Gestrandet in Weimar - Doris Vogt-Köhler - E-Book

Gestrandet in Weimar E-Book

Doris Vogt-Köhler

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Beschreibung

Stellen Sie sich vor, wieder Schüler zu sein, in einem Klassenraum zu sitzen und auf dem Schulhof herumzutollen. Da bleiben Rangeleien nicht aus. Wecken Sie diese Erinnerungen, und tauchen Sie ein in die Schulatmosphäre eines in die Ecke gestellten, weiblichen Lehrertorsos. Es gibt lebendige, einsame und tote Strände in diesem Buch. Erleben Sie Weimar und Menschen wie du und ich mit ihrem Alltag, ihren Schicksalen und ihrem natürlichen Lebenslauf von der Schule bis zum Ende.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Doris Vogt-Köhler

Gestrandet in Weimar

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Gestrandet in Weimar

Zum Inhalt

1 Schule

2 Kinderhaus

3 Alleingelassen

4 Begegnung

5 Familienbande

6 Absturz

7 Abschied

8 Hintereinanderweg

9 Schule

10 Freitod

11 Zwiebelmarkt

12 Lächeln

13 Freundschaft

14 Ende und Anfang

Impressum neobooks

Gestrandet in Weimar

Wimari, Wehmari, Weimar

Grenze einstiger Vereisung

Hügel umgeben von Wassermassen

Sicherheit für Mensch und Tier

Geweihte Niederung

Überraschend endlos die Grausamkeiten

Zum Inhalt

Stellen Sie sich vor, wieder Schüler zu sein, in einem Klassenraum zu sitzen und auf dem Schulhof herumzutollen. Da bleiben Rangeleien nicht aus. Wecken Sie diese Erinnerungen und tauchen Sie ein in die Schulatmosphäre eines in die Ecke gestellten weiblichen Lehrertorsos. Erinnern Sie sich an die eigene Bauecke mit den vielgestaltigen Bauklötzen und natürlich an die Deutschstunden, in denen Grammatik wie das Partizip II gepaukt wurde. „Gestrandet“ ist so ein Mittelwort, das geprägt wird durch Vorsilbe und Endung. Dazwischen liegt das Hauptwort „Strand“. Es gibt lebendige, einsame und tote Strände in diesem Buch, aber ein kostbarer erlebniswerter Strand bleibt das Städtchen Weimar.

Spazieren Sie entspannt mit Blicken rechts und links auf die Menschen entlang dieses Strandes und entdecken am Horizont das große Meer des Menschseins.

1 Schule

Lehrerin Elvira Jung

Nebel. Erste Ampel Grünphase. Zweite Ampel Steinbrücke Oberweimar. Eine edelförmige Festung mit überwältigender Eleganz erhöht über jegliche Wassergefahr. Die kleine Ilm überfliegen. Bei Grün darüber fahren, und alles ist abgestreift, alle quälenden Gedanken versenkt in der Ilm. Glücklich. Erledigt. Alles hinter der Brücke gelassen. Ampel Belvederer Allee. Der Vordermann pennt. Beide Autos hätten es geschafft, vor dem Bus der Linie 1 links in die Berkaer Straße abzubiegen. Gnädig lässt man die Fahrzeuge stadtauswärts vorbeirollen. Trotzig mit zusammengebissenen Zähnen Halt vor der Ampel Breitscheidstraße. Fleckenlos leuchtet das Rot durch den Nebelschleier. Blutiger Heiland. Nein, so etwas darf Elvira nicht denken. Das Rot als Signal mit Blut zu assoziieren, das ist pervers. Einigermaßen erholt von dem Schrecken ihrer Gedanken die Ampel Poseckscher Garten. Alle meine Kochtöpfe rechts und links mit Rührlöffeln in der rechten Hand und Glimmstängeln im Mund. Egal, welche kreativen Handbewegungen sie Elvira zeigen, sie wartet auf die Grünphase. Ampel Trierer Ring. Grün. Ein Freudenblitz der Parkplatz in der Shakespearestraße. Endlich wieder in ihrer Schule.

