Zeit - Form - Leben - Doris Vogt-Köhler - E-Book

Zeit - Form - Leben E-Book

Doris Vogt-Köhler

0,0

Beschreibung

Es ist eine wahre Geschichte. Das Zeitfenster reicht von 1945 bis 2020. In diesem Fenster erscheinen historische Fakten und persönliche Erlebnisse. Der Kunstbildhauer Erich Schmidtbochum aus dem Ruhrgebiet prägt mit seiner Liebe zu den einfachen Menschen auch das Leben einer Familie in Thüringen. Seinem „Lebensretter“ und dessen Familie sendet er regelmäßig Briefe und Kartengrüße. Er weiß, dass er ihnen damit eine Freude bereitet und sie ehrlich an seinem Leben und Schaffen Anteil nehmen. Das Relief „Der Steiger schreibt das Gedinge auf“ ist ein Geschenk an seinen Lebensretter. Es ist eine Tür zum ehemaligen Bergbaugeschehen, hinter der sich manches entdecken lässt. Eine Betrachtung der Lebensart der Familien in Ost und West versucht die Autorin den Lesern nahe zu bringen. Sie ist die Schwester der Schwiegertochter des „Lebensretters“. Die Stadt Bochum ist stolz auf Erich Schmidt und verleiht ihm als Zusatz ihren Stadtnamen, den er ebenso stolz lebenslang trägt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 119

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Doris Vogt-Köhler

Zeit – Form – Leben

Dem Kunstbildhauer Erich Schmidtbochum (1913-1999) zum Gedächtnis

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, September 2023

Autorin: Doris Vogt-Köhler

Layout/Satz: Brigitte Winkler

Lektorat: Heike Funke

Titelbild: „Nathan“, Skulptur von Erich Schmidtbochum vor dem Lessinghaus in Wolfenbüttel.

Fotos: Doris Vogt-Köhler

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-382-0

ISBN E-Book: 978-3-403-2

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Inhalt

Der Kumpel, Freund und Retter, April 1945

Herkunft, Seifenblasen und Überleben

Zeitläufe, Wiedersehen und Geschenk

Vergangenheit, Lebensmittelkarten und Licht

Erfolg, Geschichte und Zuversicht

Ein Leben: Erna und Friedrich Burmann

Eingang, Ausgang und Winkel

Rückblick und Verständnis für Reih und Glied

Stille, Spiegelungen und Abschied

„Der Steiger schreibt das Gedinge auf“ von Erich Schmidtbochum

Der Kumpel, Freund und Retter, April 1945

Noch ist es kein richtiger Frühlingstag mit Sonnenschein und prallen Knospen an den Büschen und Bäumen. Der Himmel ist bedeckt von kleinen Schäfchenwolken. Sie sind wunderschön anzusehen und nicht so eine verpanschte Seifenmasse wie die Tage vorher. Das Thermometer nähert sich langsam dem Zehn-Grad-Strich. Die amerikanischen Truppen sind im Anmarsch. Bochum soll von drei Seiten eingeschlossen werden. Die Meldungen überschlagen sich.

Das Flakregiment, dem ich angehörte, zog sich aus der feindlichen Schußlinie südlich über die Ruhr in die Gemeinde Herbede zurück.

Die Batterieabteilung nahm Stellung etwa 3,5 km in Richtung Sprockhövel.

Ich wurde zum Kurierdienst eingesetzt und machte mich auf den Weg zu dem in der Volksschule untergebrachten Stab. Nachdem ich die Dienstbefehle dort ausgeführt hatte, trat ich den Weg zu meiner Einheit wieder an.

