Die Magdalena-Verschwörung - Kathleen McGowan - E-Book
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Die Magdalena-Verschwörung E-Book

Kathleen McGowan

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Beschreibung

Im Tower taucht eine kopflose Frauenleiche auf, die als Anne Boleyn verkleidet ist. Gleichzeitig stößt die Journalistin Maureen Paschal, die über Anne Boleyn forscht, auf bislang unbekannte Details aus deren Leben. Zwischen dem Mord und Maureens Recherchen gibt es seltsame Parallelen. Es scheint, als sei der Killer bestens über Maureens Entdeckungen informiert. Doch wie kommt er an diese Informationen? Und dann taucht die nächste Frauenleiche auf ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungVorwortPrologErster TeilQuai de Louvre, ParisChâteau SabraChâteau des Pommes BleuesResidenz Mecheln / MalinesInstitut für RechtsmedizinChâteau VeurneZweiter TeilDritter TeilGreenwich CastleHever CastleDurham HouseEnglisches Territorium CalaisTower GreenTagungszentrumTagungszentrum

Über das Buch

Im Tower taucht eine kopflose Frauenleiche auf, die als Anne Boleyn verkleidet ist. Gleichzeitig stößt die Journalistin Maureen Paschal, die über Anne Boleyn forscht, auf bislang unbekannte Details aus deren Leben. Zwischen dem Mord und Maureens Recherchen gibt es seltsame Parallelen. Es scheint, als sei der Killer bestens über Maureens Entdeckungen informiert. Doch wie kommt er an diese Informationen? Und dann taucht die nächste Frauenleiche auf …

Über die Autorin

Kathleen McGowan, geboren in Hollywood, arbeitete als Reporterin in Nordirland, Europa und im Nahen Osten und arbeitete unter anderem für die IRISH NEWS und für die WALT DISNEY CORPORATION. Die MAGDALENA-VERSCHWÖRUNG ist der vierte, unabhängig lesbare Band ihrer erfolgreichen Magdalena-Serie. Kathleen McGowan lebt in Los Angeles, Schottland und Frankreich.

KATHLEEN MCGOWAN

DIEMAGDALENAVERSCHWÖRUNG

THRILLER

Aus dem amerikanischen Englischvon Barbara Först

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Die vorliegende deutsche Ausgabe weicht mit Zustimmung der Autorin vom amerikanischen Original ab. Die Gegenwartshandlung kommt im amerikanischen Original nicht vor.

 

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Kathleen McGowan

Titel des amerikanischen Originals: »The Boleyn Heresy«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Redaktion: Wolfgang Neuhaus, Oberhausen

Titelillustration und Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-6126-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Dieser Roman ist zwei wundervollen Mitstreitern gewidmet, die mich verlassen haben, als ich mit dem Manuskript beschäftigt war:

Philip Coppens, mein Ehemann und Dolmetscher für Französisch und Flämisch, der aus tiefstem Herzen an die Geschichte glaubte und der mich im Zuge meiner Recherchen Tausende von Meilen kreuz und quer durch Europa gefahren hat.

Stacey Matliss, meine Seelengefährtin aus Wiltshire, die mich Anfang der Neunzigerjahre darauf aufmerksam machte, dass die Forschung sich möglicherweise auf einem Irrweg befand, was die historische Bedeutung der Anne Boleyn betraf, und die mir riet, mich genauer mit der Geschichte dieser Frau zu beschäftigen.

Die Inspiration, die mir durch Philip und Stacey zuteil wurde, ist in diesen Roman eingeflossen. Ich hoffe, ich bin ihrer Leidenschaft für das Thema gerecht geworden.

 

Die Zeit kehrt wieder.

 

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Doch in Teilen Europas finden sich Quellen verschiedener Art, die bis zu zweitausend Jahre zurückreichen und sich auf die in diesem Roman dargestellten »Häresien« beziehen. Diese Überlieferungen haben sich in mittelalterlichen Handschriften und in Gestalt lokalen Brauchtums bis zum heutigen Tag erhalten.

Vom Herbst 1515 bis zum Frühsommer 1516 unternahm die französische Königin in Begleitung der Mutter und der Schwester des Herrschers eine Pilgerreise in die Provence, um den Reliquien der Maria Magdalena und anderer Heiliger aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert zu huldigen – historische Persönlichkeiten, die nach der Kreuzigung Jesu Zuflucht im heutigen Südfrankreich fanden und deren Reiseroute ebenso aufgezeichnet wurde wie ihre Glaubensvorstellungen.

Entsprechende Dokumente werden in der Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrt.

Die drei Damen wurden von einem vierzehnjährigen englischen Mädchen begleitet, einer Hofdame der Königin. Der Name dieses Mädchens war Anne Boleyn. Was die Frauen während ihrer gemeinsamen Zeit in der Provence und in den darauffolgenden zehn Jahren miteinander teilten, hatte Auswirkungen auf den Lauf der europäischen Geschichte, wobei der spirituelle Einfluss, den Anne Boleyn in England ausübte, auf geheime Traditionen zurückzuführen war, in die sie während ihrer Jugendjahre auf dem Kontinent eingeweiht wurde.

Die junge Anne wurde von einigen der mächtigsten und umstrittensten Frauen ihrer Zeit ausgebildet und erzogen – eine Tatsache, die von der offiziellen Geschichtsschreibung größtenteils ignoriert wird.

Doch es ist unbestritten, dass diese Frauen den Lauf der Geschichte verändert haben.

PROLOG

Lavaur, Okzitanien

3. Mai 1211

Der Teufel hat sich in Lavaur niedergelassen, aber wir werden ihn noch heute mit Gottes Hilfe aus der Stadt vertreiben!«

Simon de Montfort, Generalkapitän der französischen Kreuzfahrer, schritt am Ufer des Agout entlang, wobei er darauf achtete, nicht im Schlamm auszurutschen. Sein Auftrag lautete, jede Spur der heidnischen Katharer in Okzitanien auszulöschen – ein Auftrag, den er mit bedingungsloser Härte erfüllen würde. Der Adel, dem Montfort seine Ernennung verdankte, konnte sich darauf verlassen, dass keiner dieser Ketzer davonkam. Der gesetzlose Landstrich zwischen Frankreich und Spanien, geschützt von der Bergkette der Pyrenäen, hatte der Ketzerei stets fruchtbaren Boden geboten. Die Katharer waren die Feinde Roms und aller guten Katholiken.

Während er einen Schlammspritzer von seiner Tunika strich, wandte Montfort sich an seinen Stellvertreter Bouchard de Marly, einen stämmigen, düsteren Mann, dessen zusammengekniffene Schweinsäuglein voller Hass auf die Festung am anderen Ufer des Flusses gerichtet waren.

»Der Matsch hier ist wie die Ketzer – dreckig, trügerisch und lästig.« Marly spuckte vor Ekel in den Fluss. »Dieses Ungeziefer hat sich lange gehalten, aber nun ist die Bresche geschlagen. Wir sind fast schon durch die Mauer. Heute ist der große Tag!« Er schaute zu Montfort. »War dieser Bote aus Toulouse?«

Simon de Montfort nickte, wobei sein linker Mundwinkel sich zur Andeutung eines Lächelns hob. Montfort war ein Mann, der selten lächelte, aber nach der einmonatigen Belagerung der wehrhaften Stadtmauern von Lavaur hatten seine Soldaten endlich die Schwachstelle gefunden und die Mauern der Ketzerfestung durchbrochen. Obendrein war ein Bote aus Toulouse mit der guten Nachricht erschienen, dass Verstärkung nahte – für Montfort ein Zeichen, dass er nach wie vor in der Gunst Gottes stand.

»Ja«, beantwortete er nun Marlys Frage. »Toulouse schickt fünftausend Mann und Pferde, die noch vor Mittag eintreffen sollen. Heute Abend werden wir auf das Ende von Lavaur und die Vertreibung dieser Teufel anstoßen.«

»Wir könnten die Ereignisse von Béziers wieder aufleben lassen. Was für eine Belagerung das war!« Marly rieb sich die fetten Hände, während er in Erinnerungen schwelgte. Vor zwei Jahren war beim Massaker in Béziers fast die gesamte häretische Bevölkerung der Stadt ausgelöscht worden – noch dazu am 22. Juli, dem der Hure Maria Magdalena geweihten Feiertag. Mehr als zwanzigtausend Menschen waren mit dem Schwert gerichtet worden, sodass die Straßen der Stadt vom Blut ihrer Einwohner überschwemmt wurden. Ein solches Gemetzel war für die Soldaten zu einer Art Spiel geworden, einem Wettstreit um die Frage, wer in kürzester Zeit die meisten Ketzer zu töten vermochte. Dass in der Hitze des Gefechts auch unschuldige Katholiken dran glauben mussten, wurde in Kauf genommen. »Schlagt alle tot, Gott kennt die Seinen!«, war der Schlachtruf von Béziers, der mittlerweile als offizielle Strategie im Vernichtungsfeldzug gegen die Ketzer galt. Und Lavaur war eine bedeutsame Zufluchtsstätte der ketzerischen Katharer, dieser merkwürdigen Geheimsekte, die sich Christen nannten und dennoch der Heiligen Römischen Kirche die Loyalität versagten. Simon de Montfort lehrte seine Soldaten, dass die Katharer Gesetzlose, Verworfene und schlimmer noch, Gotteslästerer seien. Ihr Glaube verstieße gegen die Gebote des Herrn; der Kreuzzug sei unumgänglich, um den Katholizismus zu schützen.

Doch wie die meisten Kreuzfahrer wusste Marly im Grunde gar nicht, woran die Katharer eigentlich glaubten. Es war ihm aber auch gleichgültig. Ihm reichte es vollkommen, dass seine Kirche und sein Heerführer sie als Häretiker und Gotteslästerer betrachteten. Das Katharertum breitete sich als Bedrohung des einen wahren Glaubens immer weiter in Europa aus und musste deshalb mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden.

