Das Magdalena-Vermächtnis - Kathleen McGowan - E-Book

Das Magdalena-Vermächtnis E-Book

Kathleen McGowan

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein alter Hass, der bis in die Gegenwart reicht. Eine Liebe, die alle Zeit überdauert.

Florenz - Zentrum der Renaissance: Hier wurden die Meisterwerke von Donatello, Botticelli und Michelangelo geschaffen. Hier wurden unter der Herrschaft von Lorenzo de‘ Medici Mysterien begründet, die bis heute Rätsel aufgeben. Und hier soll Maureen Paschal, die Hüterin des Magdalena-Evangeliums, in den geheimen Lehren der Medici unterwiesen werden. Dabei stoßen sie und ihr Gefährte Berenger auf eine schicksalhafte Verbindung zur Vergangenheit, die zu Lorenzo und seiner Geliebten führt. Aber auch dunkle Schatten aus der Vergangenheit erheben sich in Florenz, um die Wiedergeburt des wahren Glaubens zu vereiteln - und sei es mit Gewalt ...

Bestsellerautorin Kathleen McGowan bettet in ihrem rasanten Verschwörungsthriller gekonnt Elemente aus Religion, Kunst, Architektur und Geschichte ein und liefert einmal mehr Spannung der Spitzenklasse!

Die Magdalena-Reihe geht weiter - mit der lang erwarteten Fortsetzung "Die Magdalena-Verschwörung".

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 652

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Erster Teil

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Zweiter Teil

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Epilog

Nachwort

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Die Magdalena-Serie

Band 1: Das Magdalena-Evangelium

Band 2: Das Jesus-Testament

Band 4: Die Magdalena-Verschwörung (Juni 2019)

Über dieses Buch

Ein alter Hass, der bis in die Gegenwart reicht. Eine Liebe, die alle Zeit überdauert.

Florenz – Zentrum der Renaissance: Hier wurden die Meisterwerke von Donatello, Botticelli und Michelangelo geschaffen. Hier wurden unter der Herrschaft von Lorenzo de‘ Medici Mysterien begründet, die bis heute Rätsel aufgeben. Und hier soll Maureen Paschal, die Hüterin des Magdalena-Evangeliums, in den geheimen Lehren der Medici unterwiesen werden. Dabei stoßen sie und ihr Gefährte Berenger auf eine schicksalhafte Verbindung zur Vergangenheit, die zu Lorenzo und seiner Geliebten führt. Aber auch dunkle Schatten aus der Vergangenheit erheben sich in Florenz, um die Wiedergeburt des wahren Glaubens zu vereiteln – und sei es mit Gewalt …

Über die Autorin

Kathleen McGowan, geboren in Hollywood, arbeitete als Reporterin in Nordirland, Europa und im Nahen Osten und war unter anderem für die IRISH NEWS und die WALT DISNEY CORPORATION tätig. International bekannt ist sie dank ihrer vier erfolgreichen Verschwörungsthriller der Magdalena-Serie. Kathleen McGowan lebt in Los Angeles, Schottland und Frankreich.

Kathleen McGowan

Das Magdalena-Vermächtnis

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Först

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2010 by McGowan Media, Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „The Poet Prince. Book III of the Magdalene Line“

All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Touchstone, a division of Simon & Schuster, Inc.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2010/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Wolfgang Neuhaus

Covergestaltung: © www.buerosued.de

eBook-Erstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-7185-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Lorenzo,

um ein Versprechen einzulösen, das vor fünfhundert Jahren gegeben wurde.

Und für euch,

die ihr euer Versprechen wiedererkennt und gelobt habt, das Goldene Zeitalter einer neuen Renaissance herbeizuführen.

Die Zeit kehrt wieder

Wir preisen Gott und beten für eine Zeit, in der alle Menschen unsere Lehren in Frieden willkommen heißen und in der es keine Märtyrer mehr gibt.

Gebet des Ordens vom Heiligen Grab

PROLOG

Rom, Anno Domini 161

Antoninus Pius, der römische Kaiser, war kein Schlächter. Pius war ein Gelehrter und Philosoph, der nicht als grausamer Tyrann in die Geschichte Roms eingehen wollte. Und doch watete er an diesem Tag bis zu den Knöcheln in Christenblut.

Im Leben waren die vier Brüder außergewöhnlich schöne junge Männer gewesen. Nun aber, nachdem sie grausame Qualen erlitten hatten, waren sie nur noch eine scheußliche Masse aus Blut und Fleisch. Übelkeit erfasste Pius beim Anblick der Leichen, doch er durfte vor den Bürgern der Stadt keine Schwäche zeigen.

Der Kaiser war meist duldsam gegenüber der lästigen Minderheit, die sich Christen nannte. Er fand es sogar anregend, mit den Gebildeten unter ihnen Gespräche zu führen. So seltsam ihr Glaube anmutete – ein Messias, der von den Toten auferstanden war und eines Tages wiederkehren würde –, schien er sich dennoch mit beunruhigender Schnelligkeit in Rom zu verbreiten. Manche römischen Adeligen waren offen zum Christentum übergetreten, und unter Pius’ Regentschaft wurde ihre Teilnahme an christlichen Riten geduldet. Die Sekte fand besonders unter Frauen von hoher Geburt Zuspruch, zumal die Zeremonien des Christentums Frauen nicht ausschlossen. Sie konnten in dieser fremdartigen neuen Glaubenswelt sogar Priesterinnen werden.

Die römischen Priester in den Tempeln des Jupiter und Saturn jedoch schäumten vor Wut, dass es den Christen erlaubt sein sollte, die römischen Götter zu entweihen, indem sie ihre lächerliche Vorstellung des einen und einzigen Gottes verbreiteten. Im Allgemeinen kümmerte Pius das Gejammere der Priester nicht, und das Leben in Rom verlief unter seiner Regentschaft relativ friedlich. Waren die Menschen im Römischen Reich aber durch Seuchen oder Naturkatastrophen gefährdet, gerieten die Christen in Todesgefahr, denn nur zu gerne gaben die römischen Priester und deren Anhänger den Christen die Schuld für alles Ungemach, das Rom befiel. Denn wer konnte daran zweifeln, dass der christliche Glaube an einen einzigen Gott die alten, wahren Götter Roms beleidigte, sodass deren Zorn auch staatstreue Bürger traf?

In seinen Debatten mit den Anhängern der neuen Religion hatte Pius festgestellt, dass es zwei Arten von Christen gab: Zum einen die verschrobenen Fanatiker, die geradezu versessen darauf waren, für ihren Glauben zu sterben; zum anderen die Barmherzigen – vernünftige, mitfühlende Menschen, die eher bestrebt waren, die Not der Armen und Kranken zu lindern, als zu predigen und neue Anhänger zu gewinnen.

Pius waren die Barmherzigen lieber, denn sie trugen Wertvolles zur Gemeinschaft bei und waren nützliche Bürger des Römischen Imperiums. Sie erzählten Geschichten über ihren Messias und seine besonderen Fähigkeiten als wundertätiger Heiler, und sie zitierten seine Worte über Nächstenliebe. Und voller Leidenschaft sprachen sie von der Kraft der Liebe und ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Es gab sogar einige Christen in Rom, die behaupteten, in direkter Linie von den Kindern des Messias abzustammen, die in Europa eine neue Heimat gefunden hatten.

Die Barmherzigen waren es auch, die sich für die Armen und Kranken einsetzten. Ihre unbestrittene Anführerin war die schöne Domina Petronella, eine römische Adelige mit flammend rotem Haar. Trotz ihres offen praktizierten christlichen Glaubens wurde sie vom römischen Volk als Tochter einer der ältesten Familien der Stadt geliebt. Ihren Reichtum setzte Petronella großzügig zum Wohl des Volkes ein und predigte Liebe und gegenseitiges Verständnis. Wären Petronella und ihre Barmherzigen die einzigen Christen Roms gewesen, wäre es vermutlich nie zu diesem furchtbaren Blutbad gekommen.

Die Fanatiker waren aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Im Gegensatz zu den Barmherzigen, die liebevoll von ihrem Messias sprachen, den sie als Meister einer spirituellen Lehre bezeichneten – dem sogenannten Weg der Liebe –, tönten die Fanatiker von dem einen wahren Gott, der alle anderen Götter zerschmettern und eines Tages über die Ungläubigen zu Gericht sitzen werde, um sie der ewigen Verdammnis zu übergeben. Die Römer waren erzürnt über diese düsteren Prophezeiungen, doch die Fanatiker gingen sogar noch weiter, indem sie behaupteten, das irdische Leben sei ohnehin bedeutungslos; nur das Leben nach dem Tod zähle. Für die römischen Priester war eine solche Weltsicht – die Missachtung der Gabe des Lebens, das doch die Götter selbst den Sterblichen geschenkt hatten – ein Sakrileg, unfassbar für eine Kultur, in der die sinnliche Erfahrung bei geistlichen und weltlichen Festen gefeiert wurde. Für die meisten Römer waren die christlichen Fanatiker ein Rätsel, aus einem Wahn geboren – Menschen, die man fürchten und meiden sollte. Deshalb waren es die Fanatiker, die stets den Zorn der Römer auf sich zogen, auch wenn die Stadt nicht von Feinden oder Naturkatastrophen heimgesucht wurde.

