeeren, strategisch so bedeutsam wie die nordeuropäische Tiefebene, war immer Russlands Achillesferse. Einige der Häfen am Nordpolarmeer sind jedes Jahr mehrere Monate lang zugefroren. Selbst Wladiwostok, der größte russische Pazifikhafen, wird rund vier Monate von Eis blockiert und liegt zudem am eingeschlossenen Japanischen Meer, das von Japan beherrscht wird. Dies verhindert nicht nur, dass die russische Flotte als Global Player agieren kann, sondern behindert auch Russlands Handel. Denn Transporte auf dem Wasser sind wesentlich billiger als jene an Land oder in der Luft.

Das war vermutlich der Grund, warum sich die Politiker und Feldherrn der Franzosen und Briten so begeistert auf ein Dokument stürzten, das der polnische Exilgeneral Michał Sokolnicki 1797 als angebliches »Testament Peters des Großen« ausgab. Darin hieß es: »Russland muss seine Grenzen so weit wie möglich nach Indien und Konstantinopel ausdehnen. Wer im Besitze von Konstantinopel ist, ist Herr der Welt. Russland muss deshalb fortwährend Krieg mit der Türkei und Persien führen … Es muss … bis nach dem persischen Meerbusen … und bis Indien … vordringen.« Es war eine Fälschung, aber sie klang so plausibel, dass sie Napoleon bis nach Moskau (und wieder zurück) trieb. Russland befindet sich als Seemacht geografisch im Nachteil, und nur sein Reichtum an Bodenschätzen wie Öl und Gas kaschiert diese Schwäche.

Beim sowjetischen Einmarsch in Afghanistan1979, mit dem die kommunistische afghanische Regierung gegen antikommunistische muslimische Rebellen unterstützt werden sollte, ging es nie darum, dem afghanischen Volk die Freuden des Marxismus-Leninismus zu bringen. Vielmehr wollte Moskau die Kontrolle in jenem Gebiet sicherstellen und verhindern, dass jemand anderes sie bekam. Es ist sogar möglich, dass die Invasion Afghanistans der großrussischen Hoffnung Nahrung gab, russische Soldaten würden »ihre Stiefel noch im Indischen Ozean waschen«, wie es der ultranationalistische Liberaldemokrat Wladimir Schirinowski formuliert hat.

Allerdings war dank der eindrucksvollen Ebenen von Kandahar und der Berge des Hindukusch keine Besatzungsmacht je erfolgreich in Afghanistan. Das hat dem Land das Prädikat »Friedhof der Weltreiche« eingebracht, und die russische Afghanistanerfahrung wird gelegentlich auch als »Vietnam Russlands« bezeichnet. Moskaus Traum von offenen Seewegen in warmen Gewässern hat sich seither immer mehr verflüchtigt und ist heute vielleicht in weitere Ferne gerückt als noch in den letzten 200 Jahren.

Ende des letzten Jahrhunderts führten letztlich drei Dinge zum Zerfall der UdSSR: das Ausgeben von mehr Geld, als vorhanden war, marktwirtschaftlicher Irrsinn und die Niederlage in den afghanischen Bergen. Als sie auseinanderbrach, zerfiel die Sowjetunion in 15 Länder. Die Geografie rächte sich an der kommunistischen Ideologie, und auf der Landkarte erschien nun nicht mehr ein ideologisches, sondern ein logisches Bild, auf dem die Geografie, nämlich die Berge, Flüsse, Seen und Meere, aufzeigt, wo die Menschen leben, wo sie voneinander getrennt sind und wieso sie unterschiedliche Sprachen und Kulturen entwickelt haben. Eine Ausnahme von dieser Regel sind die »Stans«, wie beispielsweise Tadschikistan, deren Grenzen von Stalin bewusst gezogen wurden, um die einzelnen Staaten zu schwächen, indem dafür gesorgt wurde, dass große ethnische Minoritäten in ihnen leben. Betrachtet man die Dinge in historischen Zeiträumen – was die meisten Diplomaten und Militärstrategen tun –, ist für alle Länder, die zur UdSSR gehörten, sowie für einige aus dem Warschauer Pakt immer noch alles offen.