Montforts Reaktion auf Marlys Bemerkung über das Massaker von Béziers war ein Achselzucken – als ob ihn das Schicksal einer ganzen Stadt nicht mehr berühre als die Frage, ob er zum Essen Wein oder Bier trinken sollte. Die Eroberung Béziers’ war besonders grausam gewesen, doch seinen Soldaten hatte es gefallen. Montfort selbst hatte die Nachwehen der Schlacht genossen. Die außergewöhnliche Stille, die nach der Einnahme über einer Stadt hing, wenn alles Leben ausgelöscht und die Straßen wie leergefegt waren, hatte ihn schon immer einen wohligen Schauder verspüren lassen. Die Gerüche von Blut und Eisen waren eine berauschende, ja heilige Mischung – obschon es einen Duft gab, den er noch mehr liebte.

»Nein, nicht wie in Béziers«, sagte er nun. »Ich dachte eher an ein Spektakel von der Art, wie wir es in Minerve erlebt haben.«

»Feuer!«, rief Marly voller Vorfreude. Im vergangenen Jahr hatten die Kreuzfahrer zur Feier des Jahrestages von Béziers einhundertvierzig Katharer aneinandergefesselt und in der Ketzerfestung Minerve bei lebendigem Leib auf einem gewaltigen Scheiterhaufen verbrannt. Was für ein aufsehenerregender Anblick! Und erst der Geruch! Es war ein Fest für die Sinne gewesen, als die verdammten Ketzerseelen von den Boten des Herrn zur Hölle geschickt worden waren.

Simon de Montfort schaute ein letztes Mal über den Fluss auf die einst uneinnehmbaren Mauern von Lavaur, während er im Geiste seine Rede für den Angriff vorbereitete. In diesem Moment wurde er von einem Anblick abgelenkt, der ihm zuwider war: Auf dem Festungswall schritt eine Gestalt, die offenbar gesehen werden wollte, gemächlich auf und ab. Ihre langen kupferroten Zöpfe schimmerten in der Sonne, als sie innehielt und zu den Männern herüberschaute. Montfort schäumte. Diese Frau verhöhnte ihn, so wie sie es an jedem Tag dieser ermüdenden Belagerung getan hatte! Die Kränkung brachte sein Blut zum Kochen.

»Na warte«, zischte er ihr hasserfüllt über den Fluss hinweg zu. »Heute werde ich’s dir heimzahlen. Wollen doch mal sehen, wie es um deine Tapferkeit bestellt ist, wenn mein Schwert deinen Leuten an der Kehle sitzt!«

Er wandte sich an Bouchard de Marly. »Wie mir scheint, ist Lavaur eine besonders abscheuliche Ketzerfestung. Wir sollten hier ein besonders drastisches Exempel statuieren, meint Ihr nicht auch?«

Wieder spuckte Marly zur Bekräftigung in den Fluss. »Lavaur verdient keine Gnade. Seine Herrin ist eine üble Ketzerin.«

»Die schlimmste Sorte, die es gibt.« Montfort nickte, während er wütend auf die Burg starrte, die über ihm auf dem Hügel thronte. »Eine Frau!«

»Bringt die Kinder in Sicherheit!«

Es kam selten vor, dass Dame Guiraude die Geduld verlor, doch sie musste den Frauen den Ernst der Lage klarmachen. Andererseits wollte sie nicht mehr Angst schüren als nötig. Ihr ging es nur darum, so viele Kinder wie möglich zu beschützen. Wurde die Belagerung kritisch, würde sie keine Zeit mehr haben, sich um die Kleinen zu kümmern.

Die Frauen, die der Herrin von Lavaur im Schloss dienten – ungefähr ein Dutzend –, hatten den Auftrag, alle Kinder der Stadt zu sammeln und in Sicherheit zu bringen. Lavaur zu verlassen, war unmöglich, da es auf allen Seiten von Montforts Truppen eingeschlossen war. Die Kreuzfahrer lauerten überall, selbst in den Flussläufen, auf eine Gelegenheit, die starken Mauern zu durchbrechen. Sie waren wie die Heimsuchung durch eine Heerschar tollwütiger Ratten, die sich täglich vermehrten. Doch Guiraude war eine begnadete Anführerin; sie besaß einen scharfen Verstand, Sinn für Strategie und ein gutes Herz.

Unter der Stadt waren bestens getarnte und mit Essens- und Wasservorräten bestückte Schutzräume angelegt worden, besonders für die Frauen und Kinder. Seit den Massakern von Béziers und Minerve wusste Dame Guiraude, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihre schöne Stadt ebenfalls angegriffen würde. Lavaur hatte sich zur größten und am schnellsten wachsenden Trutzburg der Katharer in Frankreich entwickelt, was Guiraudes besonderen Anstrengungen zu verdanken war. Ihr Volk wurde von Außenstehenden als »Katharer« bezeichnet – ein Name, der aus dem griechischen Wort für »rein« abgeleitet war, denn ihre Glaubensvorstellungen stammten, so hieß es, unmittelbar von den Anhängern Jesu im ersten Jahrhundert, ohne Einwirkung durch die römische Kirche und ihre Dogmen. Doch die Gläubigen selbst gaben sich nicht diesen Titel; sie hielten sich nicht für reiner als andere Menschen. Sie nannten einander schlicht »gute Männer« und »gute Frauen«.

Dame Guiraude stand nun vor der Aufgabe, die guten Frauen und deren Kinder in Sicherheit zu bringen. Nach über einem Monat unablässiger Angriffe hatte sie nun die Nachricht erhalten, dass die Mauern der Stadt in der Nacht zuvor durchbrochen worden waren. Seit Ostern hatten die Rammböcke und Katapulte auf Lavaur eingehämmert; nun stand das letzte und entscheidende Gefecht bevor.

Am Morgen hatte Dame Guiraude ihre übliche Inspektionsrunde über die Wälle unternommen, denn sie hatte nicht vor, Schwäche zu zeigen oder sich von den Soldaten einschüchtern zu lassen. Sie glaubte, am anderen Ufer des Agout Simon de Montfort persönlich gesehen zu haben. Und der Generalkapitän war bekannt dafür, dass er sich niemals weit aus seinem Heerlager entfernte, es sei denn, er plante den Angriff. Deshalb galt es, keine Zeit mehr zu verlieren.

Mit lautem Knall flog die Tür auf, und Guiraudes älterer Bruder Aimery betrat das Zimmer. Im Gegensatz zu seiner zierlichen Schwester war Aimery von großer Statur, die durch seinen immensen Appetit noch an Umfang zugenommen hatte. Seine Stimme war ebenso kräftig wie alles andere an ihm.

»Warum sind die Frauen immer noch hier?«, brüllte er.

Guiraude sah ihn ungehalten an, antwortete aber so ruhig, wie es ihre Art war. »Sie werden jetzt gehen. Sag ihnen Lebewohl, Bruder.« Sie betonte das »Lebewohl« als düstere Mahnung, dass sie einander wahrscheinlich zum letzten Mal auf Erden sahen. Der Tod war ihnen sicher; er war das unvermeidliche Ende jeder Belagerung. In dem seit langer Zeit währenden Kreuzzug gegen die Katharer waren diese nie siegreich gewesen. Zwar waren manche von ihnen gut ausgebildete Ritter aus den vornehmsten Familien Südfrankreichs, doch das Kriegshandwerk lag ihnen fern. Sie predigten den Frieden; sie waren Heiler, Seelsorger und Lehrer ihrer Gemeinden. Den kampferprobten Soldaten und Söldnern, die töteten, um zu plündern, waren sie nicht gewachsen.

Aimery wirkte zerknirscht, als er die Frauen zum Abschied umarmte. »Gott behüte euch«, sagte er, während er vergeblich versuchte, seine Furcht zu bezwingen. Aimery wusste, dass die Stadt gegen Montforts wehrhafte Truppen keine Stunde lang gehalten werden konnte. Jetzt konnte man nur noch für die Sicherheit der Frauen und Kinder sorgen, so gut es eben ging.

Aimery und Guiraude stammten von Blanche de Laurac ab, die in ganz Okzitanien als freundlichste und gelehrteste aller Perfecti bekannt war, wie die katharischen Weisen genannt wurden. In der Tradition ihres Volkes waren die Frauen die Lehrenden und die Bewahrer von Geheimwissen, schon seit den Zeiten der heiligen Anna, der Mutter Marias und Großmutter Jesu.

Wie in jeder Katharerfestung gab es auch in Lavaur eine Statue der Anna; dort hatte Guiraude in den vergangenen Nächten um die Fürbitte der Heiligen gefleht. Auch Maria Magdalena und die Muttergottes hatte sie zum Schutz angerufen, auf dass sie gemeinsam mit der heiligen Anna die Seelen der Gläubigen erretteten. Blanche de Laurac, Guiraudes Ahnherrin, hatte ihre Kinder gelehrt, den Tod nicht zu fürchten: Der Körper sei lediglich das vergängliche Gefäß für die unsterbliche Seele, die Gott allein gehöre und deshalb nicht von Menschen angerührt oder gar getötet werden könne. Daher solle der Tod des Körpers nicht betrauert, sondern gepriesen werden, bedeute er doch die Rückkehr der Seele an ihren göttlichen Ursprungsort.

Guiraude war seit Wochen auf den Tod vorbereitet, ebenso wie ihre Leute. Jetzt betete sie nur noch darum, dass Gott den Schmerz und Schrecken des gewaltsamen Todes mildern möge.