Als in einem wohlhabenden Viertel einer römischen Vorstadt eine tödliche Grippe ausbrach, riefen die Priester des Saturn nach dem Blut der Christen, um ihren Gott zu besänftigen. Im Mittelpunkt des sich entwickelnden Dramas stand eine reiche römische Witwe, Domina Felicitas. Nachdem ihr Mann unerwartet gestorben war, hatte sie den römischen Göttern voller Bitterkeit den Rücken gekehrt und war zum Christentum übergetreten. Doch es waren nicht die Barmherzigen, bei denen Felicitas Trost fand; sie schöpfte neue Kraft aus der extremen Weltsicht der Fanatiker, für die das Leben nach dem Tod das bessere Leben war. In diesem Idealbild fand Felicitas Trost: Ihr Ehemann war nun in jener besseren Welt, und eines Tages würden sie und ihre Kinder ihm dorthin folgen, und ihre Familie würde im Himmel wieder vereint sein.

Obwohl in Felicitas das Feuer der Fanatiker brannte, waren die meisten ihrer Nachbarn nicht beunruhigt. Sollte Felicitas ruhig stundenlang daknien und beten; das ging schließlich nur sie selbst etwas an. Außerdem war sie eine mildtätige Frau, die einen Teil des Vermögens ihres verstorbenen Mannes für den Bau eines Hospitals gestiftet hatte und die ihre Söhne dazu anhielt, sich der Krankenpflege zu widmen. Aus diesem Grund waren Felicitas’ Söhne in der römischen Vorstadt, in der sie wohnten, sehr beliebt. Der Jüngste war der goldhaarige Martial; er zählte gerade sieben Sommer, während der hochgewachsene, kräftige Januarius bereits zwanzig war.

So lebten Felicitas und ihre sieben Kinder in einer relativ friedlichen Welt – bis ihr Viertel von der Grippe heimgesucht wurde. Nur wenige Leute steckten sich an, doch wen die Krankheit befiel, hatte kaum eine Chance, das Fieber zu überleben, das von Brechreiz und Krämpfen begleitet wurde. Als der Erstgeborene eines Saturnpriesters der Grippe erlag, scharte der verzweifelte Vater die Mitglieder seiner Gemeinde um sich und beschuldigte Felicitas und deren Söhne, den Zorn des Saturn heraufbeschworen zu haben. Es konnte keinen Zweifel geben: Saturn hatte seinen Priester bestraft, um zu zeigen, dass die Römer Widerstand gegen die Christen leisten mussten, weil diese es wagten, die wahren Götter Roms als überkommen und entmachtet abzutun. Eine solche Kränkung konnten die alten Götter nicht dulden – schon gar nicht Saturn, der unbarmherzige Patriarch des römischen Pantheons. Hatte Saturn nicht sogar den eigenen Sohn verschlungen, als dieser ihm gegenüber ungehorsam war?

Felicitas und ihre Söhne wurden vor den örtlichen Magistraten Publius gebracht. Da Felicitas von Adel war, mussten sie keine Ketten oder Fesseln tragen, sondern durften das Gericht frei betreten. Felicitas war eine schöne Frau, groß und gut gewachsen, mit wallendem dunklem Haar und von königlicher Haltung. Stolz und aufrecht stand sie vor dem Gericht, ohne ein Zeichen von Furcht.

Die Verhandlung begann ruhig und sachlich. Zwar war Magistrat Publius bekannt dafür, auf Herausforderungen schroff zu reagieren, doch war er nicht so unmenschlich wie manch anderer Richter. Mit verhaltener Stimme verlas er die Anklage gegen Felicitas und ihre Söhne.

»Domina Felicitas, du und deine Kinder werden heute unter einem schlimmen Verdacht vor dieses Gericht gestellt. Die Bürger Roms befürchten, dass du unsere Götter verärgert hast, allen voran Saturn, den Göttervater. Saturn hat sich gerächt, indem er einigen deiner Nachbarn, darunter unschuldigen Kindern, das Leben nahm. Die römischen Gesetze besagen: ›Werden die Götter nicht anerkannt, so zürnen sie, und das Gleichgewicht des Universums wird gestört. Wer die Götter erzürnt hat, muss sie um Vergebung bitten, indem er ihnen Opfer darbringt.‹ Deshalb trage ich dir und deinen Kindern auf, acht Tage im Tempel des Saturn zu beten und Opfer zu bringen, welche die Priester bestimmen. Erkennst du diesen Urteilsspruch als gerecht an?«

Stumm stand Felicitas vor dem Magistraten. Ebenso stumm standen ihre Kinder in einer Reihe hinter ihr.

Publius wiederholte seine Frage und fügte hinzu: »Du weißt doch, dass du hingerichtet wirst, wenn du das Urteil nicht annimmst? Werden die Götter nicht besänftigt, ist das Imperium gefährdet. Deshalb wirst du Opfer bringen oder sterben. Die Entscheidung liegt bei dir.«

Publius’ Verbitterung wuchs, als Felicitas sich in eisernes Schweigen hüllte. Als dem Magistraten klar wurde, dass sie gar nicht antworten wollte, verlor er die Geduld. »Du beleidigst die Autorität dieses Gerichts und das Volk von Rom! Ich verlange eine Antwort, oder ich lasse sie aus dir herausprügeln!«

Da hob Felicitas den Kopf und blickte Publius fest an. Als sie zu sprechen begann, loderte das Feuer der Überzeugung in ihren Augen und sprach aus ihren Worten.

»Drohe mir nicht, du Heide. Der Geist des einen Gottes lebt in mir. Er wird jeden deiner Angriffe gegen mich und meine Kinder überwinden, denn er bringt uns an einen Ort, an den du niemals gelangen wirst. Weder ich noch meine Kinder werden einen heidnischen Tempel betreten oder deinen machtlosen Göttern opfern. Wenn du uns bestrafen willst, dann tue es. Ich habe keine Angst vor dir, und auch meine Söhne fürchten dich nicht. Sie sind in ihrem Glauben so stark wie ich selbst.«

»Du wagst es, wegen deines Irrglaubens das Leben deiner Kinder zu gefährden?«, stieß Publius hervor. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Das Urteil, das er über diese Christenfamilie gesprochen hatte, war nach römischen Maßstäben mild gewesen. Er hatte fest damit gerechnet, dass die Witwe ihre Söhne erleichtert zum Tempel führen würde, um dort gemeinsam das Bußgebet zu sprechen. War es möglich, dass Felicitas wegen einer nur acht Tage währenden Buße das Leben ihrer Familie aufs Spiel setzte?

Bestürzung und Zorn schwangen in Publius’ Stimme mit, als er fortfuhr: »Gib acht, bevor du wieder sprichst, denn dieses Gericht hat die Macht, euch alle hart für eure Verbrechen zu bestrafen!«

Felicitas spie ihm ihre Erwiderung ins Gesicht. »Du kannst mir nicht drohen. Deine Worte sind leer. Keine Strafe auf Erden könnte meine Meinung ändern. Wenn du mich töten willst, dann tue es, und tue es rasch, sodass ich zu Gott gelange und wieder mit meinem Ehemann vereint bin. Und wenn meine Kinder mit mir sterben müssen, werden sie es mit Freuden tun, denn sie wissen: Das Leben nach dem Tod ist schöner als alles, was diese schreckliche Welt zu bieten hat.«

Publius war außer sich. Es war ungeheuerlich und widernatürlich, dass eine Mutter ihre Kinder zum Opfer darbot. Was für ein unredlicher Gott musste das sein, der ein Opfer von sieben Kindern verlangte, um seinen Blutdurst zu stillen?

Die Stimme des Magistraten dröhnte durch den Saal. »Also gut! Wenn du sterben willst, dann stirb, aber reiß deine Kinder nicht mit ins Unglück! Schick sie in den Tempel, dann kommen wenigstens sie mit dem Leben davon.«

Felicitas antwortete schrill und geifernd: »Meine Kinder werden ewig leben, egal was du ihnen antust! Du hast keine Macht, weder über mich noch über sie!«

Der wutschnaubende Publius befahl, Felicitas in Ketten zu legen und in eine Arrestzelle zu bringen. Als sie aus dem Gericht gezerrt wurde, rief sie ihren Söhnen zu: »Schaut zum Himmel, wo Jesus neben dem einen wahren Gott auf euch wartet! Habt Mut und Vertrauen, und wir alle werden im Himmel vereint sein. Wenn nur einer von euch wankt, ist alles verloren! Lasst mich nicht im Stich!«

Nachdem die Mutter fort war, sprach der Magistrat begütigend auf die Kinder ein. Die beiden jüngsten weinten, bemühten sich jedoch, es zu verbergen, obwohl sie vor unterdrücktem Schluchzen bebten. Publius, der selbst zwei Söhne hatte, empfand Mitleid mit diesen unschuldigen Opfern des Wahns ihrer Mutter.

