Die Magie von Schokolade - Lucie Castel - E-Book

Die Magie von Schokolade E-Book

Lucie Castel

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Beschreibung

Das Backen von Kuchen und Torten ist Catalina Palazzos große Leidenschaft. Als sie ein kleines Lokal auf Korsika erbt, lässt sie ihr altes Leben hinter sich und zieht kurzerhand auf die Insel. Mit viel Liebe und Geschick macht sie aus dem alten Laden eine zauberhafte Patisserie. Doch die Kundschaft bleibt aus, während sie in der kleinen Chocolaterie gegenüber Schlange stehen. Luca Castelli, der gut aussehende Besitzer, wittert in Catalina sofort Konkurrenz, schließlich herrscht zwischen den Palazzo und den Castelli seit drei Generationen eine Familienfehde. Da kann nur noch Armor schlichten.

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© 2019 by HarperCollins France, Paris

Titel der französischen Originalausgabe: La guerre des papilles

© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe:

Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Masson/Shutterstock und Rosanne de Vries/Shutterstock

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www.thiele-verlag.com

 

Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Kapitel 1 – Patisserie Palazzo

Kapitel 2 – Patisserie Palazzo

Kapitel 3 – Patisserie Palazzo

Kapitel 4 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 5 – Patisserie Palazzo

Kapitel 6 – Patisserie Palazzo

Kapitel 7 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 8 – Patisserie Palazzo

Kapitel 9 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 10 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 11 – Patisserie Palazzo

Kapitel 12 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 13 – Patisserie Palazzo

Kapitel 14 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 15 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 16 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 17 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 18 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 19 – Patisserie Palazzo

Kapitel 20 – Patisserie Palazzo

Kapitel 21 – Patisserie Palazzo

Kapitel 22 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 23 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 24 – Patisserie Palazzo

Kapitel 25 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 26 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 27 – Patisserie Palazzo

Kapitel 28 – Chocolaterie Castelli

Kapitel 29 – Patisserie Palazzo

Kapitel 30 – Patisserie & Chocolaterie

Kapitel 31 – Patisserie Palazzo

Kapitel 32 – Patisserie Palazzo

Kapitel 33 – Patisserie Palazzo

Kapitel 34 – Patisserie & Chocolaterie

Epilog

Nachwort

Prolog

Wann genau ist alles so aus dem Ruder gelaufen? Wann war der Moment, in dem ich mich zwischen Pest und Cholera entscheiden musste?

 

Marc-Antoines Gesicht glänzt vom Schweiß, er schlenkert mit den Armen, hat Hängebacken wie eine Bulldogge und schaut mich an wie ein von Autoscheinwerfern geblendetes Kaninchen. Na ja – wenn man es genau nimmt, guckt er eigentlich immer so, offenbar besteht die Welt dieses Jungen, der gerade aus der Pubertät heraus ist, aus nichts anderem als Autoscheinwerfern. Aber in diesem Moment kann ich ihn verstehen. Was für ein Gesicht würde ich wohl machen, wenn man mich mitten in der Nacht dabei erwischte, wie ich einen ohnmächtigen Hund durch Mund-zu-Mund-Beatmung zu retten versuche in einem Haus, das nicht mir gehört?

»Was machst du denn hier?«, fragt er mich erschrocken.

»Du hast Nerven, mich das zu fragen, während du mit dem armen Tier merkwürdige Dinge anstellst. Was machst du überhaupt mit dem Hund?«

»Ich versuche, ihn zu reanimieren.«

Eine Zeitlang hatte ich ja wirklich geglaubt, mein Leben sei wieder ins Lot geraten. Aber das war vor dieser Nacht, bevor ich meinen Cousin in einer Situation angetroffen habe, die man beim besten Willen nicht als normal bezeichnen kann. Was soll ich davon halten? Am düsteren Himmel zucken Blitze, auf die Donnerschläge folgen. Alles Zeichen dafür, dass wir uns in einer Tragödie befinden.

»Hast du den Hund etwa auf dem Gewissen?«

Während ich es sage, wird mir das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst, mit der wir es zu tun haben.

»Nein«, wehrt mein Cousin ab, »na ja, vielleicht.«

»Was soll das heißen, vielleicht?«

»Der Hund lag auf dem Sofa. Als ich ins Wohnzimmer kam, sprang er erschrocken hoch und dann: Bumm. Ich glaube, Hunde mögen keine Überraschungen. Das ist genau wie mit dem Zucker.«

»Bumm?«

»Bumm! Und danach nichts mehr. Er wurde plötzlich ganz steif, und dann fiel er um. Ich habe aber mal eine Sendung gesehen, und da sagten sie, dass man das Herz wieder zum Schlagen bringen kann, wenn man jemandem in den Mund pustet und ihm die Brust massiert. So was wie eine Herzmassage.«

Das Sozialleben dieses Jungen ist gleich null. Er ist viel zu viel allein, hat viel zu viel Zeit zum Grübeln, seltsame Ideen treiben ihn um, und er glaubt, sie in die Tat umsetzen zu können. Viel zu viele verrückte Ideen.

»Meine Güte, Marc-Antoine!« An diesen Namen werde ich mich nie gewöhnen. »Dieser Hund ist mindestens hundertdreißig, und er ist mausetot, glaub mir. Also hör auf, Dr. Dolittle zu spielen, und lass das Tier in Frieden.«

Mein Cousin sieht in diesem Moment kaum jünger aus als der Hund, aber er gehorcht, wendet sich ab, das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern.