Was war das? War sie im falschen Film? Seit drei Jahren kannte sie die Gesichter ihrer Schüler. Jedem Schüler hatte sie ihren ganz persönlichen Namen gegeben. Genauer gesagt, eine Datei mit Namen in ihrem Kopf angelegt, in der sie die wichtigsten Dinge abspeicherte. Der Name einer Gesichtsdatei stimulierte sie am Morgen fröhlich oder auch wachsam zu sein. Gregor Weinbaum hieß bei ihr Kalaschnikow oder AK-47, wenn sie sich Aufzeichnungen machen musste. Es gab kaum eine Schlägerei auf dem Schulhof, an der er nicht beteiligt war. Wie ein Sturmgewehr richtete er seine gekrümmten Fäuste auf alles, was sich seiner Meinung nach falsch bewegte. Präziser ausgedrückt war Kalaschnikow der Schatten von Facebook. Als sie Kevin Höfel zum ersten Mal sah, fiel ihr sofort der Name Facebook ein. Sein Gesicht war einfach zu großflächig dominierend. Auch seine Borstenhaare konnten es nicht niederdrücken. In seinen Mundwinkeln sammelte sich ständig eine klebrige Speichelmasse, die sich bei gelegentlichen, unverhofften sprachlichen Anforderungen durch Lehrer oder andere Schüler, enorm aufschäumen konnte. Wenn er sprach zogen sich Schleimfäden von der borkigen Zunge ganz untypisch und nicht der Erdanziehungskraft folgend seitlich zu den Wangen. Plötzlich verschwanden diese filigranen zwiebelmusterartigen Gebilde in den Hautzellen. Besonders bei einem Vortrag, den er zu halten hatte, versuchte Elvira Jung dem Phänomen auf die Schliche zu kommen oder Muster dieser Schleimfäden zu erkennen und wie sie in den porösen Zellen verschwinden konnten. Oft wurde ihre Aufmerksamkeit von den Beobachtungen dermaßen in Anspruch genommen, dass sie gar nicht mehr wusste, worüber Facebook referierte, geschweige den Inhalt des Gesagten kannte. Sie fragte dann erst einmal die Schüler, wie sie den Vortrag einschätzen und benoten würden.

Da es Facebook an eigenen Gedanken und Erfahrungen mangelte und er nur die der anderen Facebookschreiber weitergeben konnte, versuchte er diesen Mangel mit blasiger zum Teil schmutziger, stinkender Fantasie auszugleichen. Die Folge waren Streitigkeiten, die er mit Vorliebe durch Körperkontakt austrug, aber nur, wenn er Kalaschnikow in Reichweite vermutete. Sie erinnerte sich noch gut an eine Schlägerei im vergangenen Schuljahr, weil das Resultat ihrer Herangehensweise sich als positiv erwies. Erfolgserlebnisse dieser Art streicheln das Gemüt eines Lehrers ganz besonders. Was war geschehen:

Große Pause. Es klopfte energisch an der Lehrerzimmertür. Jemand öffnete. Wie ein spulender Kreisel rollten die Augen des frisch ausgebildeten Schülerstreitschlichters, der noch unter der Fernwirkung seiner Schulung stand, über die Lehrerköpfe. Endlich hatte er Frau Jung entdeckt, und sie solle ganz schnell mal vor die Tür kommen. Gleich legte der Streitschlichter los:

„Ihre Schüler da haben zum wiederholten Mal eine Schlägerei auf dem Schulhof angezettelt.“ Dabei zeigte er auf die in sich hinein feixenden Jungen Kalaschnikow und Facebook an der gegenüberliegenden Wand. Der Streitschlichter wurde vermutlich von hochqualifizierten Lehrern, also von Pädagogen, die in Leitzentralen sitzen und damit weit von der täglichen Realität entfernt, geschult. Die von den Schülern abgeschirmten Kollegen konnten sich solche faustischen Sachen ausdenken in der festen Überzeugung, ein Allheilmittel gegen die oft brutalen Schlägereien erfunden zu haben. Die Schlägereien interessierten sie selbst weniger, wenn da nicht die unzensierten Pressemitteilungen und statistischen Erfassungen gewesen wären. Diese alphabetisch abheftenden Statistiker hatten den Streitschlichter in so eine Schieflage gebracht. Sie hatten ihm suggeriert, es läge an der schlampigen Hofaufsicht, an den gleichgültigen Lehrern oder aber an der Verantwortungslosigkeit des Klassenlehrers, wenn Schlägereien auf dem Schulgelände ausgetragen würden. Also Schlägereien bitte immer vor dem Schulgelände. Die Erfindung der Schülerstreitschlichter war in den Augen von Elvira Jung Kindesmissbrauch in höchster Potenz. Die Kinder sollten es richten, sollten verschlissen werden, weil die Verantwortlichen ohnmächtig waren, ein gesundes Selbstwertgefühl der Schüler mittels gut ausgebildeten, belastbaren Lehrkräften und diesbezüglich abgestimmten Lehrplänen zu entwickeln. Das betraf nur die Schule. Das Wirrsal darumherum musste gelenkt werden. Die Familie, in die sich die Kinder nicht mehr zwängen lassen wollten. Die googelnden Medien machten einige Schüler völlig wehrlos, fesselten sie und breiteten sich aus in Raum und Zeit.