Es dämmerte schon, und ich ging mit großen, schnellen Schritten den kürzesten Weg, der, wie ich glaubte, zu meiner Flakstellung führen sollte. Sehr bald aber wurden die bewaldeten Ruhrberge im Dunkeln eingehüllt und mir wurde die Sicht genommen. Plötzlich stand ich vor einer kleinen Bergmannssiedlung. Vor einem der Häuser stand ein Bergmann, der wohl gerade von der Arbeit heimgekehrt war. Seinean die Dunkelheit gewohnten Augen hatten mich schon von weitem gesehen. Er war ein kräftiger, westfälischer Bergmann mittlerer Größe. Ich sprach ihn an, und da er es nicht für ratsam hielt, im Dunkeln weiterzugehen, weil in unbestimmten Zeitabständen feindliche Granaten fielen, lud er mich ein, erst mal in sein Haus mitzukommen und weiter zu überlegen.

So beschreibt der Kunstbildhauer Erich Schmidtbochum den wohl letzten Abend seines Einsatzes im Zweiten Weltkrieg. Er wird diesen Abend, die schlaflose, unruhige Nacht auf dem Dachboden des kleinen Hauses in der Bergmannssiedlung in Herbede und den Tag danach nie vergessen.

Wer war dieser westfälische Bergmann? Wer war die Hausfrau, die eine kräftige Mahlzeit dem Soldaten auftischte? Überall lauerte noch zusätzlich die Gefahr, die von Wehrmachtsangehörigen ausging, die starrfest im Glauben an den Sieg die Hinrichtung von geflüchteten Soldaten als ihre eingeimpfte Berufung ansahen. Da ist ein Verräter, ein Deserteur, den müssen wir stellen. Der Krieg hatte ihnen Schuldgefühle ausgetrieben. Einst ehrliche, redlich denkende Menschen wurden auf ganz unterschiedliche Art ihres ehemaligen Berufsstandes entwurzelt. Zerstörung auch in den letzten Stunden, fast schon ohnmächtig, glaubten sie an den Endsieg. Eine Auflösung der militärischen Ordnung flößte ihnen Angst ein. Sie fürchteten die Rache der Sieger. Im Krieg folgten sie dem Kommando, konnten sich profilieren als Kämpfer für das Vaterland. Aber wie würde es weitergehen bei einem Waffenstillstand, in einem Frieden? Klar, der Krieg hatte Leid und Tod gebracht, aber sie lebten und wollten nicht umsonst gekämpft haben.

Ein Hauptmann und ein Feldwebel würden sich nicht scheuen, wenn auch kurz vor dem Kriegsschluß, deutsche Soldaten, deren Brust mit Kriegsauszeichnungen geschmückt war, niederzustrecken, in dem Glauben, damit ihre Dienstpflicht ausgeführt und dem Vaterland einen großen Dienst geleistet zu haben.

Die Nerven aufs äußerste gespannt, wie in diesen Minuten, die mir eine Ewigkeit erschienen, glaubte ich während des ganzen Krieges nicht gehabt zu haben, schreibt Erich Schmidtbochum weiter.

Auch ältere Diensthabende wie Polizisten schleppen gehorsam heimatsuchende Landser auf ihr Revier und fragen sie aus. Sie glauben an die Wunderwaffe und den Endsieg. Ohne rechtmäßiges Urteil werden Menschen auf Befehl sogar erdrosselt.

Friedrich Burmann und seine Frau Erna haben die ganze Nacht nicht geschlafen. Ein Soldat auf dem Dachboden. Wir kennen ihn nicht. Sagt er die Wahrheit? Die Mädchen Waltraud und Berta sind mit 19 und 17 Jahren wenig an dem Besuch interessiert, aber der kleine Friedrich mit seinen sechs Jahren bekommt alles mit. Er fühlt die Angst seiner Eltern. Der Abendbrottisch ist reichlich gedeckt. Er isst gern und niemand beobachtet ihn. Eingemachtes von der „Bergmannskuh“, der Ziege Lolita, wurde extra aus dem Keller geholt.

Es ist dieser frühe Morgen, als der Bergmann Friedrich Burmann dem Kunstbildhauer Erich Schmidtbochum den richtigen Weg zu seiner Flakstellung zeigen will. Nicht weit von dem kleinen Bergmannshaus schlagen feindliche Granaten ein. Erich Schmidtbochum sucht sofort Deckung in einer mit Gestrüpp bewachsenen Sandgrube, die einen Durchmesser von 20 Metern hat.