Ich überlege blitzschnell, jedenfalls versuche ich es. Vielleicht kann man etwas machen, mit ein bisschen Phantasie. Vielleicht kann ich so tun, als hätte es diesen Abend nie gegeben, als sei alles nur ein entsetzlicher Albtraum. Wenn wir uns vorsichtig aus dem Staub machen und den toten Hund, das Haus, diesen Ort und das Gewitter einfach hinter uns lassen, können wir davonkommen. Einfach so. Zuerst ein Schritt, dann den nächsten, und dann …

Plötzlich wird es im Flur hell, das Licht blendet uns. Die Hölle öffnet sich unter meinen Füßen, und ich spüre schon das Feuer unter mir. Es ist zu spät, um zu fliehen.

Wann genau ist alles so aus dem Ruder gelaufen? Wann war der Moment, in dem ich mich zwischen Pest und Cholera entscheiden musste?

Die letzten Monate ziehen an mir vorbei, und ich warte auf das Urteil dessen, der auf mich zukommt, ich ziehe die Bilanz des letzten Jahres und würde dem Schicksal am liebsten sagen, was ich von seinen großartigen Späßen halte.

Kapitel 1Patisserie Palazzo

Ich habe eine Begabung. Ich weiß, wie man kleine Portionen Glück herstellen und anderen schenken kann.

Auf welche Weise? Mit feinen Kuchen. Ganz gleich, wie alt jemand ist, der zu mir kommt, wo er herkommt oder welche Geschichte er hat, ob Mann oder Frau – immer weiß ich, welcher Teig, welcher Guss, welche Gewürzmischung ihm die größte Freude bereitet. Um den Kuchen auszuwählen, der zu einer Person passt, muss man die Menschen genau studieren.

Ich habe diese Begabung von Elena Palazzo, meiner Großmutter väterlicherseits, geerbt. Sie hat sie zuerst an ihrer Familie ausprobiert. Elena versteht es, jedem Kummer, und sei er noch so schlimm, mit einem Mandelkuchen mit Orangen oder einem ihrer berühmten fiadone ein Ende zu bereiten.

Ich bin zwischen Eischnee und mousse au chocolat aufgewachsen und habe vermutlich mehr Rohzucker eingeatmet als Sauerstoff. Backen war meine erste Sprache, meine erste Art, mich auszudrücken, und das ist so geblieben. Bis heute finde ich es einfacher, jemandem »Ich liebe dich« zu sagen, indem ich ihm einen Windbeutel mit Zitronensahne überreiche, als diese Worte auszusprechen. Worte haben oft einen doppelten Sinn, sie können trügerisch sein. Beim Kuchen ist das nicht so. Dosierung und Rezepte sind eine Wissenschaft, haben nur mit Chemie zu tun und gar nichts mit Metaphern, mit denen ein geschickter Redner andere manipulieren und belügen kann.

Ich bin das, was ich backe. Wer mich kennenlernen will, braucht nur zu probieren, was aus meinem Ofen kommt. Nie wollte ich etwas anderes tun als backen. Ich habe alle Stufen der Karriereleiter erklommen, angefangen mit dem Aufschlagen von Eiern, die ich dann in feine Cremes oder Baiser verwandelte, gefolgt von einem genauen Studium der Zutaten und Backvorgänge, bis ich schließlich vor zwei Jahren die höheren Weihen erhielt: Ich gewann den Wettbewerb als beste Patissière Frankreichs.

Als die Jury in Paris ihr Urteil verkündete, geriet mein Herz außer Rand und Band, ich empfand Glück, Erleichterung, Erregung, Stolz … Kummer. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass meine Großmutter hätte miterleben können, wie ich den Preis erhielt und mit dem Band der Tricolore geehrt wurde. Aber wie der größte Teil meiner Familie blieb sie auf ihrer Insel wohnen, als meine Mutter mit mir ins Exil ging, weit weg von der Mittelmeerküste an eine andere Küste, nahe bei Saint-Malo. Diese Entfernung hätte unseren verwandtschaftlichen Beziehungen nichts anhaben dürfen, aber ich war erst neun, als meine Mutter beschloss, Korsika zu verlassen, und in diesem Alter weiß man noch nicht, wie wichtig unsere Wurzeln für unser Leben sind.

Nach meinem Sieg gehörte ich zu dem ganz kleinen Zirkel von Frauen, die diesen Preis jemals erhalten hatten – es sind tatsächlich nur zwei –, und vor mir lag der Königsweg. Ausgezeichnet unter all den männlichen Kollegen, kehrte ich mit Lorbeer bekränzt in die Bretagne zurück. Einer jungen Unternehmerin leiht keine Bank gerne Geld, aber Bekanntheit zahlt sich aus. Die verrückte Idee, die ich ein paar Jahre zuvor auf dem Schulhof in der Bretagne geäußert hatte, wurde Wirklichkeit. Ich habe meine eigene Patisserie aufgemacht.