Irgendwie wollte Frau Jung ihre Erkenntnisse auch dem Streitschlichter verdeutlichen. Deshalb antwortete sie in gereizter Stimmung:

„Na und? Du bist doch der Streitschlichter. Das stand groß und breit mit deinem Foto in der Zeitung. Was erwartest du von mir?“

Jetzt war der Streitschlichter verblüfft. Er erholte sich erstaunlich schnell.

„Aber Sie sind doch die Klassenleiterin.“

„Also du gehst davon aus, dass ich meinen Schülern den Auftrag zu der angeblichen Schlägerei erteilt habe.“

Der Streitschlichter knirschte mit den Zähnen. In seinen Gehirnwindungen schien sich ein Kampf abzuspielen bezüglich der Begriffe: Lehrerinnen, Klassenlehrerinnen, Besserwisser, Arschlöcher. Es siegte wohl der letzte Begriff bezüglich seiner Mimik und Gestik. Was ihn sichtlich ärgerte, war das kleine Wort angeblich. Der Tatbestand der Schlägerei wurde von dieser Lehrerin angezweifelt. Typisches Verhalten, aber für Lehrer ungewöhnlich. Die Lehrerin war höchstwahrscheinlich verärgert, dass kein Schüler ihrer Klasse wie der Höfel oder der Weinbaum als Streitschlichter auserwählt wurden. Die Schüler an der Wand hüstelten, und das war kein gutes Zeichen. Also setzte Frau Jung ihre Lehrermiene auf und handelte.

Erst einmal von den gewalthaberischen Aktivitäten ablenken. Im Klassenraum mussten Kalaschnikow und Facebook auf einem Zettel die Frage beantworten: Wie soll meine zukünftige Frau aussehen? Kalaschnikow schrieb: Ich werde mir erst gar keine anschaffen, weil sie einem nur das Geld aus der Tasche ziehen. Facebook brauchte etwas länger für seine schriftstellerischen Ergüsse: Sie soll grüne Haare haben und einen Geierkopfhals, darauf eine Matschbirne mit Mausohren, Schlitzaugen und möglichst Oberlippenbart. Sie sollte mindestens 300 Kilo wiegen. Jetzt konnten die beiden Schüler über ihre schriftlichen Äußerungen, die Elvira Jung wie eine Nachrichtenverleserin vortrug, erst einmal richtig lachen, ehe sie mit dem Erziehungsziel anfing:

„Ich will euch sagen, dass ihr nie eine Frau mit eurem tierähnlichen Balzgehabe bekommen werdet. Höchstens so eine mit grünen Haaren, Oberlippenbart und 300 Kilo. Da müsst ihr rennen, das Klo putzen, den Müll hinunterbringen und die Urängste der Männer überwinden, nicht mehr herauszukommen.“

Die Zweideutigkeit der letzten Worte gefiel den Jungen. Sie schmunzelten. Also fuhr Frau Jung fort:

„ Welches Mädchen nimmt einen Schläger? Die wissen doch, wenn kein anderer zur Verfügung steht, werde ich geschlagen. Auch wenn sie noch so verliebt wären, die Mädchen wägen schon genau ab. Sie nehmen lieber den Zweitplatzierten.“

Irgendwie hatte Frau Jung damals ins Schwarze getroffen. Der Streitschlichter holte sie nicht mehr. Es konnte aber auch daran liegen, dass der Streitschlichter nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.

