Das Magdalena-Evangelium - Kathleen McGowan - E-Book
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Das Magdalena-Evangelium E-Book

Kathleen McGowan

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Beschreibung

Wer war Maria Magdalena? Sünderin? Braut Christi? Oder gar die Herrin der Kirche?

Seit zweitausend Jahren liegt ein kostbarer Schatz in Südfrankreich verborgen: drei Schriftrollen mit den Aufzeichnungen von Maria Magdalena. Die Enthüllungen, die dieses geheime Evangelium verspricht, würden die Grundfesten der christlichen Welt erschüttern. Die junge amerikanische Journalistin Maureen Paschal kommt dem Geheimnis auf die Spur - doch nur ein Mensch mit ganz besonderen Gaben kann den Schatz heben. Maureens außergewöhnliche Reise führt sie von den staubigen Straßen Jerusalems über die Kathedralen von Paris zu den zerklüfteten Bergen des Languedoc. Ist sie die Verheißene?

Ein packender Verschwörungsthriller für alle Fans von Dan Brown und Matilde Asensi!

Die Magdalena-Reihe von Bestsellerautorin Kathleen McGowan geht weiter:

Band 2: Das Jesus-Testament.

Band 3: Das Magdalena-Vermächtnis.

Band 4: Die Magdalena-Verschwörung.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Einleitender Bibelvers

Widmung

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kaptitel Vier

Kaptitel Fünf

Kaptitel Sechs

Kaptitel Sieben

Kaptitel Acht

Kaptitel Neun

Kaptitel zehn

Kaptitel Elf

Kaptitel Zwölf

Kaptitel Dreizehn

Kaptitel Vierzehn

Kaptitel Fünfzehn

Kaptitel Sechzehn

Kaptitel Siebzehn

Kaptitel Achtzehn

Kaptitel Neunzehn

Kaptitel Zwanzig

Kaptitel Einundzwanzig

Kaptitel Zweiundzwanzig

Nachwort

Danksagung

Song

Anhang

Weitere Titel der Autorin

Die Magdalena-Serie

Band 2: Das Jesus-Testament

Band 3: Das Magdalena-Vermächtnis

Band 4: Die Magdalena-Verschwörung (Juni 2019)

Über dieses Buch

Wer war Maria Magdalena? Sünderin? Braut Christi? Oder gar die Herrin der Kirche?

Seit zweitausend Jahren liegt ein kostbarer Schatz in Südfrankreich verborgen: drei Schriftrollen mit den Aufzeichnungen von Maria Magdalena. Die Enthüllungen, die dieses geheime Evangelium verspricht, würden die Grundfesten der christlichen Welt erschüttern. Die junge amerikanische Journalistin Maureen Paschal kommt dem Geheimnis auf die Spur – doch nur ein Mensch mit ganz besonderen Gaben kann den Schatz heben. Maureens außergewöhnliche Reise führt sie von den staubigen Straßen Jerusalems über die Kathedralen von Paris zu den zerklüfteten Bergen des Languedoc. Ist sie die Verheißene?

Über die Autorin

Kathleen McGowan, geboren in Hollywood, arbeitete als Reporterin in Nordirland, Europa und im Nahen Osten und war unter anderem für die IRISH NEWS und die WALT DISNEY CORPORATION tätig. International bekannt ist sie dank ihrer vier erfolgreichen Verschwörungsthriller der Magdalena-Serie. Kathleen McGowan lebt in Los Angeles, Schottland und Frankreich.

Kathleen McGowan

Das Magdalena Evangelium

Thriller

Aus dem amerikanischen Englischvon Rainer Schumacher und Barbara Först

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by McGowan Media, Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „The Expected One. Book I of The Magdalene Line“

All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Touchstone, a division of Simon & Schuster, Inc.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2006/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: © www.buerosued.de

eBook-Erstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-7183-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Der Älteste an die auserwählte Herrin und ihre Kinder,

die ich lieb habe in der Wahrheit,

und nicht allein ich, sondern auch alle,

die die Wahrheit erkannt haben, um der Wahrheit willen,

die in uns bleibt und bei uns sein wird in Ewigkeit.

2 Joh 1-2

Dieses Buch ist folgenden Personen gewidmet:

Maria Magdalenameiner Muse und Vorfahrin

Peter McGowandem Felsen, auf den ich mein Leben gebaut habe

meinen Eltern Donna & Joefür ihre bedingungslose Liebe und interessanten Gene

und unseren GralsprinzenPatrick, Conor und Shanedie unser Leben mit Liebe, Lachen und steter Inspiration erfüllen

PROLOG

Der Süden GalliensIm Jahr 72

Es war nicht mehr viel Zeit.

Die alte Frau zog sich den zerlumpten Schal enger um die Schultern. Dieses Jahr kam der Herbst früh in die roten Berge; sie spürte es in den Knochen. Vorsichtig und langsam bewegte sie ihre Finger und zwang ihre von Gicht geplagten Gelenke, sich zu lösen. Ihre Hände durften ihr jetzt nicht den Dienst verweigern, nicht wo so viel auf dem Spiel stand. Sie musste noch diese Nacht mit dem Schreiben fertig werden. Tamar würde bald mit den Krügen kommen, und dann musste alles bereit sein.

Sie gestattete sich den Luxus, einen langen, matten Seufzer auszustoßen. Ich bin schon lange müde – so lange.

Diese Aufgabe, das wusste sie, würde ihre letzte auf Erden sein. Die vergangenen Tage des Erinnerns hatten ihrem verwelkten Leib auch den letzten Rest Leben entzogen. Ihre uralten Knochen waren schwer von unsäglichem Leid und jener Art von Müdigkeit, wie sie jene überkommt, die ihre geliebten Menschen überleben. Gott hatte sie oft auf die Probe gestellt, und es waren harte Proben gewesen.

Nur Tamar, ihre einzige Tochter und ihr letztes lebendes Kind, war ihr geblieben. Tamar war ihr Segen, ein Licht in jenen dunkelsten Stunden, wenn Erinnerungen, schrecklicher als alle Albträume, sich nicht zähmen lassen wollten. Ihre Tochter war nun die einzige andere Überlebende der Großen Zeit, auch wenn sie noch ein kleines Kind gewesen war, als sie alle ihre Rolle in der lebendigen Geschichte gespielt hatten. Trotzdem, es war ein Trost zu wissen, dass noch jemand lebte, der sich erinnerte – und begriff.

Die anderen waren nicht mehr. Die meisten waren tot, von Männern und mit Mitteln zu Tode gebracht, die zu brutal waren, als dass man sie hätte schildern können. Vielleicht lebten noch ein paar, verstreut auf dem großen Rund von Gottes Erde. Sie würde es nie erfahren. Es war schon viele Jahre her, seit sie das letzte Mal von den anderen gehört hatte; aber sie betete für sie, betete von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, wenn die Erinnerung sie überkam. Sie wünschte sich von ganzem Herzen und aus tiefster Seele, dass sie Frieden gefunden hatten und nicht die Qualen von Tausenden schlafloser Nächte ertragen mussten.

Ja, Tamar war ihre einzige Zuflucht in diesem Winter ihres Lebens. Das Mädchen war noch zu jung gewesen, um sich an Einzelheiten aus der Zeit der Dunkelheit zu erinnern, aber alt genug, um die Schönheit und die Gnade jener Menschen im Gedächtnis behalten zu haben, die Gott auserwählt hatte, auf seinem heiligen Weg zu wandeln.

Tamar hatte ihr Leben der Erinnerung an diese Auserwählten geweiht, und seitdem war sie den Weg der Dienstbarkeit und der Liebe gegangen. Mit welcher Hingabe das Mädchen sich in diesen letzten Tagen um seine Mutter kümmerte, war schon etwas Besonderes.

Meine geliebte Tochter zurückzulassen ist das einzig Schwierige, das mir noch zu tun bleibt. Selbst jetzt, da der Tod vor meiner Tür steht, vermag ich ihn nicht willkommen zu heißen.

Und dennoch …

Die alte Frau spähte aus der Höhle hinaus, die nun schon seit fast vier Jahrzehnten ihr Heim darstellte. Der Himmel war klar, als sie ihr von Falten zerfurchtes Gesicht zu ihm emporhob und die Schönheit der Sterne genoss. Sie würde niemals aufhören, über Gottes Schöpfung zu staunen. Irgendwo, jenseits dieser Sterne, warteten die Seelen jener auf sie, die sie liebte. Sie konnte sie spüren, und sie waren ihr nun näher als je zuvor.

Sie konnte ihn spüren.

»Dein Wille geschehe«, flüsterte sie in den Nachthimmel hinauf. Dann drehte die alte Frau sich langsam wieder um und ging hinein. Drinnen angelangt, atmete sie tief durch, kniff im trüben und rauchigen Licht der Öllampe die Augen zusammen und ließ ihren Blick über das Pergament schweifen.

Schließlich nahm sie den Griffel und machte sich erneut daran zu schreiben.

All diese Jahre, und es fällt mir keinen Deut leichter, über Judas Ischariot zu schreiben, als in jenen dunklen Tagen. Und das nicht, weil ich über ihn gerichtet hätte, sondern eher, weil ich das nicht getan habe.

Ich will Judas’ Geschichte erzählen und hoffe, so der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Als Mann war er unnachgiebig in seinen Prinzipien, und jene, die uns folgen, müssen dies wissen: Er hat jene – oder uns – nicht für einen Sack voll Silber verraten. In Wahrheit war Judas der treueste der Zwölf. In all diesen Jahren habe ich so viele Gründe gehabt zu trauern, und doch glaube ich, dass ich nur um einen mehr trauere als um Judas.

