Die Macht des Schwertes - Doris Vogt-Köhler - E-Book

Die Macht des Schwertes E-Book

Doris Vogt-Köhler

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Beschreibung

Die Wege zweier Frauen werden auf unterschiedliche Art vom ideologischen System der DDR bestimmt. Beide haben enorme Hindernisse zu überwinden. Marie, die junge Lehrerin, hat nicht nur ihr Kind und ihren Mann verloren, auch ihr bis dahin lebenswertes Umfeld ist komplett zusammengebrochen. Ausgestoßen und abgeschoben soll sie sich als Lehrerin in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Mecklenburg bewähren. Die beruflich erfolgreiche Ärztin Frau Dr. Junghans ist voller Tatendrang. Sie will der immer mehr verkrusteten Enge entfliehen und sich in Bulgarien eine neue Existenz aufbauen. Beide Frauen verfolgen unabhängig voneinander ein Ziel. Sie wollen das erbärmliche, abgeschminkte Dasein hinter sich lassen. Die autobiografischen Züge dieses Buches kommen durch die sehr offenen und emotionalen Bekenntnisse der Autorin zum Vorschein. Diese Geschichte Frauenschicksale liest man an einem Stück, weil sie bisweilen erschrecken und unter die Haut gehen.

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Seitenzahl: 148

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© 2012 Verlag Kern

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-939-478-836

ISBN eBook: 9783939478904

© Inhaltliche Rechte beim Autor

Autorin: Doris Vogt-Köhler

Herstellung: www.verlag-kern.de

Lektorat: Manfred Enderle

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

Doris Vogt-Köhler

Die Macht des Schwertes

Der Stasi entkam niemand.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Titelseite

Gedicht

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Begriffserläuterungen

Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt

war ich eine Schwertlilie.

Meine suchenden Wurzeln

saugten sich

um einen Stern.

Aus seinen sich wölbenden Wassern,

traumblau,

in neue, kreisende Weltenringe

wuchs,

stieg, stieß

zerströmte, versprühte sich – meine dunkle Riesenblüte.

Arno Holz, Phantastus 1916

1

Der Zug hält mit einem quietschenden Ruck. Marie balanciert Trittbrett für Trittbrett den Koffer nach sich ziehend den uralten Eisenbahnwaggon hinunter. An zwei Holzstangen ist ein Schild befestigt: Kleinzwözen. Also hier ist sie richtig.

Der Bahnhofsvorsteher steuert bereits auf einen Flachbau aus roten Klinkern zu, nachdem er einen durch Mark und Bein gehenden Pfiff aus seiner Trillerpfeife abgegeben hat. Der Zug rollt so schnöde und nichtssagend davon, wie er gekommen ist. Aussteigen und Ankommen im Nichts, in einem verwaschenen Bettlaken von Grau in Grau. Jetzt lugt der Bahnhofsvorsteher doch hinter einem zerkratzten, vergitterten Glasfenster hervor. Er wendet nicht einmal den Blick von ihr, als sie ihn ebenso anstiert. Die Augen in seinem Kopf scheinen bewegungsstarr. Nichts deutet darauf hin, dass er mit ihr Kontakt aufnehmen möchte. Der Sand unter ihren Füßen gibt nach. Er ist noch regenfeucht. Einzelne Pfützen zeichnen sich ab.

Genau dem Bahnhofsgebäude gegenüber sitzen drei alte, dunkel gekleidete Frauen auf einer Bank. Die Münder von allen Dreien sind fest verschlossen, und doch scheinen sie sich zu unterhalten. Die Frau rechts nickt ab und zu. Die Hände der Frau in der Mitte schwimmen über ihren Schoß. Die Frau links putzt unentwegt ihre Nase in ein umhäkeltes Taschentuch. Die Beine der drei Frauen stehen wie ein schwarzer Säulengang unter der Bank.