In den letzten Tagen hatte Guiraude sich voller Liebe und Trauer von ihren Frauen verabschiedet, die ihr allesamt wie Schwestern waren und deren Kinder ihr so nahe standen, als hätte sie selbst ihnen das Leben geschenkt. Vor zehn Jahren war sie als Guiraude de Laurac in diese Stadt gekommen, Erbin des Katharertums der großen Blanche, um den Herrn von Lavaur zu heiraten. In ihrer Rolle als neue Burggräfin hatte sie die Menschen der Stadt mit ihrer Weisheit, ihrem Humor und ihrer Freigebigkeit beglückt. Jeder Reisende wurde zum Mahl ins Schloss geladen; jeder, der Fragen über die Lehren der Katharer auf dem Herzen hatte, erhielt Antwort, Guiraude richtete Schulen und Unterkünfte ein und sorgte dafür, dass niemand in Lavaur Einsamkeit oder Hunger leiden musste.

Nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes war Guiraude in dessen Fußstapfen getreten und hatte das Amt des Statthalters von Lavaur übernommen. Die Kultur der Katharer war von der Überzeugung durchdrungen, dass Frauen den Männern in Klugheit und spiritueller Führerschaft gleichgestellt seien – der Hauptgrund für die Feindschaft des Papstes, der die Katharer schon deswegen abscheulich fand.

Obwohl Guiraude sich als fähige Stadtherrin erwiesen hatte, waren Frauen in ähnlichen Machtpositionen nicht überall in Okzitanien gern gesehen. Das Land war zwischen Katharern und Katholiken aufgeteilt; viele Jahre lang hatten sie in Frieden miteinander gelebt, bis der Papst vor zwei Jahren zum Kreuzzug gegen die Ketzer aufgerufen hatte. Daraufhin war Aimery, Guiraudes Bruder, mit einem kleinen Ritterheer nach Lavaur gekommen, um die Stadt so lange wie möglich zu beschützen.

Als Aimery den Frauen nun Lebewohl sagte, beobachtete er aus dem Augenwinkel seine Schwester. Sie umarmte eine der jüngeren Frauen, eine Waise, die schon als kleines Mädchen bei ihr gewesen war. Guiraude sprach ihr Worte des Trostes und der Ermutigung ins Ohr.

Sie ist unserer Mutter so ähnlich, dachte Aimery. Wenn ich sie doch nur dazu bewegen könnte, sich mit den anderen zu verbergen! Dann käme sie vielleicht mit dem Leben davon und könnte unsere Lehre weiter in die Welt tragen. Ich muss alles daransetzen, sie zu beschützen, denn sie ist unser größter Schatz!

Guiraude warf ihm einen scharfen Blick zu, als hätte sie seine Gedanken erraten. Mit Nachdruck schüttelte sie den Kopf, während die letzte Frau bereits das Zimmer verließ.

»Nein, Aimery. Bitte mich nicht schon wieder darum. Ich bin die Statthalterin von Lavaur und werde mich nicht vor denen verstecken, die mein Volk unterdrücken. Ich werde an deiner Seite stehen und diesen Ort gemeinsam mit dir und deinen Rittern verteidigen, solange mein Herz schlägt. Ich muss die Soldaten von den Verstecken der Frauen und Kinder ablenken und versuchen, so viele wie möglich zu retten.«

»Du weißt doch wohl, dass auch viele der Bürgerinnen ihre Häuser nicht verlassen werden? Lieber wollen sie kämpfen und sterben. Du hast ihnen ein gefährliches Beispiel gegeben, liebe Schwester.«

Guiraude nickte. »Aber es ist ihre freie Entscheidung, genau wie bei mir. Wenn sie bleiben und Lavaur verteidigen wollen, ist es nicht an mir, sie davon abzuhalten. Ich habe jene beschützt, die ich schützen konnte. Für alle, die bleiben, können wir nur Gottes Hilfe erflehen, und dass er uns so rasch wie möglich in eine bessere Welt führt.«

Guiraudes letzter Wunsch sollte nicht erhört werden. Tapfer kämpfte sie an der Seite ihres Bruders und der achtzig Ritter aus den Katharerfamilien, die mit ihrem Eid geschworen hatten, die Stadt zu verteidigen. Doch sie waren machtlos gegen die fünftausend blutdürstigen Soldaten, die aus Toulouse eingetroffen waren. Lavaur fiel in die Hände seiner Feinde.

Simon de Montfort hatte seinen Sieg so rasch errungen, dass ihm jetzt mehr als genug Zeit blieb, aus der Bestrafung der Ketzerführer eine blutige Unterhaltung für seine Soldaten zu machen. Er befahl, im vorderen Hof des Château einen provisorischen Galgen zu errichten. Dann ließ er die Verräter, die heidnischen Ritter, in langer Reihe Aufstellung nehmen, um einen nach dem anderen zu hängen und sich am Todeskampf zu weiden. Sobald ihm diese Hinrichtungsart langweilig wurde, wollte er sich etwas anderes einfallen lassen.

Seine schönste Kriegsbeute stand neben ihm: Die dreiste rothaarige Schlampe, die »Dame Guiraude« genannt wurde. Nun war sie gefesselt und geknebelt. De Montfort verkündete, dass die Ketzerin ihrem Bruder bei seinem langen und qualvollen Tod zuschauen sollte. Anschließend sollten einige der anderen, die diesem Teufel in Weibergestalt die Treue gehalten hatten, auf verschiedene Weise aufgeknüpft werden, damit die Soldaten ihren Spaß hatten. Alle sollten sehen, was Dummköpfen widerfuhr, die dem Befehl einer Frau folgten – oder schlimmer noch: Männern, die einer Ketzerin erlaubten, gegen die Kirche zu predigen.

Sie würde er sich bis zum Schluss aufheben.

Aimerys letzter Akt des Widerstandes bestand darin, Simon de Montforts Soldaten um das ersehnte Spektakel zu bringen. Als die Schlinge um seinen Hals gelegt war und der Schemel unter ihm fortgetreten wurde, war ein lautes Krachen zu vernehmen: Die Soldaten, die den Galgen gebaut hatten, hatten nicht bedacht, wie schwer ihr Opfer war. Aimerys Gewicht riss den Galgen nieder, sodass nur ein Haufen zersplittertes Holz davon blieb.

Simon de Montfort befahl, den geschundenen, blutigen, aber noch lebenden Körper Aimerys zu ihm zu bringen und seiner Schwester vor die Füße zu werfen. Dann zog er sein Kurzschwert und schnitt dem Gefangenen die Kehle durch. Ein Sonnenstrahl fing sich auf der Klinge, blendete Guiraude und verhüllte ihr gnädig die Augen vor dieser Gräueltat. Dennoch wandte sie sich ab, um das Sterben ihres Bruders nicht mit ansehen zu müssen – ein grausamer Tod, der sie ebenfalls erwartete, wie sie wusste.

Montforts Männer grölten, als das Blut aus der Halsschlagader des Sterbenden auf Guiraude spritzte, die regungslos an der Seite des Generalkapitäns verharrte. Die Soldaten waren inzwischen rasend vor Blutdurst, der erst befriedigt werden musste, bevor man ihnen die nächste Aufgabe zuweisen konnte. Neben den achtzig Rittern im Schlosshof gab es noch vierhundert Bürger der Stadt, die Marlys Bataillon gefangen genommen hatte. Diese Zivilisten sollten nicht durch das Schwert sterben, sondern durch die größte Massenverbrennung von Ketzern aller Zeiten. Montfort und Marly hatte diese Veranstaltung für den Nachmittag geplant.

Simon de Montfort reckte sein blutiges Schwert in die Höhe und gab die Losung aus: »Macht es mit den Übrigen genauso! Der Mann, der die meisten Kehlen durchschneidet, erhält eine Kriegstrophäe!«

Während er Guiraude ins Haar griff und sie brutal in die Höhe zerrte, stießen seine Männer raue Schreie aus und stürzten sich auf die Wehrlosen.

Das blutige Gemetzel färbte die Welt in stumpfes Rot.

Jene Bürger von Lavaur, die sich nicht hatten verstecken wollen, wurden auf die Wiese am Fluss gezerrt und aneinandergefesselt. Aus dem Holz des niedergerissenen Heerlagers errichteten die Kreuzfahrer den größten Scheiterhaufen der Geschichte. Sie gossen Pech auf die Bretter, damit das Feuer heißer und schneller brannte, denn je eher sie mit den Ketzern fertig waren, desto rascher konnten sie sich ihrem eigentlichen Ziel widmen, der Plünderung von Lavaur. Doch sie mussten nicht lange warten, denn die Häretiker hatten sich seit dem Fall der Stadt in ihr Schicksal ergeben. Ruhig schritten sie auf den Platz mit dem Scheiterhaufen zu, wobei sie Gebete sprachen. Sie beteten selbst dann noch, als sie von den Flammen erfasst wurden. Niemand schrie oder bettelte um Gnade. Die Katharer von Lavaur starben, wie sie gelebt hatten, in Würde und Gemeinschaft, mit der Stärke ihres Glaubens, dem sie nicht abgeschworen hatten.

So schrecklich die Massenverbrennung von Lavaur für die Katharer auch war, in der Legende sollten vor allem die Grausamkeiten fortleben, die Simon de Montfort und seine Männer der armen Guiraude antaten. Bald schon erkannten die französischen Soldaten, dass in dem eingenommenen Schloss ein bemerkenswerter Mangel an Frauen herrschte – tatsächlich war Guiraude das einzige weibliche Wesen auf dem Hof. Der Generalkapitän riss ihr den Knebel aus dem Mund, um das Versteck ihrer Damen zu erfahren. Doch Guiraude antwortete nicht, schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen und befand sich an einem Ort, an dem sie nur noch die Erlösung durch den Tod erwartete, der sie bald ereilen würde. Die einzigen Worte, die ihr während der nächsten furchtbaren Stunden über die Lippen kamen, waren Worte des Gebets. Sie betete für ihren Bruder und seine Ritter; sie betete für ihr Volk, das den Flammentod starb, und für die Sicherheit der Frauen und Kinder von Lavaur, die in ihrem Versteck ausharrten.