Von der Heppe (Ziege) auf den Mohnkuchen, nannte man in Weimar solche Herangehensweisen. Nie direkt auf den Tatbestand eingehen. Ablenken. Aggressionen abbauen. Lösung des Problems in einer entspannten Atmosphäre. So hätte man die Streitschlichter schulen müssen und nicht mit Androhungen: Jetzt kommt ihr mit zu eurer Klassenlehrerin. Kalaschnikow und Facebook würden das auch nicht ein zweites Mal mitmachen. Sicher waren sie damals überrumpelt worden, und wahrscheinlich hatten sie sich den Streitschlichter vorgenommen. Diese militärisch kurzgeschorenen ahnungslosen Streitschlichter hätten zuerst Grundkurse im Boxen oder Kick-Boxen, in Judo oder Selbstverteidigung absolvieren müssen, um selbst beherzt und lustig reagieren zu können, die körperliche Gewalt der Schüler umzulenken auf die sportliche Ausbildung der Muskulatur und die Erschließung einer gewaltfreien Gedankenwelt. Als Vorbild eben. Außerdem müssten sie mit einem modernen Handy ausgestattet sein, um den Tathergang den Kontrahenten und den Lehrern vorzuführen. Möglichst mit geteiltem Bildschirm. Auf der einen Seite die Schlägerei, auf der anderen Seite ein Boxkampf mit einem der Klitschkobrüder. Das hätte Wirkung gezeigt, aber nicht so ein kreischendes Äffchen, das von den Aufsichtlehrern ausgenutzt wurde. Kalaschnikow und Facebook würden von einer sportlichen Betätigung, die ihnen Freude bereitete, ein Leben lang profitieren. Allein der Vergleich mit anderen, die Vorführung ihrer Unzulänglichkeiten, ihrer Beherrschbarkeit und Dummheit würden einen Hohlraum in der angeschlagenen Gefühlswelt füllen. Aber das kostete Geld. Schüler in ertappten gewalttätigen Situationen reagierten meist schleudertrotzig. Sie schleuderten trotzig mit negativ besetzten Ausdrücken und mit den unkontrollierten Bewegungen ihres Körpers nur so um sich herum. Ihr Ziel konnten alle sein, auch Lehrer. Wieder ein neues Problem.

Eine Schlägerei war meistens ein undurchsichtiges Gestrüpp. Die Aufgabe des Lehrers bestand darin, Einsichten bei den Schülern von sich heraus zu entwickeln.Den Kern einer Schlägerei musste man aufknacken. Erstaunlicherweise gab es oft gar keinen nur angeheizte Winde, die kleine Flammen unheimlich aufwirbelten, die dann weiter schwelten, bis ein neuer Wind aufkam. Der Wind blies meistens von Zigarettenkippe zu Zigarettenkippe und wurde angefacht, wenn keine mehr in Reichweite war. Bei den Schülern von Frau Jung handelte es sich um ganz etwas anderes. Gefühle drückten und brannten in ihnen. Gefühle, die die Sinne aufwühlten. Sie versuchten, sich bei der Auserwählten umherzudrücken, sich festungsartig zu profilieren. Das Objekt der Begierde war bei Lehrerin Elvira Jung als Lady Gaga abgespeichert. Ihr in den Schulakten vermerkter Name, der auch ins Klassenbuch übertragen wurde, lautete Samanda Aurelli, wo immer man den Namen aus Rumänien kommend abgeschrieben hatte. Vielleicht stammte der Name von der Autobahn, abgeguckt von einem vorbeifahrenden Zirkuswagen. Sämtliche Papiere wären ihren Eltern gestohlen worden. Samanda war die älteste Tochter der Familie Aurelli, und sie hatte mittlerweile sechs Geschwister, alle in Deutschland geboren, dazubekommen. Samanda war ein Wunderwerk der göttlichen Schöpfung. Wie auf einer feinstrichligen Skala konnte man jeden Tag die Farbnuancen ihres Makeups abgestimmt mit den Haargebilden und den geschminkten Oberlidern der Augen in den Farbkreis eines Johann Wolfgang von Goethe einordnen. Ihr Haar lockte sich ähnlich wie die Wolle von Merinoschafen, aber mehr buntgrotesk in kleine Inselchen. Manchmal erinnerte es, besonders bei den tiefblau eingefärbten Spitzen, Elvira Jung an ihre Teller mit dem Zwiebelmuster. Strahlend schön Samandas voller Mund. Ein Sonnensegel, aus dem helle klare Töne herausströmten. Allerdings war am Ende eines Schultages oft ihre Datei leer. Lehrerin Elvira Jung war sich der Unzulänglichkeit ihres Datenspeichers bewusst. Bei einer Datei, die die Fähigkeit hatte, Plus und Minus gesetzgebunden gegen zurechnen, blieb am Ende nichts mehr einzuordnen für die Gutachten und Beurteilungen. Zu Beginn sammelte Samanda alias Lady Gaga mit ihrer Aufmachung, ihrer rührenden Begrüßung der Schüler und der Lehrer viele Pluspunkte. Aber wenn sie dann in der Unterrichtsstunde dreimal an den Lehrertisch kam und ganz leise zischte:

„Isch versteh das nisch“, war Elvira Jung genervt. Aber nur einmal hatte sie sich dazu hinreißen lassen zu antworten:

„Morgen lässt du deine Bewaffnung Zuhause.“

„Isch keine Bewaffnung haben“, war die Antwort.