Es ist kein Zufall, dass viele der heute prowestlichen Staaten zu denen gehören, die am stärksten unter der sowjetischen Tyrannei gelitten haben, wie beispielsweise Polen, Lettland, Litauen, Estland, die Tschechische Republik, Ungarn und Rumänien. Zu diesen sind Georgien, die Ukraine und die Republik Moldau hinzuzufügen, die sich gern sowohl der EU als auch der NATO anschließen würden, aber auf Abstand gehalten werden, weil sie geografisch zu nah an Russland liegen und sich auf dem Boden aller drei Länder russische Truppen befinden. Eine NATO-Mitgliedschaft auch nur eines dieser drei Länder könnte einen Krieg auslösen.

All dies erklärt, warum Moskau2013 so scharf reagierte, als die politische Schlacht um die künftige Richtung der Ukraine begann. Solange in Kiew eine prorussische Regierung an der Macht war, konnten die Russen darauf vertrauen, dass ihre Pufferzone intakt blieb und die nordeuropäische Tiefebene sichern würde. Selbst eine betont neutrale Ukraine, die zusichern würde, weder der EU noch der NATO beizutreten und den Pachtvertrag mit Russland über den Hafen Sewastopol auf der Krim, Russlands einzigem eisfreien Hafen, einzuhalten, war akzeptabel. Dass die Ukraine von russischen Energielieferungen abhängig blieb, machte ihre zunehmend neutrale Haltung für Moskau erträglich, auch wenn sie ärgerlich war. Doch eine prowestliche Ukraine mit Ambitionen, den beiden großen westlichen Bündnissen beizutreten, die Russlands Zugang zu den Schwarzmeerhäfen infrage stellen würde? Eine Ukraine, die eines Tages sogar eine NATO-Marinebasis beheimaten könnte? Das ging nicht.

Der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch versuchte, beide Seiten zufriedenzustellen. Er flirtete mit dem Westen, erwies Moskau aber ebenfalls Reverenz – daher tolerierte ihn Putin. Erst als Janukowytsch kurz davorstand, ein weitreichendes Handelsabkommen mit der EU abzuschließen, eines, das zur Mitgliedschaft führen konnte, zog Putin die Schrauben an.

Für die russische außenpolitische Elite ist eine EU-Mitgliedschaft nichts anderes als ein Trick, um in die NATO aufgenommen zu werden. Und eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine überschreitet für Russland die rote Linie. Putin verstärkte den Druck und machte Janukowytsch ein Angebot, das er besser nicht ablehnte. Der ukrainische Präsident stieg aus dem EU-Geschäft aus, schloss einen Pakt mit Moskau und entfachte damit die Proteste, die schließlich zu seinem Sturz führten. Die Deutschen und die Amerikaner förderten die Oppositionsparteien, wobei Berlin vor allem den früheren Boxweltmeister Vitali Klitschko als seinen Mann sah.

In Kiew flammten Straßenkämpfe auf, und überall im Land nahmen die Demonstrationen zu. Dann, am 22. Februar2014, nachdem es in Kiew Dutzende von Toten gegeben hatte, floh der ukrainische Präsident, der um sein Leben fürchtete. Antirussische Gruppierungen, von denen manche prowestlich, andere profaschistisch waren, übernahmen die Regierung. In diesem Moment waren die Würfel gefallen. Präsident Putin hatte eigentlich keine Wahl – er musste die Krim annektieren, auf der nicht nur viele russischsprachige Ukrainer leben, sondern wo, viel wichtiger, auch der Schwarzmeerhafen Sewastopol liegt.