Da der Verbleib der Schlossfrauen nicht geklärt werden konnte, warf Simon de Montfort seinen Soldaten Dame Guiraude zum Fraß vor. Zuerst sollte jener Mann zum Zuge kommen, der den Wettbewerb im Halsabschneiden gewonnen hatte, dann jeder weitere, dem Guiraude gefiel. Wenn sie den Soldaten unbedingt als einzige Frau zu Willen sein wollte, sollte es eben so sein. Immerhin glaubten die Ketzer an die freie Entscheidung, und dieses rothaarige Weib hatte seine Entscheidung getroffen.

Es dauerte nicht lange, bis Simon de Montfort von Langeweile gepackt wurde. Außerdem hatte er Hunger und wollte diese elende Stadt so schnell wie möglich verlassen. Er hatte seine Arbeit in Lavaur beendet; nun wollte er nur noch zurück in zivilisiertere Gefilde, wollte in einem weichen Bett ruhen und bei einem guten Glas Wein ein ausgezeichnetes Essen genießen. Es gab nur noch eines zu tun, bevor er diesem gottverlassenen Ort den Rücken kehren durfte: Er musste dafür sorgen, dass diese häretische Hexe, die der Kirche so viel Ärger gemacht hatte, ein für alle Mal zum Schweigen gebracht wurde.

Montfort schaute gebannt zu, als Guiraude von seinen Männern missbraucht wurde. Die Soldaten standen an, wobei sie das grässliche Schauspiel mit anzüglichen Bemerkungen und lautem Johlen kommentierten. Montfort konnte nicht erkennen, ob die Frau überhaupt noch am Leben war. Dies herauszufinden, gab es nur eine Möglichkeit: Mit einem Arm zog er den Mann, der an der Reihe war, von Guiraude herunter und schleuderte ihn beiseite. Die Frau blutete am ganzen Körper; ihre Gliedmaßen waren verdreht, und ihr Kiefer schien gebrochen zu sein. Doch nach ein paar Sekunden erkannte Montfort, dass sie noch atmete. Als er aufschaute, um Befehle zu erteilen, sah er mehrere seiner Soldaten an einem Brunnen stehen, wo sie ihren Durst stillten.

»Wie tief ist der Schacht?«, rief Montfort ihnen zu.

Einer der Männer stieg über den Brunnenrand, um in die Tiefe zu blicken. Dann ließ er einen schweren Stein hineinfallen und schaute ihm lange nach.

»Sehr tief, Herr.«

»Gut!« Montfort winkte zweien seiner Männer. »Bringt dieses Weib her.«

Die Soldaten schleiften Guiraude über das Kopfsteinpflaster und legten sie ihrem Heerführer zu Füßen. Simon de Montfort trat der Wehrlosen mit Wucht in die Rippen. Guiraude regte sich nicht. Wütend zerrte er ihre schlaffe Gestalt an den Haaren hoch und fauchte: »Wenn du in der Hölle brennst, dann richte dem Teufel aus, dass er in Okzitanien nicht mehr willkommen ist!«

Die Soldaten halfen ihm, den Körper vollends hochzuheben. Mit vereinten Kräften warfen sie die Herrin von Lavaur in den Brunnen. Als ihr Körper nicht sogleich versank, erteilte Montfort seinen letzten Befehl: »Steinigt sie, bis sie untergeht.«

Guiraude starb in jenem Brunnen, doch ihre Legende lebte weiter.

Montforts Heer hielt Lavaur bis zu seinem Tod, der ihn sieben Jahre später, im Jahr 1218, ereilte. In der Schlacht von Toulouse wurde sein Kopf von einem gut gezielten Stein aus einem Katapult zerschmettert. Zielgenau und geschickt war die Waffe abgefeuert worden – von einer Verteidigungseinheit, die ausschließlich aus Frauen bestand.

»Jetzt bist du gerächt, Guiraude!«, lautete ihr Schlachtruf, als Montforts blutüberströmte Leiche mit dem zerschmetterten Kopf durch die Straßen der Stadt geschleift wurde.

1220 wurde Lavaur von einem Heer aus Katharern und Templern zurückerobert, welche die Stadt wieder für die guten Männer und Frauen öffneten. Von Neuem erblühte das Katharertum in der neu befestigten Burg Lavaur und behauptete sich entgegen aller Erwartungen über Jahrhunderte hinweg. Auch wenn jegliche Verbindung zur Häresie unter Todesstrafe stand, wurden die Traditionen der Katharer in der Umgebung von Lavaur bewahrt, zeitweilig unter Geheimhaltung. Es schien, als sei der Stadt so großes Leid zugefügt worden, dass selbst die überzeugtesten Kreuzfahrer es nicht übers Herz brachten, Lavaur noch einmal anzugreifen. Manche flüsterten gar, dass Gott selbst die Stadt beschütze, als ewigen Lohn für all jene, die ihren Glauben im Jahre 1211 mit dem Leben bezahlt hatten. Was immer der Grund dafür sein mochte – Lavaur war die einzige größere Stadt in Okzitanien, in der die Katharer niemals vollständig vernichtet wurden.

Der Bericht von Dame Guiraudes ruhmreichem Leben und ihrem schrecklichen Tod sollte zu einer dauerhaften mittelalterlichen Legende werden. Balladen und Gedichte wurden über sie geschrieben und machten aus der tapferen Frau eine der größten Heldinnen der Region.

Dame Guiraude, so geht die Legende,

fand im Brunnen ein grausames Ende,

doch Jesus nahm ihr Furcht und Schmerzen,

nun lebt sie fort in unseren Herzen.

Lavaur war die größte Massenverbrennung der Geschichte. Das Ausmaß dieser Brutalität sollte in der westlichen Welt ohne Beispiel bleiben. Mehr als vierhundert Männer und Frauen waren aneinandergefesselt und auf einer Anhöhe am Fluss Agout verbrannt worden. Auch wenn es im Kreuzzug gegen die Katharer viele weitere Flammenopfer zu beklagen gab, so sollte die schiere Anzahl der Toten von Lavaur nie mehr erreicht werden.

Doch als der Kreuzzug gegen die Katharer sich im dreizehnten Jahrhundert immer mehr ausdehnte, mussten hunderttausend weitere Menschen auf grausame Weise sterben. Der letzte Perfectus der Katharer, der charismatische Guillaume Bélibaste, wurde im Oktober 1321 auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Als das Pech auf den Kienspan gegossen wurde, erhob Bélibaste seine Stimme und verkündete der Menge, dass eine Zeit kommen werde, in der die unverfälschte Lehre seines Volkes in die Welt zurückkehre. Wenn erst der Weg der Liebe, der für Frieden und Schönheit, Glauben, Gemeinschaft und Wohltätigkeit stand, dogmatische Engstirnigkeit und blutige Machtkämpfe besiegt habe, werde die Kraft Romas ihrer Umkehrung, der Kraft Amors, unterliegen.

Als die Flammen um ihn züngelten, rief Guillaume: »Le temps viendra!«

Die Zeit wird kommen.

Dreihundert Jahre nach der Belagerung von Lavaur hörte ein zwölfjähriges englisches Mädchen die Geschichte der Dame Guiraude, während es in einem Palast in den Habsburgischen Niederlanden weilte, inmitten ihrer Freundinnen aus halb Europa.

Die Legenden der guten Männer und Frauen sollten von diesem Mädchen im Gedächtnis bewahrt werden und ihm während seines stürmischen Lebens Beistand geben.

Der Name des Mädchens war Anne, nach der Großmutter Jesu Christi.

ERSTER TEIL

La petite Boleyn

Tower of London

Gegenwart

Abgeschlagene Köpfe waren in früheren Zeiten ein gewohnter Anblick auf der London Bridge.

Im Mittelalter war es für die hiesigen Scharfrichter alltäglich, Feinde des Königs mit der Axt hinzurichten. Wer Glück hatte, wurde mit einem einzigen Hieb ins Jenseits befördert; bei anderen Delinquenten brauchte es mehrere Schläge, bis sie endlich von ihrem Leiden erlöst waren.

Um Hochverräter zu entmutigen – und als Warnung für alle, die rebellische Gedanken hegten –, wurden die abgeschlagenen Häupter auf einen Speer gespießt und auf dem Brückentor oder in der Nähe zur Schau gestellt. Manchmal wurde der Kopf mit Teer überzogen, damit er sich in der feuchten Londoner Witterung länger hielt.

Den uralten keltischen Brauch, die Köpfe gefallener oder hingerichteter Gegner öffentlich zur Schau zu stellen, gab es auf den britischen Inseln schon länger. Im Jahre 1305 wurde diese abschreckende Gewohnheit von einem skrupellosen König namens Eduard I. wiederbelebt. Eduard, genannt Langbein, war der erste König, der den Kopf eines Erzfeindes auf der London Bridge ausstellte. Besagter Erzfeind war der Lordprotektor von Schottland, William Wallace, den Eduard wegen Verrats gegen die englische Krone exekutieren ließ. Im Prozess hatte Wallace betont, er sei kein englischer Untertan und habe weder England noch Eduard jemals die Lehnstreue geschworen; daher könne sein Aufbegehren nicht als Hochverrat betrachtet werden. Nur Schottland als einem unabhängigen Land gelte seine Treuepflicht, und Schottland sei England nicht untertan.

Der englische König war anderer Meinung und ordnete eine Hinrichtung an, die ihrer Brutalität wegen in die Geschichte eingehen sollte – selbst in einem Zeitalter, das sich ohnehin durch Grausamkeit auszeichnete. Langbein sorgte dafür, dass die extreme Härte der Bestrafung niemals vergessen werden sollte. Den Kopf des toten Wallace ließ er aufspießen und auf der London Bridge zur Schau stellen, damit jeder potenzielle Hochverräter von vornherein abgeschreckt wurde.