Elvira Jung hatte vergeblich versucht, ihr klarzumachen, dass sie damit ihren Kosmetikspiegel meinte, den Samanda mehrmals als Prüfinstrument ihrer Gesichtsmalerei während der Unterrichtsstunde hervorkramte. Ihr Vater explodierte wie eine Silvesterrakete aus China. Diskriminierung, Verleumdung, Hetze. Lehrerin Elvira Jung hängte nach dem Auftritt von Herrn Aurelli einen großen Spiegel über das Waschbecken im Klassenraum. Wenn Samanda vorkam und sagte: “Isch versteh das nisch, “ machte Elvira Jung nur eine leichte Kopfbewegung zum Spiegel. Samanda trat beleidigt den Rückzug an. Ihre Aufmerksamkeit verbesserte sich merklich.

Wie mit einem Sarkophagdeckel zugeklappt wurden plötzlich die Erinnerungen an Kalaschnikow, Facebook und Lady Gaga als Lehrerin Elvira Jung über die drei endlos erscheinenden Gänge und vier Treppen vor ihrem Klassenraum stand. Es lag etwas in der Luft. Es roch irgendwie komisch. Lehrerin Elvira Jung tauchte wieder ein in die Gegenwart. Diese Schulatmosphäre glich mehr der Aura eines Beerdigungsinstitutes oder einer Biogasanlage. Hier standen holzgeschnitzten Figuren gleichend die Schüler ihrer Klasse. Hatten diese Schüler plötzlich Masken auf? Hatte es ihnen die Sprache verschlagen? Lehrerin Elvira Jung versuchte ihre Augen einzurenken wie der Therapeut ein Rückgrat. Eine schmerzliche Angelegenheit die Person betreffend. Da standen ihre Schüler abweisend, ohne von ihr Notiz zu nehmen, ohne ihren Gruß zu erwidern vor dem Klassenraum. Jeder spielte an seinem Handy herum. Lehrerin Elvira Jung schloss die Klassentür auf. Wenigstens hier funktionierte ihr Schlüssel noch. An den Lehrertisch waren zwei Schülertische geschoben. Die übrigen Tische standen an der Wand wie überschüssiges Mobiliar aufgereiht und darauf die aufgestapelten Stühle. Der jauchige, stechende Geruch im Raum erinnerte sie an eine Beschreibung der Luft einer Lazarettschwester aus dem 2. Weltkrieg: Eiter und bittere Galle. Lehrerin Elvira Jung öffnete ein Fenster, fatamorganisch flimmerte es vor ihren Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Außerhalb des Schulgeländes und daher gut einsehbar vom Schulleitungszimmer hatten sich drei Schüler ihrer Klasse positioniert. Christin, Tabea und Johannes. Sie kippte das Fenster und konstatierte, dass in dem Klasseraum während ihrer Abwesendheit die obligatorische Schuluntersuchung stattgefunden haben müsste. Es klingelte zum Stundenbeginn. Lehrerin Elvira Jung wartete noch zwei Minuten. Es tat sich nichts. Sie öffnete die Klassenraumtür und sagte in einem gespielt höflichen Ton zu den jetzt in kleineren Gruppen stehenden Schülern:

„Kommt rein!“

Nichts. Keine Regung bei den Schülern. Sie bewachten immer noch mit ihren Handys die große Welt, schrieben diese fehlerhaften Mitteilungen an flüchtige Bekannte und bekamen ebensolche nichtssagende Sprüche zurück: hastenochnekippeforme? (Hast du noch eine Kippe für mich). Warum auch die Sprach App nutzen, die Kumpels waren doch der deutschen Sprache mächtig wie sie selbst. Sie waren schließlich in der Schule. In einem festen Gefüge, in dem sie das Sagen haben wollten wie auf ihrem Handy.