Dieser geografische Imperativ und die ständige Ostwärtsbewegung der NATO insgesamt waren genau das, was Putin im Hinterkopf hatte, als er in einer Rede zur Annexion sagte: »Russland fand sich an einem Punkt wieder, an dem es nicht mehr zurück konnte. Wenn man eine Spirale bis zum Anschlag zusammendrückt, springt sie irgendwann heftig zurück. Das dürfen Sie nie vergessen.«

Sewastopol ist für Russland der einzige bedeutende Hafen, weil er ganzjährig eisfrei ist. Allerdings ist der Zugang vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer eingeschränkt durch den Vertrag von Montreux von1936, der der Türkei – heute NATO-Mitglied – die Kontrolle über den Bosporus einräumt. Und nach der Durchquerung von Bosporus und Dardanellen müssen die Russen ohnehin noch durch die Ägäis, ehe sie das Mittelmeer erreichen, von wo aus sie entweder die Straße von Gibraltar oder den Suezkanal passieren müssen, um in den Atlantik oder den Indischen Ozean zu gelangen.

Fast zwei Jahrhunderte lang gehörte die Krim zu Russland, ehe sie 1954 von Nikita Chruschtschow der Sowjetrepublik Ukraine übertragen wurde – zu einer Zeit, in der man davon ausging, dass die Sowjetunion ewig bestehen würde und damit auch ewig von Moskau kontrolliert werden würde. Nachdem die Ukraine nicht mehr sowjetisch und nicht einmal mehr prorussisch war, musste Putin etwas unternehmen. Wussten die westlichen Außenpolitiker das? Falls nicht, hatten sie eine Grundregel aus dem Lehrgang »Diplomatie für Anfänger« vergessen: Wenn eine Großmacht mit einer existenziellen Bedrohung konfrontiert ist, reagiert sie mit Gewalt.

Dennoch ist es zu einfach gedacht, wenn man annimmt, die USA und die Europäer hätten schon darauf gewartet, die Ukraine als vollwertiges Mitglied in der demokratischen Welt mit ihren liberalen Einrichtungen und ihrer Rechtsstaatlichkeit zu empfangen, und dass Russland nicht viel dagegen tun konnte. Das ist eine Perspektive, die den Umstand ignoriert, dass Geopolitik auch im 21. Jahrhundert noch existiert und Russland sich nicht an Rechtsstaatlichkeit hält.

In ihrem Siegestaumel hatte die neue Interimsregierung der Ukraine sofort einige törichte Mitteilungen gemacht, nicht zuletzt die Ankündigung, man wolle Russisch als zweite Amtssprache in verschiedenen Regionen abschaffen, einschließlich der Krim. Der Kreml hat ein Gesetz verabschiedet, das die Regierung verpflichtet, »ethnische Russen« zu schützen. Was unter dieser Bezeichnung zu verstehen ist, lässt sich per se schwer fassen, denn Russland kann diese in jeder potenziellen Krise nach Bedarf definieren. Im Gebiet der früheren Sowjetunion, aber außerhalb Russlands leben Millionen ethnische Russen. Ungefähr 60 Prozent der Krimbevölkerung sind »ethnische Russen«, also fand der Kreml offene Türen.

Putin unterstützte die Demonstrationen gegen Kiew und schürte so viel Unruhe, dass er am Ende nur noch seine im Marinestützpunkt stationierten Truppen losschicken musste, und die Krim gehörte de facto wieder zu Russland.

Man könnte anführen, dass Putin eine Alternative gehabt hätte: Er hätte die territoriale Einheit der Ukraine respektieren können. Aber wenn man in Betracht zieht, dass er sich mit den gottgegebenen geografischen Bedingungen abfinden musste, war das nie eine echte Option. Putin hat sicher nicht die Absicht, in die Geschichtsbücher als der Mann einzugehen, »der die Krim verloren hat« – und mit ihr den einzigen eisfreien Hafen, zu dem sein Land Zugang hat.

Niemand sprang der Ukraine bei, als sie ein Gebiet so groß wie Belgien oder der US-amerikanische Bundesstaat Maryland verlor. Die Ukraine und ihre Nachbarländer kannten die geografische Wahrheit: Solange man nicht in der NATO ist, ist Moskau nahe und Washington weit weg. Für Russland ging es um eine existenzielle Frage: Es konnte sich nicht leisten, die Krim zu verlieren, aber der Westen konnte das durchaus.