Viele wollen, dass ich schlecht über Judas schreibe, dass ich ihn als Verräter verdamme, als jemanden, der der Wahrheit gegenüber blind war. Doch ich kann nichts von alledem schreiben, denn es wäre schon eine Lüge, bevor meine Feder das Pergament berührt. Über unsere Zeit wird man auch so schon genug Lügen schreiben; Gott hat mir das gezeigt. Mehr werde ich nicht dazu schreiben.

Denn was ist mein Ziel, wenn nicht die ganze Wahrheit dessen zu erzählen, was damals geschehen ist?

Das Evangelium von Arques nach Maria Magdalena

Das Buch der Jünger

KAPITEL EINS

MarseilleSeptember 1997

Marseille war ein guter Ort zum Sterben, und das schon seit Jahrhunderten. Der legendäre Seehafen stand in dem Ruf, ein Nest von Piraten, Schmugglern und Halsabschneidern zu sein, schon in der Frühzeit, als die Römer ihn den Griechen abgenommen hatten, lange vor Christi Geburt. Und daran hatte sich im Grundsatz wenig geändert.

Nachdem die französische Regierung die Stadt Ende des zwanzigsten Jahrhunderts weißgewaschen hatte, konnte man zwar wieder seine Bouillabaisse genießen, ohne Angst haben zu müssen, überfallen zu werden; doch von Verbrechen ließen die Einheimischen sich ohnehin nicht schockieren. Die Fischer mit ihrer ledrigen Haut blinzelten noch nicht einmal, wenn sich in ihren Netzen etwas fand, das nicht gerade für die einheimische Fischsuppe geeignet war.

Roger-Bernard Gelis war kein Einheimischer von Marseille. Er war geboren und aufgewachsen am Fuße der Pyrenäen, in einer Gemeinde, die dort stolz als ein lebender Anachronismus überdauerte. Das einundzwanzigste Jahrhundert hatte dieser alten Tradition nichts anhaben können, einer Kultur, die die Mächte der Liebe und des Friedens über alle irdischen Dinge stellte. Dennoch war er als Mann mittleren Alters nicht völlig weltfremd; immerhin war er der Anführer seines Volkes. Und obgleich seine Gemeinde in einem tiefen spirituellen Frieden zusammenlebte, hatte sie auch Feinde.

Wie Roger-Bernard zu sagen pflegte: Das hellste Licht zieht das tiefste Dunkel an.

Er war ein Riese von einem Mann, eine beeindruckende Gestalt für Fremde. Wer die Sanftheit nicht kannte, die Roger-Bernards Geist erfüllte, hätte ihn für einen Menschen halten können, den man fürchten musste. Später nahm man an, dass seine Angreifer ihm nicht unbekannt gewesen waren.

Er hätte es kommen sehen müssen, hätte vorausahnen müssen, dass er solch ein unschätzbar wertvolles Gut nicht in vollkommener Freiheit würde bewahren können. War nicht fast eine Million seiner Vorfahren um eben dieses Schatzes willen gestorben? Aber der Schuss kam von hinten und zertrümmerte seinen Schädel, bevor er auch nur wusste, dass der Feind nahe war.

Der gerichtsmedizinische Befund würde sich, was die Schusswunde betraf, für die Polizei als nutzlos erweisen, da die Mörder es nicht dabei bewenden ließen. Es mussten mehrere Personen gewesen sein, denn die schiere Größe und das Gewicht des Opfers erforderten ein gewisses Maß an Kraft, um das zu vollbringen, was als Nächstes kam.

Es war eine Gnade, dass Roger-Bernard tot war, bevor das Ritual begann. Der Triumph der Mörder blieb ihm erspart, als diese sich an ihre grässliche Arbeit machten. Vor allem der Anführer war von fanatischem Eifer erfüllt für das, was jetzt kam, und sang dabei sein altes Mantra, während er zu Werke ging.

»Necate omnes. Necate omnes.«

Einen menschlichen Kopf am Genick vom Körper zu trennen ist ein widerliches und schwieriges Geschäft. Es erfordert Kraft, Entschlossenheit und ein sehr scharfes Instrument. Die Mörder Roger-Bernards hatten all dies und benutzten es mit äußerster Effizienz.

Die kopflose Leiche hatte schon lange im Meer getrieben, von der Flut zerschlagen und von hungrigen Meeresbewohnern angenagt. Die untersuchenden Beamten waren derart entmutigt ob des miserablen Zustands des Verstorbenen, dass sie dem fehlenden Finger an einer Hand kaum Aufmerksamkeit schenkten. Im Autopsiebericht, dessen Ergebnisse später von der Bürokratie – oder vielleicht einer anderen Macht – begraben wurden, stand zu lesen, dass der rechte Zeigefinger am zweiten Knöchel abgetrennt worden war.

JerusalemSeptember 1997

Die uralte und geschäftige Altstadt von Jerusalem war erfüllt von der fanatischen Aktivität eines Freitagnachmittags. Geschichte hing schwer in der heiligen Luft, als die Gläubigen in ihre Gebetshäuser eilten, um sich für ihren jeweiligen Sabbat vorzubereiten. Die Christen wanderten über die Via Dolorosa, den Leidensweg, eine Reihe gewundener Kopfsteinpflasterstraßen, welche den Weg zur Kreuzigungsstätte markierten. Hier hatte ein geschundener und blutender Jesus Christus sein Kreuz geschultert und sich zur Erfüllung seines göttlichen Schicksals nach Golgatha hinaufgeschleppt.

An diesem Herbstnachmittag unterschied sich die amerikanische Autorin Maureen Paschal nicht im Mindesten von den anderen Pilgern, die aus allen Winkeln der Erde hierhergekommen waren. Die berauschende Septemberbrise mischte den Duft brutzelnder Fleischspieße mit den Gerüchen exotischer Öle, die von den alten Märkten heraufwehten. Maureen ließ sich durch die alle Sinne überwältigende Flut treiben, die so typisch für Israel war, und drückte sich einen Reiseführer an die Brust, den sie bei einer christlichen Organisation übers Internet gekauft hatte. Der Reiseführer beschrieb den Kreuzweg in allen Einzelheiten, komplett mit Karten und Hinweisen auf die vierzehn Stationen des Weges.

»Lady, Sie wollen Rosenkranz? Holz vom Ölberg?«

»Lady, Sie wollen Führer? Sie nie wieder verirren. Ich Ihnen alles zeigen.«

Wie die meisten westlichen Frauen war auch Maureen gezwungen, die Annäherungsversuche der Straßenhändler abzuwehren. Einige waren geradezu unerbittlich in ihrem Bestreben, ihre Waren oder Dienste an den Mann beziehungsweise die Frau zu bringen. Andere wiederum fühlten sich schlicht von der kleinen Frau mit den langen roten Haaren und der hellen Haut angezogen, eine in diesem Teil der Welt seltene und exotische Kombination. Maureen wehrte ihre Verfolger mit einem höflichen, aber entschlossenen »Nein, danke!« ab. Dann beendete sie den Augenkontakt mit dem Betreffenden und ging einfach weiter.

Ihr Cousin Peter, ein Experte für alte Schriften, hatte sie auf die Kultur der Altstadt vorbereitet. Maureen war ausgesprochen gewissenhaft, was selbst die kleinsten Kleinigkeiten ihrer Arbeit betraf, und so hatte sie auch die Sitten Jerusalems sorgfältig studiert. Bis jetzt hatte sich das auch ausgezahlt, und Maureen war es gelungen, Ablenkungen auf ein Minimum zu reduzieren, sodass sie sich voll auf ihre Forschungen konzentrieren und jedes Detail und jede Beobachtung in ihr kleines Notizbuch mit dem Ledereinband schreiben konnte.

Sie war zu Tränen gerührt gewesen von der Intensität und Schönheit der siebenhundert Jahre alten Franziskanerkapelle an der Stelle, wo Jesus der Überlieferung nach gegeißelt worden war. Es war eine ganz unerwartete Gefühlsaufwallung gewesen, zumal Maureen nicht als Pilgerin nach Jerusalem gekommen war. Vielmehr kam sie zu Forschungszwecken, als Autorin auf der Suche nach einem genauen historischen Hintergrund für ihre Arbeit. Zwar suchte auch Maureen ein tieferes Verständnis für die Ereignisse des Karfreitags zu erlangen, aber sie ging diese Suche mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen an.

Sie besuchte den Konvent der Schwestern von Sion, bevor sie zu der benachbarten Kapelle der Verurteilung hinüberging, dem legendären Ort, wo Jesus, nachdem Pilatus das Urteil über ihn gefällt hatte, das Kreuz auf seine Schultern nahm. Wiederum wurde der unerwartete Kloß in ihrer Kehle von einem überwältigenden Gefühl der Trauer begleitet, als sie durch das Gebäude schritt. Steingehauene Reliefs in Lebensgröße gaben die Ereignisse eines schrecklichen Morgens vor zweitausend Jahren wieder. Maureen stand wie gebannt vor einer lebendigen Szene tiefer Menschlichkeit; sie zeigt, wie einer der Jünger Maria, die Mutter des Herrn, vor dem Anblick ihres Sohnes mit dem Kreuz bewahren wollte. Die Tränen traten Maureen in die Augen, als sie vor dem Bild stand. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass ihr diese überlebensgroßen historischen Gestalten als wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut erschienen, die ein Erlebnis von nahezu unvorstellbarer Qual durchlitten.