Und dann ist alles schiefgegangen. Erfolgreiche Leute behaupten, man könne es nur schaffen, wenn man gute Mitarbeiter hat. Ich hätte den Sturm vorausahnen müssen; meine Teilhaber waren unzuverlässig, wir waren auch nie eine richtige Gemeinschaft, es gab sie auf der einen und mich auf der anderen Seite, aber Liebe macht blind und taub und leider auch ein bisschen dumm. Vor zwei Monaten hat sich mein Traum in Luft aufgelöst, ich wurde von einem bösen Drachen aus meiner eigenen Patisserie vertrieben und habe alles verloren.

Dann starb mein Großvater, er ist jetzt im Himmel bei meiner Mutter und meinem Vater, vielleicht, um sie zu überwachen, und gestern Abend, als ich meinen Koffer packte, um nach Korsika zur Beerdigung zu fahren, wurde mir klar, dass es für mich keinen Grund mehr gibt, in Saint-Malo zu bleiben. So wurden aus einer Reisetasche für ein paar Tage vier große Koffer, in denen sich alles befindet, was von meinem Leben übrig ist. Während ich ins Flugzeug steige, das mich nach Sartène, die Stadt meiner Kindheit, bringen soll, werfe ich einen letzten Blick zurück. Wie viele Koffer braucht man, um ein Leben einzupacken?

 

Am Tag der Beerdigung drängen sich viele Menschen vor der Kirche. Ich habe Tränen in den Augen und sehe, wie der Leichenzug in der Parallelstraße stehen bleibt. Er transportiert den Leichnam meines Großvaters Andria Palazzo, der vor vier Tagen gestorben ist – nach einem Leben voller Aufregungen und Abenteuer, dessen zweihundert letzte Episoden ich verpasst habe. Als meine Mutter und ich Korsika verließen, dachte ich, wir führen nur ins Nachbardorf, um Eis essen zu gehen, und kämen am Abend wieder nach Hause. Oder am nächsten Tag, und das hätte ich sicher gut verkraftet.

Aber vom Süden Korsikas an die Smaragdküste im Norden der Bretagne umzuziehen war, als käme man auf einen anderen Planeten. Ein anderes Universum, eine andere Welt, eine andere Geschichte. Wenn man das Leben noch vor sich hat, zählt das Gestern nicht, das Heute spürt man kaum, und alle Träume sind in die Zukunft gerichtet.

Immer wieder habe ich gedacht: Morgen kehre ich nach Sartène zurück. Oder übermorgen. Vielleicht in ein paar Monaten, wenn ich volljährig bin, wenn ich mein Praktikum hinter mir habe, wenn ich meine eigene Patisserie eröffnet habe.

Die Zukunft galoppiert voran, ohne sich umzudrehen; nie fängt man sie ein. Und unterdessen vergeht die Zeit und nimmt das Leben unserer Liebsten mit sich.

Und nun bin ich doch nach Sartène zurückgekehrt, in dieses kleine, malerisch auf einer Anhöhe gelegene Fleckchen Erde, das dem Himmel schmeichlerisch ins Ohr zu flüstern scheint, ihm seine strahlende Helligkeit für immer zu bewahren. Wieder stehe ich auf dem hübschen Marktplatz voller dichtbelaubter Bäume, und jetzt, zwanzig Jahre später, kommt mir dieser Platz recht klein vor. Wie viele Jahre habe ich verloren, indem ich der Zukunft hinterherlief! Jetzt geht ein Teil meiner Geschichte mit ihr verloren, und ich habe den Eindruck, dass ich sie nicht genug ausgekostet habe.

Dabei standen meine Großeltern und ich uns sehr nahe, und mein Großvater hat kurz vor seinem Tod beschlossen, mir ein wunderschönes Ladenlokal zu vererben – nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der jetzt gerade der Leichenzug hält –, und dazu eine ordentliche Summe, um meinen Traum zu verwirklichen, im Land seiner Vorfahren Konditorin zu sein. Es ist auch das Land meiner Vorfahren. Als meine Großmutter mich nach seinem Tod anrief, hat sie mir nicht nur die traurige Nachricht überbracht, sondern mir auch gleich von dem unverhofften Erbe erzählt. Mir wird klar, wie schwer es für die beiden gewesen sein muss, dass ihre geliebte Enkelin wegging, in ein Land hoch im Norden, wo es kalt und immer windig ist. Wie konnte Großvater wissen, dass ich seine Hilfe einmal so sehr brauchen würde? Dieser hübsche Laden und das Geld bieten mir eine zweite Chance, plötzlich leuchtet ein kleines Licht in der Dunkelheit, die mich seit Monaten umgibt.