»Eure Mutter ist irregeleitet«, beschwor er die Jungen. »Ihr Verbrechen bedroht die Sicherheit und das Leben römischer Bürger. Ihr müsst ihrem Beispiel nicht folgen. Dieses Gericht erkennt die Aussage jedes Einzelnen von euch an und verspricht euch Milde. Ihr müsst nur den Worten eurer Mutter abschwören und euch bereit erklären, die Priester zum Tempel des Saturn zu begleiten. Dort werdet ihr ihm Wiedergutmachung leisten, weil ihr ihn erzürnt habt. Das wird dem Land den Frieden wiedergeben und die Seuche beseitigen, die eure Nachbarn das Leben gekostet hat.«

Er schaute die sieben Kinder an, die schweigend vor ihm standen – die jüngsten mit niedergeschlagenen Augen –, und stellte seine abschließende Frage den vier ältesten. »Wollt ihr denn nicht, dass das Leiden eurer Gemeinde ein Ende nimmt? Es liegt in eurer Hand. Eure Taten haben den Nachbarn Krankheit und Tod gebracht. Nun habt ihr die Gelegenheit zur Wiedergutmachung.«

Felicitas’ ältester Sohn Januarius antwortete für alle. Er war in Leib und Seele das Ebenbild seiner Mutter und sprach mit demselben Feuer wie sie. Mit fester Stimme bekräftigte er, lieber sterben zu wollen, als einen heidnischen Tempel zu betreten; eher würde er seine Brüder mit in den Himmel nehmen, als zuzulassen, dass sie von heidnischem Glauben beschmutzt würden. Januarius beendete seine Rede damit, dass er dem Magistraten auf die Schuhe spuckte.

Diese respektlose Tat ließ das Herz des Publius zu Stein erstarren, und so traf er die tödliche Entscheidung. Wenn Januarius so versessen darauf war, für seine Mutter und seinen ungeheuerlichen Gott zu sterben, sollte er die Gelegenheit bekommen. Vielleicht würde Felicitas ja widerrufen, wenn sie ihren Erstgeborenen eines grässlichen Todes sterben sah, und ihre anderen Söhne retten.

Ein solcher Ungehorsam gegenüber Rom und seinen Göttern durfte jedenfalls nicht ungestraft bleiben, besonders, da der Vorfall sich bei einem öffentlichen Tribunal zugetragen hatte. Ein blutiges Schauspiel als Warnung für andere Christen war berechtigt und diente dem Frieden und Wohlergehen Roms.

Januarius wurde erneut vor das Tribunal gezerrt und an eine Geißelsäule gefesselt. Seine Mutter und die drei nächstälteren Brüder mussten nahe der Säule verharren, damit sie bei jedem Peitschenhieb mit Januarius’ Blut bespritzt wurden. Die jüngeren Söhne, die Publius immer noch als Opfer ansah, wurden zwar in Gewahrsam gehalten, doch man ersparte es ihnen, das brutale Schauspiel miterleben zu müssen.

Der erste Auspeitscher war ein hünenhafter Mann, der die Geißel immer wieder mit aller Kraft auf den Rücken des Gefangenen niedersausen ließ. In kurzen Abständen befahlen Publius und die anderen Magistraten eine Pause und fragten den Verurteilten, ob er widerrufen und seine Strafe auf sich nehmen würde, um sein Leben zu retten. Dreimal spie Januarius ihnen ins Gesicht. Beim vierten Mal war er dem Tod bereits näher als dem Leben und konnte nicht mehr antworten. Daher richtete sich der letzte Aufruf der Richter an seine Mutter.

»Weib, dies ist dein ältestes Kind, dein Blut! Wie kannst du dieser Folter tatenlos zusehen, ohne zu widerrufen? Wenn du Buße tust, könnte er überleben, und du wirst deine anderen Kinder vor dem Tod bewahren.«

Felicitas hörte die Richter nicht einmal. Sie wandte sich an Januarius und sprach mit fester Stimme: »Mein Sohn, umarme deinen Vater von mir, denn er wartet am Himmelstor auf dich. Verschwende keinen Gedanken mehr an das irdische, sündhafte Leben. Gehe dorthin, wo Gott dich erwartet!«

Nur noch wenige Peitschenhiebe, und Januarius starb. Sein Blut sammelte sich in gerinnenden Lachen, während die Geißeln weitere Wunden in seinen zuckenden Leib rissen. Nachdem er für tot erklärt war, löste der Auspeitscher die Fesseln vom Leichnam, brachte ihn aber nicht fort, sondern zerrte ihn nur ein kleines Stück beiseite, sodass Felicitas und ihre drei Söhne ihn noch sehen konnten.

Das grausame Schauspiel wiederholte sich noch dreimal, denn Felicitas’ Söhne weigerten sich, das Urteil des Gerichts anzuerkennen. Mehrere Auspeitscher wurden benötigt, denn die körperliche Anstrengung war für einen einzelnen Mann zu groß, mochte er noch so kräftig sein. Bei Anbruch der Dämmerung hatte Felicitas mit ansehen müssen, wie vier ihrer Kinder zu Tode gegeißelt worden waren. Doch sie trauerte nicht; stattdessen hatte sie ihre Söhne ermutigt, den Tod willkommen zu heißen. Ihr grausamer Wille, nicht zu widerrufen, war ungebrochen. Im Gegenteil, sie schien mit jedem Kind, das sie verlor, an Kraft zu gewinnen, denn die schreckliche Art ihres Todes bestätigte Felicitas’ verqueren Glauben.

Magistrat Publius sah sich einer schrecklichen Zwangslage gegenüber. Ihm lag nichts daran, auch noch die drei jüngeren Söhne hinrichten zu lassen, waren sie doch unschuldige Opfer des Wahns ihrer Mutter. Andererseits drohte Felicitas den Kampf zu gewinnen. Sie hatte während der Geißelungen kein Anzeichen von Schwäche gezeigt. Sie hatte nicht geweint, war nicht einmal zusammengezuckt, und hatte das Gericht und die Priester nach dem Tod eines jeden Sohnes nur umso lauter verdammt. Dass sie wahnsinnig war, stand außer Frage. Keine Mutter, die ihre Sinne beisammen hatte, hätte ertragen, was Felicitas ertragen hatte. Selbst die Auspeitscher waren entsetzt über die Geißelungen, die sie im Namen des Saturn und um der Sicherheit Roms willen vollzogen hatten.

Doch wenn Publius den drei jüngsten Söhnen dieser Verrückten das Leben schenkte, würde er Schwäche zeigen. Und damit wäre der Beweis erbracht, dass Felicitas’ Wille und ihr Glaube stärker waren als der Roms und seiner Götter.

So kam es, dass der Imperator selbst, Antoninus Pius, in den Vorort gerufen wurde und im Blut und den Eingeweiden der älteren Söhne Felicitas’ stand. Die ganze Angelegenheit konnte sich zu einer Staatskrise ausweiten, und Publius wollte nicht das Blut der jüngeren Kinder an den Händen haben, wenn er damit gegen den Willen des Kaisers verstieß. Auch Antoninus Pius war ratlos, welcher Weg in diesem abscheulichen Fall einzuschlagen war. Er dachte an jenen berüchtigten Tag vor langer Zeit, als Pontius Pilatus die Hinrichtung Jesu angeordnet hatte, womit er den Märtyrer geschaffen hatte, auf dem dieser seltsame neue Kult beruhte. Pius wollte keine weiteren Märtyrer erschaffen, die Roms Macht noch mehr schwächten. Aber er wollte seine Hände auch nicht mit dem Blut kleiner Kinder besudeln. Was sollte er tun? Antoninus Pius war ratlos.

Doch Venus, die Göttin der Schönheit und Harmonie, war dem Imperator an diesem Abend wohlgesonnen, denn sie schickte ihm die Antwort in Gestalt der anmutigen Domina Petronella. Als sie um eine Audienz bat, stieß Pius zum ersten Mal an diesem Tag einen Seufzer der Erleichterung aus.

Domina Petronella musste ihr Anliegen vor dem Kaiser gar nicht erst verteidigen, obwohl sie damit gerechnet hatte. Erstaunt erkannte sie, dass Pius geneigt schien, ihrem Plan zuzustimmen. Petronella war zwar die Frau eines Senators, doch ihr Ruf als unbeugsame Christin hätte ihre Mission erschweren können. Andererseits hatte ihre Schönheit ihr die Herzen der römischen Aristokraten geöffnet, sogar das Herz des Kaisers, ein Liebhaber schöner Frauen. Für die Audienz hatte Petronella ein cremeweißes Kleid angelegt, das schlicht geschnitten, jedoch aus kostbarer orientalischer Seide war. Ihr Haar, von der Farbe brünierten Kupfers, war zu kunstvollen Zöpfen mit darin eingewebten Perlen geflochten. Um den Hals trug sie einen Anhänger mit einem großen Rubin, an dem drei tränenförmige Perlen hingen. Eine kleinere Brosche mit dem eingeätzten Symbol eines rubinäugigen Hahns schmückte ihre Schulter. Für Uneingeweihte mochte Petronellas Schmuck der eitle Putz einer reichen Dame sein, doch wer sie besser kannte, wusste, dass die kostbaren Steine Symbole ihrer angesehenen Familie waren. Rubine und Perlen deuteten auf die Abstammung von Petronellas Ahnherrin, die von ihren Anhängern »Königin der Barmherzigkeit« genannt wurde: Maria Magdalena. Der Hahn war das Symbol für die andere Blutlinie, der Petronella entstammte, die ihres Urururgroßvaters – kein Geringerer als Petrus, der erste Bischof von Rom. Traditionsgemäß war Petronella nach dem einzigen Kind des Petrus benannt worden, einer Tochter.

Der Familienlegende zufolge hatte diese Heilige aus dem ersten Jahrhundert Jeshua-David geheiratet, den jüngsten Sohn der Heiligen Familie, mit dem Maria Magdalena zum Zeitpunkt der Kreuzigung Jesu schwanger gewesen war. Nach den schrecklichen Ereignissen in Jerusalem war Magdalena in das sichere Alexandria gebracht worden, wo sie Jesu Sohn zur Welt brachte, ebenjenen Jeshua-David.