Es war ein drastischer Brauch, der sich auch bei den nachfolgenden Herrscherhäusern großer Beliebtheit erfreuen sollte. So wurden in den nächsten dreihundert Jahren in London unzählige aufgespießte Köpfe zur Schau gestellt – nicht nur auf der London Bridge, sondern auch auf den Rasenflächen vor einem Tor zu einem Gebäudekomplex, den man heute als Tower von London kennt, da der Platz auf der Brücke offenbar nicht ausreichte. Mit der Zeit wurden die auf Speeren steckenden Köpfe zu einem solch alltäglichen Anblick, dass sie ihre Symbolkraft verloren; irgendwann betrachtete man sie nur noch als Ausdruck königlichen Zorns.

Die Faszination einer solch makabren Zurschaustellung blieb bis in die Gegenwart ungebrochen. Londoner Souvenirläden stellten blutüberströmte Nachbildungen zur Schau, kitschig und grässlich zugleich, und verkauften Horror-Bleistifte mit darauf gespießten Köpfen. Zu Halloween konnte man vor dem geschichtsträchtigen Tower of London, vor dessen Mauern im sechzehnten Jahrhundert die meisten Enthauptungen stattgefunden hatten, Gummiköpfe und Masken an Stöcken sehen. Auch die berüchtigte zweite Frau Heinrichs VIII., Anne Boleyn, hatte 1536 im Tower den Kopf verloren.

Dumme Streiche mit abgeschlagenen Köpfen kamen in der Gegend um den Tower so häufig vor, dass George Pedrick, seines Zeichens Fremdenführer, auf einem seiner frühmorgendlichen Rundgänge den Speer im Gras beinahe übersehen hätte. Pedrick wohnte und arbeitete seit über zwanzig Jahren im Tower of London und hatte in dieser Zeit viele Spaßvögel erlebt. Als Fremdenführer in einer der beliebtesten Sehenswürdigkeiten Englands kannte er jede Legende, jedes Gerücht. Im Geiste ging er die Daten durch und glich sie mit dem heutigen Tag ab: Die grausigsten Streiche wurden üblicherweise an den Jahrestagen der Hinrichtung berühmter Königinnen oder berüchtigter Verbrecher gespielt. Diesmal jedoch kam Pedrick zu keinem Ergebnis: Gestern, heute oder morgen war kein solcher Jahrestag. Also musste es sich um einen dummen Schülerstreich handeln. Pedricks Pflicht bestand nun darin, den Wartungsdienst anzurufen, damit das Ding entfernt wurde, bevor man den Touristen Einlass in den Tower gewährte.

Beim Nähertreten stellte Pedrick mit Entsetzen fest, dass die Nachbildung beinahe lebensecht war. Von der Seite erkannte er, dass er einen Frauenkopf vor sich hatte. Langes, dunkles Haar, augenscheinlich blutgetränkt, ringelte sich um den Speer. Auch auf dem hölzernen Schaft schimmerte Blut, das geronnen war und eine dickliche Konsistenz aufwies.

Sehr viel plastischer als bei den üblichen dummen Streichen, dachte Pedrick. Vielleicht das Werk von Kunststudenten? Oder Schauspielschülern? Das Theaterstück über Leben und Tod der Anne Boleyn, Königin für tausend Tage, wurde derzeit im West End aufgeführt. Möglicherweise ein geschmackloser Werbegag. Wer immer dafür verantwortlich war, hatte sich auf jeden Fall Zeit genommen, sein Schaustück so authentisch wie möglich aussehen zu lassen.

Pedrick umrundete das schauerliche Kunstwerk, bis er dem Kopf der Frau gegenüberstand. Erst jetzt sah er, dass man ihr irgendetwas in den Mund geschoben hatte, eine Kette aus runden weißen Perlen, die so arrangiert war, dass es aussah, als würde sie vom abgeschlagenen Kopf ausgespuckt. Eine großes goldenes »B« hing von der Kette; er war mit drei weiteren Perlen verziert, die vom unteren Bogen des Buchstabens hingen. Die Perlen bewegten sich im eisigen Wind, der von der Themse herüberwehte.

Pedrick zitterte in der nasskalten Brise, als er den grausigen Anblick in sich aufnahm: den Speer, das Blut und die Nachbildung einer der berühmtesten Ketten in der Geschichte Englands. Sein Herz schlug schneller, als ihm die schreckliche Wahrheit bewusst wurde. Er wollte unter keinen Umständen näher heran, erkannte aber auch so das entscheidende Detail: die Fliegen. Sie landeten auf dem Blut.

Und Fliegen pflegen nicht über Latex und Theaterschminke herzufallen.

Mit zitternden Fingern griff Pedrick nach seinem Mobiltelefon und forderte Unterstützung an.

QUAI DE LOUVRE, PARIS

Privatbüro von Simone de Bourbon

Gegenwart

Maureen Paschal war von einer Assistentin in das große, elegante Büro geführt worden, wo sie nun auf einem mit Leopardenfellimitat bezogenen Sessel wartete. Die Panoramafenster gewährten einen spektakulären Blick auf die Seine, die im hellen Licht des Morgens funkelte. Die berühmte Uhr des Musée d’Orsay am anderen Seineufer ließ Maureen erkennen, dass sie pünktlich zu ihrem Termin erschienen war.

Neugierig nahm sie die Einrichtung in Augenschein. Der Schreibtisch der Frau, der dieses Büro gehörte, lag voller aufgeschlagener Bücher und Papiere, was für einen regen Forschergeist sprach. Maureen registrierte es mit einem beifälligen Lächeln; ihr eigener Schreibtisch sah ähnlich aus.

In diesem Moment kam Simone de Bourbon wie ein Wirbelwind ins Büro. »Wie ich höre, wollen Sie einen Krieg anfangen«, sagte sie zur Begrüßung in akzentfreiem Englisch.

Das ungestüme Eintreten der blonden, jungen und modisch gekleideten Professorin schreckte Maureen auf, doch sie fasste sich rasch, erhob sich und streckte zur Begrüßung die Hand aus. »Bonjour, Madame Bourbon.«

Simone de Bourbon ergriff die dargebotene Hand und drückte sie fest. Fragend hob sich eine ihrer hübsch geschwungenen Brauen, doch ihr Gesicht zeigte keine Regung. Wortlos schaute sie ihrer Besucherin in die Augen.

Maureen wusste nicht, wie sie auf diese merkwürdige Begrüßung reagieren sollte, bis Simone lachend bemerkte: »Wunderbar! Wurde höchste Zeit, dass jemand den Mut aufbringt, der englischen Akademikerflotte einen Schuss vor den Bug zu setzen!«

Dass Simone ein lupenreines Oxford-Englisch sprach, war eine angenehme Überraschung. In Anbetracht des Namens und des französischen akademischen Grades Simones hatte Maureen damit gerechnet, auf eine mehr oder minder hohe Sprachbarriere zu stoßen. Stattdessen sprach Simone ein makelloses Englisch.

»Sind Sie Engländerin?«, fragte Maureen, ohne ihr Erstaunen verbergen zu können.

»Manchmal«, gab Simone zurück. »Ich bin in der Nähe von Paris geboren. In Versailles, genauer gesagt. Wo sonst hätte eine Bourbon zur Welt kommen sollen? Das französische Erbe verdanke ich meinem Vater. Meine Mutter ist Engländerin und wurde in Kent mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Ich bin die Kreuzung aus dieser Verbindung, genau wie meine Zwillingsschwester.«

»Sie haben eine Zwillingsschwester? Ist sie auch Professorin?«

»Ja. Sie hat Kunstgeschichte studiert und gehört dem Kuratorium des Louvre an, als Vertreterin des Europäischen Kunstrates. Deswegen dieses schicke Büro.« Mit einer Bewegung ihrer manikürten Hand umfasste Simone den eleganten Raum mit dem unbezahlbaren Blick über die Seine. »Sie ist ständig auf Reisen und treibt sich in Museen herum. Immer dann benutze ich dieses Büro. Da wir eineiige Zwillinge sind, fällt es niemandem auf. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Maureen kehrte zum Leopardensessel zurück. »Danke«, sagte sie. »Um auf Ihre anfängliche Bemerkung zurückzukommen … Ich muss gestehen, dass ich mir keineswegs sicher bin, ob ich einen Krieg vom Zaun breche. Ich weiß nicht mal, wo Sie von einer dahingehenden Absicht meinerseits gehört haben könnten.«

»Aha.« Simone warf ihr einen verschwörerischen Blick zu, während sie hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm. Sie verschob einen Stapel Papiere, unter dem zwei Bücher aus Maureens Feder zum Vorschein kamen. »Der Grund dafür ist der, dass ich Ihre Bücher gelesen habe – auf Englisch und Französisch. Daher weiß ich, dass Sie es mit dem Patriarchat, dem Vatikan, den überkommenen Lehrmeinungen und überhaupt mit jedem aufnehmen, der Ihren akribisch recherchierten Theorien in die Quere kommt.«

Maureen war unsicher, wohin dieses Gespräch führen mochte. Simones Aussagen klangen doppeldeutig. War sie ein Fan? Eine Gegnerin? Ihre Hausaufgaben hatte sie auf jeden Fall gemacht, das schien zumindest der Bücherstapel auf ihrem Schreibtisch zu bestätigen.