Einen Augenblick wurde ihr schwindlig, und sie musste sich mit einer Hand an den kalten Steinen einer alten Mauer abstützen. Sie hielt inne, um sich zu orientieren, bevor sie weitere Notizen über die Bauwerke und die Skulpturen machte.

Weiter führte ihr Weg, doch die labyrinthischen Straßen der Altstadt erwiesen sich als tückisch, selbst mit einem genauen Stadtplan in der Hand. Die Orientierungspunkte waren oft antik und dementsprechend verfallen; wenn man nicht genau wusste, wo sie sich befanden, konnte man sie leicht übersehen. Maureen fluchte leise vor sich hin, als sie erkannte, dass sie sich erneut verirrt hatte. Sie blieb stehen und trat in einen überdachten Ladeneingang, um sich vor der Sonne zu schützen. Die trotz der sanften Brise große Hitze strafte die Jahreszeit Lügen. Maureen schirmte den Reiseführer vor der direkten Sonneneinstrahlung ab, schaute sich um und versuchte, sich zu orientieren.

»Die achte Station des Kreuzwegs. Irgendwo hier muss sie sein«, murmelte sie vor sich hin. Diese Stätte war von besonderem Interesse für Maureen, weil sich ihre Arbeit auf die Aspekte dieser Geschichte konzentrierte, die Frauen betrafen. Wieder schaute sie in den Reiseführer und las einen Abschnitt aus den Evangelien, der sich mit der achten Station beschäftigte.

»Es folgte ihm aber eine große Volksmenge und Frauen, die klagten und beweinten ihn. Jesus aber wandte sich um zu ihnen und sprach: Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder.«

Ein lautes Klopfen am Fenster hinter ihr ließ Maureen zusammenschrecken. Sie hob den Blick und erwartete, einen wütenden Ladenbesitzer zu sehen, der sie böse anfunkelte, weil sie seinen Eingang versperrte. Doch das Gesicht, das sie sah, strahlte. Es gehörte einem makellos gekleideten Palästinenser mittleren Alters. Er öffnete die Tür seines Antiquitätenladens und winkte Maureen herein. Als er sich an sie wandte, sprach er in schönem Englisch und mit nur leichtem Akzent.

»Bitte, kommen Sie doch herein. Willkommen. Ich bin Mahmut. Haben Sie sich verirrt?«

Maureen hob ihren Reiseführer. »Ich suche nach der achten Kreuzwegstation. Die Karte zeigt …«

Mahmut winkte mit einem Lachen ab. »Ja, ja. Die achte Station. Jesus trifft die heiligen Frauen von Jerusalem. Sie liegt genau hinter der Ecke dort.« Er gestikulierte zur Straße hinaus. »Sie wird von einem Kreuz über der Steinmauer markiert; aber Sie müssen schon genau hinsehen.«

Maureen beobachtete seine Gesten und stellte zufrieden fest, dass sie die Richtungsangaben verstand. Lächelnd dankte sie dem Mann und wandte sich zum Gehen; doch dann hielt sie plötzlich inne, als etwas auf einem Regal ihre Aufmerksamkeit erregte. Mahmuts Laden war eines der besseren Geschäfte in Jerusalem. Er verkaufte nur beglaubigte Antiquitäten wie Öllampen aus der Zeit Christi und Münzen mit dem Bild des Pontius Pilatus. Es war jedoch ein exquisiter Farbschimmer, der Maureens Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

»Das ist moderner Schmuck mit eingearbeitetem römischem Glas«, erklärte Mahmut, als Maureen sich den kunstvoll arrangierten Stücken mit Mosaikeinlagen näherte.

»Die sind wunderschön«, erwiderte Maureen und griff nach einem in Silber eingefassten Anhänger. Farben tanzten durch den Laden, als sie das Schmuckstück ins Licht hob, und weckten ihre schriftstellerische Fantasie. »Ich frage mich, was dieses Glas wohl zu erzählen hätte, wenn es sprechen könnte.«

»Wer weiß, was es einst gewesen ist?« Mahmut hob die Schultern. »Eine Parfümflasche vielleicht? Ein Gewürzkrug? Eine Vase für Rosen oder Lilien?«

»Es ist faszinierend, sich vorzustellen, dass das hier vor zweitausend Jahren ein ganz alltäglicher Gegenstand in irgendjemandes Heim gewesen sein könnte. Wirklich faszinierend.«

Als sie sich das Geschäft und das Angebot einmal genauer ansah, staunte Maureen über die Qualität der Waren und die Schönheit des Arrangements. Sie legte den Anhänger wieder zurück und strich sanft mit dem Finger über eine irdene Öllampe. »Ist die wirklich zweitausend Jahre alt?«

»Natürlich. Ein paar meiner Stücke sind sogar noch älter.«

Maureen runzelte die Stirn. »Gehören derartige Antiquitäten nicht in ein Museum?«

Mahmut lachte, ein volltönendes, herzliches Geräusch. »Meine Liebe, ganz Jerusalem ist ein Museum! Sie können hier noch nicht einmal den Garten umgraben, ohne etwas Antikes zu finden. Die meisten wirklich wertvollen Gegenstände wandern zwar in wichtige Sammlungen, aber nicht alle.«

Maureen ging weiter zu einem Glasschrank, in dem sich antiker, grün angelaufener Kupferschmuck befand. Sie blieb stehen. Ein Ring hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, der eine Scheibe von der Größe einer kleinen Münze stützte. Mahmut folgte ihrem Blick, holte den Ring heraus und zeigte ihn Maureen. Ein Sonnenstrahl, der durch das Schaufenster fiel, fing sich an der runden Basis des Rings und hob ein Muster aus neun Ringen mit gehämmerten Punkten hervor, die den Mittelkreis umgaben.

»Eine sehr interessante Wahl«, sagte Mahmut. Seine vormals freundliche Art hatte sich geändert. Er wirkte nun ernst und voll konzentriert, und er beobachtete Maureen genau, während sie ihm Fragen zu dem Ring stellte.

»Wie alt ist der?«

»Das ist schwer zu sagen. Meine Experten glauben, dass er aus byzantinischer Zeit stammt, vermutlich aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert; möglicherweise ist er aber auch älter.«

Maureen warf einen genaueren Blick auf das Muster.

»Dieses Muster kommt mir … vertraut vor. Ich habe das Gefühl, als hätte ich es schon einmal gesehen. Wissen Sie, ob es irgendwas symbolisiert?«

Mahmut entspannte sich ein wenig. »Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was ein Kunsthandwerker vor anderthalbtausend Jahren hat schaffen wollen. Aber man hat mir gesagt, es sei ein kosmologischer Ring.«

»Ein kosmologischer Ring?«

»Der Ring von jemandem, der die Beziehung zwischen Erde und Kosmos versteht. Wie oben, so auch unten. Und ich muss sagen, dass ich tatsächlich sofort an Planeten gedacht habe, die sich um die Sonne drehen, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.«

Maureen zählte laut die Punkte. »… sieben, acht, neun. Aber damals hat man doch noch nicht gewusst, dass es insgesamt neun Planeten gibt oder dass die Sonne der Mittelpunkt des Sonnensystems ist. Das kann es doch nicht darstellen … oder?«

»Wir können uns nicht anmaßen zu wissen, was man in der Antike gewusst hat und was nicht.« Mahmut hob erneut die Schultern. »Probieren Sie ihn mal an.«

Maureen, die eine Verkaufstaktik roch, gab Mahmut den Ring wieder zurück. »Oh, nein, danke. Er ist wirklich schön, aber ich war nur neugierig. Außerdem habe ich mir selbst versprochen, heute kein Geld auszugeben.«

»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Mahmut und weigerte sich demonstrativ, den Ring zurückzunehmen. »Er steht ohnehin nicht zum Verkauf.«

»Nicht?«

»Nein. Ich habe schon viele Angebote für diesen Ring bekommen. Ich weigere mich schlicht, ihn zu verkaufen. Also können Sie ihn ruhig anprobieren. Nur so.«

Vielleicht lag es daran, dass die Verspieltheit in seine Stimme zurückgekehrt war und dass sie sich dadurch nicht mehr so unter Druck gesetzt fühlte; oder vielleicht war es auch die Anziehungskraft des unerklärlichen antiken Musters. Auf jeden Fall schob Maureen sich den alten Kupferring über den Finger. Er passte perfekt.

Mahmut nickte, wurde wieder ernst und sagte leise, fast zu sich selbst: »Als wäre er für Sie gemacht.«

Maureen hielt den Ring ins Licht und betrachtete ihn an ihrer Hand. »Ich kann einfach nicht den Blick von ihm wenden.«

»Das liegt daran, dass er für Sie bestimmt ist.«

Maureen schaute ihn misstrauisch an. Mahmut war eleganter als die Straßenhändler, aber nichtsdestotrotz ein Kaufmann. »Haben Sie nicht gesagt, er sei nicht zu verkaufen?«

Sie schickte sich an, den Ring wieder auszuziehen, wogegen der Ladenbesitzer sich jedoch sofort verwahrte, indem er protestierend die Hand hob.