Der Überlieferung zufolge waren Jeshua-David und Petronella von dem Tag an, als sie einander kennenlernten, unzertrennlich. Sie heirateten, bekamen Kinder und hinterließen eine Nachkommenschaft barmherziger Christen, die den Weg der Liebe in Europa verbreiteten. Die Frauen dieses Geschlechts heirateten in mächtige römische Familien ein, um ihre Blutlinie zu schützen und den Rechten Weg zu wahren, denn dies war der Auftrag ihrer Familie, der ihr von Jesus selbst erteilt worden war.

Jesus hatte seinem Freund, dem Fischer Simon, den Namen Petrus gegeben, »Fels«. Auf diesem Fels errichtete Jesus das Fundament seiner Kirche. Zugleich war Petrus einer der Nachfolger Jesu, der dafür kämpfte, dass die Lehre des Rechten Weges nicht unterging. Dass Petrus ein Verräter und Schwächling gewesen sei, der Jesus verraten habe, war eine der Lügen, die die Schriftgelehrten erfanden, um Jesu Geschichte für ihre eigenen Ziele umzuformen. Petrus’ Nachfahren jedoch kannten die Wahrheit: Ihr Ahnherr hatte Jesus auf dessen eigenen Befehl verleugnet – »drei Mal vor dem dritten Hahnenschrei«. So wurde der Hahn zum Familienwappen der Nachkommen Petri. Die Worte, die Jesus in der schicksalhaften Nacht in Gethsemane zu Petrus gesprochen hatte, waren durch die Jahrhunderte überliefert: »Lebe, um weiter zu predigen«, hatte Jesus gesagt. »Der Weg der Liebe kann nur überleben, wenn du bleibst.«

Diese Worte Jesu waren zum Wahlspruch der Familie geworden:

Ich bleibe.

In den Tagen, als sich das Drama um Felicitas und ihre Söhne abspielte, war Domina Petronella der Fels der Christen, und als solcher musste sie mögliche Gefahren für den Weg der Liebe abwenden. Außerdem war sie die gegenwärtige Hüterin des Libro Rosso, das die Lehren und Prophezeiungen der Heiligen Familie bewahrte. Deshalb würde kein Christ ihr die Autorität in Glaubensfragen absprechen.

So hoffte Petronella, das Erbe ihrer Ahnen vor dem Kaiser angemessen vertreten zu können, um Felicitas und ihre noch lebenden Kinder zu retten. Doch so entschlossen Petronella war – sie wurde von Zweifeln geplagt, was den Ausgang dieses Unternehmens betraf, denn Felicitas’ Fanatismus war legendär. War eine Frau, die ihre eigenen Söhne hinrichten ließ, weil es für sie ein Akt des Glaubens war, überhaupt noch Vernunftgründen zugänglich?

Bevor Petronella um eine Audienz beim Kaiser bat, hatte sie göttlichen Beistand erfleht. Sie betete, Gott möge ihr Klarsicht schenken, um seinen Willen durch die Lehre der Liebe zu verstehen. Sie rief Maria Magdalena an, die Königin der Barmherzigkeit, und bat sie um Hilfe.

»Ich bleibe«, flüsterte sie schließlich den Wahlspruch ihrer Familie; dann wappnete sie sich für die unvermeidliche Auseinandersetzung.

»Guten Abend, Schwester.«

Durch Vermittlung des Kaisers war es Petronella gestattet worden, in einer der Amtsstuben des Magistrats mit Felicitas zu sprechen. Für eine Dame ihres Rangs wäre es undenkbar gewesen, in die Tiefen des feuchten, schmutzigen Kerkers hinunterzusteigen, in dem Felicitas gefangen gehalten wurde. Zwar hatte die Gefangene für den Besuch eine frische Tunika erhalten, doch ihre Haut war mit dem Blut ihrer Kinder befleckt. Petronella zuckte innerlich zusammen und betete, dass ihr das Grauen nicht im Gesicht abzulesen war.

Die beiden Frauen begrüßten einander in der Art der Christen: als Geschwister im Geiste. Nachdem der Förmlichkeit Genüge getan war, fragte Felicitas argwöhnisch: »Warum bist du gekommen?«

Petronellas Blick war fest; sanft klang ihre melodische Stimme. »Ich bin gekommen, um dir in deinem Schmerz mein Mitgefühl auszusprechen und zu prüfen, ob deine Gemeinde dir in deinem Kummer Beistand gewähren kann.«

Felicitas fragte erstaunt: »Schmerz? Welcher Schmerz?«

Petronella konnte nicht glauben, was sie da hörte. Offensichtlich hatte Felicitas nach den schrecklichen Geschehnissen völlig den Verstand verloren.

»Es geht um deine Söhne, Felicitas. Wir alle trauern mit dir.«

Felicitas blickte an Petronella vorbei, als wäre diese gar nicht da. Langsam schüttelte sie den Kopf und erwiderte wie in Trance: »Untröstlich? Wieso, Schwester? Für mich ist es ein Freudentag, denn meine tapferen Kinder haben ihren Gott nicht verleugnet. Jesus Christus wird meine Söhne im Himmel willkommen heißen und ihre Stärke und ihren Glauben preisen. Heute ist ein Tag der Freude! Ich kann nur hoffen, dass der Magistrat morgen Befehl erteilt, auch mich und meine drei Jüngsten zu holen, auf dass wir bei Sonnenuntergang alle im Himmel vereint sind.«

Petronella räusperte sich, um ein bisschen Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Die Sache war schlimmer, als sie erwartet hatte.

»Ich weiß, dass dein Glaube an ein Leben nach dem Tod stark ist, aber Jesus hat uns gelehrt, uns auch am irdischen Leben zu erfreuen, denn es ist Gottes Geschenk. Deshalb sollten deine drei Jüngsten verschont werden, damit sie in der Welt leben können, die Gott für sie erschaffen hat.«

»Weiche von mir, Satan!«, kreischte Felicitas plötzlich so laut und gehässig, dass Petronella zurückfuhr, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. »Du stehst da in deinem römischen Putz, verheiratet mit einem schmutzigen Heiden, und wagst es, über mich zu richten? Ich werde meinen Gott für niemanden verraten und meine Kinder auch nicht! Der Herr wird unseren Mut belohnen, indem er uns im Himmel wieder vereint.«

Petronella betete stumm zur heiligen Magdalena, dass sie ihr Geduld eingebe. Dann versuchte sie eine andere Taktik. »Felicitas«, sagte sie, »dein Tod und der Tod deiner drei Jüngsten wird die Welt kraftvoller Stimmen berauben, die Jesu Botschaft verbreiten könnten. Glaubst du, dass Gott das will? Deine Knaben werden aufwachsen in dem Wissen, dass ihre Brüder für ihren Glauben gestorben sind. Das wird ihre Entschlossenheit stärken, unserer Lehre zu folgen. Das ist es, was Gott von ihnen verlangt – und von dir selbst.«

»Du erdreistest dich, mir zu sagen, was Gott will? Ich höre ihn doch! Er sagt mir, dass meine Kinder Märtyrer sein sollen, nicht Helden! Er verlangt sie als Opfer zu seinem Ruhm, so wie Abraham einst Isaak opfern sollte!«

Petronella atmete tief durch. »Aber Gott hat Abraham davon abgehalten, den eigenen Sohn zu töten. Er wollte Abrahams Gehorsam prüfen, und als er sich dessen gewiss war, schickte er seinen Gnadenengel Zedekiel, um die Hand aufzuhalten, die das Opfermesser führte. Denn es ist nicht Gottes Wunsch, eines seiner Kinder leiden zu sehen. Und nun bittet Gott dich, Felicitas, der Gnadenengel zu sein, der die Hand des Scharfrichters aufhält. Ich bitte dich, töte nicht die Kinder, die dir geblieben sind. Damit wendest du dich vom Weg der Liebe ab. Wenn Jesus bei uns wäre, würde er nicht zulassen, dass deine Jüngsten ermordet werden.«

Felicitas wandte Petronella ihre fiebernden Augen zu. »Jesus erwartet mich am Himmelstor. Er wartet darauf, mich zu begrüßen und mich für meinen Mut zu belohnen. Du bist es, die er zurückweisen wird! Du, die einen Heiden geheiratet hat und ihren heidnischen Nachbarn auf Schritt und Tritt Zugeständnisse macht!«

»Ich liebe und ehre meine Nachbarn, wie Gottes Gebote es lehren. Das sind keine Zugeständnisse, Felicitas. Es ist der Weg der Liebe.«

»Es ist Schwäche!«

»Die Christen werden untergehen, wenn wir keine Toleranz üben. Der Rechte Weg wird nicht überdauern, wenn wir nicht lernen, in Frieden mit anderen zu leben und Geduld mit denen zu haben, die noch in Dunkelheit leben. Jesus selbst lehrt uns, denen zu vergeben, die noch nicht sehend sind.«

»Dann werde ich beten, dass er dir vergibt, Schwester!« Felicitas stieß das letzte Wort zischend hervor, um deutlich zu machen, dass sie Petronella nicht mehr als Schwester im Glauben betrachtete. »Ich bete, dass Gott dir deine Schwäche vergibt und deine bösen Absichten, die dich heute Nacht zu mir führten. Nur ein Teufel würde versuchen, mich daran zu hindern, das letzte Opfer zum höchsten Ruhm Gottes zu bringen!«

Petronella gab die Hoffnung auf. Felicitas war bereits zu sehr in ihrem Fieberwahn von Blut und Opfern gefangen, um auf die Stimme der Vernunft zu hören. Wie konnte es auch anders sein, nachdem sie dieser Wahnvorstellung binnen eines Tages vier ihrer Kinder geopfert hatte?