Die EU verhängte halbherzige Sanktionen – halbherzig, weil mehrere europäische Länder, darunter Deutschland, von russischen Energielieferungen abhängen, um ihre Wohnungen im Winter zu heizen. Die Pipelines verlaufen von Ost nach West, und der Kreml kann den Hahn auf- und zudrehen. Energie wird in den kommenden Jahren immer wieder als politischer Machtfaktor eingesetzt werden, und das Konzept der »ethnischen Russen« wird benutzt werden, um das jeweilige Vorgehen Russlands zu rechtfertigen.

Als Putin 2014 in einer Rede den Begriff »Noworossija« oder »Neurussland« erwähnte, holten die Kremlbeobachter tief Luft. Denn Putin hatte eine geografische Bezeichnung für jene Gebiete wiederbelebt, die Russland Ende des 18. Jahrhunderts unter der Herrschaft von Katharina der Großen dem Osmanischen Reich abgenommen hatte. Katharina hatte damals für die Ansiedlung von Russen gesorgt und verfügt, dass Russisch die Verkehrssprache wurde. An die neu gegründete Ukrainische Sowjetrepublik wurde »Noworossija« erst 1922 abgetreten. »Warum?«, fragte Putin rhetorisch und fügte hinzu: »Überlassen wir Gott die Beurteilung.« In seiner Rede zählte Putin die ukrainischen Regionen Charkiw, Luhansk, Donezk, Cherson, Mykolajiw und Odessa auf, ehe er sagte: »Russland verlor diese Gebiete aus unterschiedlichen Gründen, aber die Menschen sind dortgeblieben.«

Es war keine Überraschung, dass Russland nach der Annexion der Krim die prorussischen Erhebungen im industriellen Kernland der Ostukraine, in Luhansk und Donezk, unterstützte. Russland hätte damals versuchen können, mit seinen Panzern zum Ostufer des Dnjepr in Kiew vorzudringen. Aber die Probleme, die das mit sich gebracht hätte, wären zu lästig gewesen. Nachdem die Krim wieder halbwegs gesichert war, konnte das warten. Weit weniger mühsam und billiger war es, die Unruhen an der Ostgrenze der Ukraine zu unterstützen und Kiew daran zu erinnern, wer die Energieversorgung kontrollierte, um sicherzustellen, dass Kiews Verliebtheit in den flirtbereiten Westen nicht mit einem NATO-Beitritt endete.

Die verdeckte Unterstützung der Erhebungen in der Ostukraine war logistisch einfach und hatte den Vorteil, dass man sie auf internationalem Parkett gegebenenfalls leugnen konnte. Im Sitzungssaal des UN-Sicherheitsrats einfach zu lügen, ist leicht, wenn der Gegenspieler keine konkreten Beweise hat und, noch wichtiger, vielleicht auch gar keinen konkreten Beweis haben will, weil er dann womöglich etwas unternehmen müsste. Viele westliche Politiker atmeten erleichtert auf und murmelten leise: »Gott sei Dank ist die Ukraine nicht in der NATO, sonst müssten wir einschreiten.«

Die Annexion der Krim zeigt, dass Russland bereit ist, militärisch zu intervenieren, wenn es darum geht, seine Interessen im von ihm so bezeichneten »nahen Ausland« zu verteidigen. Es war ein kalkulierbares Risiko, dass außenstehende Mächte nicht eingreifen würden und die Krim »machbar« sei. Sie liegt dicht bei Russland, kann über das Schwarze und das Asowsche Meer versorgt werden, und es war mit interner Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung auf der Halbinsel zu rechnen.

Russland war mit der Ukraine aber noch nicht fertig. Die Lage im Donbass war nach wie vor instabil, und die Kampfhandlungen nahmen kein Ende. Im November 2018 kam es zu einem internationalen Zwischenfall. Die russische Küstenwache stoppte einen ukrainischen Schlepper und zwei Patrouillenboote, die aus Odessa kommend zum ukrainischen Stützpunkt in Mariupol am Asowschen Meer fahren wollten. Die NATO ließ durchblicken, sie werde schon dafür sorgen, dass die Zufahrt zum Asowschen Meer frei bliebe. Die Antwort kam von Ruslan Balbek, einem Abgeordneten der Krim im russischen Parlament. »Die NATO«, sagte er, »kann mit den Fäusten auf ihrer Brust herumtrommeln, so viel sie will. Die Durchfahrt erfolgt nach den russischen Regeln.«