Wenn du wüsstest …

Wir betreten die große Kirche am Platz, die uns von oben zu mustern scheint. Zuerst die Familie, meine Großmutter ganz vorne, dann meine Onkel und Tanten, Cousins, deren Gesichter ich nicht wiedererkenne, und schließlich die Freunde, die engsten ganz vorne. Soweit ich mich erinnern kann, war meine Großmutter immer sehr stolz darauf, dass die Palazzo eine alte korsische Familie sind und ihr Vermögen gemacht haben, weil sie einen ausgezeichneten Ruf genossen. Damals sprach sie von allen möglichen Feinden, die sie um ihre Vormachtstellung auf der Insel beneideten und deren Hinterhältigkeit man nicht unterschätzen dürfe. So wuchs ich in der Überzeugung auf, dass sich unter unseren Betten und in den Schränken Monster verbargen, die zu allem bereit waren, um uns unsere Autos zu stehlen und unsere Vorratskammern und Kühlschränke zu leeren. Mit sechs Jahren misst man den Reichtum an dem, was sich im Kühlschrank befindet, und an der Zahl der Autos. Immer wenn meine Mutter vergaß, einzukaufen, und der Kühlschrank leer war, machte ich die Monster und ihre Hinterhältigkeit dafür verantwortlich. Erst Jahre später verstand ich den Sinn dieser Reden. Rückblickend bin ich sogar der Meinung, dass meine Großeltern fest an eine Verschwörung gegen die Familie Palazzo glaubten. In der Kirche ist es so kalt wie im Grab. Ich setze mich auf den mir zugewiesenen Platz in der vierten Reihe. Der Priester, ein Mann von etwa fünfzig, hat einen, wie ich glaube, süditalienischen Akzent und beginnt seine Rede mit wirklichkeitsfremder Routine. Er zeichnet das Leben meines Großvaters nach, an das ich kaum eine Erinnerung habe, und meine Augen füllen sich mit Tränen.

Wären wir doch bloß nicht weggezogen …

Dann steht alles um mich herum auf, was mich aus meinen trüben Gedanken reißt. Der Gottesdienst ist zu Ende, was mir erst bewusst wird, als die Leute aus den Bänken treten, um dem Sarg zu folgen. Ich weiß nicht, wie lange ich mit meinen Gedanken woanders war. Das passiert mir in letzter Zeit öfter.

»Du bist immer noch auf der Welt, komm zu uns zurück«, sagte Alex fast jeden zweiten Tag zu mir. Ich hätte besser in meiner Welt bleiben sollen, als zu versuchen, Teil der seinen zu werden.

Ich stehe in der Schlange, um meiner Großmutter zu kondolieren. Neben mir zwei Cousins, jedenfalls vermute ich das. Als ich vor ihr stehe, umarme ich sie ungeschickt und sage leise:

»Es tut mir wirklich sehr leid …«

»Ich weiß«, antwortet meine Großmutter distanziert.

Soweit ich mich erinnern kann, war sie immer schon ein wenig kühl und spröde. Ich glaube, sie weiß gar nicht, was Zuneigung heißt. Dabei weiß ich, dass sie großzügig ist und sehr an der Familie hängt. Sie weiß nur nicht, wie sie es zeigen soll. Als ich klein war, redete sie von nichts als von den Tartes und Kuchen, die sie viele Stunden lang backte, offenbar genügte ihr das.

Als ich ihr am Telefon sagte, dass ich mich über den Laden, den mir mein Großvater vermacht habe, sehr freuen würde, entgegnete sie nur:

»Ich kenne einen guten Makler, der dir helfen kann, ihn zu verkaufen, der Mann ist mir einiges schuldig.«

In Korsika fängt immer alles damit an, dass man jemandem einen Gefallen tut. Je mehr Gefallen man anderen tut, desto mächtiger wird man. Gefallen sind so etwas wie die dortige Währung.

»Ich will ihn gar nicht verkaufen, Oma«, habe ich geantwortet.

»Aber er ist einiges wert, mein Kind, das könnte dir sehr nützlich sein.«

»Nein, nein. Ich fahre noch mal in die Bretagne, um alles zu regeln, dann komme ich wieder und übernehme den Laden.«

Sie hat schnell das Thema gewechselt, und ich habe keine Ahnung, was sie von meiner Entscheidung hält. Inzwischen bewegt sich der Trauerzug auf den Friedhof zu.

Das Mausoleum der Palazzo ist eines der größten in ganz Südkorsika. Nur das der Castelli kann wegen seiner besonderen Bauweise mithalten. Beide Familien haben einen ellenlangen Stammbaum und konkurrieren seit jeher miteinander.

»In Sartène sind die Leute entweder auf der einen oder der anderen Seite. Dazwischen gibt es nichts«, sagte meine Mutter immer, wenn sie von den beiden herrschaftlichen Familien sprach. Meine Mutter hatte immer einen klaren Kopf, bis zu dem Augenblick, an dem sie aufhören musste zu rauchen, um ihre Lunge zu retten.

Wir stehen stumm im Kreis um den Priester herum, dessen Akzent mir allmählich auf die Nerven geht, und blicken in die Grabkammer. Drinnen ist es so düster, als hätte sich ein Riesenmaul geöffnet. Mich durchfährt ein Schauer, es ist selbst für den Februar zu kalt. Der Priester macht ein Zeichen, dass wir still sein sollen, dabei ist er der Einzige, der die Stille mit seinem salbungsvollen Gerede stört. Ich sehe das glänzende, teure Holz des Sarges und frage mich, ob Andria Palazzo wirklich da drinnen ist oder ob er sich vielleicht verflüchtigt hat. Ich kenne nämlich sein stets zu Späßen aufgelegtes unbezähmbares Wesen. Diese Kiste hätte ihm bestimmt nicht gefallen. Sie glänzt zwar, aber am Ende ist es eben doch nur eine Kiste.

Plötzlich erhebt sich ein Murmeln unter den Anwesenden und stört unsere Andacht. Ich sehe, dass die Leute erstaunte Blicke wechseln. Man kann direkt spüren, wie ein Sturm aufzieht.