Vertrauensvoll die Worte von dem Bergmann: „Ich hole Sie nachher hier ab.“

Überleben. Ehrliches schwarzes Gestein unter Tage und jetzt über Tage zermahlte Steine, in denen womöglich ein Leben versinkt. Schreckschwarz das eine und eiskalt das andere.

Ich hörte schwere Schritte und Stimmen, die immer deutlicher wurden. Eine Stimme kam mir bekannt vor: „In dieser Grube ist bestimmt wohl keiner, kurz vor dem Überfall sah ich wohl drei Soldaten, zwei kleine und einen größeren, die in den Wald flüchteten.“ Na, sagt er noch so nebenbei, die sind bestimmt auf dem Weg zu Mutter.“ Mich aber brachte der Lebensretter auf den richtigen Weg. Mein Batteriechef hatte eigentlich schon gar nicht mehr mit meiner Rückkehr gerechnet.

So wird ein einfacher Bergmann zum Lebensretter. Was für ein Glück, sonst wären die Kunstwerke eines Schmidtbochum nie geschaffen worden.

Erich Schmidtbochum sendet einen Originalbrief mit diesem Inhalt an Friedrich Burmann und veröffentlicht seine Erinnerungen später in einem kleinen Buch.

Ende 1944 hat Deutschland die meisten eroberten Gebiete verloren. In den ersten Monaten des Jahres 1945 wird das Land von westalliierten und sowjetischen Truppen besetzt. Der Krieg ist zu Ende. Erich Schmidtbochum gibt seine Waffen ab. Er bekommt Zivilkleidung und Entlassungspapiere. Auch diesen Karabiner gibt er ab, den er fest in den Händen hielt, als die Feldgendarmen einen anderen Weg einschlugen und ihn nicht in der Sandgrube entdeckten. Das geschieht alles in der Gemeinde Herbede. Nicht weit entfernt, in Bochum, steht sein neu gebautes Haus mit dem Atelier. Seine geliebte Frau Jo lebt allein darin. Wie mag es ihr gehen? Er will so schnell wie möglich zu ihr.

Diesmal ist es eine alte Frau, die durch ihr Geschrei einen amerikanischen Wachsoldaten an einer Ruhrbrücke auf Erich Schmidtbochum und einen Kriegskameraden aufmerksam macht. Es folgen amerikanische und französische Gefangenschaft. Er erkrankt schwer und spricht später darüber wenig in der Öffentlichkeit.

„Unten im Erdinneren und oben im Himmel spielt sich in dem Zwischenraum das Leben ab. Die Erde ist ein großer Marktplatz, über dem die Jahre schwingen wie über einem Zirkuszelt. Das Leben rast von der Zeit getrieben dahin. Der Raum bleibt, nur die Verhältnisse ändern sich.“ So erinnert sich der Sohn Fritz an die Gespräche Erich Schmidtbochums mit seinem Vater.

Gefahr in den letzten Stunden des Krieges, aber danach Aufbruchstimmung, Überlebensmut. Wunden, die heilen müssen. Ein Durcheinander. Auch im Krieg standen die Zeiger der Uhr niemals still. Die Zeit lief und lief. Die Zeit hat noch niemand besiegt. Frauen und Kinder werden vergewaltigt. Nicht von den Kriegssoldaten, die hatten genug, jetzt von den Siegern. Es ist der Rand des Irrsinns. Vermisstenmeldungen geben Familien Hoffnung, dabei liegen deren Körper verscharrt in unvorstellbarer Ferne mit den letzten Gedanken an Vater, Mutter, Frau und Kinder, an die Jugend. Mit Erdbatzen zugedeckt erreicht die Strahlenenergie der Sonne sie nicht mehr. Schafften es die Seelen heimzukehren? Die Heimkehrer waschen ihre Seelen wieder sauber. Es gelingt nicht jedem, aber vielen. So ist Krieg. Irgendwo und irgendwann.

Die Zeit bestimmt die Form und das Gedinge.