»Nein. Bitte.«

»Okay, okay. Jetzt beginnt wohl das Feilschen, hm? Wie viel?«

Mahmut blickte einen Augenblick lang ernsthaft beleidigt drein, bevor er antwortete: »Sie missverstehen mich. Dieser Ring ist mir anvertraut worden, bis ich die richtige Hand dafür gefunden habe. Die Hand, für die er gemacht worden ist. Jetzt sehe ich, dass das Ihre Hand ist. Ich kann ihn Ihnen nicht verkaufen, weil er Ihnen bereits gehört.«

Maureen blickte auf den Ring hinunter und dann verwirrt zu Mahmut. »Ich verstehe nicht …«

Mahmut lächelte weise und ging in Richtung Eingangstür. »Nein, das tun Sie wohl wirklich nicht; aber eines Tages werden Sie es verstehen. Behalten Sie den Ring jetzt erst einmal. Betrachten Sie ihn als Geschenk.«

»Ich kann unmöglich …«

»Sie können, und Sie werden. Sie müssen. Wenn Sie es nicht tun, habe ich versagt. Damit wollen Sie doch nicht Ihr Gewissen belasten, oder?«

Maureen schüttelte verwirrt den Kopf und folgte ihm zur Tür. Dort angekommen, hielt sie kurz inne. »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen oder wie ich mich bei Ihnen bedanken soll.«

»Das brauchen Sie nicht. Wirklich. Aber Sie müssen jetzt gehen. Die Mysterien Jerusalems warten auf Sie.«

Mahmut hielt die Tür für sie auf. Maureen ging hinaus und dankte ihm noch einmal.

»Auf Wiedersehen, Madonna«, flüsterte Mahmut, als sie das Geschäft verließ. Maureen blieb stehen und drehte sich rasch zu ihm um.

»Tut mir leid. Was haben Sie gesagt?«

Mahmut setzte wieder sein weises, rätselhaftes Lächeln auf. »Ich sagte: Auf Wiedersehen, my dear.« Und er winkte Maureen zum Abschied zu.

Sie erwiderte die Geste und trat erneut ins harte Licht der Sonne hinaus.

Maureen kehrte zur Via Dolorosa zurück, wo sie die achte Station genau an der Stelle fand, zu der Mahmut sie gewiesen hatte. Aber sie war beunruhigt und konnte sich nicht konzentrieren; nach ihrer Begegnung mit dem Ladenbesitzer war ihr irgendwie seltsam zumute. Als sie ihren Weg fortsetzte, kam ihr früheres Schwindelgefühl zurück, stärker diesmal, bis zur Desorientierung. Es war ihr erster Tag in Jerusalem, und ohne Zweifel litt sie noch unter den Folgen der Zeitverschiebung. Der Flug von Los Angeles war lang und anstrengend gewesen, und in der Nacht davor hatte sie nicht viel geschlafen. Aber ob es nun eine Mischung aus Hitze, Erschöpfung und Hunger war oder etwas Unerklärliches: Was als Nächstes geschah, lag vollkommen außerhalb ihres Erfahrungshorizonts.

Maureen fand eine Steinbank und ließ sich darauf nieder, um sich ein wenig auszuruhen. Als ein erbarmungsloser Blitz von Sonnenlicht sie traf, brachte eine erneute, unerwartete Welle der Benommenheit sie zum Wanken und schickte ihre Gedanken auf Reisen.

Plötzlich fand sie sich inmitten eines Mobs wieder. Überall um sie herum herrschte Chaos. Die Menschen schrien und stießen einander an. Maureen war noch genug von ihrem modernen Verstand geblieben, um zu bemerken, dass die sie umschwärmenden Gestalten grobe Kleider aus handgewebten Stoffen anhatten. Jene, die Schuhe hatten, trugen primitive Sandalen; das bemerkte Maureen, als ihr jemand auf die Füße trat. Die meisten waren Männer, bärtig und verdreckt. Die allgegenwärtige Sonne des Frühnachmittags brannte auf sie hinab, und Schweiß mischte sich mit dem Dreck auf den wütenden und gequälten Gesichtern rings um sie herum. Maureen befand sich am Rand einer schmalen Straße, und die Menge vor ihr geriet in Bewegung. Eine Gasse bildete sich, und eine kleine Gruppe trat langsam durch sie hindurch. Der Mob schien dieser Gruppe zu folgen. Als die sich bewegende Masse näher kam, sah Maureen zum ersten Mal die Frau.

Sie wirkte wie eine einsame, stille Insel inmitten des Chaos, und sie war eine der wenigen Frauen in der Menge – doch das war es nicht, was sie anders machte. Es war ihr Auftreten: eine edle Haltung, die sie trotz des Drecks an ihren Händen und Füßen als Königin kennzeichnete. Sie sah ein wenig zerzaust aus. Das glänzende rötlich braune Haar hatte sie teilweise hinter einem purpurroten Schleier verborgen, der die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Maureen wusste instinktiv, dass sie zu dieser Frau gelangen und Verbindung zu ihr aufnehmen musste; sie musste sie berühren, mit ihr sprechen … Aber die wimmelnde Menge hinderte sie daran, und sie bewegte sich mit der trägen Langsamkeit eines Traumzustands.

Während sie sich weiter in Richtung der Frau vorkämpfte, war Maureen mehr und mehr von der beinahe schmerzhaften Schönheit des Gesichts hingerissen, das sich just außerhalb ihrer Reichweite befand. Die Frau besaß eine feine Knochenstruktur; ihre Züge waren erlesen und zart. Doch es waren ihre Augen, die Maureen noch lange nach der Vision verfolgen sollten. Die Augen der Frau, groß und glänzend von unvergossenen Tränen, besaßen eine Farbe irgendwo zwischen Bernstein und Salbei, ein außergewöhnliches helles Haselnussbraun, in dem sich auf herzzerreißende Art unendliche Weisheit und unerträgliches Leid miteinander verbanden. In einem kurzen und doch unendlichen Augenblick traf sich der seelenverschlingende Blick der Frau mit Maureens, und diese unvergleichlichen Augen vermittelten ein aus vollkommener Verzweiflung geborenes Flehen.

Du musst mir helfen.

Maureen wusste, dass die Bitte an sie gerichtet war. Sie war wie in Trance, erstarrt, als sich ihr Blick mit dem der Frau kreuzte. Der Moment endete, als die Frau plötzlich zu dem jungen Mädchen hinunterschaute, das drängend an ihrer Hand zupfte.

Das Kind blickte mit großen haselnussbraunen Augen hinauf, die denen seiner Mutter glichen. Hinter ihr stand ein Junge, älter und mit dunkleren Augen als das kleine Mädchen, aber offensichtlich der Sohn dieser Frau. Maureen wusste in jenem unerklärlichen Moment, dass sie der einzige Mensch war, der dieser fremden, leidenden Königin und ihren Kindern helfen konnte. Eine Welle von Verwirrung und etwas, das einer überwältigenden Trauer gleichkam, brach ob dieser Erkenntnis über sie herein.

Dann setzte der Mob sich wieder in Bewegung, und Maureen ertrank in einem Meer aus Schweiß und Verzweiflung.

Maureen blinzelte und kniff ein paar Sekunden lang die Augen zusammen. Forsch schüttelte sie den Kopf, um wieder klar sehen zu können, unsicher, wo sie sich befand. Ein Blick auf ihre Jeans hinunter, ihren Mikrofaserrucksack und ihre Nike-Schuhe versicherten ihr, dass sie wieder im 21. Jahrhundert angekommen war. Um sie herum herrschte weiterhin das geschäftige Treiben der Altstadt, doch die Menschen trugen nun moderne Kleidung, und auch die Geräusche waren anders. Radio Jordan spielte einen amerikanischen Popsong – war das »Losing My Religion« von REM? –, der aus einem Geschäft auf der anderen Straßenseite dröhnte. Ein palästinensischer Teenager vertrieb sich die Zeit damit, im Rhythmus dazu auf der Ladentheke zu trommeln. Er lächelte sie an, ohne einen Takt zu verpassen.

Maureen erhob sich von der Bank und versuchte, die Vision abzuschütteln – falls es denn eine gewesen war. Sie war nicht sicher, was genau sie gerade erlebt hatte, doch sie konnte es sich auch nicht erlauben, länger darüber nachzudenken. Ihre Zeit in Jerusalem war begrenzt, und sie musste sich noch die Sehenswürdigkeiten von zweitausend Jahren ansehen. Also griff sie auf ihre journalistische Disziplin zurück und eine lebenslange Erfahrung darin, ihre Gefühle zu unterdrücken, legte die Vision unter »zur späteren Analyse« ab und zwang sich weiterzugehen.

Maureen verschmolz mit einem Schwarm britischer Touristen, als diese, angeführt von einem Mann mit dem typischen Kragen eines anglikanischen Priesters, um die Ecke bogen. Der Priester verkündete seiner Pilgergruppe, dass sie sich dem heiligsten Ort der Christenheit näherten: der Grabeskirche.

Maureen wusste aus ihren Recherchen, dass sich die restlichen Kreuzwegstationen im Inneren dieses geweihten Gebäudekomplexes befanden. Die Anlage bestand aus mehreren Teilen, wobei der Ort der Kreuzigung in der eigentlichen Basilika unweit des Christusgrabes lag, und zwar schon seit Kaiserin Helena im vierten Jahrhundert geschworen hatte, diesen heiligen Boden zu beschützen. Helena, die zugleich die Mutter Kaiser Konstantins des Großen war, wurde später für ihre Mühen zur Heiligen erhoben.

Langsam und ein wenig zögernd näherte sich Maureen der riesigen Eingangstür. Als sie auf der Schwelle stand, wurde ihr bewusst, dass sie schon seit Jahren in keiner Kirche mehr gewesen war, und der Gedanke, jetzt etwas daran zu ändern, bereitete ihr irgendwie Unbehagen. Sie rief sich vor Augen, dass die Nachforschungen, die sie hierher nach Israel geführt hatten, wissenschaftlicher und weniger spiritueller Natur waren. Solange sie das Ganze aus dieser Perspektive betrachtete, hatte sie kein Problem. Kein Problem, durch diese Tür zu gehen.