Innerlich führte Lehrerin Elvira Jung Wortgefechte, was sie noch zu den Schülern sagen könnte, wie: Klärt mich auf, bin ich unsichtbar geworden? Warum lasst ihr mich hier stehen wie Minchen Doof? Oder um die Schüler herumgehen und suchend fragen: Von einem Schülerstreik habe ich nichts gehört und gesehen? Hebt das Transparent höher! Inspizierend ging Lehrerin Elvira Jung im Zickzack um die Schülergruppen herum und schaute rechts in den Klassenraum. Er war unverschlossen und leer und dann links in den Klassenraum. Dort stand die junge Lehrerin Frau Kaspers vor ihrer Klasse an der Tafel und schüttelte bei dem Anblick von Elvira Jung kaum merklich mit dem Kopf. Elvira Jung kannte sich bestens in punkto Körpersprache aus. Die Körpersprache offenbarte ihr das geheimnisvolle Verhalten der Schüler. Fragen erübrigten sich oft. Besonders die Augen faszinierten sie immer wieder. Diese Lehrerin schloss kurz die Augenlider, um sie dann abweisend kläffend wieder zu öffnen. Fazit: Sie wollte nichts mit ihr zu tun haben. Direkt der Tür gegenüber saß in der ersten Reihe ein Mädchen. Dieses Mädchen kannte sie von ihren Hofaufsichten. Immer hatte es etwas zu melden: Zwei Schüler haben das Schulgelände verlassen. Da hinten wird geraucht. Kommen Sie schnell. Zwei Schüler wollen sich prügeln. Das Mädchen schaute sie freundlich an und sagte:

„Wir petzen nicht.“

Lehrerin Elvira Jungs Kinderreim, den sie ihr wie aus einem Souffleurkasten damals zuhauchte: Petze, Petze ging in den Laden, wollt für einen Groschen Petze haben. Petze, Petze gab es nicht. Petze, Petze ärgerte sich, hatte wohl Spuren in ihrem Gehirn hinterlassen.

Auf dem Rückweg zu ihrem Klassenraum fiel ihr der kahlgeschorene Kopf von Basti auf. Die Schüler streichelten auf ihm herum. Automatisch änderte ihr vorderer Gehirnlappen den für Sebastian Meyer abgespeicherten Dateinamen von Pinwand in Glatzkopf um. In der Mitte wie immer präsentierte sich alle übertreffend Samanda Aurelli alias Lady Gaga. Sie fummelte über ihr weit gedehntes Dekollete an ihrem vermutlich neuen Push - BH herum. Idyllische Verträumtheit. Etwas abseits stand wie immer Tina Marie. Ihre Mutter war einmal Lehramtsanwärterin bei Elvira Jung gewesen. Sie fragte Tina Marie mit den Augen, was denn los sei. Tina Marie antwortete laut:

„Wir haben keinen Bock.“

Vorahnungen hatte Lehrerin Elvira Jung schon gehabt. Die Schließanlage der Schule war neu. Ihr Lehrerzimmerschlüssel passte nicht mehr, und die jugendliche Stimme einer neuen Sekretärin hatte sie stutzig werden lassen, als sie sich nach ihrer Krankheit zurückmeldete. Ihr Klassenbuch lag nicht im Fach und war auch nicht auf dem großen Tisch im Lehrerzimmer auffindbar.

Die zwei vorangegangenen Kunststunden in der 5a hatten diese verworrenen Empfindungen verdrängt. Gefühle wollte sie wecken. Frühlingsgefühle nach diesem langen Winter, der im November mit viel Schnee begonnen hatte und Mitte Februar immer noch Schneemassen ablegte. Sie hatte 24 kleine verschiedenfarbige Hornveilchen aus der Großverpackung umgetopft und jedes Töpfchen noch einmal in durchsichtige Folie gewickelt. Vorbereitungen bereiteten ihr immer den meisten Spaß. Keine ausgetretenen Wege nutzen, sondern Spuren zu Lichtungen aufzeigen. Das war ihre Erfüllung als Lehrerin. Deshalb war sie so glücklich in ihrem Beruf. Bei der Verkündung und den erklärenden Ausführungen des eher nüchtern klingenden Stundenziels: Wir malen heuteBlumenkörbchen mit Hornveilchen saßen noch alle Schüler geordnet in ihren Stuhlreihen. Sie durften dann aber ihre Plätze wechseln. Die Motivationen waren unterschiedlich. Vorherrschend blieb das Motiv: Wer hat einen gebrauchsfähigen Farbkasten? Neben den kann ich mich setzen.

Großes Gerammle schon beim Suchen der Zeichenmappen. Wie hatte sich Lehrerin Elvira Jung danach gesehnt, Kinder voller Tatendrang zu sehen. Unnachahmlich diese Bilder. Ein anderes Bild erschreckte sie: Die Zeichenmappen quollen fast über von ausgemalten Blättern. Keine einzige kreative Schöpfung darunter, sondern kopierte Ausmalblätter, so wie es Vertretungen halt praktizieren. Vertretungslehrer mit ganz anderen Fachausbildungen, Kunst konnte schließlich jeder unterrichten, dazu gehörte nicht viel. Meistens musste die Klassenlehrerin für solche Vertretungen herhalten, und die nutzte die Stunden, um längst überfällige Arbeiten zu erledigen. Verständlich. Beim Ausmalen waren die Schüler beschäftigt und ruhig.