Als Marie genau vor ihnen steht, schaut sie in ihre Gesichter und sucht da, wo die Augen sind, eine Regung. Wimpernlos und krallig richten sie ihren Blick an ihr vorbei in eine verlassene Ferne, in die am Horizont gerade der Zug eintaucht. Sicher sehen sie Tag für Tag und Jahr für Jahr diesem 10-Uhr-Zug nach. Warum sollen sie diese zum Reflex gewordene Gewohnheit wegen der Gestalt da aufgeben? Im Übrigen will sie auch gar nichts von den Frauen. Es gibt sowieso nur diese eine durchlöcherte Teerstraße in Richtung Kleinzwözen.

Meter um Meter schleppt sie den immer schwerer werdenden Koffer weiter. Der Koffer mit seinem spärlichen, von der Stasi genauestens überprüften Inhalt, ist ihr einziger Besitz. Sie weiß nicht einmal, wer diesen Koffer gepackt hat. Geramschte Unterwäsche, aber auch eine fein gestickte Bluse ihrer Oma, die sie immer für ihre Kleiderentwürfe inspiriert hatte, waren neben den ausschließlich schwarzen Kleidungsstücken dabei. Der Koffer ihr rettender Strohhalm? Eine alte, halbverhungerte Krähe mit abgefledderten Federn beäugt sie von der Telefonleitung. Nur die Russen durften so stümperhaft Leitungen verlegen. Sie krächzt mit aufkommender Selbstironie zurück und bringt die Kraft auf, den Koffer höher zu heben. Wenigstens die Dorfköter kündigen sie an. Es klingt in ihren Ohren wie ein pathetisches Wutgebrüll. Angst spürt sie nicht so wie früher. Die ist ihr verloren gegangen.

Das Bürgermeisteramt liegt neben der Kirche. Es ist ein zweistöckiges, graues und vom äußeren Eindruck her wackeliges Gebäude mit kaputter Dachrinne. Vor dem Eingang hält sich noch eine große Pfütze. Links und rechts stehen, die Straße einrahmend, flache Katen. Marie läuft mitten durch die Pfütze, weil ihr die Kraft fehlt, das runde Nass zu umgehen. Auf den ausgetretenen Dielen hinterlässt sie feuchte Abdrücke. Geradeaus steht eine Tür offen. Sie betritt einen Raum mit einer erstaunlich hohen Decke. Dumpfer Geruch schlägt ihr entgegen. Durch die nur angelehnte Tür des nachfolgenden Zimmers hört sie eine kräftige, aber versoffen klingende Stimme:

„Genossin, das war nicht so vereinbart. Die Parteileitung wird auch noch ein Wörtchen mitzureden haben. Immer deine eigenmächtigen Entscheidungen. Ich sage dir, die Familie Loser bleibt vorläufig im Gut wohnen. Das Dach wird repariert.“

„Als Bürgermeisterin bin ich für die Wohnungsvergabe zuständig. Familie Loser wartet schon fünf Jahre auf eine Wohnung. Sie ist jetzt an der Reihe, sonst machen wir uns alle unglaubwürdig.“

Dabei richtet die Bürgermeisterin ihren Blick voll Spannung auf die sich langsam öffnende Tür. Marie sieht zuerst die zwei voluminösen Brüste abgelegt auf dem Schreibtisch mit den geschnitzten Türen. Über den Brüsten sitzt gleich ein jugendliches Gesicht umgeben von braun gewellten Haaren. Darüber das Bild von Erich Honecker mit dem grinsenden, schmallippigen Mund und dem an allen vorbei schauenden Blick, der sagen will: Ich bin der Schönste und Größte der ganzen Republik.

„Kommen Sie rein. Wir haben schon am Sonnabend auf Sie gewartet.“

„Sie wissen also, wer ich bin?“

Trotzig mit erhobenem Haupt und fester Stimme stellt Marie diese Frage. Sie ist selbst über sich erstaunt.