Demnach war abzusehen, dass es zu weiteren Auseinandersetzungen in der Ukraine kommen würde. Wer Russlands Geschichte und Putins obsessiven Nationalismus und seine imperialistischen Ziele im Blick hatte, wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Und man wusste auch, dass er die Ukraine eher zerschlagen würde, als zu erlauben, dass sie ihre Zukunft selbst bestimmte. Der Zeitpunkt kam, und zwar am 24. Februar 2022.

Wenn es um Geopolitik geht und Krieg droht, gibt es eine Schwäche im westlichen Denken. Zu viele Politiker überschätzen die Logik und unterschätzen das Gefühl. Für sie ist es logisch, dass Krieg eine schlechte Sache ist, aber dann verwechseln sie ihr eigenes Denken mit dem von anderen. Mit solchen Männern wie Wladimir Putin.

Manche Russen – wie zum Beispiel eben auch Putin – denken, ähnlich wie viele Amerikaner, dass sie in einem Land leben, das von der Vorsehung einen besonderen Auftrag erhalten hat. So legte der russische Präsident im Jahr vor der Invasion seine Ansichten über die Ukraine in einem langen Aufsatz mit dem Titel »Über die historische Einheit von Ukrainern und Russen« dar. Darin zitierte er die Worte von Oleg dem Propheten († 912), dem Begründer der Kiewer Rus: »Kiew soll die Mutter aller russischen Städte sein.« Die Vorstellung, die Ukraine könne eine von Russland getrennte Nation sein, wurde als eine Idee der »polnischen Elite« und der österreichisch-ungarischen Behörden in der K.-u.-k.-Monarchie bezeichnet. Putin scheint der Theorie anzuhängen, dass Moskau das »Dritte Rom« und nach dem Fall von Rom und Konstantinopel die neue Hauptstadt des Christentums sei. Eine getrennte ukrainisch-orthodoxe Kirche kommt für ihn nicht in Betracht.

Eine andere Erklärung für Russlands Besetzung lautet: Mit ihren riesigen Weizen- und Maisfeldern ist die Ukraine einer der größten Getreideproduzenten und -exporteure. Außerdem liegen unter der berühmten fruchtbaren Schwarzerde auch noch wertvolle nachgewiesene Bodenschätze: Nickel, Grafit, Eisen, Kobalt, Mangan, Titan – die Liste ist lang. Und wer weiß, in den Sedimentschichten könnten sogar die größten europäischen Lithiumvorräte schlummern, das zurzeit als das »weiße Gold« gilt.

Die meisten Minen im Südosten der Ukraine wurden geschlossen, als der Krieg ausbrach, und die westlichen Investitionen in langfristige Projekte gingen sofort zurück. Den Kreml störte das nicht, er kann das Getreide und die Metalle gebrauchen, auch weil er kein großes Interesse an dem Streben der EU nach Fossilfreiheit hat. Wenn er die Ukraine vollkommen beherrscht, hätte er beides erreicht und auch den wichtigen Hafen Odessa und die lange Grenze zu Polen wieder unter Kontrolle.

Solche räuberischen Überlegungen fehlten in Putins Aufsatz. Stattdessen fanden sich die Worte: »Wir werden niemals erlauben, dass unsere historischen Gebiete und Menschen, die dort in unserer Nähe leben, gegen Russland verwendet werden … denn wir sind ein Volk.« Doch schon wenige Tage nach Beginn der Invasion musste er feststellen, dass es viele Ukrainer gab, die das anders sahen, und der Preis für seine Fehleinschätzung waren ein paar Zehntausend Tote. In kürzester Zeit waren 6,8 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in die EU geflohen. Der Imperialismus und das Konzept der gewaltsamen Verschiebung von Grenzen waren für Europa wieder Realität geworden.