Die Schüler durften sich ein Hornveilchen nehmen und es betrachten. Schritt für Schritt zum Ziel hatte Lehrerin Elvira Jung ihnen seit Schuljahresbeginn beigebracht und eindeutig mit dem Vergleich belegt:

„Wenn jemand sich ein Auto kauft, der überhaupt noch nie selbst ein Auto gelenkt hat, und gleich losfahren will, kommt nicht weit. Er muss erst eine Fahrschule besuchen und auf die Anweisungen des Fahrlehrers hören. So ist das auch, wenn man ein Bild malen will. Zuerst macht jeder seine Vorüberlegungen. Will ich nur ein Körbchen mit Hornveilchen malen oder noch meine Katze dazu, die auch ganz neugierig an den Blümchen schnuppern möchte oder einen erwachten Marienkäfer, der versucht, am Körbchen hochzuklettern?“

Die Schüler hatten herrliche Ideen, was sie noch alles dazu malen könnten. Entzückt betrachteten sie die kleinen Gesichter der Hornveilchen. Als Vorübung waren wenigstens zwei Hornveilchen auf einfachen Zeichenkarton zu malen in zwei verschiedenen Farben etwa Gelb oder Violett und gemischt mit immer etwas Schwarz und Weiß. Dann die Strichgesichter. Die kleinen Töpfchen wiegend fragten einige Schüler:

„Können wir die behalten?“

„Gerne“, antwortete Lehrerin Elvira Jung.

„Aber ihr müsst sie aus der Folie herausnehmen und gießen. Es sind kleine Lebewesen.“

Zum Schluss hatte sie noch zehn Hornveilchen in ihrem Korb.

„Singen wir heute kein Lied?“

Es war ein Junge, der die Frage stellte.

„Aber natürlich, ich hätte es fast vergessen.“

Elvira Jung holte aus ihrem großen Korb die Blätter mit den Noten und dem Text: Es blühen Rosen, es blühen Nelken, es blüht ein Blümlein Vergissmeinnicht. Drum sag ichs noch einmal: schön ist die Jugendzeit, schön ist die Jugendzeit, sie kommt nicht mehr. Was hatte da ihr Gehirn bereits vorbestimmt bei der Auswahl des Volksliedes. Jugendzeit vorbei. Verwelkt. Schulende. Die Schüler sangen mit Freude, ihnen fehlte die Beziehung zum Inhalt.

Es hätten eigentlich nur eine Kunststunde laut Lehrplan sein sollen und eine Musikstunde. Aber es gab keine Musiklehrerin für diese andere Stunde. Die Schüler hatten in der Grundschule eine hervorragende Klassenlehrerin, die auch Musiklehrerin war. Deshalb sangen sie so gerne. Eigentlich waren es nur neun Schüler aus der alten Grundschulklasse, die übrigen vierzehn wechselten auf verschiedene Gymnasien. Es kamen elf Schüler aus dem Einzugsbereich der Regelschule hinzu. Anfangs fühlten die neuen Schüler sich beim Singen wie Ausgestoßene. Das wollten sie natürlich nicht sein. Sie konnten aber keine gemeinsame Ablehnungsgruppe also Gegenstimme bilden, da sie sich erst kennenlernen mussten. Also sangen sie eifrig mit.

Jetzt saß Lehrerin Elvira Jung fast schon außer sich geraten, aber deutlich unterfibriert, was jede Einzelfaser ihres Nervengewebes betraf, in ihrer Klasse am Lehrertisch. Sollte sie den Wortknüppel schwingen und die Schüler damit in den Klassenraum prügeln? Zuerst dachte Lehrerin Elvira Jung, es wären ihre Tränen, die sich aus ihren Augen drängelten und sich auf der Tischplatte ausbreiteten. Dann sah sie das Rot. Es tropfte aus ihrer Nase. Erst hellrot, ein kleiner Bach, dann mohnrot wie kleine Knospen und schließlich dunkel strähnig wie ein langes Purpurgewand. Auge zu Auge, wie rote Rubine schauten die Bluttropfen Elvira Jung an, um sich zu einem kleinen Strom von Tröpfchen zu Tröpfchen zu vereinigen. Feuchtfrisch füllten sie schon die Tischplatte aus, um Neues zu erkunden, was tiefer, unter der Tischplatte lag. Blut, das einem höheren Befehl und nicht ihrem folgte, einfach so ihren Körper zu verlassen. Sie wusste, dieser Schmerz des Nichtbeachtens, des völligen Ignorierens seitens ihrer Schüler hatte die Blutschleusen geöffnet. War sie nicht habgierig, habsüchtig gewesen? Nur sie wäre eine der besten Lehrerinnen mit ihren Einfällen und Erfahrungen, die die Schüler bräuchten, neidisch auf die jüngeren Kollegen und Kolleginnen. Eigentlich nicht, gönnte Elvira Jung sich die Rechtfertigung. Jemand öffnete von außen die Tür zum Klassenraum. Aber niemand trat ein. Bin ich noch normal? dachte Elvira Jung. Dieses seltsame Gebaren der Schüler musste etwas mit ihr zu tun haben. Sie wusste nur nicht was.