„Hierher verläuft sich so schnell niemand. Die Abteilung Volksbildung hat uns mitgeteilt, dass eine neue Lehrerin kommt.“

Die Bürgermeisterin geht auf sie zu und reicht ihr eine zierliche Hand mit rot lackierten Fingernägeln.

„Haben Sie auch meinen Personalausweis?“

Marie will mit dieser Frage der schmeichelnden Schlauheit der Bürgermeisterin Paroli bieten.

„Nein, der liegt sicher noch da, wo Sie herkommen. Aber es geht ja nichts verloren. Den Personalausweis brauchen Sie hier nicht.“

Bei der Antwort lächelt die Bürgermeisterin ganz un­befangen.

So ein abgebrühtes Stückchen Scheiße, ist Maries einziger Gedanke.

Wie ein blinkender Leuchtturm protzt der vormalige Gesprächspartner auf der anderen Seite des Schreibtisches.

Die bleibt auch nicht lange. Die drehen hier alle durch, ob Männlein oder Weiblein. Sicher wieder so eine Staatsverhetzerin oder ausgemusterte Lehrerin, erkennt er sofort.

„Genosse Kurbjuweit fährt Sie gleich zum Kinderheim.“

Diesen Befehlston hätte Marie der Bürgermeisterin in der Situation nicht zugetraut. Marie eine Geächtete, eine Staatsfeindin, auf die niemand mehr baute und die für jeden zum Abschuss freigegeben war.

Diensteifrig will Kurbjuweit, ohne sie eines Blickes zu würdigen, geschweige denn Guten Tag gesagt zu haben, an ihr vorbeieilen. Er fällt fast über den Koffer.

„Erich nimm den Koffer gleich mit!“

Wie eine Bombe haben die Worte der Bürgermeisterin eingeschlagen. Herr Kurbjuweit duckt sich instinktiv, grinst dann doch unterwerfend dümmlich und packt den Koffer mit einem pfeifenden Ton.

Das Kinderheim befindet sich knapp einen Kilometer entfernt in einem ehemaligen Herrenhaus. Eine breite, steinerne Freitreppe führt zu dem mit vier Säulen begrenzten Eingang. Rechts neben der gewaltigen Eichentür ist ein Schild angebracht: „Kinderheim Wilhelm Pieck“. Bei Maries Entlassung aus dem Stasikrankenhaus hatte eine von Machthunger fast schon aufgezehrte Dame verkündet, dass ihr die einmalige Chance vom Arbeiter- und Bauernstaat eingeräumt würde, sich in einem Kinderheim für schwererziehbare Kinder und Jugendliche sowie Hilfsschulkinder zu bewähren. Marie glaubte als Erzieherin dort tätig zu sein und ist über die Einstellung als Lehrerin erstaunt. Kurbjuweit hat sich in einen ganz anderen Menschen verwandelt. Wohlgemut und aufgekratzt schwingt er behende und ohne Aufforderung ihren Koffer die unzählig erscheinenden Stufen hinauf. Die Eingangshalle ist mit Essensdüften angefüllt. Kurbjuweit hat es sehr eilig. Es erscheint nach wenigen Minuten ein wohlbeleibter, großer Mann um die Vierzig. Er begrüßt sie hastig mit fast den gleichen Worten wie die Bürgermeisterin.

„Aha, da sind Sie ja endlich. Ich bin der Direktor des Kinderheimes Wilhelm Pieck, Herr West. Sie sind Frau Radday, nehme ich an.“

Dabei schüttelt er ihre Hand hoch und runter, sodass alle Knochen knacken. Ihr wird leicht schwindlig von dem vielen Fleisch in der Hand. Von unten hört man lautes Weiberlachen, von oben lärmende Schüler.

„Lassen Sie den Koffer stehen! Ihre Schüler warten schon.“

Wie eine wandelnde Riesenechse auf einer Mülldeponie schiebt der Direktor den Scheuereimer aus Zinkblech neben der Treppe und einen Aufsteller „15 Uhr Fußball“ zur Seite. Marie kann bei der ganzen Hektik nur vage erkennen, dass außerdem ein Essensplan und Vertretungen auf dem schmuddeligen Papier des Aufstellers zu finden sind.