Petronella erhob sich. Als sie zur Tür ging, sagte sie leise: »Ich werde für uns alle beten, Felicitas. Und für jeden, der an den Weg der Liebe glaubt.«

Der nächste Morgen dämmerte trostlos herauf. Dunst verschleierte die Sonne. Die Priester des Saturn hielten dies für ein böses Vorzeichen – und prompt trafen Nachrichten ein, dass die Krankheit sich während der Nacht weiter verbreitet und fünf neue Opfer gefordert habe, darunter zwei Kinder von Tempelpriestern.

So wurde der Kaiser bereits zu früher Stunde von einer Abordnung zorniger Priester aufgesucht. Sie waren überzeugt, dass Felicitas durch ihre Weigerung, die Götter Roms anzuerkennen, eine Verschlimmerung der Seuche heraufbeschworen habe. Deshalb müsse sie endlich zur Einsicht gezwungen werden. Die Priester forderten, ihre überlebenden Kinder vor Gericht zu stellen und einem nach dem anderen die Hinrichtung anzudrohen.

Je weiter der Tag voranschritt, desto größer wurde der Druck auf den Kaiser. Er kam aus vielen Teilen des Reichs, denn der Mythos von Felicitas und ihrer Schreckensherrschaft zog immer weitere Kreise. Schließlich beugte der Kaiser sich dem Zorn der Menge und berief erneut das Gericht ein.

So standen Felicitas und ihre letzten drei Söhne bald darauf wieder vor dem Magistraten. Felicitas war nun vollends wahnsinnig geworden, um den Verstand gebracht von ihren fiebrigen Fantasien, die sich aus dem Blut ihrer Söhne speisten. Die drei Knaben waren vor Angst wie erstarrt. Der jüngste weinte herzzerreißend; seine blonden Locken klebten an den tränennassen Wangen. Nacheinander wurden die Knaben vor den Richter gerufen. Publius redete mit Engelszungen auf sie ein, ihrer Mutter den Rücken zu kehren und den Priestern in den Tempel zu folgen. Doch Felicitas rief ihnen mit der schrillen, heulenden Stimme einer Verrückten zu: »Habt keine Angst, Kinder. Euer Vater und eure Brüder erwarten euch im Himmel.«

Und so weigerten sich die Jungen, das rettende Angebot des Publius anzunehmen. Es war, als stünden sie unter dem hypnotischen Bann ihrer Mutter. Als die Jungen einer nach dem anderen zum Richtblock geführt wurden, fragten die Richter Felicitas jedes Mal, ob sie widerrufen und das Kind retten würde, doch die Antwort war stets ein hässliches, dämonisches Lachen.

Binnen einer Stunde verloren die drei Knaben unter dem schärfsten Schwert des Henkers den Kopf. Der Scharfrichter schlug rasch zu und zielte genau, damit keiner der Jungen leiden musste, denn der Kaiser hatte Publius in den Palast bestellt und ihm in aller Verschwiegenheit befohlen, dass die Kinder keines schmerzhaften Todes sterben durften. Wenn sie schon ihr Leben lassen mussten, dann ohne Qual. Ein solches Vermächtnis wollte er der Nachwelt nicht hinterlassen.

Doch als die Reihe an die Mutter kam, verfuhr der Henker nicht so milde: Diesmal benutzte er die Axt, und es brauchte drei Hiebe, um Felicitas den Kopf abzutrennen.

Der Kaiser floh noch in derselben Nacht aus dieser von den Göttern verlassenen Vorstadt und kehrte nie wieder dorthin zurück. Felicitas’ Schreckensherrschaft war zu Ende. Doch Antoninus Pius war überzeugt, dass er bis ans Ende seiner Tage von ihrem wahnsinnigen Lachen und dem grässlichen Bild verfolgt würde, wie der letzte goldhaarige Knabe auf seinen Befehl hin auf dem Richtblock starb.

Die erschöpfte Domina Petronella rief an diesem Abend ihre engsten Mitbrüder zusammen, um von den schrecklichen Geschehnissen zu berichten. Sie brauchte einen Boten, der die Nachricht nach Kalabrien brachte. Dort lebte der Meister des Ordens vom Heiligen Grab, dessen Rat sie nun brauchten, um dem Sturm widerstehen zu können, der bald gegen die Christen Roms losbrechen würde.

Petronella erklärte den Versammelten, sie befürchte, Felicitas’ Schreckensherrschaft sei nicht zu Ende, sondern im Gegenteil erst im Entstehen. Dies bedeute höchste Gefahr für die Christen im ganzen Römischen Reich, denn wieder müssten sie grausame Verfolgungen fürchten. Petronella ahnte, dass durch die Geschehnisse Kräfte entfesselt worden waren, die eine Verzerrung der Lehre Gottes bewirkten, und dass diese Kräfte an Einfluss gewinnen würden. Es war eine Schreckensvision, die ihr Angst einjagte.

»Ich habe Angst«, sagte Petronella zu den Versammelten, »dass die Frau, die wir Schwester nannten, in Wahrheit unsere schlimmste Feindin ist. Sie hat mit ihren Taten die Macht des Bösen entfesselt. Mit dem Blut ihrer Kinder wird man die wahre Lehre unseres Herrn neu schreiben. Doch Worte, die mit Blut geschrieben werden, können nur von einem finsteren Ort kommen. Die Lehren des Weges der Liebe werden im Blut der Unschuldigen ertränkt.«

Petronella schauderte, als sie diese Worte sprach, die ganz von selbst von jenem geheimen Ort in ihrem Inneren emporstiegen, an dem die Wahrheit der Zukunft gehütet wurde.

In einer Schreckensnacht wie dieser war Petronellas Sehergabe kein Geschenk, sondern ein Fluch.

ERSTER TEIL

Die Zeit kehrt wieder

Es gibt eine Form der Vereinigung,

so großartig und wahrhaftig,

dass niemand es in Worte kleiden kann,

und die Kraft ihrer göttlichen Bestimmung

ist stärker als jede Macht auf Erden.

Wer in dieser Vereinigung aufgeht,

wird nie mehr verloren umherirren,

sondern Teil einer göttlichen Ganzheit sein,

in der Geist und Körper keine Grenzen kennen.

Wer im Schoße dieser Gemeinschaft lebt

und um die Freude weiß, ihr anzugehören,

wird Bruder und Schwester allzeit erkennen.

Aus dem Buch der Liebe, wie es im Libro Rosso bewahrt worden ist

Ich hatte das Glück, unter einigen der größten Menschen meiner Zeit zu leben. Ich kannte den fantasievollsten Dichter, den begabtesten Maler, die schönste aller Frauen und den prächtigsten aller Männer. Jeder von ihnen hat mein Leben geprägt, und in jedem Bild, das ich male, lebt ein Teil ihrer Seele fort.

Ich habe versucht, jedem meiner Werke Gefühl und Gehalt einzuhauchen, und ich hoffe, nicht nur als Maler, sondern auch als Dichter in Erinnerung zu bleiben. Lange Zeit hat mir der Gedanke zu schaffen gemacht, ich könne gegen die Gesetze der Tradition und Moral verstoßen, denen ein Künstler sich stillschweigend unterwirft, indem ich jene Symbole offenbare, die in meinen Werken verborgen sind, und jene Schichten offenlege, die ihr Fundament bilden. Doch Maestro Ficino hat Beweise entdeckt – so alt wie das alte Ägypten –, dass es lange vor meiner Zeit in geheimen Tagebüchern verborgene Zeichen von Künstlern gegeben hat und dass ich insofern behaupten kann, Teil einer zeitlosen Tradition zu sein.

Da ich Mitbruder im Orden vom Heiligen Grab bin, sind meine Bilder von unserer herrlichen göttlichen Lehre beseelt, die in jeder Gestalt lebt, die ich male, und mehr noch: Sie durchdringt die Farben, die Leinwand, alles.

Das Herz und die Seele meiner Kunst, ob sie nun einem gleichgültigen Mäzen oder einem weltlichen Zweck gewidmet ist, dienen letztlich nur dem Zweck, die Lehre des Weges der Liebe zu verbreiten.

Auf den folgenden Seiten werde ich die Geheimnisse meiner Arbeit offenlegen, damit sie eines Tages als Lehrbuch dienen kann für alle, die Augen haben zu sehen.

Ich bin Maler, Pilger, Schriftgelehrter. Vor allem aber bin ich ein treuer Diener meines Herrn und meiner Herrin und des Weges der Liebe.

Unser Meister zitiert gern die Worte des ersten bedeutenden christlichen Künstlers, Nikodemus, der sagte: »Kunst wird die Welt erlösen.« Ich bete, dass er recht hat, und ich habe mich bemüht, meinen Beitrag zu unserem Unternehmen zu leisten, und sei er noch so klein.

Euer ergebener

Alessandro di Filipepi, genannt »Botticelli«

Aus den geheimen Memoiren des Sandro Botticelli

KAPITEL EINS

New York City

Gegenwart

Maureen Paschal hatte ihre Zeit in New York sorgfältig geplant. Hektische Tage lagen hinter ihr, denn bald sollte ihr neues Buch erscheinen. Nun wollte sie sich mit ein paar Mußestunden im Metropolitan Museum of Art belohnen. Kunst war, gleich nach der Geschichte, ihre zweite Leidenschaft; deshalb war beides in ihren Romanen stark vertreten. Die Aussicht, ein paar Stunden in einem der größten Museen der Welt zu verbringen, war Balsam für ihre Seele.

Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen Anfang März, wie geschaffen für einen ausgedehnten Spaziergang am Central Park entlang zum Met. Maureen liebte New York. Sie beschloss, den Tag bis zur Neige auszukosten und sich trotz ihres engen Zeitplans nicht zu hetzen. Von der Fifth Avenue machte sie einen Abstecher in den Central Park. Am Nordende des Teichs mit den Modell-Segelbooten stand die große Bronzeskulptur der Alice im Wunderland. Ein wehmütiger Zauber ging davon aus und berührte das Kind in Maureen: Eine überlebensgroße Alice feierte ihre Nichtgeburtstags-Party, umgeben von ihren Freunden aus dem Wunderland. Zitate aus dem Klassiker, der eines von Maureens liebsten Kinderbüchern gewesen war, zierten den Sockel. Maureen schritt um das Standbild herum und las die Zitate aus den Alice-Büchern und dem Gedicht »Der Zipferlake«. Doch ihre Lieblingsverse aus »Alice hinter den Spiegeln«, die zu Hause über ihrem Computer hingen, waren nicht dabei.

Alice lachte. »Ich brauche es erst gar nicht zu versuchen«, sagte sie. »Unmögliches kann man nicht glauben.«

»Du wirst wohl noch nicht die rechte Übung darin haben«, sagte die Königin. »In deinem Alter habe ich täglich eine halbe Stunde darauf verwendet. Bisweilen habe ich schon vor dem Frühstück mindestens sechs unmögliche Dinge geglaubt.«

Wie die Weiße Königin hatte auch Maureen gelernt, schon vor dem Frühstück mindestens sechs unmögliche Dinge zu glauben – und oft noch mehr, seit Destino in ihr Leben getreten war. Als sie nun nachdenklich vor dem Alice-Denkmal stand, musste sie unvermittelt lachen: Ihr eigenes Leben trat allmählich in Konkurrenz zu Alice’ fantastischsten Abenteuern. Hier stand sie, eine gebildete Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf dem Sprung zu einer Reise nach Italien – um bei einem Lehrer namens Destino zu lernen, der von sich behauptete, unsterblich zu sein. Doch Maureen akzeptierte diesen außergewöhnlichen Mann beinahe schon als natürlichen Teil der fremdartigen Landschaft, zu der ihr Leben geworden war.

Maureen gestattete sich noch ein paar kostbare Minuten in Betrachtung der Skulptur; dann ging sie zur Fifth Avenue zurück und eilte zum Eingang des Metropolitan Museum. Da ihre Zeit begrenzt war, wollte sie sich auf die Mittelalter-Ausstellung konzentrieren. Die Recherchen über Mathilde, Markgräfin von Tuszien, hatten in Maureen wieder Begeisterung für diese Epoche geweckt. Zudem hatten ausgedehnte Reisen nach Frankreich bewirkt, dass sie die gotische Kunst und Architektur verehrte.

Es war eine kluge Entscheidung. Maureen ließ sich Zeit, jedem Stück gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Besonders beeindruckten sie die filigranen Holzskulpturen aus Deutschland. Einige dieser Schätze erinnerten sie an die Eindrücke während ihrer ersten Frankreich-Reise, die ihr Leben und ihr Schicksal für immer verändert hatte. Beinahe andächtig nahm sie die Schönheit in sich auf.

Als Maureen den zweiten Saal betrat, der von einem großen gotischen Lettner beherrscht wurde, erregte ein Objekt am Ende des Saals ihre Aufmerksamkeit. Es war ein Gemälde inmitten der vielen Skulpturen. Als Maureen näher trat, verschlug es ihr den Atem. Gebannt stand sie vor dem schönsten Bildnis der Maria Magdalena, das sie je gesehen hatte.

Notre Dame. Unsere Liebe Frau. Meine Herrin. Maureen würde ihr nicht entkommen. Nie mehr.

Tränen stiegen ihr in die Augen, wie so oft, wenn sie ein Bildnis dieser außergewöhnlichen Frau sah, die ihr Muse und Meisterin geworden war. Als Maureen der Magdalena Auge in Auge gegenüberstand, erkannte sie rasch, dass es sich hier nicht um eine der üblichen religiösen Darstellungen handelte: Diese Magdalena saß auf einem Thron, schön wie eine Göttin in tiefrotem Gewand und mit langem, rotgoldenem Haar. In der einen Hand hielt sie den Alabasterkrug, aus dem sie Jesus gesalbt hatte; in der anderen Hand, die in ihrem Schoß lag, hielt sie ein Kruzifix. Engel schwebten um sie her und bliesen die Posaune zum Lob ihrer Herrlichkeit.

Maureen trat näher an das Gemälde heran und ging ein wenig in die Knie, um das untere Drittel genauer zu betrachten. Zu Magdalenas Füßen knieten vier Männer in makellosen weißen Roben. Ihre Köpfe waren vollständig von Tüchern verhüllt; die Augen ließen sich hinter dunklen Schlitzen nur erahnen. Etwas Kultartiges, Eigentümliches lag in ihrer Erscheinung. Die knienden Gestalten wirkten seltsam, wenn nicht gar finster.

Maureen spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Ihre Schläfen pochten. So erging es ihr immer, wenn irgendetwas sich in ihrem Unterbewusstsein rührte … etwas, was nicht übersehen werden konnte und durfte. Dieses Bildnis war wichtig. Ungeheuer wichtig. Maureen fragte sich, ob sie im Zuge ihrer Nachforschungen darauf gestoßen war, aber es wollte ihr nichts einfallen. Sie hatte Dutzende von Magdalena-Darstellungen in den großen Museen der Welt studiert, als sie ihre Romane schrieb. Es war völlig unmöglich, dass es ein solches Gemälde im Met gab, ohne dass sie davon gehört hätte.

Maureen beugte sich vor, um die Bildunterschrift zu lesen. »Spinello di Luca Spinelli: Prozessionsbanner der Bruderschaft der heiligen Maria Magdalena.«

Die Beschreibung des Museums, die neben dem Werk hing, lautete:

Im Mittelalter traten Laien häufig religiösen Bruderschaften bei, um die Andacht zu pflegen und mildtätige Werke zu tun. Indem sie ihre Köpfe verhüllten, blieben solche Werke anonym, getreu nach Christi Mahnung, gute Werke nicht um des eitlen Lobes willen zu tun. Das ungewöhnliche Banner wurde um das Jahr 1400 von der Bruderschaft der heiligen Maria Magdalena in Borgo San Sepolcro in Auftrag gegeben. Es wurde bei Prozessionen getragen und zeigt die Mitglieder der Bruderschaft im Gebet vor ihrer Schutzheiligen, die von einem Engelschor gepriesen wird. Magdalenas Alabasterkrug ziert die Ärmel der Brüder. Auf der Rückseite des Banners wird die Geißelung Christi gezeigt: ein Hinweis auf die Bußpraktiken der Bruderschaft.

Die nur leicht skizzierten Züge Christi sind jüngeren Datums. Das Gesicht Jesu wurde vom Original entfernt und befindet sich heute im Campo Santo Teutonico in Rom. Ansonsten ist das Banner bemerkenswert gut erhalten.

Irgendetwas stimmte mit dieser Beschreibung nicht; Maureen konnte es spüren. Das alles klang zu einfach, zu glatt für ein so rätselhaftes Gemälde. Die Männer mit den verhüllten Köpfen, die zu Füßen ihrer Schutzheiligen knieten, wahrten nicht nur ihre Anonymität, sie waren auch unheimlich, ja Furcht einflößend. Der Umstand, dass ihre Köpfe verhüllt waren, kam Maureen wie eine Aussage vor: als wäre es überlebenswichtig, dass ihre Identität nicht bekannt wurde. Als sie noch genauer hinschaute, entdeckte sie Schlitze in den Rückenteilen der weißen Roben. Diese Männer waren Büßer. Die Schlitze erlaubten es ihnen, sich zu geißeln und sich mit dem eigenen Blut von ihren Sünden reinzuwaschen.

Die mittelalterliche Praxis der Selbstgeißelung hatte Maureen immer schon abgestoßen. Es konnte nicht Gottes Wille sein, dass der Mensch sich zu seinem Ruhm geißelte. Und gerade Maria Magdalena, der Königin der Barmherzigkeit und Lehrmeisterin der Liebe und Vergebung, hätten solche Praktiken bestimmt nicht gefallen.

Noch etwas war seltsam: Die Komposition des Gemäldes war eine Provokation, denn es ahmte berühmte Dreifaltigkeitsbilder der Frührenaissance nach. Auf diesen Gemälden saß Gottvater auf dem Thron und hielt als Abbild seines Sohnes ein Kruzifix auf dem Schoß; darüber schwebte der Heilige Geist in Gestalt einer Taube. Auf diesem Banner jedoch war Maria Magdalena die zentrale Gestalt, die das Kruzifix mit Jesus im Schoß hielt und auf diese Weise ungeheure Macht erhielt. Hier schien Magdalena selbst die Königin des Himmels zu sein, die von den Verhüllten angebetet wurde – und das würde selbst in der heutigen Zeit noch als Ketzerei betrachtet. Im Mittelalter hätte die Anbetung der Magdalena den sicheren Tod bedeutet.