»Ja, ich weiß alles über Sie«, fuhr Simone lachend fort. »Kein Grund zur Sorge. Genau wie Sie bin auch ich eine beharrliche Forscherin. Ihre Laufbahn als Journalistin hat mit dem Schwerpunkt Frauenthemen begonnen, nicht wahr? Mit HERstory konnten Sie dann einen weltweiten Erfolg verbuchen.«

Simones Einschätzung war zutreffend. Vor nunmehr acht Jahren war Maureens erstes Sachbuch erschienen: HERstory. Ein Plädoyer für die meistgehassten Heldinnen der Geschichte. Das Buch behandelte berühmte historische Frauengestalten – Frauen, die verleumdet und missverstanden worden waren: Maria Magdalena, Marie Antoinette, Lucrezia Borgia, Anne Boleyn, Katharina die Große und Maria Stuart. In jedem Kapitel hatte Maureen die traditionelle Geschichtsschreibung auf den Prüfstand gestellt und Argumente dafür geliefert, dass jede dieser Frauen ihres Geschlechts, ihrer Macht und ihres Einflusses wegen mit Absicht verunglimpft worden war. Es war ein brisantes Buch, aus dem sich eine erfolgreiche Fernsehserie entwickelt hatte, die Maureen selbst moderierte und die inzwischen weltweit ausgestrahlt wurde. Maureens Porträt mit dem charakteristischen roten Haar war bereits auf Zeitschriftencovern beiderseits des Atlantiks erschienen. Sie selbst schätzte ihren Ruhm eher zurückhaltend ein und bezeichnete sich scherzhaft als »D-Promi«.

»Außerdem muss ich Ihnen schmählicherweise gestehen, dass ich gelegentlich in der HELLO schmökere.« Simone nahm eine Ausgabe der englischen Boulevardzeitschrift vom Tisch und wedelte damit. Maureen erkannte das Exemplar sofort, denn darin war ihre Verlobung mit dem schottischen Ölmagnaten Berenger Sinclair porträtiert worden.

»Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte sie mit leisem Auflachen. »Vor allem aber bin ich Ihnen dankbar, dass Sie mich empfangen haben.«

»Bien sûr! Wir müssen doch unsere Strategie im bevorstehenden Krieg besprechen.«

»Was meinen Sie eigentlich damit?«, fragte Maureen.

»Einen Krieg an vielen Fronten: Geschlecht, Geschichte, Religion. Und Sie und ich stehen in vorderster Linie. Wir beschäftigen uns mit denselben Themen und haben die gleichen Ziele. Wir wollen Frauen den ihnen zukommenden Platz in der Geschichte zurückgeben, was uns befähigen wird, die Gleichberechtigung aller Frauen auch in der Gegenwart und Zukunft durchzusetzen.«

Maureen nickte. »Wer die Vergangenheit beherrscht, wird auch die Zukunft beherrschen.«

»So ist es. Unsere Mission weitet sich aus, aber wir sind unserem Feind zahlenmäßig unterlegen. Also müssen wir klüger sein als er – und vorsichtig.«

Maureen beugte sich fasziniert vor, während Simone mit ihrem leidenschaftlichen Plädoyer fortfuhr.

»Nehmen Sie nur die letzte Präsidentschaftswahl in Ihrer Heimat. Einer der Kandidaten war eine Frau, und kein Bewerber vor ihr war besser für das Amt qualifiziert als sie. Diese Frau trat gegen einen Mann an, der für das Amt weniger taugte als jemals ein Präsident zuvor. Sicher, die Frau hatte Fehler, so wie wir alle, aber ihr Konkurrent hatte weitaus mehr. Wo sie einen Fehler machte, beging er gleich zehn, und jeder war ungeheuerlicher als der vorherige. Doch er kam damit durch, während seiner Gegnerin kein Fehler verziehen wurde. Und warum? Weil sie eine Frau war und im Grunde schon dafür bestraft werden musste, dass sie die Macht anstrebte. Dennoch spricht kein Mensch von Frauenhass oder Sexismus. Die Experten liefern uns Dutzende von Gründen für den Wahlausgang, aber niemand redet ernsthaft über das schmutzige Geheimnis, das alle schlichtweg ignorieren.«

Maureen nickte. Das Ausmaß an Frauenhass während des Präsidentschaftswahlkampfs hatte sie schockiert. Noch nie war ein Kandidat derart mit Schmähungen überhäuft worden; selbst nach der Niederlage hatte es nicht aufgehört. Auf der ganzen Welt waren Frauen vom schockierenden Vorgehen des Patriarchats wachgerüttelt worden. Was das betraf, waren Maureen und Simone sich vollkommen einig.

»Es war ein verheerender Rückschlag«, sagte Maureen. »Kaum zu glauben, dass wir im 21. Jahrhundert noch für die grundlegenden Rechte der Frauen kämpfen müssen.«

»Das ist leider nur zu wahr.« Simone nickte. »Wir müssen aber auch das Positive sehen. Die Bundesrepublik Deutschland wird seit Jahren von einer sehr kompetenten Frau regiert, die in vieler Hinsicht Beispiele setzt für die freie Welt. Überhaupt sind Frauen aus Europa seit dem Mittelalter die Leuchtfeuer für Frieden und Fortschritt. Dieser Frauen müssen wir gedenken und ihnen nacheifern. Frauen wie ihr!«

Simone wirbelte mit ihrem Stuhl herum, um auf ein kunstvoll gerahmtes Porträt in Renaissancemanier auf der Wand hinter ihr zu deuten. Das Gemälde zeigte eine königlich aussehende Frau mit klugen Augen und einem leisen Lächeln, das dem der Mona Lisa glich. Sie schien in den Dreißigern zu sein und trug ein edles mitternachtsblaues Samtkleid im Stil der südfranzösischen Renaissance. Um ihren Hals lag eine Goldkette mit Fleur-de-Lis-Anhänger, dem Symbol der französischen Monarchie, von dem drei Barockperlen herabhingen. Nur der grüne Papagei, der auf der rechten Hand der Frau saß, mutete in dem klassisch gehaltenen Porträt ein wenig seltsam an.

»Marguerite von Navarra«, sagte Maureen ehrfürchtig. Sie kannte das Gemälde. Blieb die Frage, ob es sich um das wertvolle Original handelte oder um eine meisterhafte Kopie. Früher war dieses Gemälde Hans Holbein zugeschrieben worden, aber auch Leonardo da Vinci, bis sich die Kunstexperten des 19. Jahrhunderts darauf geeinigt hatten, dass es aus der Werkstatt des französischen Porträtisten Jean Clouet stammen müsse.

»Eine der interessantesten Frauen ihrer Zeit«, bestätigte Simone. »Vielleicht aller Zeiten. Ältere Schwester des französischen Königs Franz I., zugleich eigenständige Herrscherin über das Herzogtum Navarra. Eine hochbegabte Frau mit vielen Titeln, adelig von Geburt und Stellung. Sie sprach mehr als ein halbes Dutzend Sprachen und muss eine charismatische Person gewesen sein. Ihr Bruder hingegen war ein selbstverliebter Geck, der Marguerite nicht das Wasser reichen konnte. Ein arroganter, genusssüchtiger Trottel – aber eben ein Mann! Also fiel ihm der Königstitel zu, obwohl seine Schwester die glänzendste Herrscherin Frankreichs hätte werden können. Aber damals hatten Frauen kein Anrecht auf den Thron. Und auch wenn sich die Gesetze im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben – die frauenfeindliche Einstellung ist geblieben.«

Maureen nickte. Sie hatte Marguerite von Navarra während ihres Studiums in den Schriften des amerikanischen Gelehrten Samuel Putnam für sich entdeckt. Putnam bezeichnete Marguerite als »erste moderne Frau« und hatte ein Buch mit gleichnamigem Titel über sie verfasst. Marguerite wurde von einigen Historikern auch als »Mutter der Renaissance« bezeichnet, was aber nur denen bekannt war, die sich näher mit der französischen Renaissance beschäftigt hatten.

»Ich glaube, man kann Marguerite als Revolutionärin bezeichnen«, sagte Simone, den Blick auf das Porträt gerichtet. »Wäre sie nicht so kühn und visionär gewesen, hätten wir heute ein anderes Europa. Dennoch hat die Geschichtsschreibung sie vergessen und versagt ihr die Würdigung. Und warum? Weil sie eine Frau war. Wäre sie ein Mann gewesen, wäre ihr Name heute so bekannt wie die Namen Luthers und Calvins. Man würde sie in einem Atemzug mit Erasmus von Rotterdam nennen. Vielleicht hätte es ohne Marguerite keinen Calvinismus gegeben.«

»Eine kühne Behauptung«, sagte Maureen. »Der ich aber zustimme.«

Tatsächlich hatte Marguerite dem umstrittenen Theologen Johannes Calvin auf ihrem Territorium Zuflucht gewährt und seine wachsende Glaubensbewegung finanziert. Überdies war Marguerite berühmt für ihre provokanten Schriften, allen voran das Heptaméron, ein brisantes Buch voller Betrachtungen über die Sexualität und die Rollen der Geschlechter. Marguerite hatte einem humanistischen Hof vorgestanden; sie war Mystikerin, Feministin und kompromisslose Reformatorin gewesen. Alle diese Eigenschaften spiegelten sich in ihren Schriften.

Maureens Reise nach Paris war von einer modernen Übersetzung des eben erwähnten Heptaméron inspiriert worden. Autorin war Simone de Bourbon, die obendrein eine profunde Biografie Marguerites geschrieben und damit einen Umbruch in Gang gesetzt hatte, der Marguerite in die vorderste Reihe der Geschichte rückte. Maureen hatte mit wachsendem Interesse das Vermächtnis dieser faszinierenden Frau studiert. Doch es war ein spezieller Aspekt von Marguerites Leben, der sie zu dem Besuch bei Simone veranlasst hatte. Sie räusperte sich und beschloss, zum Thema zu kommen.