Erich Schmidtbochum versucht, in Aufzeichnungen und Vorträgen seine Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Wie die Steinkohle schwarz, schwer zutage gebracht, um Wärme zu spenden, um Eisen zu schmelzen, gestaltet er seine Gedankenwelt in Spiegelfiguren der Arbeit – Porträts, die kein Gedicht besser beschreiben könnte, und in Figuren der Liebe, ob Mensch oder Tier. Dankbar, das Wertvollste gerettet zu haben, sein Leben, und Dankbarkeit zu zeigen, die ihm dabei geholfen haben.

Wenn es um mich still geworden ist, dann möchte ich gerne in Ruhe zurückschauen auf das, was ich geschaffen habe. Ich würde es als Genugtuung empfinden, wenn ich vielen mit meinen Werken Freude bereitet hätte.

So beschreibt Erich Schmidtbochum in einer Broschüre seine Erwartungen an einen ruhigen Lebensabend. Die Aufnahmen seiner abgebildeten Werke hat seine Frau Jo gemacht. Die hingebungsvolle Haltung, die ausdrucksstark geformten Arme und Hände drücken bei vielen seiner Werke die Arbeit, das Leben, den Herd und die Heimat aus. Die seitlich gestreckten Arme wie: Hurra, ich lebe, oder die Bronzefigur Feierabend sowie viele andere tragen den Herd in sich, der jahrhundertelang Wärme spendete, der heute Ton zum Modellieren bringt und die gegenwärtigen Aggregatzustände der Welt um sich herum bestimmt. Die Steine sind kalt, mit denen sein Keller in Wolfenbüttel gebaut wurde. Er taucht oft ab in diesen Keller. Hier fühlt er sich den Bergmännern verbunden und gestaltet in den Nischen seine Kinder, einmal frohgemut und ohne Rachegedanken, einmal sich überschlagend, wirbelnd ins Nichts. Seine Frau Jo hört jedes Geräusch aus dem Keller. Das Haus ist sehr hellhörig. Manchmal taucht er erst um Mitternacht auf, es treibt ihn die anstrengende Kraft: Ich muss etwas schaffen.

Erna Burmann versteht ihn. Bergverschworene wurzeln tief in ihrem bewohnten Boden, den sie bepflanzen und durchjagen und nicht die Allerletzten sein wollen, denen man Anerkennung für das Geschaffene gewährt. Niemand kennt sie mehr. Niemand weiß, wo ihr Haus stand.

Herkunft, Seifenblasen und Überleben

Unser Vater Ernst Vogt bewirbt sich 1932 zum Eintritt in die Reichsmarine. Er ist 20 Jahre alt und nach seiner Lehre in Schmalkalden als Schlosser im Zuge der Weltwirtschaftskrise nicht von der Firma übernommen worden. Er erwirbt das Deutsche Turn- und Sportabzeichen und besteht die Aufnahmeprüfung der Marineschule in Kiel.

Im Oktober 1932 verpflichtet er sich zu zwölf Jahren Reichsmarine.

Er wird am 8. Oktober 1932 bei der 1. Marine-Artillerie-Abteilung in Kiel eingestellt. Ab April 1933 bis September 1935 fährt er an Bord des Kreuzers Karlsruhe. Anschließend besucht er die Marineschulen in Friedrichsort und Kiel. Weitere Kommandos sind das Torpedoboot Albatros, der Zerstörer Erich Steinbrink und der Kreuzer Barbara. Vom Heizer qualifiziert er sich zum Stabs-Obermaschinistenrat.

Ein Lebensretter in den letzten Tagen des Krieges?

Vom 01.04.1944 bis zum 20.09.1945 ist Ernst Vogt freiwillig bei der 3. Minenräumdivision (14. Räumbootsflottille) weitergefahren und hat überlebt. Er betont immer wieder, wie Erich Schmidtbochum ein Sonntagskind zu sein.