Als Russland 200 000 Soldaten an den Grenzen der Ukraine zusammenzog, hielten viele westliche Beobachter das für einen Bluff. Die meisten dachten auch, eine Invasion würde die Ukraine in wenigen Tagen überrollen. Beides war falsch. Eigentlich schien es der Plan gewesen zu sein, mit einem schnellen Vorstoß Kiew von Norden und den Dnjepr von Osten her zu erreichen. Wenn Odessa und damit der wichtigste Hafen gefallen wäre, wäre das Land im Grunde von der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Die Truppen wären dann sehr leicht in die von der Republik Moldau abtrünnige russischsprachige Region Transnistrien vorgedrungen.

Aber die Realität sah anders aus. Sie zeigte die Unfähigkeit und die Brutalität der russischen Streitkräfte. Als die nach schweren Kämpfen und Verlusten ihre Niederlage eingestehen und Kiew wieder verlassen mussten, fanden die Ukrainer in Butscha, einem Vorort von Kiew, nicht nur Massengräber, sondern auch Leichen von Zivilisten mit sichtbaren Foltermerkmalen. Darüber waren die Europäer und Amerikaner so entsetzt und schockiert, dass sie schließlich handeln mussten. Es wurden Geld und Waffen in die Ukraine geschickt, über Truppen redete niemand.

Die Russen wirkten verwirrt und stockten die Anzahl der eingesetzten Soldaten erheblich auf. Im Juni 2022 hatten sie im Süden etwa 20 Prozent des Territoriums der Ukraine besetzt und eine fast 1000 Kilometer lange Front von Luhansk bis Cherson geschaffen, bei deren Sicherung sie nicht nur den über 200 Kilometer langen Kachowka-Stausee am Dnjepr, sondern auch Schützengräben und andere befestigte Stellungen einsetzten. Da der Blitzkrieg misslungen war, stellten sie sich jetzt auf eine lange Auseinandersetzung ein, zumindest schien es so.

Als Präsident Biden Kiew besuchte, versprach er, die USA würden der Ukraine immer den Rücken stärken. Gleichzeitig sah es so aus, als ob Jewgeni Prigoschin, der Anführer der Wagnergruppe, Putin in den Rücken fallen wolle. 2023 befahl er seinen Söldnern, Richtung Moskau zu marschieren, weil es ihm an der Front nicht schnell genug ging. Der Kreml arrangierte einen Deal und versprach ihm freies Geleit, aber wenig überraschend starb er zwei Monate später bei einem Flugzeugunfall. Das Jahr endete damit, dass Putin die besetzten Gebiete annektierte und weitere 300 000 Reservisten einberief. Im selben Jahr wurden vom Westen regelmäßig Waffen in die Ukraine geliefert, wenn auch nicht immer von der Art, die das ukrainische Oberkommando für notwendig hielt. Das Getreide, das in den blockierten Häfen lagerte, konnte ausgeführt werden, um eine mögliche Nahrungskrise zu vermeiden.

Im Jahre 2024 wurde erkennbar, dass Putins Plan B zum Erfolg führen könnte. Er hatte sich offenbar vorgenommen, sowohl auf dem Schlachtfeld als auch in der Politik einen Abnutzungskrieg zu führen und darauf zu warten, was die amerikanischen Wahlen im November ergeben würden. Falls Trump gewinnen würde, war es durchaus denkbar, dass die militärische Unterstützung der Amerikaner für die Ukraine nachlassen würde. Angesichts der Tatsache, dass Russland weitaus mehr Soldaten aufbieten und fünfmal so viele Granaten verfeuern kann, würde Kiew den Krieg ohne Unterstützung des Westens verlieren. Die westlichen Waffenlieferungen hatten schon im Herbst 2023 nachgelassen, als der lange erwartete ukrainische Gegenangriff an der Südfront gescheitert war. »Wir haben viel geliefert, aber es hat nicht funktioniert. Warum sollen wir weitermachen?«, fragten sich die politischen Kreise. Und das war genau das, was Russland gehofft hatte.