Ein paar Sekunden später verstehe ich, woher die Aufregung kommt. Der Sarg fiepst und kratzt – oder besser gesagt, etwas da drinnen fiepst und kratzt. Das Geräusch ist immer wieder zu hören. »Heilige Maria Mutter Gottes«, ruft jemand, und ich komme mir vor wie im Mittelalter, als die Menschen noch Sinn für grobe Scherze hatten.

Auch ohne die Dreifaltigkeit zu fragen, weiß ich, dass mein Großvater zu Lebzeiten nie gefiepst hat und es seinem Körper selbst in totem Zustand nie gestattet hätte. Aber es ist keine Einbildung. Großvaters Sarg fiepst tatsächlich, es kratzt von innen gegen das Holz, und die Geräusche werden nicht etwa leiser, sondern zunehmend lauter.

»Das ist das Werk des Teufels«, flüstert eine alte Frau hinter mir. »Der alte Palazzo ist ein guter Fang für ihn. Vielleicht hat er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen …«

»Komm, Nina! Man redet nicht schlecht über Verstorbene«, ermahnt ihre Nachbarin sie. »Wenn der Sarg Krach machen will, dann macht er das eben.«

»Ein Sarg macht doch nicht ohne Grund einen Krach, da muss doch irgendwas sein. Guck mal, er bewegt sich!«

»So ein Unsinn, er bewegt sich doch gar nicht.«

Wo bin ich bloß gelandet?

»Und ist es nicht seltsam, dass er zur selben Zeit gestorben ist wie die Castelli? Das ist bestimmt ein Zeichen.«

»Ein Zeichen wofür? Die Apokalypse?«

»Wenn uns die Heuschrecken überfallen, dann sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Dann stellen wir einfach mehr Kerzen mit Zitronenduft auf.«

Der Priester kann die Blicke der Umstehenden nicht länger ignorieren. Er nimmt allen Mut zusammen und legt ein Ohr an den Sargdeckel. Die Leute halten den Atem an, und er hört auf zu beten. Dann klopft er an das Holz.

Das meint der doch wohl nicht im Ernst. Glaubt er wirklich, da antwortet gleich jemand?

Ich bin schockiert. Das Schlimmste ist, dass die Leute um mich herum gespannt den Gesten des Priesters folgen, so als vollziehe er eine heilige Handlung.

Er befragt einen Sarg!

»Weißt du, wenn Tote sterben, bevor sie alles gesagt haben, was sie zu sagen hatten, dann werden sie verhext«, sagt die Alte hinter mir.

»Hast du heute Morgen deine Tabletten genommen?«

 

Nach einiger Beobachtung und Untersuchung fällt das Verdikt des Priesters:

»Es ist eine Katze.«

Damit hatte ich nicht gerechnet.

Die Gesichter um mich herum drücken Erleichterung und Enttäuschung darüber aus, dass sie nicht an einem vom Satan inszenierten Schauspiel teilnehmen. In einem aber scheinen sich alle einig zu sein: Es ist nichts als eine Katze.

Eine Katze in einem Sarg! Wie kann man das unwichtig und banal finden?

»Es ist eine Plage mit diesen Viechern«, vertraut meine Nachbarin mir an, die wahrscheinlich auch eine meiner Tanten ist, wenn man meiner Großmutter glauben will. »In der Kirche und auf dem Friedhof wimmelt es nur so von Katzen. Überall schleichen sie herum, und es werden immer mehr.«

Und deshalb ist es normal, dass sich eine im Sarg meines Großvaters befindet?

Kaum habe ich mich von meinem Schrecken erholt, da wird mir klar, dass mir das Schlimmste noch bevorsteht. Sie beschließen, den Sarg zu öffnen. Natürlich will ich auch nicht, dass man das Tier, das so blöd ist zu glauben, im Sarg Mittagschlaf zu halten sei die neueste Mode, mit meinem Großvater begräbt, aber bei dem Gedanken, ihn tot sehen zu müssen, wird mir ganz anders. Den anderen scheint es nicht das Geringste auszumachen. Finden die Leute hier es so normal, die Ruhe der Toten zu stören, dass sich keiner von ihnen aufregt?

Als sich der Deckel des Sarges öffnet, schaue ich weg. Ich habe den Toten nicht aufgebahrt gesehen und mich lieber ferngehalten. Zum letzten Mal bin ich meinem Großvater vor acht Jahren begegnet. Da war er ein grauhaariger alter Mann und bewegte sich langsamer als in meiner Erinnerung aus Kindertagen, aber er war noch Andria. Ich würde es nicht ertragen, ihn im Zustand der Zersetzung zu sehen, und deshalb wende ich mich ab.

Ich kann nicht umhin, ungeduldig zu seufzen. Wie lange brauchen die denn, um eine Katze herauszulassen? Und warum bin ich die Einzige, die wegschaut?

Man braucht doch wirklich nicht lange, um eine Katze aus einem Sarg zu befreien, die meisten Katzen merken sehr schnell, wenn ihr Leben in Gefahr ist. Sie haben zwar neun Leben, sagt man, aber sie gehen eher sparsam damit um.

»Bei allen Heiligen, das ist ja gar nicht Andria!«, ruft plötzlich jemand.

»Was?«, rufen alle, auch ich, und dieser kollektive Aufschrei schallt über den ganzen Friedhof. Wenigstens hier bin ich mit der Menge einer Meinung.