In der 1. Etage öffnet Herr West eine abgewetzte, graue Tür und schiebt sie, ganz Kavalier, zuerst hinein. Auf dem Fußboden balgen sich zwischen umgestürzten Stühlen Mädchen und Jungen. Sie kreischen dabei laut vor Freude oder Ärger. Einige sitzen unbeteiligt auf den Tischen und kauen vermutlich Kaugummi. Eine Kreidewolke zieht, bedingt durch den Luftzug von der Tafel, in das Innere des Raumes. Die Tafel wurde höchstwahrscheinlich als Zielscheibe benutzt. Sie widerspiegelt ein wimmelndes Farbspektrum aus der Kreidezeit.

„Was ist denn hier los?“, ruft der Direktor entrüstet, obwohl der Krach schon lange durch das Haus schallte.

„Macht euch auf eure Plätze!“ Bei diesen Worten wackelt die Riesenechse von Direktor zum Lehrertisch.

Die Schüler reagieren äußerst träge.

„Hier stelle ich euch eure neue Lehrerin vor. Benehmt euch anständig!“

Sagt es und watschelt zur Tür, um gleich noch einmal den Kopf durch selbige zu stecken.

„Ach, was ich noch sagen wollte, die Stunde geht bis 13.30 Uhr. Dann gibt es Mittag, und ich erwarte Sie im Büro.“

Marie hält Ausschau nach einem Zeigestock, um dreimal auf den Lehrertisch zu klopfen, wie sie es manchmal in Klassen zu Beginn des Zeichenunterrichtes praktizieren musste. Dabei entdeckt sie an der Seite neben der Tafel ein altes, verkeimtes Waschbecken. Marie dreht den verkrusteten Wasserhahn auf und schlürft das abgestandene Wasser aus der hohlen Hand. Ein wohliges Gefühl breitet sich in ihrem Magen aus. Sie setzt sich, um es zu genießen. Die Schüler haben ihr neues Spielzeug wahrgenommen.

„Das ist ja eine dumme Lehrerin. Säuft Wasser und setzt sich auf ihren Arsch.“

„Die säuft wie ‘ne Kuh, muh!“

„Die machen wir fertig wie Heulsuschen!“

Langsam erheben sich auch die restlichen Schüler vom Boden.

„Seht ihr, da kommen wir uns schon näher.“

Marie bemüht sich, betont ruhig und bestimmt zu klingen.

„Das kannst du haben, blöde Kuh!“

„Dich machen wir fertig.“

„Ja“, feixen zustimmend die anderen Schüler.

Marie erhebt sich wie in Zeitlupe und geht auf den zu, der sie fertig machen will. Von hinten zieht jemand zögerlich an ihrem Zopf. Das Wesen muss etwas kleiner sein als sie und riecht nach Deo Marke Florena. Marie dreht sich nicht um. Später kann das Problem geklärt werden. Jetzt ist erst einmal der potenzielle Fertigmacher dran. Sie fixiert seine Augen und fordert ihn auf:

„Fang an!“

„Ich schlag mich nicht mit blöden Zicken.“

Fehler Nummer eins. Er bleibt sitzen, obwohl er be­stimmt einen Kopf größer ist als sie und fast das Doppelte wiegt. Die anderen lachen laut. Die Spannung steigt.

„Beleidigen kann ich auch, du Mondgesicht!“

Sie geht noch einen Schritt auf ihn zu.

„Halt‘s Maul, gleich schlage ich dir deine Beißerchen raus, du blöde Kuh!“

„Fang an, Arschgesicht!“

Marie provoziert absichtlich mit geduckt vorgekrümmten Schultern, verhaltenem Atem und funkelnden Raubtieraugen. Tückisch wie eine Katze.