»Jetzt verstehe ich, warum Sie von einem Krieg gesprochen haben«, begann sie und fügte lächelnd hinzu: »Was das angeht, scheinen wir Waffenschwestern zu sein.« Sie wurde wieder ernst. »Wie ich Ihnen geschrieben hatte, habe ich das Leben der Anne Boleyn erforscht – aus einer anderen Perspektive als der üblichen, die traditionell von den Tudor-Gelehrten vertreten wird.«

»Wie meinen Sie das?« Simone täuschte Unglauben vor. »Wollen Sie damit sagen, Anne war nicht die Ehebrecherin, die durch ihren Inzest ein trautes Heim zerstört hat, wie wir seit jeher glauben sollen? Dass sie mehr getan hat, als im Alter von fünfunddreißig den Kopf zu verlieren, weil sie so geldgierig war? Wie schockierend!«

Maureen zuckte zusammen – wie immer, wenn sie mit der frauenverachtenden Behauptung konfrontiert wurde, die zweite Frau Heinrichs VIII. habe ihren furchtbaren Tod aufgrund ihres ehebrecherischen Verhaltens irgendwie verdient gehabt.

»Ich bin der Meinung«, erwiderte sie, »dass die Jahre, die Anne Boleyn als junges Mädchen in Frankreich verbracht hat, viel wichtiger sind, als die Geschichtsschreibung zugeben will. In diesem Zusammenhang, Simone, hat mich ein Satz in Ihrer Biografie über Marguerite sehr berührt. Sie schreiben, dass die Beziehung zwischen Anne Boleyn und Marguerite ›eine der wichtigsten Frauenfreundschaften der Geschichte war und doch praktisch ignoriert wurde‹.«

»Absichtlich ignoriert wurde«, berichtigte Simone, beugte sich vor und klopfte zur Unterstreichung ihrer Worte auf den Schreibtisch. »Es ist eine historische Verschwörung. Anne Boleyn verbrachte ihre prägenden Jahre hier in Frankreich, doch abgesehen von ihrem Hang zu französischer Mode, Tanz und Anspielungen auf französische Sexualpraktiken scheint das keinen Menschen zu kümmern. Englische Gelehrte wollen sich nicht näher mit französischen Themen befassen und übergehen sie einfach.« Simone hielt kurz inne; dann fragte sie: »Wissen Sie, wie ich auf Marguerite gestoßen bin?«

Maureen schüttelte den Kopf.

»Raten Sie«, forderte Simone sie heraus. »Ich habe Ihnen bereits einen Hinweis gegeben. Woher stammte meine Mutter ursprünglich?«

»Kent, nicht wahr?« Maureen kam schnell auf die Lösung. »Die Grafschaft der Boleyns!«

»Genau. Der Besitz meiner Mutter ist nur einen Spaziergang von Anne Boleyns Familiensitz auf Hever Castle entfernt. Wir haben dort früher die Sommerferien verbracht. Ich war vernarrt in Anne und habe in meiner Jugend jedes Buch über sie verschlungen. Weil sie halb französisch, halb englisch war, habe ich mich mit ihr identifiziert. Sie war mir ähnlich. Ich fand es sehr enttäuschend, dass über ihr Leben in Frankreich so wenig berichtet wurde. Also begann ich, in französischen Texten nach ihr zu forschen. Dabei habe ich dann Marguerite entdeckt, und von diesem Punkt an hat sie mein Leben bestimmt. Ich suche noch immer nach einem Buch über Anne Boleyn, über das ich mich nicht ärgern muss, weil der Autor oder die Autorin Annes Zeit in Frankreich unter den Tisch fallen lässt und ihre Freundschaft mit Marguerite herabsetzt. Das macht mich wütend, zumal es eindeutig Absicht ist!«

Maureen genoss diese Unterhaltung mit einer Gleichgesinnten, die genau über jene historischen Begebenheiten Bescheid wusste, die auch sie, Maureen, brennend interessierten. Es ist eine historische Verschwörung.

Doch da war etwas, das sie stutzig machte.

»Warum haben Sie dann nur über Marguerite geschrieben? Warum nicht auch über Anne Boleyn, abgesehen von ein paar flüchtigen Erwähnungen?«

Simone stieß ein kurzes, harsches Lachen aus. »Ha! Weil ich den Krieg nicht beginnen wollte, den Sie jetzt offenbar anzetteln möchten. Eine relativ unbekannte Angehörige der französischen Königsfamilie zu rehabilitieren, ist eine Sache. Doch es ist etwas vollkommen anderes, wenn man die anerkannte Biografie der übelst beleumdeten Königin aller Zeiten anzweifelt – der ersten Frau mit Macht und Einfluss, die vom eigenen Mann öffentlich hingerichtet wurde, während seine Höflinge ihm zujubelten.« Simone legte eine Pause ein, um ihre Worte wirken zu lassen; dann senkte sie die Stimme, als fürchtete sie, aus dem Nebenzimmer belauscht zu werden. »Tudor-Gelehrte sind gnadenlos«, sagte sie mahnend. »Sie sind eine in sich abgeschlossene Clique. Auf diese Weise beherrschen sie die Geschichte und sorgen dafür, dass niemand ihnen jemals das Gegenteil beweisen kann – und dass kein Außenseiter in ihre gut geschützte Festung einbricht. Die vereinheitlichte Geschichtsschreibung muss um jeden Preis bewahrt werden.«

»Ich denke, damit haben Sie die meisten Gelehrten treffend beschrieben«, gab Maureen trocken zurück.

»Leider geht es nicht nur um die Gelehrten. Es geht auch um die Öffentlichkeit, der man eine Gehirnwäsche verpasst hat. Die Leute glauben, dass sie an ihren veralteten Geschichtsbüchern festhalten müssen, in denen ein Übermaß an Rassismus, Sexismus und Klassendenken zu finden ist. Denken Sie nur an das Zitat aus meinem Buch, das Sie erwähnt haben, über die Freundschaft zwischen Anne und Marguerite. Sie sollten mal die Hass-Mails sehen, die ich wegen dieses Satzes bekommen habe. Ich hätte kein Recht, heißt es, die allgemein anerkannte historische Version infrage zu stellen. Manche der Mailschreiber sind noch Studenten.« Simone stieß einen Laut des Widerwillens aus. »Junge Menschen, die für alles offen sein sollten. Stattdessen hat man ihnen beigebracht, alles zu glauben, was ihnen Professoren eintrichtern, denen mehr daran gelegen ist, ihre wohldotierte Stellung zu behalten, als die Wahrheit zu verbreiten. Eine Sturzflut hässlicher Kommentare in Anne-Boleyn-Fansites im Netz, Verachtung vonseiten der Professoren, hasserfüllte Rezensionen – und das alles nur, weil keiner von denen seine kostbare Version der Geschichte infrage gestellt sehen will.«

Maureen musste ihr beipflichten. »Selbst heute noch, nach fünfhundert Jahren, gibt es Leute, die Annes Hinrichtung gerecht finden. In meinen Buch habe ich eine Theorie vorgeschlagen, die Anne eher als Heldin denn als Schurkin sieht. Daraufhin haben die Traditionalisten mich in der Luft zerrissen, denn sie wollten ihre Anne weiterhin als Dirne und Ehezerstörerin sehen …«

Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie verstummte. Simone erriet den Grund. Zögernd fragte sie: »Haben Sie Joanna Reed gekannt?«

Maureen fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und rieb sich die Schläfen. Dann nickte sie. Die brillante Joanna Reed, die sich mit der Geschichte der Tudors bestens auskannte, war eine der Guten – eine Gelehrte, die gegen den akademischen Betrieb aufbegehrt hatte. Sie hatte ein umstrittenes Buch mit dem Titel Die Märtyrerin – Leben und Tod einer Revolutionärin des Geistes verfasst. Fachkollegen und Kritiker waren über dieses kühne Porträt Anne Boleyns hergefallen, die Joanna als leidenschaftliche Reformerin bezeichnet hatte, als Frau mit einer wichtigen spirituellen Mission.

Joanna Reed war von der gesamten Kritikerkaste nach allen Regeln der Kunst fertiggemacht worden – ein weiterer Fingerzeig, dass die Welt es vorzog, Anne Boleyn als seelenlosen Sukkubus zu sehen. Schmöker über die sexbesessene Königin und inzestuöse Ehebrecherin verkauften sich millionenfach, doch eine gut recherchierte Studie über ihr mögliches Potenzial und ihre spirituelle Bedeutung schienen keinen Gewinn abzuwerfen. Joanna Reed war für den Versuch gegeißelt worden, aus Anne Boleyn eine Heldin zu machen.

Doch es kam noch viel schlimmer.

Joanna wurde Opfer eines grausamen Mordes.

Sie war enthauptet worden. Man hatte ihren abgetrennten Kopf auf dem Tower Green gefunden; er steckte auf einem Speer, wie als Nachahmung von Anne Boleyns grausigem Tod. Der Mörder hatte Joanna sogar eine Nachbildung von Annes berühmter Perlen-»B«-Kette in den Mund gestopft.

Maureen stieß den angehaltenen Atem aus. »Joanna und ich haben uns ein paar Mal in London getroffen. Ich hatte sie für meine Serie über Anne interviewt. Wir wurden Freundinnen und planten eine Reihe von Tagungen über historische Frauenfiguren. Außerdem wollten wir zusammen ein Buch schreiben.« Sie verstummte kurz, senkte den Blick. »Ich war in London und wollte sie treffen, als … als es geschah. Wir waren dabei, die Gedächtnisfeier auf Hever Castle für den Jahrestag von Annes Tod vorzubereiten. Ich kann es immer noch nicht fassen. Haben Sie Joanna gekannt?«

Simone nickte. »Ja. Es liegt allerdings Jahre zurück – wir haben zusammen studiert. Ich habe Joanna verehrt. Sie war hochbegabt.« Simone zögerte, ehe sie hinzufügte: »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hatte sie Angst.«

»Angst?« Maureen hatte das Gefühl, als hätte man ihr Eiswasser über den Rücken gegossen. »Warum?«

»Sie sagte mir, sie fühle sich nach der Veröffentlichung von Märtyrerin nicht mehr sicher. Ständig bekäme sie Drohungen und Beschimpfungen. Wahrscheinlich kennen Sie dieses Gefühl. Mir selbst ist es auch nicht fremd.«

Maureen kannte es in der Tat. Alle Frauen, die ihre Stimme erhoben, kannten solche Situationen, besonders im Zeitalter des Internets. Androhungen von Gewalt und Vergewaltigung gehörten zu den gängigsten Waffen, die gegen Feministinnen eingesetzt wurden. Und da niemand wissen konnte, wie viele dieser Angriffe ernst gemeint waren und wie viele lediglich ein Amüsement für Trolle, waren die Attacken umso beängstigender.