»Wieso denn das?«, fragt meine Großmutter im Ton eines Vorsitzenden des höchsten Gerichtshofs. »Lassen Sie mich durch!«

Sie bahnt sich energisch einen Weg durch die Trauergäste, bis sie vor dem Sarg steht.

»Chiara Castelli!«, ruft sie, als sie die Leiche sieht, und ihre Wut kommt mit jeder Silbe deutlicher zum Ausdruck. »Haben die sich im Sarg geirrt? Soll das ein Scherz sein?«

Das Wort Scherz bedeutet in ihrem Wortschatz eher schlimmes Verbrechen als nettes Amüsement. Die Leute sind erregt, vor Zorn oder aus Panik, vielleicht ist es beides.

»Wie ist das nur möglich?«, fragt sich nun auch der Priester, »die Leiche von Signora Castelli war doch gar nicht im selben Raum.«

Alle Blicke heften sich nun auf die drei Mitarbeiter des Bestattungsinstituts, denen es sicher lieber gewesen wäre, ignoriert zu werden wie bisher, so wie bei Beerdigungen üblich. Die Armen sind sichtlich bestürzt, scheinen dahinzuschmelzen wie Kerzen in der Sonne. Gleich werden sie ganz verschwunden sein.

»Ich weiß nicht … vielleicht … vielleicht …«, stottert einer von ihnen.

»Sie haben meinen Andria im Grabmal der Castelli bestattet?!«, schreit Elena und fuchtelt drohend mit ihrer Handtasche herum.

Nun bricht auf dem Friedhof das Chaos aus. Allgemeines Stimmengewirr. Manche Leute versuchen, sich dem Sarg zu nähern, um es mit eigenen Augen zu sehen. Es gibt ein Geschubse und Gerangel. Ich sehe mir das Schauspiel an, kann mich nicht rühren vor Staunen. Das ist doch unbegreiflich! Ich muss an mich halten, um nicht laut loszulachen. Das kann doch nicht wahr sein! Heutzutage verwechselt man doch keine Toten mehr! Und noch weniger sargt man Katzen ein.

Meine Tante beugt sich zu mir herüber und sagt:

»Meiner Nachbarin ist dasselbe passiert. Sie war eigentlich nicht meine Nachbarin, es war die Schwägerin ihrer Mutter. Sie haben die Särge vertauscht. Das kommt gar nicht so selten vor, wenn in einer kleinen Stadt Leute zur selben Zeit sterben. Ein einziges Unternehmen richtet hier alle Beerdigungen aus, kein Wunder, dass dabei manchmal was schiefgeht.«

Was schiefgeht? Meint sie das im Ernst? Wenn man ein Grand-Marnier-Soufflé aus dem Ofen holt und es in sich zusammenfällt, dann kann man vielleicht von schiefgehen reden. Aber die Verwechslung von zwei Särgen, das ist der Gipfel! Das gibt es doch einfach nicht.

»Und dann noch ausgerechnet eine Castelli«, fährt sie fort, und ich verstehe nicht ganz, was sie meint. »Wenn es jemand anderes gewesen wäre, könnte man das ja noch hinkriegen, aber das …«

Aber das? Was meint sie bloß?

»Das wird noch richtig Ärger geben. Deine Großmutter wird dich brauchen, meine Liebe, alle werden jetzt die Messer wetzen.«

Ich mustere meine Tante neugierig, die Leute um uns herum sind immer noch in großer Erregung. Sie beschimpfen das Beerdigungsinstitut, manche Betschwestern erflehen die Gnade Gottes, der Priester versucht, den Moment für eine Stunde Katechismus zu nutzen. Meine Großmutter stößt wilde Drohungen gegen die ganze Stadt aus. Ich glaube, sie will den Bürgermeister auf dem Scheiterhaufen brennen sehen. Mir ist, als befände ich mich unter einer Glocke, unfähig zu reagieren, und ich frage mich, ob es richtig war, mit Sack und Pack aus Saint-Malo hierhergekommen zu sein.

Plötzlich berührt etwas Warmes und Weiches mein Bein.

Die Katze scheint sich gut aus der Affäre gezogen zu haben.

Kapitel 2Patisserie Palazzo

Ich schaue in meinen Backofen und versuche mich zu erinnern, wann ich aufgehört habe zu atmen. Mir dreht sich der Kopf. Es kann nicht allzu lange her sein.

Vor zwei Wochen fand das »Ereignis« auf dem Friedhof statt. Drei Dinge sind ein Zeichen dafür, dass hier nicht alles so läuft wie anderswo. Erstens: Die verdammte Katze hat sich bei mir eingeschlichen, ich musste zustimmen, weil dieses schwarzhaarige Biest mir Angst einflößt. Zweitens: Der von mir vermutete historische Wettbewerb zwischen den Palazzo und den Castelli erinnert mehr an einen Stellungskrieg als an einen Streit in der Nachbarschaft. Drittens: Ich glaube, ich habe mich überschätzt, denn ich habe mir ein Kuchenrezept ausgedacht, das beim besten Willen nicht gelingen will.

Wenn dieser letzte Versuch auch nicht klappt, breche ich zusammen. Auf dem Papier sah es aus wie ein Wunderwerk. Ich schreibe mir neue Ideen immer auf und habe an die zwanzig Hefte voller Rezepte, die meiner Phantasie oder der meiner Großmutter entsprungen sind. Ein großer Konditor muss folgende Fähigkeiten haben: perfekte Technik und Ideenreichtum. Wir alle möchten gern, dass eins unserer Rezepte bei der Kritik Anerkennung findet, zu einem Klassiker wird, den dann Hotels und Restaurants nachahmen.