Dabei ist jede Muskelfaser bis zum Platzen in ihr gespannt. Sie muss rechtzeitig ausweichen, wenn er aufsteht und zuschlagen will, um ihn dann kräftig mit dem gebeugten Knie in die Genitalien zu stoßen. Sie würde sich nie ohne Gegenwehr schlagen lassen.

„Arschgesicht!“

Marie präsentiert ihm das Wort, als wolle sie den Rauch einer Zigarette ausstoßen. Genießerisch und überlegen.

Das Wort wird zu einem Ventil für die übrigen Schüler.„Äh, die hat Arschgesicht zu dem gesagt.“

„Arschgesicht“, „Arschgesicht“ ertönt es im Chor.

Jetzt zittern die dicklichen Wangen des Wortführers. Er bleibt immer noch sitzen.

„Stinkfotze du!“

Diese Worte haben schon immer gewirkt und werden die Neue in Rage bringen, denkt Sebastian. Aber für ihn ist die Situation neu, dass diese Lehrerin die Worte auch wie Stinkbomben hin und her werfen kann.

„Bettnässer du!“

Maries Stimme klingt fest und machtvoll. Der Dicke ringt um Fassung, wird aber nicht gewalttätig. Blitzschnell ergreift sie seine Hand und sagt:

„Übrigens heiße ich Frau Radday, und wie heißt du?“

„Sebastian heißt er.“

Es ist eine Mädchenstimme, die, als wolle sie helfen, diese Worte ruft.

Mit einem Ruck und völlig irritiert entzieht Sebastian ihr die Hand und wischt sie an seiner Hose ab.

„Pfui, fass mich nicht an, Stinkfotze!“

„Frau Radday heißt das, wenn du Deutsch verstehst.“

Sie geht nach vorn und sagt in die aus Verblüffung entstandene Stille hinein:

„Wir müssen Regeln aufstellen. Die erste Regel heute heißt: Wir beleidigen uns nicht gegenseitig.“

„Regeln aufstellen, das ist ja zum Totlachen. Was denkt die eigentlich von uns.“ Die Schüler machen einen ratlosen Eindruck. Für beide Seiten endlich eine Verschnaufpause. Es klingelt. Die Schüler stürmen hinaus. Ein zierliches, blondes Mädchen kommt zurück.

„Woher haben Sie das gewusst mit dem Bettnässer?“

„Es ist mir nur so eingefallen.“

Marie riecht das Florena-Deo und ahnt, wer sie am Zopf gezogen hat.

„Das stimmt, mein Bruder schläft mit Sebastian in einem Zimmer. Aber dürfen Lehrer überhaupt solche Ausdrücke sagen?“

„Wehrst du dich nicht, wenn man dich anpöbelt und fertigmachen will?“

Marie fühlt sich wie beim Damespiel. Eben hat sie einen Stein übersprungen, ist oben angekommen und zur Dame geworden. So einen unbekümmerten Gedanken hat sie lange nicht gehabt. Sie lacht in sich hinein.

„Sie sollen übrigens zum Essen kommen.“

Das Mädchen sucht ihre Nähe, ruhig und langsam.

Wo ist sie hier nur gelandet? Schlafen. An nichts mehr denken müssen. Alles vergessen. Nicht mehr sein. Das Ziel muss bleiben.

Der Essenraum ist ein Anbau neueren Datums, der sich über den halben Innenhof erstreckt. Herr West winkt Marie zufrieden rülpsend zu. Die jüngeren Schüler haben schon gegessen und rennen sie beim Eintreten fast um. Die ihr eben anvertraute Schar zeigt überhaupt nicht verächtlich in einem Pulk von etwa fünfzig Kindern auf sie. Ein kleines Leuchten von Stolz könnte man sogar aus ihren Blicken entnehmen.

Das ist unsere neue Lehrerin. So, als wollten sie sagen: Wir haben jetzt wieder jemanden, der sich um uns kümmert. Wir sind nicht mehr allein.