»Glauben Sie, Joannas Tod war auf ihre Arbeit zurückzuführen?«, fragte Maureen.

»Ich sagte doch schon, dass es ein Krieg ist.«

»Aber das Verbrechen wurde doch aufgeklärt! Es war ihr Ehemann!«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Wie meinen Sie das?« Maureen wäre beinahe aufgesprungen.

Simone zuckte die Achseln. »Der Mann wartet auf seinen Prozess, beteuert aber hartnäckig seine Unschuld. Dass er psychisch instabil und möglicherweise gewalttätig ist und deshalb der Mörder sein könnte, will ich ja gern zugeben …«

»Soweit ich gehört habe, gab es in der Ehe viel Gewalt.«

»Ja. Und wenn der Mann trank, verwandelte er sich in ein Monster. Deshalb hat Joanna ihn ja verlassen. Er hatte ihr mehrmals gedroht und sie angeschrien, sie habe es verdient, enthauptet zu werden wie Anne Boleyn. Einmal sagte er ihr, er wünsche sich, sie ein für allemal loszuwerden, dann müsse er das Vermögen nicht mit ihr teilen – ein Vermögen, das Joanna durch ihre Arbeit erworben hatte! Ich nehme an, das wird dem Kerl vor Gericht letztlich den Hals brechen. Fall abgeschlossen, und London kann wieder zur Tagesordnung übergehen, ohne befürchten zu müssen, dass irgendwo ein Verrückter herumläuft und klugen Frauen die Köpfe abschlägt.«

Maureen fühlte sich mit einem Mal unwohl. Sie konnte diese Art von Gewalt nicht fassen. »Aber man hat doch die Tatwaffe auf seinem Grundstück gefunden?«

»In seinem Geräteschuppen wurde eine Axt gefunden, an der Joannas Blut klebte. Alle Spuren führen also zum Ex-Mann. Aber …«

»Aber was?«

»Aber der Schuppen ist ein einzeln stehendes Gebäude, und er ist nicht verschlossen. Jeder hätte die Axt dort hineinlegen können.« Sie schaute Maureen an. »Hören Sie, ich behaupte ja nicht, dass dieser Mistkerl unschuldig ist. Vielleicht war er’s. Und vielleicht war er einfach nicht schlau genug, die Axt abzuwischen oder sie in den Fluss zu werfen, statt sie mit Joannas Blut auf der Klinge herumliegen zu lassen. Aber bedenken Sie, auf welche Art und Weise die Leiche … nun ja, hergerichtet wurde. Die Botschaft vermittels der Kette, die in den Mund der Toten gestopft wurde – als wollte man sie für alle Zeiten zum Schweigen bringen. Eine ziemlich durchdachte, frauenfeindliche Botschaft für einen Trinker aus den Midlands, finden Sie nicht auch?«

Maureen schwieg betroffen. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass der Mord an Joanna Reed etwas anderes gewesen sein könnte als die Tat eines gestörten Ex-Mannes.

»Ich werde in diesem Krieg an Ihrer Seite kämpfen«, versicherte Simone und lächelte Maureen aufmunternd an. »Wir werden ihn für Joanna ausfechten – das ist das Mindeste, was wir tun können. Aber Sie müssen die Herausforderung sehenden Auges angehen, Maureen. Die Geschichte hat ihren ganz eigenen Fundamentalismus. Wollen wir das ändern, müssen wir so kühn sein wie Anne Boleyn und so klug wie Marguerite von Navarra. Wir müssen unsere eigene weibliche Reformation erschaffen. Und wir wissen doch beide genug über Geschichte, um zu begreifen, dass Reformation etwas sehr Blutiges ist, n’est-ce pas?«

Maureen und Simone verabredeten sich für den nächsten Tag zum Lunch, um ihr Gespräch fortzusetzen und einen Schlachtplan zu entwerfen. Simone wählte eine Brasserie unweit des Louvre für dieses Treffen der Schwestern im Geiste.

Nach dem Gespräch mit Simone fühlte Maureen sich beschwingt und besorgt zugleich. Die Besorgnis rührte daher, dass sie über das tragische Ende von Joanna Reed gesprochen hatten. Seit dem Mord waren erst wenige Monate vergangen, und das Entsetzen darüber war immer noch groß. Was das Motiv des Mörders auch gewesen sein mochte – Joannas Tod war symbolisch für die Gewalt, die Frauen noch immer zu erleiden hatten. Dieses Wissen war nur schwer zu ertragen.

Auf der anderen Seite liebte Maureen ihre Arbeit und blühte auf, wenn sie bei ihren Recherchen bedeutenden historischen Spuren folgte oder einer verwandten Seele begegnete, wie etwa Simone, die für Joanna die gleichen Gefühle gehegt hatte. Maureen verglich diese Seelenverwandtschaft gern mit der Fähigkeit, eine längst vergessene Sprache zu sprechen. Begegnungen mit solchen Menschen waren selten und ein Grund zum Feiern.

Also gab Maureen Champagner aus.

Simone bestellte ihr Lieblingssandwich namens Croque Poulet – gleich für sie beide, denn sie bestand darauf, dass Maureen es probierte. Es glich dem klassischen Croque Monsieur, war jedoch mit Hühnchen statt mit Schinken belegt, und im Duft der Béchamelsauce lag ein Hauch von Curry. Maureen aß es mit Genuss und verlieh ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, dass die Franzosen sogar ein simples Sandwich in Haute Cuisine verwandeln konnten.

Als sie mit den Sandwiches fertig waren, zog Simone einen Aktenordner aus ihrer ledernen Messenger Bag. »Ich habe hier etwas vorbereitet. Es sind Dokumente aus der Bibliothèque Nationale. Sie sind noch nie an die Öffentlichkeit gelangt und wurden niemals wissenschaftlich diskutiert. Die Unterlagen stammen aus der Zeit, als Anne Boleyn sich in Frankreich aufhielt. Ich möchte, dass Sie sich das Material ansehen, Maureen, und dann reden wir darüber. Wie steht es um Ihr Französisch?«

Maureen verzog das Gesicht. »Nicht so gut, fürchte ich. Ich kann es besser lesen als sprechen. Na ja, seit ich vorwiegend im Languedoc lebe, wird es besser. Und ich habe Unterstützung. Mein Verlobter spricht fließend Französisch.«

Simone hob ihr Champagnerglas. »Stimmt, auch das ging durch die Yellow Press. Sie und dieser heiße Schotte haben ein altes Château im Languedoc gekauft. Wie hieß er gleich?«

»Sinclair«, antwortete Maureen lachend. »Berenger Sinclair. Und hüten Sie sich davor, ihm zu sagen, dass er heiß ist.«

»Das kann ich nicht garantieren. Er hat nicht zufällig einen Bruder?«

»Doch, tatsächlich! Ich möchte aber nicht unsere eben erst entstandene Freundschaft aufs Spiel setzen, indem ich Sie ihm vorstelle. Berengers Bruder ist ein Halunke, wie er im Buch steht.«

Simone lachte. »Umso besser. Ich habe eine Schwäche für schwarze Schafe. Um ehrlich zu sein – ich habe heute Abend ein Date mit einem solchen Mann, sofern ich nicht so klug bin und vorher absage. Aber erzählen Sie mir doch etwas über dieses mysteriöse Château.«

Maureen berichtete, wie sie im Zuge ihrer Recherchen über Marguerite von Navarra und deren Herrschaftsgebiet im Südwesten Frankreichs und Nordspaniens auf einen obskuren Hinweis gestoßen war, in dem ein Ort namens Château Sabra erwähnt wurde.

»Château Sabra liegt in den Ausläufern der Pyrenäen, ganz in der Nähe von Foix«, sagte sie.

Bei diesen Worten richtete Simone sich kerzengerade auf. »Und Marguerite war Gräfin von Foix!«, stieß sie hervor.

Maureen nickte. »Mir kam zu Ohren, dass das Château zum Verkauf stand. Ich habe mich auf Anhieb darin verliebt.«

»Ist es so schön?«

»Im Gegenteil. Es ist eine Ruine. Das meiste liegt unter Schutt begraben, und nur ein Viertel der Gebäude ist bewohnbar. Aber früher muss es wunderschön gewesen sein – und vermutlich sehr bedeutend. Es hat etwas Magisches. Wir haben es gemeinsam mit einem anderen Paar erworben, sozusagen als Investition. Nicht als Geldanlage, eher deshalb, weil wir eine geschichtliche Verantwortung haben. Das Château atmet Geschichte, verstehen Sie? Und es birgt Geheimnisse.«

Simone lauschte aufmerksam. »Das Languedoc ist reich an Geschichten und Mysterien, und obendrein ist es eine wunderschöne Landschaft. Das Land der Katharer. Eine geheimnisvolle Gegend, selbst heute noch. Das wilde, unbezähmbare Okzitanien, das nie ein Teil Frankreichs sein wollte. Immer war es eine Welt für sich, mit seiner eigenen Sprache. Aber bei allen meinen Recherchen bin ich nie auf dieses Château gestoßen.«