Und dann dieser seltsame Satz in der Bildbeschreibung: »Die nur leicht skizzierten Züge Christi sind jüngeren Datums. Das Gesicht Jesu wurde vom Original entfernt und befindet sich heute im Campo Santo Teutonico in Rom.« Spuren von Zerstörung waren am Banner zu erkennen: Ein Flicken saß auf dem Schnitt, wo auf dem Kruzifix das Gesicht Jesu gewesen war – angeblich das Original, das herausgeschnitten und nach Rom gebracht worden war. Aber warum? Warum sollte jemand ein Interesse daran haben, das erlesen schöne Gemälde eines italienischen Meisters zu entstellen?

Bei ihrer Suche nach der Wahrheit über geheime Aspekte des Christentums hatte Maureen vor allem eines gelernt: Niemals etwas für bare Münze zu nehmen und nie der ersten und offensichtlichen Erklärung zu trauen, besonders nicht in der Symbolwelt der Kunst. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, schaltete auf Kameramodus, fotografierte das Banner Stück für Stück und speicherte es für spätere Nachforschungen.

Die Digitalanzeige auf dem Display ermahnte Maureen, dass ihre Besuchszeit sich dem Ende näherte. Sie steckte das Handy zurück in die Tasche und blieb noch einen Augenblick in stummer Bewunderung vor dem Gemälde stehen. Fragen, die sie sich schon viele Male bei der Betrachtung religiöser Kunst gestellt hatte, schossen ihr erneut durch den Kopf.

Welche Geschichten du mir wohl erzählen könntest? Wer hat dich so gemalt und warum? Was hast du den Trägern deines Banners wirklich bedeutet? Und schließlich die Frage, die Maureen an jedem Tag ihres Lebens verfolgte: Was willst du jetzt von mir?

Doch heute schwieg Maria Magdalena. Ruhig und in sich ruhend schaute sie Maureen mit einem so heiteren und doch rätselhaften Ausdruck an, dass Mona Lisa vor Neid erblasst wäre.

Noch einmal las Maureen die Beschreibung – und diesmal schnappte sie nach Luft. Erst jetzt, beim zweiten Lesen fiel es ihr auf: »… wurde von der Bruderschaft der heiligen Maria Magdalena in Borgo San Sepolcro in Auftrag gegeben …«

Borgo San Sepolcro.

Die Übersetzung aus dem Italienischen war simpel: Ort des Heiligen Grabes.

Maureen blickte auf den antiken Ring an ihrem Finger. Der Ring stammte aus Jerusalem und trug das Siegel der Maria Magdalena. Es war das Symbol des Ordens vom Heiligen Grab, dem die Welt Mathilde von Tuszien verdankte; der Orden, in dem die reinste Lehre Jesu und das Buch der Liebe gehütet wurden; der Orden, dessen Meister Destino war und in den sie, Maureen, in Kürze eingewiesen werden sollte.

Konnte es sein, dass eine ganze Stadt in Italien dem Orden des Heiligen Grabes geweiht war?

Maureen hatte ihre Recherchen und ihre schriftstellerische Arbeit schon oft mit einer Collage verglichen. Viele kleine Beweisstücke ergaben einzeln betrachtet zunächst wenig Sinn. Erst wenn man sie zusammenfügte und darüber nachdachte, wie sie einander ergänzen könnten, schuf man etwas. Und hier schien ein erstaunlicher Stein zu dem Mosaik zu sein, das Maureen zusammensetzte.

Sie warf einen Blick auf die anderen Besucher im Saal. Nur wenige schlenderten bis zu dessen Ende, und wenn, gönnten sie dem Prozessionsbanner nur einen flüchtigen Blick und kehrten gleich wieder um. Wie hätten sie auch wissen können, dass dieses Banner möglicherweise ein bedeutender Schlüssel zur Lösung eines der größten Rätsel der Geschichte war?

Maureens Gedanken überschlugen sich. Wo lag Borgo San Sepolcro überhaupt? Und welche Verbindungen mochte es sonst noch geben zwischen dem Schöpfer dieses Banners, Spinelli, und den Häretikern im Italien des Mittelalters?

Maureen beschloss, zuerst selbst nachzuforschen und dann Experten in Frankreich und Italien anzurufen, um deren Urteil zu hören. Unter diesen Experten stand Berenger Sinclair an erster Stelle.

Sie hatten sich seit vielen Wochen nicht gesehen, sodass der Gedanke an Berenger Maureen mit Wärme und Verlangen erfüllte. Sie vermisste ihn sehr. Sie schloss die Augen und schwelgte kurz in der Erinnerung an ihr Zusammensein. Dann schüttelte sie diese Gedanken ab. Neue Entdeckungen warteten, und diese würden umso atemberaubender sein, wenn Maureen sie mit Berenger teilen konnte.

Sie ging zum Eingang des Met, wo sie am Souvenir-Shop haltmachte, um nach einer Postkarte mit dem Magdalenenbanner zu suchen, doch das Werk wurde nicht einmal im Museumsführer erwähnt. Nachdem Maureen in dem umfangreichen Sortiment an Kunstbüchern geblättert hatte, entdeckte sie eine kurze Erwähnung des Künstlers, der hier Spinello Aretino genannt wurde. Zur Erklärung hieß es, »Aretino« bedeute, dass er aus Arezzo in der Toskana stamme.

Die Toskana. Wenn es einen Landstrich gab, in dem im Frühmittelalter die Ketzerei geblüht hatte, war es die Toskana. Maureen lächelte. Es war kein Zufall, dass sie im Besitz eines Flugtickets nach Florenz war und schon kommende Woche ins Herz der Häresie reisen würde.

Nichts.

Im Internet gab es keine Erwähnung des seltenen Magdalenenbanners, das im Metropolitan Museum ausgestellt war. Selbst auf der museumseigenen Website war es nur schwer zu finden, und dort stieß Maureen auf die gleiche Beschreibung, die sie bereits im Museum gelesen hatte.

Zwei Stunden Internetsuche auf Seiten, die sich mit der Magdalenendarstellung in der Kunst beschäftigten, gaben ebenfalls nicht viel her. So viel Maureen auch googelte, über das Banner war kaum etwas zu finden. Also versuchte sie es auf einem anderen Weg und suchte gezielt nach Stichworten: nach dem Künstler und den erwähnten Orten. Sie fand allgemeine Informationen über Aretino und Borgo San Sepolcro, die sich später als hilfreich erweisen mochten. Maureen notierte:

SPINELLO ARETINO: Taufname Luca (Lukas), nach seinem Vater, ebenfalls Maler, der nach dem heiligen Lukas benannt worden war, dem Namenspatron der Malergilde. Der Name »Aretino« bedeutet »aus Arezzo« und bezieht sich auf eine Provinzhauptstadt in der Toskana. Spinello war hauptsächlich Freskenmaler und arbeitete in Florenz unter anderem in der Kirche Santa Trinitá.

Maureen hielt inne. Spinello hatte also in der Santa Trinitá gemalt, einer Kirche, die eng mit dem Orden vom Heiligen Grab und einst auch mit Mathilde von Tuszien verbunden gewesen war. Ein Zeichen, dass sie sich auf der richtigen Spur befand. Ihr Mosaik nahm allmählich Gestalt an. Sie las weiter.

BORGO SAN(TO) SEPOLCRO: Heute Sansepolcro. Im Jahre 1000 von Pilgern gegründet, Heimkehrern aus dem Heiligen Land, die eine besondere Verehrung für das Heilige Grab hegten und wertvolle Reliquien mitbrachten. Einer dieser Pilger war unter dem Namen Santo Arcano bekannt. San Sepolcro liegt in der Provinz Arezzo und ist der Geburtsort des bedeutenden Freskenmalers Piero della Francesca.

Maureen jubelte innerlich vor Freude über diese Entdeckung. Also hatte sie recht gehabt! Eine ganze Stadt in der Toskana hatte sich dem Dienst am Heiligen Grab verschrieben. Einen Satz fand sie besonders aufregend:

Einer dieser Pilger war unter dem Namen Santo Arcano bekannt.

Santo Arcano. Auf den ersten Blick schien die Kirche hier von einem Heiligen namens »Arcano« zu sprechen, doch Maureen besaß genug Kenntnisse des Lateinischen, um zwischen den Zeilen lesen zu können. »Santo Arcano« war nicht irgendein obskurer toskanischer Heiliger, sondern bedeutete schlicht »heiliges Geheimnis«. Wenn Maureen alles auf ihre Weise übersetzte und interpretierte, besagte der Abschnitt:

Diese Stadt, die nach dem Heiligen Grab benannt ist, wurde auf dem Heiligen Geheimnis aufgebaut.

Allmählich kam Schwung in ihre Nachforschungen.

Maureen dachte einen Moment über ihre Entdeckung nach und machte sich weitere Notizen. Das Werk Piero della Francescas war ihr vertraut. Seine Magdalena, die er für den Dom in Arezzo gemalt hatte, zählte zu ihren Lieblingsdarstellungen der Heiligen. Es war ein hoheitsvolles Bildnis, das Magdalenas Kraft ausstrahlte. Piero hatte sie keineswegs als Sünderin dargestellt, denn er hatte nie an die Legende der bußfertigen einstigen Hure geglaubt – eine Propaganda aus dem sechsten Jahrhundert. Auf seinem Fresko war sie eine Königin. Maureen hatte eine gerahmte Reproduktion des Gemäldes in ihrem Arbeitszimmer hängen. Sie hatte Piero della Francesca in den letzten Jahren gründlich studiert und fand ihn faszinierend. Seine Fresken in Arezzo waren anrührend menschlich, voller Leben und voller Geschichten. Beim Betrachten seines Werks spürte Maureen eine verwandte Seele: Auch Piero war ein Geschichtenerzähler, nur dass er diese Geschichten auf seinen Gemälden erzählte. Er hatte »Die Legende des Wahren Kreuzes« detailreich und aufwendig dargestellt, und er hatte der »Begegnung zwischen Salomon und der Königin von Saba« tiefe Frömmigkeit eingehaucht. Seine Kunst versinnbildlichte die höchsten Lehren des Ordens vom Heiligen Grab.