Auch wenn Maureen sich dagegen sträubte, der kolossale Schrein war zweifelsohne ehrfurchtgebietend und besaß eine geradezu magnetische Anziehungskraft. Als sie durch die riesige Tür trat, hörte sie die Stimme des englischen Priesters:

»Innerhalb dieser Mauern werden Sie sehen, wo unser Herr das größte Opfer dargebracht hat. Sie werden sehen, wo man ihn seiner Kleider beraubt und ihn ans Kreuz geschlagen hat. Anschließend werden Sie das heilige Grab betreten. Meine Brüder und Schwestern in Christo, sobald Sie diesen Ort betreten, wird Ihr Leben nie wieder dasselbe sein.«

Der schwere und unverkennbare Geruch von Weihrauch wehte Maureen entgegen, als sie die Basilika betrat. Pilger aus allen Ecken der Christenheit füllten die riesigen Räume innerhalb der Kirchenanlage. Maureen ging an einer Gruppe koptischer Priester vorbei, die in ehrfürchtigem Disput beieinanderhockten, und beobachtete einen griechisch-orthodoxen Priester, der in einer der kleinen Seitenkapellen Kerzen entzündete. Ein Männerchor sang in einer östlichen Sprache, ein exotisches Geräusch für westliche Ohren, und der Gesang hallte in der ganzen Kirche wider.

Maureen sog den überwältigenden Anblick und die Geräusche dieses Ortes förmlich auf; es war schlicht zu viel, als dass sie sich auf irgendetwas im Besonderen hätte konzentrieren können. So bemerkte sie auch den drahtigen, kleinen Mann nicht, der sich neben sie schob, bis er ihr auf die Schulter tupfte und sie unwillkürlich zusammenzuckte.

»’tschuldigen Sie, Miss. ’tschuldigen, Miss Mo-ree.« Er sprach Englisch, doch im Gegensatz zu dem rätselhaften Ladenbesitzer Mahmut war sein Akzent extrem. Seine Kenntnisse von Maureens Sprache waren bestenfalls als rudimentär zu bezeichnen, und so verstand Maureen zunächst nicht, dass er sie mit Vornamen anredete. Er wiederholte sich.

»Mo-ree. Ihr Name. Mo-ree, ja?«

Maureen war verwirrt, und sie versuchte herauszufinden, ob dieser seltsame kleine Mann sie tatsächlich mit Namen ansprach, und falls ja, woher er ihn kannte. Sie war erst weniger als vierundzwanzig Stunden in Jerusalem, und niemand außer dem Empfangschef im King David Hotel kannte sie mit Namen. Aber dieser Mann war ungeduldig und fragte erneut:

»Mo-ree. Sie sind Mo-ree. Schreiber. Sie schreiben, ja? Mo-ree?«

Maureen nickte langsam und antwortete: »Ja. Mein Name ist Maureen. Aber woher … Woher wissen Sie das?«

Der kleine Mann ignorierte die Frage, packte Maureen an der Hand und zog sie über den Kirchenboden. »Kein Zeit, kein Zeit. Komm’ Sie. Wir auf Sie warten, lang. Komm’ Sie, komm’ Sie.«

Für solch einen kleinen Mann – er war kleiner als Maureen, die selbst nicht gerade groß war – bewegte er sich sehr schnell. Seine kurzen Beine ließen ihn förmlich durch die Basilika fliegen, vorbei an den Schlange stehenden Pilgern, die darauf warteten, ins Grab Christi gelassen zu werden. Immer weiter führte er sie, bis sie einen kleinen Altar im hinteren Teil des Gebäudes erreichten, wo er plötzlich stehen blieb. Das Areal wurde von der lebensgroßen Bronzeskulptur einer Frau beherrscht, die flehentlich die Hände zu einem Mann ausstreckte.

»Kapelle von Maria Magdalena. Magdalena. Sie komm’ wegen ihr, ja? Ja?«

Maureen nickte vorsichtig, schaute auf die Skulptur und dann auf die Plakette darunter, wo zu lesen stand:

AN DIESEM ORT ERBLICKTE

MARIA MAGDALENA ALS ERSTE DEN

AUFERSTANDENEN HERRN.

Laut las sie das Zitat, das sich auf einer weiteren Plakette unter der Statue befand:

»Weib, was weinst du? Wen suchst du?«

Maureen blieb nur wenig Zeit, über diese Frage nachzudenken, denn der merkwürdige kleine Mann zerrte schon wieder an ihr und führte sie in seinem unwahrscheinlichen Tempo in eine andere, noch dunklere Ecke der Basilika.

»Komm’ Sie. Komm’ Sie.«

Sie gingen um eine Ecke und blieben vor einem Gemälde stehen, dem großen Porträt einer Frau. Die Zeit, der Weihrauch und die Jahrhunderte im öligen Rauch der Kerzen hatten ihren Tribut von dem Kunstwerk gefordert, sodass Maureen die Augen zusammenkneifen und näher herantreten musste, um das dunkle Bild besser in Augenschein nehmen zu können. Der kleine Mann erzählte in zutiefst ernstem Tonfall:

»Gemälde sehr alt. Griechisch. Verstehn Sie? GRIECHISCH. Sehr wichtig. Sie braucht Sie, um ihre Geschichte zu schreiben. Darum Sie hergekomm’, Mo-ree. Wir lang auf Sie gewartet. SIE gewartet. Auf Sie. Ja?«

Aufmerksam betrachtete Maureen das Gemälde, dieses dunkle, antike Porträt einer Frau in rotem Mantel. Dann drehte sie sich wieder zu dem kleinen Mann um, neugierig, wohin er sie wohl als Nächstes führen würde … aber er war weg, so schnell verschwunden, wie er gekommen war.

»Warten Sie!« Maureens Stimme hallte durch das große Kirchenschiff, doch ihr Ruf blieb ohne Antwort. Erneut wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Gemälde zu.

Als sie sich näher heranbeugte, bemerkte sie, dass die Frau einen Ring an der rechten Hand trug: eine runde Kupferscheibe mit einem Muster, das neun kleine Kreise mit Punkten um eine zentrale Scheibe zeigte.

Maureen hob die rechte Hand, die mit dem neuen Ring, um ihn mit dem auf dem Gemälde zu vergleichen.

Die Ringe waren identisch.

Viel wird in den kommenden Zeiten über Simon, den Menschenfischer, geschrieben und gesagt werden. Wie er von Isa und mir selbst auf Griechisch Petros, ›der Fels‹, genannt wurde, während die anderen ihn in ihrer Sprache Kepha riefen. Und wenn die Geschichte gerecht ist, wird sie erzählen, mit welch unvergleichlicher Kraft und Hingabe er Isa geliebt hat.

Und es ist auch schon viel über meine eigene Beziehung zu Simon-Petrus gesagt worden, oder zumindest hat man mir das erzählt. Da gibt es jene, die uns Gegner, ja sogar Feinde nennen. Sie wollen jedermann glauben machen, dass Petrus mich verachtet habe und wir stets und überall um Isas Gunst gefochten hätten. Und da sind jene, die Petrus einen Frauenhasser nennen; doch dies ist ein Vorwurf, der auf niemanden zutrifft, der Isa gefolgt ist. So sei kund und zu wissen getan, dass kein Mann, der Isa gefolgt ist, je eine Frau herabgesetzt oder ihren Wert in Gottes Plan unterschätzt hätte. Jeder Mann, der dies tut und Isa seinen Lehrer nennt, der lügt.

Diese Vorwürfe gegen Petrus sind unwahr. Dennoch vermag ich jene nicht zu verdammen, die das sagen, denn sie glauben, das zu meiner Verteidigung zu tun. Jene, die Zeugen von Petrus’ Kritik an mir wurden, wissen nichts von unserer Geschichte oder welcher Quelle sein Zorn entsprang. Aber ich verstehe es, und ich werde nicht über ihn richten. Vor allem das ist es, was Isa mich gelehrt hat, und ich hoffe, es andere genauso gut gelehrt zu haben: Richte nicht, auf dass du nicht gerichtet werdest.

Das Evangelium von Arques nach Maria Magdalena

Das Buch der Jünger

KAPITEL ZWEI

Los AngelesOktober 2004

»Lassen Sie uns von vorn anfangen: Marie Antoinette hat nie gesagt ›Dann sollen sie doch Kuchen essen‹, Lucrezia Borgia hat nie jemanden vergiftet, und Maria Stuart war keine mörderische Hure. Indem wir diese Irrtümer korrigieren, machen wir den ersten Schritt, um den Frauen ihren angemessenen Platz in der Geschichte zurückzugeben – einen Platz, den ihnen Generationen von Historikern aus Voreingenommenheit heraus verweigert haben.«

Maureen hielt kurz inne, als ein zustimmendes Raunen durch die Studenten ihres Abendschulseminars ging. Sich zum ersten Mal an eine neue Klasse zu wenden war nicht viel anders als eine Theaterpremiere. Der Erfolg ihrer anfänglichen Performance bildete den Grundstein für die langfristige Wirkung ihrer gesamten Arbeit.