Sie griff in ihre prall gefüllte Lehrertasche und suchte nach den Aloe Vera Tüchern und den Nasentampons, um das Nasenbluten zu stillen. Als alternde Lehrerin hatte sie eine ausgesprochene Kinderkrankheit bekommen trotz regelmäßiger Dreifachimpfung, die auch Diphtherie mit einbezog. Die Schleimhäute der Mandeln, des Rachens, des Kehlkopfes, der Luftröhre, der Nase hatten diese Bakterien besiedelt und sich zusammengeklumpt, dass ein Schlucken und normales Atmen kaum möglich war. Mit ihrer genialen Vermehrungstechnik durch Querteilung oder Sprossung, wobei jede Zelle ein selbstständiges Individuum blieb, hatten diese Bakterien Giftpfeile bis in das Herz von Elvira Jung geschossen. Drei Wochen Krankenhaus und drei Wochen Kur hatten sie befreit von diesen Schleimhautspinnen, wie sie Elvira Jung nannte, denn von Bakterien hatte sie eine andere Vorstellung. Diese kleinen Organismen in den gepflegten Gestaltsformen, wie kugelig, stäbchenförmig oder schraubig, meist unbeweglich oder nur mit kleinen Geiseln schnelle Schwimmbewegungen ausführend, riefen in ihr das Bild von genießbaren, gesunden Früchten hervor. Frisch mit Fingern zu erhaschen von einem Strauch oder Baum. Die Behandlung bestand vornehmlich durch Verabreichung von Antibiotika sowie Stärkung des Immunsystems. Einfalt und Zuversicht. Ehrfurchtsvoll hatte sie den Ärzten vertraut und sich noch die Polypen und kleine knorpelige Gebilde aus der Nase operieren lassen. Dazwischen lagen die Weihnachtsferien. Also acht Wochen hatte sie keinen Kontakt zur Schule. Während der ihr völlig überraschend genehmigten Kur setzte sich Elvira Jung ausgiebig mit den schriftlichen Arbeiten jedes einzelnen Schülers auseinander und arbeitete für jeden einen Lernplan im Fache Deutsch aus. Wozu sollte man die Groß- und Kleinschreibung beherrschen? Oder gar so aussterbende Fossilien wie den Genitiv nach unverständlichen Präpositionen wie wegen? Die SMS: kann nich komme wegen där alten die wolln heute zu Oma und ich muss mit, wurde doch prompt beantwortet mit: hey alter alles klar b. m. (bis morgen). Alles das war doch verständlich! Kommas sind nutzloses Beiwerk. Würde man sie setzen, gälte man gleich als Streber als einer, der die Sprache der Jugendlichen anpöbelt, als wabernder alter Pauker.

Lehrerin Elvira Jung hatte sich viel Mühe gegeben in ihren Überlegungen, wie sie mit den Schülern auf einem Dampfer, den beide Lehrer und Schüler gemeinsam steuerten, an den protzigen Denkmalen der Literatur vorbeischaufeln könnten, um die Strahlenenergie der deutschen Sprache einzufangen mit Vergleichen aus der ungeheueren Wucht der Sprache in Goethes Faust oder Schillers Räubern. Der Osterspaziergang von Goethe und Die Glocke von Schiller sollten ihre Sinne reizen, sich dort fest etablieren, um bei entsprechenden Gelegenheiten stets textsicher abrufbar zu sein. Jeden Tag gingen ihre Schüler an den Wohnhäusern, an den Denkmälern dieser und anderer Dichter und Denker in Weimar vorbei. Dichten verlangte sie nicht von ihren Schülern, aber denken. Denken konnte im Moment Lehrerin Elvira Jung auch nicht mehr. Es reichte nur, um Überlegungen anzustellen. Vielleicht befürchteten die Schüler, sich bei ihr anzustecken? Das konnte nicht sein, denn auf dem Krankenschein hatte Grippaler Infekt