Die Briten, Schweden, Balten, Tschechen und andere schienen weiter zu allem entschlossen, aber Frankreich zeigte sich unentschlossen, Deutschland zögerte, und Spanien, Italien und Ungarn gehörten zu denen, die dachten, es sei Zeit für Frieden und eine diplomatische Lösung. Alles hing von der amerikanischen Präsidentschaftswahl im November 2024 ab.

Die Uhr tickte, und Kiew wagte einen kühnen Versuch: Im August 2024 unternahm die Ukraine einen überraschenden Vorstoß in Richtung der russischen Großstadt Kursk. Einige Tausend Elitesoldaten besetzten im Handstreich die Kleinstadt Sudscha und etwa tausend Quadratkilometer russisches Gebiet. Kiew brauchte Siegesmeldungen und eine Verhandlungsmasse für etwaige Friedensgespräche. Erst zum Winterbeginn zogen die Russen etwa 50 000 Mann zusammen und begannen, unterstützt von einigen Tausend Nordkoreanern, mit der Vertreibung der Eindringlinge.

Kiew beobachtete die US-Wahlen ganz genau. Schließlich hatte die Biden-Administration mehr Geld und Waffen investiert als alle europäischen Staaten zusammen. Ohne die von den USA gelieferten Rüstungsgüter hätte Kiew mit Sicherheit keine zwei Jahre durchhalten können. Aber worum ging es den Amerikanern dabei? Um die Unterstützung der Demokratie – und amerikanische Interessen.

Die Ukraine ist das größte Land, dessen Gebiet vollständig in Europa liegt und einen Zugang zum Schwarzen Meer besitzt. Washington wusste, dass eine Niederlage auch bedeuten würde, dass die russischen Truppen dann an der polnischen Grenze und in Odessa stehen würden. Als wichtigster NATO-Partner wären die USA verpflichtet, zu einem Zeitpunkt weitere Truppen in Europa zu stationieren, zu dem sie sich eigentlich auf die Pazifikregion konzentrieren wollten. Und ein direktes Gegenüber von NATO- und russischen Truppen erhöhte natürlich das Risiko eines Konflikts. Seit dem Ersten Weltkrieg hatte die amerikanische Außenpolitik immer darauf geachtet, dass keine europäische Macht den Kontinent beherrscht und den USA in irgendeiner Weise gefährlich werden könnte. Das war einer der Gründe, weshalb die USA in beide Weltkriege eintraten und während des Kalten Kriegs in Europa blieben.

Präsident Biden teilte diese Auffassung. Donald Trump nicht. Und die meisten jener Männer, die er nach seinem Erdrutschsieg bei den Wahlen am 5. November 2024 für sein künftiges Kabinett nominierte, waren ganz seiner Meinung. Biden – der noch knapp neun Wochen im Amt hatte – reagierte damit, dass er Kiew erlaubte, Langstreckenraketen in Richtung Russland abzufeuern, um seine Verhandlungsposition zu verbessern. Es war das letzte Zugeständnis in einer langen Reihe, bei der er nur nach monatelangem Zögern, und erst nachdem Russland der Ukraine massiv geschadet hatte, dem Drängen nachgegeben und nacheinander Panzer, Kampfflugzeuge und Mittelstrecken geliefert hatte, weil er bei jedem Schritt fürchtete, Moskau zu provozieren.

Trump und sein Team scheinen sich hingegen auf die indopazifische Region konzentrieren zu wollen statt auf Europa. Ihnen ist daran gelegen, den Krieg zu beenden, um Kosten zu sparen, das eigene Waffenlager wieder aufzufüllen und der wachsenden Herausforderung China zu begegnen. Die Europäer sollten sich daran gewöhnen, dass sie sich von nun an selbst um ihre Sicherheit kümmern müssen. Tatsächlich gibt es auch einige europäische Regierungen, die insgeheim gar nicht unglücklich darüber wären, ihre eigenen Streitkräfte besser auszurüsten, statt Waffen in die Ukraine zu schicken.

Die Amerikaner, die sich bereits in Richtung einer neuen Außenpolitik bewegen, bei der sie sich von bestehenden Strukturen weniger eingeengt fühlen, und bereit sind, je nach ihren Notwen