»Im Laufe der nächsten Wochen werden wir das Leben einiger der berüchtigtsten Frauen in Historie und Legende untersuchen. Frauen mit Geschichten, die einen unauslöschlichen Eindruck in der Entwicklung der modernen Gesellschaft und Gedankenwelt hinterlassen haben; Frauen, die grundlegend missverstanden und von jenen in ein schlechtes Licht gerückt worden sind, die die Geschichte der westlichen Welt geprägt haben, indem sie ihre Meinungen zu Papier gebracht haben.«

Maureen war gut in Schwung und wollte so früh nicht für Fragen unterbrechen, doch ein junger Mann in der ersten Reihe wedelte schon von Anfang an mit der Hand. Er sah aus, als würde er gleich platzen, doch abgesehen davon hatte er nichts Besonderes an sich. Freund oder Feind? Fan oder Fundamentalist? Das war stets das Risiko. Maureen wandte sich ihm zu – wohl wissend, dass er sie weiter ablenken würde, sollte sie sich nicht um ihn kümmern.

»Würden Sie das als einen feministischen Blick auf die Geschichte bezeichnen?«, fragte der junge Mann.

War es das, was er vorzubringen hatte? Maureen entspannte sich ein wenig und beantwortete die vertraute Frage: »Ich betrachte es als ehrlichen Blick auf die Geschichte. Als ich mich der Thematik gewidmet habe, war mein einziges Ziel, die Wahrheit herauszufinden.«

Sie war noch nicht vom Haken.

»Für mich sieht es eher so aus, als wollten Sie schlicht auf die Männer einprügeln.«

»Ganz und gar nicht. Ich liebe Männer. Ich denke, jede Frau sollte einen haben.« Maureen hielt kurz inne, um den weiblichen Studenten ein Kichern zu gestatten. »Das war ein Scherz. Mein eigentliches Ziel ist es, die Geschichte wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem ich sie aus einem modernen Blickwinkel betrachte. Leben Sie, die Sie hier sitzen, Ihr Leben auf die gleiche Art wie die Menschen vor tausendsechshundert Jahren? Nein. Warum also sollten Gesetze, Glauben und historische Interpretationen, die im finsteren Mittelalter zu Papier gebracht worden sind, bestimmen, wie wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben? Das ergibt einfach keinen Sinn.«

Der Student entgegnete: »Aber deshalb bin ich ja hier: um herauszufinden, was Sache ist.«

»Gut. Dann kann ich Sie nur dafür loben, dass Sie hier sind, und ich bitte Sie lediglich darum, erst einmal für alles offen zu sein. Tatsächlich möchte ich, dass Sie alle erst einmal mit dem aufhören, was Sie gerade tun. Heben Sie die rechte Hand, und legen Sie den folgenden Eid ab.«

Erneut ging ein Raunen durch die Reihen der Studenten. Sie schauten sich um, lächelten einander an, zuckten mit den Schultern und fragten sich, ob Maureen das ernst meinte. Ihre Dozentin, eine Bestsellerautorin und anerkannte Journalistin, stand vor ihnen, die rechte Hand erhoben und einen erwartungsvollen Ausdruck auf dem Gesicht.

»Kommen Sie«, hakte Maureen nach. »Hand hoch, und wiederholen Sie, was ich sage.«

Die Klasse folgte ihrem Beispiel, hob die Hände und wartete.

»Hiermit schwöre ich feierlich als ernsthafter Student der Geschichte«, Maureen hielt kurz inne und ließ ihre Studenten das Gesagte gehorsam wiederholen, »mich jederzeit daran zu erinnern, dass alle Worte, die je zu Papier gebracht worden sind, von Menschenhand stammen.«

Wieder legte sie eine kurze Pause ein, bis die Studenten die Worte nachgesprochen hatten. »Und wie alle Menschen, so wurden auch diese Schreiber von ihren Gefühlen, ihren Ansichten und ihren politischen und religiösen Neigungen bestimmt. Demzufolge besteht alle Geschichte sowohl aus Fakten als auch aus Meinungen, und in vielen Fällen ist sie sogar vollkommen erfunden, um damit ein geheimes Ziel zu erreichen.

Ich schwöre feierlich, allem gegenüber offen zu sein, solange ich in diesem Raum sitze. Dies soll unser Schlachtruf sein: ›Geschichte ist nicht, was geschehen ist. Geschichte ist das, was niedergeschrieben wurde.‹«

Maureen nahm ein Buch vom Podium vor ihr und hielt es hoch, sodass alle es sehen konnten.

»Hatte jeder Gelegenheit, sich ein Exemplar dieses Buches zu besorgen?« Allgemeines Kopfnicken und bestätigendes Murmeln folgten dieser Frage. Bei dem Buch in Maureens Hand handelte es sich um ihr eigenes Werk: HERstory. Ein Plädoyer für die meistgehassten Heldinnen der Geschichte. Dieses Buch war der Grund dafür, dass Maureen jedes Mal den Saal vollbekam, wann immer sie beschloss zu unterrichten.

»Heute Abend werden wir mit einer Diskussion über die Frauen des Alten Testaments beginnen, die weiblichen Vorfahren christlicher und jüdischer Traditionen. Nächste Woche wenden wir uns dann dem Neuen Testament zu, wobei wir den Großteil der Stunde einer einzigen Frau widmen werden: Maria Magdalena. Wir werden die verschiedenen Quellen und Belege zu ihrem Leben untersuchen und sie sowohl als Frau als auch als Jüngerin Christi betrachten. Bitte, lesen Sie die entsprechenden Kapitel zur Vorbereitung.

Außerdem werden wir einen Gastdozenten haben: Dr. Peter Healy, den einige von Ihnen vielleicht aus anderen geisteswissenschaftlichen Kursen kennen. Denjenigen von Ihnen, die bis jetzt noch nicht das Glück hatten, eines seiner Seminare zu besuchen, sei gesagt, dass er auch als Father Healy bekannt ist. Er ist Jesuit und international anerkannter Experte für Bibelwissenschaften.«

Der hartnäckige Student in der ersten Reihe hob erneut die Hand; nur diesmal wartete er nicht, bis Maureen ihn aufrief, sondern fragte direkt: »Sind Sie und Doktor Healy nicht miteinander verwandt?«

Maureen nickte. »Doktor Healy ist mein Cousin. Er wird uns die Beziehung Jesu zu Maria Magdalena aus kirchlicher Perspektive erklären und uns erzählen, wie sich die Einschätzung im Laufe von zweitausend Jahren verändert hat«, fuhr Maureen in dem Bemühen fort, wieder zum Thema zurückzukommen, um rechtzeitig fertig zu werden. »Es wird ein interessanter Abend werden; also versuchen Sie, ihn nicht zu versäumen.

Heute Abend wollen wir jedoch mit einer unserer Urmütter beginnen. Wenn wir Bathseba das erste Mal begegnen, ›reinigt‹ sie sich gerade von ihrer ›Unreinheit‹ …«

Maureen stürmte aus dem Seminarraum hinaus, rief Entschuldigungen über die Schulter und schwor, nächste Woche länger zu bleiben. Normalerweise hätte sie noch gut eine halbe Stunde verweilen und mit der Gruppe diskutieren können, die immer nach einer Sitzung blieb. Sie liebte es, auf diese Art Zeit mit ihren Studenten zu verbringen, denn jene, die blieben, waren stets mit ihr auf einer Wellenlänge. Das waren die Studenten, die sie zu ihrer Lehrtätigkeit motivierten. Den Hungerlohn, den man ihr dafür zahlte, hatte sie gewiss nicht nötig. Maureen lehrte, weil sie den Kontakt zu offenen und engagierten Menschen brauchte, mit denen sie über ihre Theorien reden konnte; das empfand sie als ausgesprochen stimulierend.

Ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster, während Maureen die Alleen des Nordcampus hinuntereilte. Sie wollte Peter nicht verpassen, nicht heute Abend. Maureen verfluchte ihren Sinn für Mode und wünschte, sie hätte sich passenderes Schuhwerk ausgesucht, mit dem sie den Sprint zu seinem Büro hätte schaffen können, bevor er ging. Wie immer war sie makellos gekleidet, wandte sie doch für ihre Kleidung genauso viel Sorgfalt auf wie für jedes andere Detail in ihrem Leben. Das perfekt geschnittene Designerkostüm passte ihr hervorragend, und das Waldgrün des Ensembles betonte das Grün ihrer Augen. Ein paar Highheels von Manolo Blahnik verliehen ihrem ansonsten eher konservativen Äußeren einen verwegenen Touch – und machten sie ein wenig größer, was sie bei ihren knapp fünf Fuß gut gebrauchen konnte. Doch genau dieses Paar Manolos war nun der Grund für ihren Frust. Kurz dachte sie darüber nach, sie einfach auszuziehen und in die nächste Mülltonne zu werfen.

Bitte, geh noch nicht! Bitte, sei da! So rief sie in Gedanken zu Peter, während sie weiterrannte. Peter und sie waren auf seltsame Weise miteinander verbunden; das war schon in ihrer Kindheit so gewesen, und jetzt hoffte sie, dass er irgendwie spüren konnte, wie nötig sie mit ihm reden musste. Maureen hatte ihn auf konventionellerem Wege vorher anzurufen versucht, aber ohne Erfolg. Peter hasste Handys und hatte nie eines dabei, trotz ihrer vielfachen Bitten über die Jahre, und er weigerte sich grundsätzlich, auf das Läuten des Telefons in seinem Büro zu hören, wenn er in seine Arbeit vertieft war.

Maureen zog die störenden Highheels aus, stopfte sie sich in die Tasche und begann zu rennen. Sie hielt den Atem an, als sie um die Ecke zur MacGowan Hall bog, blickte zu den Fenstern im ersten Stock hinauf und begann, von links abzuzählen. Schließlich stieß sie einen erleichterten Seufzer aus, als sie Licht im vierten Fenster sah. Er war noch da.