Familienplanung

Dieses verwirrte Schneegestöber in den Bergen des Thüringer Waldes. Arbeitslos. Er sucht nach Zukunft. Auch Rosa fühlt sich nicht wohl. Sie muss ihren kleinen Bruder Kurt ausfahren und wird für seine Mutter gehalten. Das kränkt sie. Sie fährt nur mit dem alten Kinderwagen, in dem sie schon lag, an dem vom Inselsberg herablaufenden Inselswasser entlang und wirft Steinchen in den Bach. Kurt kann schon sitzen und jauchzt vor Freude.

Endlich Heiligabend 1937 und die Hochzeit in Brotterode.

Ihr neuer Wohnort wird Swinemünde.

Im August 1939 wird meine Schwester Adelheid Vogt in Swinemünde geboren. Es ist eine junge, freudige Familie. Sie vertrauen auf die Zukunft. Der Vater unternimmt im Auftrage der Reichsmarine zwei Weltreisen. An einen Vernichtungskrieg denkt niemand, obwohl Fahnen nichts Gutes verheißen. Träume vom Glück, für das sich Strapazen lohnen. Das Leben ist aufregend, opferwillig, dummstolz und einfach schön.

Unsere Mutter holt ihre Schwester Lydia und ihre Cousine Hedwig sofort an die Ostseeküste nach.

Im Thüringer Wald gibt es kaum Arbeit. Die jungen Frauen betreuen in einem Heim nahe Peenemünde die Kinder der vielen Telefonistinnen und Angestellten der von Hitler beauftragten Fabrikationsstätte für Raketengeschosse. Lydia und Hedwig sind von Vater und Onkel Rudolph Baldauf sehr musikalisch erzogen. Sie haben das Anpacken gelernt und stammen aus kinderreichen Familien.

Die Kinder zogen sich damals gegenseitig groß, denn das tägliche Brot musste von den Eltern hart erarbeitet werden. Kinder galten als Garant für ein sorgenfreies Leben im Alter. Die wenigen Jahre in dem Kinderheim beurteilen sie später: „Das ist eine sehr stürmische und schöne Zeit gewesen.“ Die Arbeit mit den Kindern hat beide geprägt. Hedwig wird „Neulehrerin“. Der Verlobte ist bei Stalingrad gefallen. Ihr erster Einsatzort ist das Eichsfeld. Ihr wird ein Verhältnis mit einem katholischen Pfarrer angelastet. Es folgt eine Strafversetzung an eine „Russenschule“, wie sie es nennt.

„Plötzlich ist alles anders. Ich kann mich nicht erinnern“, antwortet sie stets lachend und frohgemut auf Fragen der Familie. Reisen in die Sowjetunion werden ihr Lebensinhalt. Sie hält Diavorträge über ihre Reisen. Natürlich gehört es sich, dass ich einer Einladung zu dem von ihr gestalteten Heimatabend für Kurgäste in Brotterode folge. Trotz zehn Grad plus trägt sie einen langen, mit Fuchspelz besetzten Schaffellmantel und die passende Fuchspelzmütze mit einem langen Fuchsschwanz im Nacken. Mehrmals fragt sie mich, ob auch alle nach ihr sehen würden. Der Mantel ein Traum. „Ich habe ihn in Sibirien gekauft, da musst du unbedingt hin.“ Weiß sie nicht, wie viele deutsche Soldaten in sibirischer Gefangenschaft waren und wie wenige schwer gekennzeichnet vom Lager zurückgekommen sind? Erinnert sie sich nicht, wie es ihr Cousin mit schweren Wasserbeinen noch bis Brotterode geschafft hat und in derselben Nacht starb? Die Russenschule hat sie mit dieser sorglosen, unbekümmerten Luft umgeben. Hedwig hat sie eingeatmet und in ihren Vorträgen ausgeatmet. Ihr Publikum kam selten freiwillig. Die Pflege der deutsch-sowjetischen Freundschaft gehörte zum Pflichtprogramm, wenn man ein sozialistisches Kollektiv werden wollte.

Unser Vater nennt Hedwig eine alberne Gans, die ihre Gichtfüße immer im Ostseesand verbuddelt habe. Ihre Anziehungskraft und stolze Erscheinung behält sie für mich bis ins hohe Alter.