Was war das nur für eine idiotische Idee …

Ich hatte den Ehrgeiz, zwei Meisterwerke französischer Backtradition zusammenzubringen. Das ist in etwa so, als wollten sich Franzosen und Engländer über die Zukunft Europas einigen. Katastrophe garantiert. Aber ich war ja so vermessen zu glauben, ich könnte mich über alle Regeln der Patisserie-Kunst hinwegsetzen. Jetzt merke ich, dass meine prachtvolle Idee meine sämtlichen Vorräte verschlingen wird, ohne dass dabei etwas Essbares herauskommt.

Diabolo schnurrt zu meinen Füßen. Entweder die Katze freut sich über mein Pech, womit bewiesen wäre, dass sie tatsächlich direkt aus der Hölle kommt, wie ich vermute, oder sie glaubt an die Absurdität meiner Idee und ist genauso verrückt wie ich. Bei einem Tier, das von den fünfzehn Vornamen, die ich mir ausgesucht hatte, nur auf Diabolo reagiert hat, muss man mit allem rechnen.

Noch eine Minute, und der Küchenwecker klingelt. Dann muss ich letzte Hand an den Kuchen legen, ihn ein paar Minuten ruhen lassen, sämtliche Götter um ihren Beistand bitten und sehen, was passiert.

Wenn man eine Patisserie aufmacht und möchte, dass sie sich hält, genügt es nicht, gute Arbeit zu leisten, nein, man muss einen Kuchen erfinden, der zum Superstar wird, der die Kunden dazu bringt, einen Umweg zu machen und ihm später im Internet eine tolle Bewertung zu geben. In manchen Gegenden funktioniert das, in anderen nicht. Der Kuchen, den ich damals in der Bretagne kreiert habe, würde hier nicht gut ankommen. Einer meiner Lehrmeister hat mal gesagt: »Ein Rezept muss immer in den örtlichen Kontext passen.« Damals war ich in der Ausbildung, also noch ganz jung, und hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber jetzt, Jahre später, ist mir alles klar.

Seit zehn Tagen versuche ich, meinen Kuchen in den »Kontext« zu bringen, und bald droht mir ein Herzinfarkt. Durch den Tourismus im Süden Korsikas ist die Konkurrenz zwischen den Geschäften gestiegen, und da wir hier auf einer Insel sind, glauben alle, etwas Besonderes zu sein. Die Leute sehen es nicht gern, wenn sich hier ein Fremder niederlässt, ein sogenannter pinzutu, oder schlimmer noch: ein Verräter seiner Heimat. Ich gehöre zur zweiten Kategorie, weil ich die Insel verlassen und jahrelang anderswo gelebt habe, und das ist ein großer Nachteil. Aber ich will mich nicht entmutigen lassen und aus der Situation das Beste machen … Vorausgesetzt mein Starkuchen spielt mit und tut, was ich ihm sage.

Da klingelt der Küchenwecker.

Ich hole tief Luft und öffne die Ofentür, ziehe vorsichtig das Blech heraus und stelle es auf den Arbeitstisch. Diabolo gibt ein lautes Miauen von sich, das ich für ein positives Zeichen halte. Sollte ich ihn missverstanden haben, soll er gefälligst reden.

Nach einer Weile fange ich an, ganz vorsichtig den bretonischen Teig, der aus reichlich Butter und Zucker besteht, aufzuschichten, und zwischen die Schichten fülle ich eine Mousse aus brocciu, dem korsischen Quark aus Schaf- und Ziegenmilch, Sahne und Zucker. Vorher habe ich den Tortenboden etwas abkühlen lassen, damit die Füllung nicht schmilzt und ich alles gleichmäßig zwischen den Teigschichten verteilen kann. Auf der obersten Schicht trage ich sorgfältig einen dünnen Guss aus Karamell auf. Als ich fertig bin, schließe ich die Augen und nehme den Geruch wahr, der mir entgegenströmt, warm, rund, verlockend. Er erinnert mich an meine Kindheit, wenn wir an einem Wintermorgen bei prasselndem Feuer am Kamin saßen. Noch dreißig Sekunden und ich kann meinen Kuchen probieren.

»Ich will dir nicht zu nahe treten, Diabolo, aber jetzt musst du mir mit deinen höllischen Kräften beistehen. Wenn der Kuchen nicht gelungen ist, gibt es kein Biofutter mehr und auch keine Brekkies am Nachmittag.«

Ich nehme einen Bissen und lege ihn mir auf die Zunge. Am Rand schmilzt es, ich beginne, etwas zu schmecken, dann beiße ich hinein und genieße die Mischung aus Butter, Bourbon-Vanille, Karamellzucker und der ganz leicht säuerlichen frischen brocciu-Mousse. Ich seufze. Was für ein herrlicher Geschmack, ein wahrer Genuss! Ich beginne zu träumen. Meine Schultern entspannen sich, mein Körper spürt die freigesetzten Endorphine. Ich weiß, dass mir mein Fünf-Sterne-Kuchen gelungen ist.

»Ich hab’s geschafft, endlich hab ich’s hingekriegt!«

»Was hast du geschafft?«

Ich erschrecke, als ich die Stimme meiner Großmutter höre.