Etwas über den Orden zu lesen erinnerte Maureen daran, dass sie Vorbereitungen für ihre Rückkehr nach Europa treffen musste. In Paris war sie mit ihrem französischen Verleger verabredet, denn der Erscheinungstermin für die französische Ausgabe stand bevor. Maureen freute sich stets auf Paris, das sie sehr liebte. Außerdem hatte ihre beste Freundin, Tamara Wisdom, eine Filmemacherin, sie schon lange bekniet, sich endlich wieder blicken zu lassen. Auch Peter Healy, Maureens Cousin und geistlicher Berater, lebte in Paris. Einst war er Geistlicher gewesen, doch nun mied er den Vatikan und würde vielleicht nie mehr dorthin zurückkehren. Er bezeichnete sich auch nicht mehr als Mann Gottes und trug den Priesterkragen nicht mehr.

Maureen brannte darauf, von den neuesten Entwicklungen zu hören. Sie beschloss, nach Paris zu fliegen, ihre Termine abzuhaken und dann mit Tammy in den Südwesten des Landes zu fahren, wo ihre beiden Liebsten sie in Berengers Schloss, dem Château des Pommes Bleues, erwarteten. Tammy war inzwischen mit Roland Gelis verlobt, einem sanften Hünen aus dem Languedoc und Berengers bester Freund seit Kindertagen. Sie lebten im Tal der Aude, in der Nähe von Arques, einem magischen Teil des Languedoc. Berenger, Erbe eines schottischen Ölimperiums, hatte das Château von seinem Großvater geerbt. Es war ausschließlich zu dem Zweck erbaut worden, Sitz einer Vereinigung zum Schutz gefährlicher häretischer Geheimnisse zu sein. Diese Geheimnisse hatte Berenger zusammen mit seinem französischen Schloss geerbt.

Es war schon zu spät, um mit Berenger zu telefonieren, aber morgen früh, wenn in Frankreich Mittagszeit war, würde Maureen ihn anrufen und bitten, sie nach Florenz zu begleiten. Destino hatte allen geschrieben, dass er Chartres verlassen und nach Florenz zurückkehren wolle, und zwar »ein für alle Mal«. Das klang endgültig, beinahe so, als bereite er sich darauf vor, in Italien zu sterben. Der Brief hatte Maureen sehr aufgewühlt. Destino war – buchstäblich – uralt, und es war unausweichlich, dass er bald sterben würde. Doch nun, da Maureen wusste, wer dieser Mann wirklich war und welche Weisheit er die Welt lehren konnte, war der Gedanke an seinen Tod kaum zu ertragen.

Destino schrieb, dass er Maureen binnen kurzer Zeit vieles lehren müsse; deshalb sei es wichtig, dass sie sich vor ihrer Ankunft in Florenz mit dem Libro Rosso vertraut mache. Ihm bleibe keine Zeit mehr, ihr und den anderen die Grundlagen des Ordensdogmas beizubringen. Stattdessen müssten sie besondere Aufgaben erfüllen – als Vorbereitung auf die Mission, auf die sie sich begeben würden. Auf »die Mission« legte Destino besonderen Nachdruck.

Also nahm Maureen sich ihr Exemplar des Libro Rosso vor. Destino hatte allen eine Übersetzung dieses Buches geschenkt, und derzeit studierten Maureen, Berenger, Tammy, Roland und Peter es gleichzeitig. In diesem heiligen Roten Buch waren die tiefsten Geheimnisse der Christenheit aufgezeichnet.

Maureen hatte das Libro Rosso als Grundlage für ihren Roman Die Zeit kehrt wieder: Die Legende vom Buch der Liebe benutzt, ein Roman über jene tapferen Menschen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um die kostbaren Lehren dieses Buches zweitausend Jahre lang zu bewahren. Doch nun war es an der Zeit, seine Glaubenssätze erneut zu studieren und einige Abschnitte auswendig zu lernen. Es war keine Mühe, im Gegenteil: Im Libro Rosso standen die schönsten Worte, die Maureen je gelesen hatte.

Sie nahm das Buch mit ins Bett. Ein stets wiederkehrendes Element der Lehre war, dass die Liebe ein Geschenk Gottes an uns Menschen sei. Doch so einfach diese Vorstellung auch war, die Ketzerei begann bereits hier. Denn im Buch der Liebe war Gott kein Patriarch, nicht bloß Unser Vater, sondern Unser Vater in vollkommener Einheit mit Unserer Mutter. Auf den ersten Seiten des Libro Rosso stand Maureens Lieblingspassage:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Doch Gott war kein einzelnes Wesen und herrschte nicht allein über das Universum, sondern mit seiner Gefährtin, die seine Geliebte war.

Und so sagt Gott im Ersten Buch Mose, das Genesis genannt wird: »Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei …« Dabei spricht er mit seiner anderen Hälfte, seinem Weib. Denn die Schöpfung ist ein Wunder, das nur perfekt gelingt, wenn das männliche und weibliche Prinzip sich vereinen. Und der Herr, unser Gott, sprach: »Siehe, der Mensch ist Teil von uns geworden.«

Und im Ersten Buch Mose steht: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde … und schuf ihn als Mann und Weib.«

Wie kann es da sein, dass Gott das Weib nach seinem eigenen Bilde erschaffen hat, wenn er kein weibliches Bild hatte? Das aber tat er, und das Weib wurde zuerst Athiret genannt. Später war Athiret den Hebräern als Ashera bekannt, als Göttliche Mutter, und den Herrn nannten sie El, den Himmlischen Vater.

Und so geschah es, dass es El und Ashera danach verlangte, ihrer heiligen Liebe einen körperlichen Ausdruck zu verleihen und diesen Segen mit den Kindern zu teilen, die sie hervorzubringen gedachten. Jede Seele, die sie erschufen, bekam einen Zwilling, entsprungen derselben Essenz. Im Buch Genesis wird dies erzählt als Adams Zwilling, ein Weib, das aus seiner Rippe erschaffen wird, aus seinem Stoff also, denn sie ist Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein, Geist von seinem Geist.

Dann sagte Gott: »Und sie werden sein ein Fleisch.«

So entstand der Hieros gamos, die heilige Hochzeit, die die Liebenden eins werden lässt. Dies ist das heiligste Geschenk, das wir von unserem Vater und unserer Mutter im Himmel empfangen haben. Denn wenn wir im Brautgemach zusammenkommen, finden wir die göttliche Vereinigung, die El und Ashera sich für ihre irdischen Kinder gewünscht haben, im Licht reiner Freude und wahrer Liebe.

Wer Ohren hat zu hören, der höre.

El und Ashera und die Heiligen Ursprünge

des Hieros gamos, aus dem Buch der Liebe,

wie es im Libro Rosso bewahrt worden ist

Seit sie Berenger kannte, hatte Maureen sich dem Hieros gamos in allen seinen Formen verschrieben. Ihr waren die Augen geöffnet worden für eine Art von Liebe, die für sie vorher nur in Märchen und Sagen existiert hatte. Doch diese sagenhafte Einheit, diese allumfassende, stärkende Liebe gab es auch in Wirklichkeit. Und wenn Maureen diese Liebe erfahren und durch sie verändert werden konnte, musste das auch allen Menschen möglich sein. Berenger und sie hatten begriffen, dass dies ein Teil ihres Schicksals war: Sie sollten anderen helfen, eine ebenso gesegnete Liebe zu finden.

Maureen klappte ihr Buch zu und freute sich darauf, El und Ashera in ihren Träumen wiederzubegegnen.

Doch Maureens Träume richteten sich nicht nach ihren Wünschen.

Normalerweise waren ihre Träumen klar und verständlich. Es waren ganze Sequenzen und zusammenhängende Bilder, die jedes Mal wichtige Botschaften enthielten oder Hinweise, denen sie folgen sollte. In dieser Nacht aber war es anders. Dieser Traum war chaotisch, fieberhaft, voller aufblitzender Bilder, Geräusche und Gefühle. Außerdem sprang er zwischen verschiedenen Schauplätzen hin und her; manche Bilder schienen einen inneren Bezug zu haben, andere waren zusammenhanglos und wirr. Aber eine Konstante gab es, die sich durch alle Sequenzen zog. Egal, wo und wann die Traumszenen spielten, die aufblitzenden Visionen enthielten stets das Element des Feuers.

Feuer.

Hell und heiß loderten die Flammen auf dem Marktplatz, angefacht durch das Pech, das man auf die Kienspäne geschüttet hatte. Hunderte von Menschen hatten sich um den Scheiterhaufen versammelt, auf dem der Verurteilte verbrannt werden sollte. Oder waren es mehrere? Schweiß rann den Zuschauern über die Gesichter, während vor ihren Augen die Hölle loderte. Die Menschen weinten – doch plötzlich jubelten sie.