Maureen stieg bedächtig die Treppe hinauf und ließ sich Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Oben angelangt, wandte sie sich in den linken Gang und ging bis zur vierten Tür rechts. Peter war da. Er spähte aufmerksam durch ein Vergrößerungsglas auf ein vergilbtes Manuskript. Er fühlte Maureen mehr in der Tür, als dass er sie sah, und als er den Kopf hob, erschien ein einladendes Lächeln auf seinem wie stets freundlichen Gesicht.

»Hallo, kleine Maria! Was für eine wunderbare Überraschung. Ich habe heute Abend nicht mit dir gerechnet.«

»Hi, Pete«, antwortete Maureen mit der gleichen Wärme und trat um den Tisch, um ihn kurz zu umarmen. »Ich bin ja so froh, dass du noch hier bist … Ich hatte schon Angst, du wärst bereits weg, und ich musste dich unbedingt sehen.«

Peter hob die Augenbrauen und dachte einen langen Augenblick lang nach, bevor er erwiderte: »Weißt du, unter normalen Umständen wäre ich schon seit Stunden weg; aber aus irgendeinem Grund konnte ich nicht mit der Arbeit aufhören. Zunächst wusste ich nicht, warum … bis jetzt.«

Father Peter Healy tat seine eigenen Worte mit einem Schulterzucken und einem leichten, wissenden Lächeln ab. Maureen musste ebenfalls lächeln. Sie hatte die Verbindung zu ihrem älteren Cousin noch nie logisch erklären können, doch von dem Tage an, als sie damals nach Irland gekommen war, waren sie wie Zwillinge gewesen und hatten die unheimliche Fähigkeit besessen, sich ohne Worte zu verständigen.

Maureen griff in ihre Reisetasche und holte eine blaue Plastiktüte heraus, wie sie auf der ganzen Welt in Importläden verwendet wurde. Sie enthielt eine kleine rechteckige Schachtel, die sie dem Priester überreichte.

»Aaah. Lyon’s Gold Label. Wunderbare Wahl. Amerikanischer Tee schlägt mir noch immer auf den Magen.«

Maureen verzog das Gesicht und schüttelte sich zum Zeichen, dass sie sein Missfallen teilte. »Das reinste Brackwasser.«

»Nun denn. Ich glaube, der Kocher ist voll; also werden wir uns erst einmal ein Tässchen genehmigen.«

Maureen lächelte, während sie Peter dabei beobachtete, wie er sich aus dem verschlissenen, mit Leder bezogenen Stuhl erhob, um den er bei der Universitätsverwaltung so hart gekämpft hatte. Nachdem er den Ruf als Dozent an die geisteswissenschaftliche Fakultät angenommen hatte, hatte man dem geschätzten Dr. Peter Healy ein modern eingerichtetes Büro mit Aussicht zur Verfügung gestellt, einschließlich eines brandneuen und ausgesprochen funktionellen Schreibtischs mit dazu passendem Stuhl. Aber Peter hasste alles Funktionelle, wenn es um Möbel ging, und alles Moderne hasste er noch viel mehr. Also hatte er seinen unwiderstehlichen gälischen Charme eingesetzt, und es war ihm tatsächlich gelungen, den ansonsten so unbeweglichen Verwaltungsapparat in hektische Aktivität zu versetzen. Außerdem sah er dem irischen Schauspieler Gabriel Byrne verblüffend ähnlich, was Frauen stets anregte, römischer Kragen hin oder her. Die Damen der Verwaltung hatten Keller durchwühlt und nicht benutzte Seminarräume durchsucht, bis sie genau das gefunden hatten, was Peter suchte: einen abgewetzten, extrem bequemen Lederlehnstuhl sowie einen Schreibtisch aus altem Holz, der zumindest andeutungsweise antik aussah. Die wenigen modernen Annehmlichkeiten in seinem Büro hatte er sich ebenfalls selbst ausgesucht: den Minikühlschrank in der Ecke hinter dem Schreibtisch, einen kleinen elektrischen Wasserkocher und das meist ignorierte Telefon.

Maureen hatte sich inzwischen sichtlich entspannt. Sie fühlte sich wohl und sicher in der Gegenwart eines nahen Verwandten und genoss die beruhigende, typisch irische Art der Teezubereitung.

Peter kehrte wieder an den Schreibtisch zurück und bückte sich nach dem Minikühlschrank unmittelbar hinter ihm. Er holte eine kleine Milchtüte heraus und stellte sie neben die weißrosa Zuckerdose auf dem Kühlschrank. »Irgendwo war hier auch ein Löffel … Warte … Da ist er ja.«

Im Kocher begann es zu brodeln; das Wasser war fertig.

»Überlass mir die Honneurs«, meldete Maureen sich freiwillig.

Sie stand auf, nahm die Teepackung von Peters Schreibtisch und brach das Plastiksiegel mit ihrem Fingernagel. Dann holte sie zwei runde Teebeutel heraus und legte je einen in die beiden unterschiedlichen, von Tee fleckigen Becher. All die Klischees von wegen Iren und Alkohol waren in Maureens Augen drastisch übertrieben. Wenn Iren nach etwas süchtig waren, dann nach diesem Zeug.

Fachmännisch beendete Maureen die Vorbereitungen und reichte ihrem Cousin einen dampfenden Becher, als sie sich wieder ihm gegenüber auf den Stuhl setzte. Stumm nippte Maureen einen Moment lang an ihrem Tee und fühlte Peters wohlwollenden Blick auf sich ruhen. Nun, da sie so überstürzt zu ihm geeilt war, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte, und so war es schließlich der Priester, der das Schweigen brach.

»Sie ist also wieder da?«, fragte er in sanftem Ton.

Maureen seufzte erleichtert. In Augenblicken wie diesen, da sie glaubte, den Verstand verlieren zu müssen, war Peter für sie da: Cousin, Priester, Freund.

»Ja«, antwortete sie, und ganz untypisch drohte ihr die Stimme zu versagen. »Sie ist wieder da.«

Father Peter Healy wälzte sich ruhelos in seinem Bett und konnte nicht schlafen. Das Gespräch mit Maureen in seinem Büro hatte ihn mehr aufgewühlt, als er sich eingestehen wollte. Er machte sich Sorgen um sie, sowohl als ihr nächster lebender Verwandter als auch als ihr geistiger Ratgeber. Die Träume waren wieder zurückgekehrt, und das heftiger denn je. Er hatte gewusst, dass das irgendwann geschehen würde, und nur darauf gewartet.

Als Maureen aus dem Heiligen Land zurückgekehrt war, war sie wiederholt von Traumbildern jener leidenden königlichen Frau in rotem Gewand heimgesucht worden, der Frau, die sie in Jerusalem gesehen hatte. Ihre Träume waren stets gleich; immer fand sie sich inmitten einer Menge auf der Via Dolorosa wieder. Gelegentlich gab es kleinere Variationen oder ein zusätzliches Detail, doch jedes Mal waren die Träume von einem überwältigenden Gefühl der Verzweiflung geprägt. Es waren die Lebendigkeit und die Intensität dieser Träume, die Peter beunruhigten, und die Authentizität von Maureens Beschreibungen. Es war nicht mit Händen zu greifen, ein Gefühl, das durch das Heilige Land selbst ausgelöst wurde, so wie Peter es aus der Zeit kannte, als er selbst in Jerusalem studiert hatte. Es war ein Gefühl, dem Alten und Wahren sehr, sehr nahe zu kommen … und, ja, dem Göttlichen.

Nach ihrer Rückkehr aus Israel hatte Maureen viele lange Ferngespräche mit Peter geführt, der zu dieser Zeit in Irland gelehrt hatte. Seine selbstbewusste und unabhängige Cousine fing an, ihren eigenen Geisteszustand infrage zu stellen, und die Intensität und Häufigkeit ihrer Träume hatten Peter mehr und mehr beunruhigt. Schließlich hatte er um eine Versetzung nach Loyola gebeten, wohl wissend, dass man sie genehmigen würde, und war an Bord eines Flugzeuges nach Los Angeles gestiegen, um seiner Cousine näher zu sein.

Vier Jahre später rang er mit seinen Gedanken und seinem Gewissen, und er wusste einfach nicht, wie er Maureen jetzt am besten helfen sollte. Gern hätte er sie zu einigen seiner kirchlichen Vorgesetzten gebracht, doch ihm war klar, dass sie dem nie zustimmen würde. Peter war die letzte Verbindung zu ihrem einst katholischen Hintergrund, die sie noch nicht gekappt hatte. Sie traute ihm nur, weil er zur Familie gehörte – und weil er der einzige Mensch in ihrem Leben war, der sie nie im Stich gelassen hatte.

Peter setzte sich auf und ergab sich der Erkenntnis, dass er heute Nacht ohnehin nicht mehr würde einschlafen können – und er versuchte, nicht an das Päckchen Marlboro in der Nachttischschublade zu denken. Schon länger war er bestrebt, sich das Rauchen abzugewöhnen; tatsächlich war das einer der Gründe, warum er in einem Apartment und nicht in einem Jesuitenhaus wohnte. Doch der Stress war zu viel für ihn, und so erlag er wieder einmal der Versuchung. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und dachte über die Fragen nach, denen Maureen sich gegenübersah.