»Oma?«

»Die Tür stand offen, und ich dachte, dann brauche ich nicht zu klingeln. Wie geht’s dir?«

»Gut … gut.«

Ich sehe, wie sie aufmerksam meine Küche beäugt. Zwar war der Laden, den ich von Großvater geerbt habe, in bester Ordnung, aber ich habe etwas Dekor hineingebracht, damit alles besser zu mir passt und persönlicher ist. Das geerbte Geld hat mir dabei geholfen, denn so konnte ich die Arbeiter bezahlen, die mir meine Wünsche erfüllt haben. Während der Bauarbeiten kam Elena vorbei und führte sich auf wie jemand von der Bauaufsicht, der sich nicht äußert und seine Meinung für sich behält. Vielleicht hat sie das von den Mühen abgelenkt, die sie bei den Behörden hatte, damit Großvater ins richtige Grab gebracht werden konnte. Ich war froh, dass ich rund um die Uhr mit dem Laden beschäftigt war, denn so musste ich mir nicht alle Verschwörungstheorien und Verdächtigungen im Zusammenhang mit der »Sarg-Affäre« anhören, die im ganzen Ort kursieren.

»Das freut mich zu hören«, sagt sie. »Wo ich schon mal hier bin, würde ich gern mit dir über etwas reden.«

»Und worum geht’s?«

Vielleicht der Weltuntergang oder das Wetter von morgen?

»Du kannst so ein Geschäft nicht allein führen. Entweder du arbeitest in der Küche oder du verkaufst. Beides wirst du nicht schaffen.«

»Ich weiß, deshalb habe ich ja auch eine Annonce in die Zeitung gesetzt und …«

»Ich habe den idealen Bewerber für die Kasse und die Bedienung der Kunden gefunden.«

Wer das wohl sein mag?

»Wirklich?«

»Ja, und zwar Marc-Antoine!«

Das klingt gut, immerhin trägt er den Namen eines römischen Generals.

Da kommt ein junger Mann in den Laden. Er sieht aus, als stünde er kurz vor der Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Er hat blonde Locken, eine blasse Haut, schaut drein wie ein Kaninchen vor der Schlange, und er sieht auch nicht aus wie Anfang zwanzig. Mit seinem runden Gesicht und dem dicklichen Körper wirkt er wie ein Riesenbaby. In der Schule war er bestimmt eine Null.

»Dies ist dein Cousin Marc-Antoine«, erklärt meine Großmutter.

»Oh …«

Ich überlege, was ich noch sagen könnte.

»Er ist der Sohn deiner Tante Lidia. Sie ist Serges Frau.«

»Aha.«

Wenn er der Sohn der Heiligen Jungfrau wäre, würde ich ihn auch nicht einfacher mit mir in Verbindung bringen.

»Er hat gerade sein Fachabitur gemacht und sucht nun einen Job.«

»Gut, aber normalerweise suche ich mir meine Mitarbeiter selbst aus.«

Wie naiv ich doch bin!

»Ich dachte, du hättest kaum Zeit gehabt, deine Patisserie rechtzeitig zu eröffnen«, wendet sie ein.

Bravo, Elena, Stalin wäre stolz auf dich.

»Das stimmt, aber das ändert nichts daran, dass …«

»Glaubst du, ich wüsste nicht, was du brauchst?«

»Na ja, offensichtlich …«

»Bist du der Meinung, dein Erfolg ist ganz unwichtig?«

»Also …«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich den letzten Willen deines Großvaters missachte und falsche Entscheidungen für den Laden zulasse, den er dir vererbt hat.«

»Ja also, ich …«

Ich würde mich am liebsten in einer Zimmerecke zusammenrollen und losheulen.

»Du kannst es doch mal mit Marc-Antoine versuchen, und wenn er es nicht schafft, dann suchst du dir jemand anderen. Es ist nicht einfach, hier in der Gegend Arbeit zu finden, vor allem, wenn man nicht der Norm entspricht. Und im Augenblick hast du doch niemanden. Warum gibst du ihm nicht eine Chance? Schließlich gehört er zur Familie. Danach kannst du dann nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden.«

Ich glaube Geigenklänge zu hören.

»Okay, probieren wir es«, entgegne ich seufzend, »aber wenn ich mich entscheide, ihn nicht zu behalten, darfst du mich nicht unter Druck setzen.«

»Habe ich das je getan?«

Nicht das wilde Tier herausfordern, bloß ruhig bleiben.

»Willkommen an Bord, Marc-Antoine! Ich zeige dir den Laden und erkläre dir, was du zu tun hast.«

Er nickt. Er sieht aus, als warte er auf die Erlaubnis zu atmen. Er ist schüchtern, verschlossen, voller Komplexe … Genau das, was man braucht, um Kunden zu bedienen. Elena hat wirklich geniale Ideen. Ich tröste mich damit, dass er es sicher nicht zwei Tage durchhalten wird und ich danach einstellen kann, wen ich will, ohne dass meine Großmutter mich steinigt. Ob ich will oder nicht, sie und ich sind eng verwandt, und wir müssen einen Weg finden, miteinander auszukommen.

»Was ist denn das?«, sagt sie und wirft einen neugierigen Blick auf meinen gerade frisch aus dem Ofen geholten Kuchen.

Ende der Leseprobe