Seine kleine, lebhafte amerikanische Cousine hatte schon immer etwas Besonderes gehabt. Als sie zum ersten Mal mit ihrer Mutter nach Irland gekommen war, war sie eine ängstliche, einsame Neunjährige mit breitem Südstaaten-Akzent gewesen. Peter, der acht Jahre älter war, hatte sie unter seine Fittiche genommen und den einheimischen Kindern vorgestellt – und jedem ein blaues Auge verpasst, der es gewagt hatte, die Neue mit ihrem komischen Englisch zu hänseln.

Aber es hatte nicht lange gedauert, bis Maureen mit ihrer Umgebung verschmolzen war. Die Traumata ihrer Vergangenheit in Louisiana heilten rasch, als die irischen Nebel sie tröstend umschlangen. Sie fand Zuflucht in der Landschaft, wo Peter und seine Schwestern sie auf lange Wanderungen mitnahmen, ihr die Schönheit des Flusses zeigten und sie vor den Gefahren der sumpfigen Niederungen warnten. Lange Sommertage verbrachten sie damit, wilde Brombeeren zu pflücken oder Fußball zu spielen, bis die Sonne unterging. Nach und nach akzeptierten auch die anderen Kinder Maureen, je wohler sie sich in ihrer neuen Umgebung fühlte und je mehr ihre wahre Persönlichkeit zum Vorschein kam.

Peter hatte oft über die Definition des Wortes »Charisma« nachgedacht, wie es im Kontext der Frühkirche gebraucht worden war: eine göttliche Gabe oder Macht. Vielleicht traf dieser Begriff wörtlicher und vollkommener auf Maureen zu, als sie es sich je erträumt hatten. Peter führte Tagebuch über seine Diskussionen mit ihr; das hatte er schon seit jenen ersten Ferngesprächen getan. Darin schrieb er all seine Gedanken im Zusammenhang mit den Träumen auf. Und täglich betete er um Führung, falls Maureen tatsächlich von Gott auserwählt sein sollte, irgendeine Aufgabe zu erfüllen, die mit der Passion Christi in Beziehung stand. Denn dass es das war, was sie in ihren Träumen sah, dessen war er allmählich sicher, und in diesem Fall würde er in der Tat alle Hilfe brauchen, die ihm sein Schöpfer gewähren würde. Und seine Kirche desgleichen.

Château des Pommes BleuesLanguedoc, FrankreichOktober 2004

»Marie de Nègre soll bestimmen, wann die Zeit für die Verheißene gekommen ist. Sie, die aus dem Paschalamm geboren ist, da Tag und Nacht gleich sind; sie, die sie ein Kind der Wiederauferstehung ist. Ihr, die sie das Sangre-el trägt, wird der Schlüssel zuteil werden, wenn sie den Schwarzen Tag des Schädels sieht. Sie wird die neue Hirtin werden und uns den Rechten Weg weisen.«

Berenger Sinclair ging auf dem polierten Boden seiner Bibliothek auf und ab. Die Flammen im riesigen Steinkamin warfen ein goldenes Licht auf die ererbte Sammlung kostbarer Bücher und Manuskripte. In einem schützenden Glaskasten, der sich über die gesamte Breite des großen Herds hinzog, hing ein zerrissenes Banner. Einst weiß, war es nun vergilbt, und in der Mitte fand sich eine ausgeblichene goldene Lilie. Der zusammengesetzte Name Jhesu-Maria war auf das Buckram gestickt, doch nur jene konnten ihn sehen, die die seltene Gelegenheit bekamen, sich dieses Relikt aus der Nähe anzuschauen.

Sinclair zitierte die Prophezeiung laut und ohne sie irgendwo abzulesen, wobei er auf schottische Art das »R« rollte. Berenger kannte die Worte der Prophezeiung auswendig; er hatte sie schon als kleiner Junge auf den Knien seines Großvaters gelernt. Damals hatte er die Bedeutung dieser Zeilen noch nicht verstanden. Es war ein schlichtes Auswendiglernen gewesen, eine Art Spiel, das er mit seinem Großvater gespielt hatte, wenn er die Sommer auf dem riesigen Gut seiner Familie in Frankreich verbracht hatte.

Sinclair blieb vor einem komplexen Familienstammbaum stehen, der an eine Wand gemalt worden war und vom Boden bis zur Decke reichte. Es war ein gewaltiges Bild, das die Geschichte von Berengers Vorfahren darstellte.

Dieser Zweig der Sinclair-Familie war einer der ältesten in ganz Europa. Ursprünglich unter dem Namen Saint Clair bekannt, war sie im dreizehnten Jahrhundert vom Kontinent vertrieben worden, woraufhin die Überlebenden in Schottland Zuflucht gesucht hatten. Dort war der Nachname dann nach und nach anglisiert worden, bis er seine heutige Form erreicht hatte. Zu Berengers Vorfahren gehörten einige der berühmtesten Persönlichkeiten der britischen Geschichte, einschließlich James I. von England und dessen viel geschmähte Mutter Maria Stuart, Königin der Schotten.

Der einflussreichen und klugen Familie Sinclair war es gelungen, sämtliche Bürgerkriege und politischen Unruhen Schottlands zu überleben, indem sie in der stürmischen Geschichte des Landes immer wieder die Seiten gewechselt hatte. Als einer der führenden Industriekapitäne des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Berengers Großvater schließlich als Gründer der North Sea Oil Corporation eines der größten Vermögen Europas angehäuft. Als mehrfacher Milliardär und britischer Peer mit einem Sitz im House of Lords hatte Alistair Sinclair alles gehabt, wovon ein Mann nur träumen konnte. Dennoch war er nie zur Ruhe gekommen, war nie zufrieden gewesen; stets hatte er nach etwas gesucht, was er mit seinem Vermögen nicht hatte kaufen können.

Großvater Alistair hatte es nach Frankreich gezogen, und so hatte er nahe dem Dorf Arques im zerklüfteten, geheimnisvollen Südwesten, der als das Languedoc bekannt war, einen riesigen Landsitz erworben. Er nannte sein neues Heim »Château des Pommes Bleues«, Schloss der blauen Äpfel. Die Gründe dafür waren nur einigen wenigen Eingeweihten bekannt.

Das Languedoc war ein gebirgiges Land voller Mysterien. Einheimische Legenden von vergrabenen Schätzen und geheimnisvollen Rittern reichten Hunderte, ja Tausende von Jahren zurück. Alistair Sinclair war mehr und mehr fasziniert von der Geschichte des Languedoc und begann, alles Land in der Region anzukaufen, das er kriegen konnte, und mit wachsender Leidenschaft nach einem Schatz zu suchen, von dem er glaubte, er sei dort vergraben. Dieser Schatz hatte jedoch nichts mit Gold und Silber zu tun; davon hatte Alistair ohnehin mehr als genug. Es war etwas, das weit wertvoller für ihn war, für seine Familie und für die ganze Welt. Je älter er wurde, desto weniger Zeit verbrachte er in Schottland, und Glück fand er nur noch in den wilden roten Bergen des Languedoc. Alistair bestand darauf, dass sein Enkel im Sommer bei ihm lebte, und schließlich weckte er auch in dem jungen Berenger die gleiche Leidenschaft, ja Besessenheit für dieses mystische Land.

Berenger Sinclair, der inzwischen Mitte vierzig war, hielt erneut auf seinem Weg durch die große Bibliothek an, diesmal vor einem Porträt seines Großvaters. Die kantigen Gesichtszüge, das lockige dunkle Haar und die kraftvollen Augen vermittelten ihm das Gefühl, als würde er in einen Spiegel schauen.

»Sie gleichen ihm sehr, Monsieur. Tatsächlich ähneln Sie ihm sogar von Tag zu Tag mehr.«

Sinclair drehte sich zu seinem Diener Roland um. Für solch einen riesigen Mann konnte Roland überraschend leise sein, sodass er manchmal wie aus dem Nichts einfach auftauchte.

»Und? Ist das gut?«, fragte Berenger ironisch.

»Natürlich. Monsieur Alistair war ein feiner Mann. Die Dörfler haben ihn sehr geliebt – wie auch mein Vater und ich.«

Sinclair nickte und lächelte schwach. Dass Roland das sagte, war nur natürlich. Der französische Riese war ein Sohn des Languedoc. Sein Vater stammte aus einer einheimischen Familie mit tiefen Wurzeln in diesem legendären Land und war Alistairs Hausverwalter gewesen. Roland war auf dem Landgut aufgewachsen und verstand die Familie Sinclair und ihre exzentrischen Leidenschaften. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters war Roland in dessen Fußstapfen als Verwalter des Château des Pommes Bleues getreten. Er war einer der wenigen Menschen auf der Welt, denen Berenger Sinclair vertraute.

»Ich habe Sie gehört, wenn ich das sagen darf. Wir arbeiteten drüben im Saal, Jean-Claude und ich, und wir hörten, wie Sie die Worte der Prophezeiung sprachen.« Fragend schaute er Sinclair an. »Stimmt etwas nicht?«

Sinclair durchquerte den Raum zu dem großen Mahagonischreibtisch, der die gegenüber liegende Wand beherrschte. »Doch, doch, Roland. Alles bestens. Tatsächlich glaube ich, dass endlich, endlich alles in Ordnung kommen wird.«

Er griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und zeigte das Cover seinem Diener. Es war ein modernes Sachbuchcover, und der Titel darauf lautete: HERstory, gefolgt von dem Untertitel: Ein Plädoyer für die meistgehassten Heldinnen der Geschichte.

Roland schaute das Buch verwirrt an. »Ich verstehe nicht.«

»Nein, nein. Dreh es um. Schau dir das an. Schau sie an.«

Roland tat, wie ihm geheißen, sodass er das Foto der Autorin sehen konnte: MAUREEN PASCHAL.