Ein ganz besonderes Weihnachtsfest - Lucie Castel - E-Book

Ein ganz besonderes Weihnachtsfest E-Book

Lucie Castel

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Französin Scarlett und der Engländer Will haben sich an einem verschneiten Heiligabend kennen und lieben gelernt. Jetzt, genau zwei Jahre später, soll geheiratet werden. Scarlett träumt von einer Märchenhochzeit unterm Weihnachtsbaum, doch plötzlich geht alles schief: Der Hochzeitsplaner segnet überraschend das Zeitliche, die beiden Familien geraten aneinander, und Will verhält sich auf einmal merkwürdig distanziert … Trotz jeder Menge Punsch und Plätzchen ist das Chaos vorprogrammiert. Doch Weihnachten ist nicht umsonst das Fest der Liebe …   

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

 

Aus dem Französischen übersetzt von Vera Blum

 

© Lucie Castel 2020

Titel der französischen Originalausgabe:

»Comment j’ai failli ne pas me marier à Noel«

© für die deutschsprachige Ausgabe

Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien 2021

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

 

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

 

Weihnachten ist kein Tag und keine Jahreszeit,

es ist eine Geisteshaltung.

Calvin Coolidge

Prolog

Es ist der 24. Dezember. Wir befinden uns auf dem Land in Surrey. Direkt vor uns liegt eine Kuh auf der Straße. Entweder ist sie tot oder schauspielerisch begabt. Was hat das Schicksal sich jetzt schon wieder einfallen lassen?

»Du kennst dich doch sicher mit Herzmassagen aus, oder?«, fragt William beunruhigt, und seine Hände umklammern ebenso nervös das Steuer des Lieferwagens wie ich die Glaskugel, in der wir HMS Titanic, unseren Goldfisch, transportieren.

»Natürlich, das gehörte im Architekturstudium zum Pflichtprogramm.«

William beugt sich vor und starrt angestrengt durch die Windschutzscheibe. Das riesige Rindvieh liegt immer noch quer über der verschneiten Straße und regt sich nicht. Warum hat die dumme Kuh sich ausgerechnet diese Landstraße ausgesucht, um uns vor das Auto zu laufen und mit ihrem langweiligen Leben Schluss zu machen?

»Tja, sieht aus, als bräuchten wir eher einen Leichenbeschauer«, erklärt William seufzend und öffnet die Wagentür.

An Heiligabend eine tote Kuh mitten auf der Landstraße zu haben, die mit ihrer Körperfülle unerbittlich den Weg versperrt, während wir gerade dabei sind, die letzten Umzugskartons in unser erstes gemeinsames Zuhause zu transportieren, abgesehen von dem riesigen Tannenbaum auf dem Dach – was für ein Zeichen will mir das Universum damit geben? Meine Mutter sagt immer: »Zeichen zu ignorieren ist, als ob man Gott die Zunge rausstreckt. Du kannst es natürlich machen, aber wundere dich nicht, wenn er dir dann eine verpasst.« Meine Mutter hat eine Dichterseele.

Also. Soll diese Kuh mir jetzt sagen, dass es ein Fehler ist, mit William zusammenzuziehen, nur ein Jahr nachdem wir uns zum ersten Mal begegnet sind? Oder bringt mich meine Angst vor jeder Art von Bindung dazu, die Welt durch eine dunkle Brille zu sehen?

Dabei finde ich unsere Entende cordiale, die damals jenseits des Ärmelkanals begann, perfekt. Ich wusste es sofort, als ich seine schlanke, große Dandy-Gestalt sah, und mein Blick an diesem Gesicht mit den hohlen Wangen und den tiefschwarzen Augen haften blieb, die so durchdringend wie tiefgründig sind. William gehört zu den Menschen, die eleganter sind als andere und sich mit mehr Grazie bewegen als normale Sterbliche. Meine spontane Begeisterung hätte mich warnen müssen, ich meine, wie oft kommt es im wahren Leben vor, dass man so schnell von etwas fasziniert ist, ohne dass es ein Haar in der Suppe gibt oder, in diesem Fall, eine Kuh auf einer zugeschneiten Landstraße?

»Ich bin nicht sicher, ob sie ganz tot ist«, sagt William im Ton des Gerichtsmediziners aus einer Serie und umkreist mit nachdenklichen Schritten das Viech, das uns den Weg versperrt.

Ich lasse die Scheibe herunter.

»Aha, und wie kommst du darauf? Hat sie dir das gerade gesagt, oder was?!

»Ich weise dich darauf hin, dass wir Engländer in Sachen Sarkasmus den Vorrang haben. Du und dein Land, ihr könnt da nicht mithalten. »

»Ach ja? Ich habe dir gesagt, du sollst nicht diese Straße nehmen. Das Navi hat dir gesagt, du sollst nicht diese Straße nehmen. Und was machst du?«

»Ich bin nun mal kein Freund demokratischer Abstimmungen«, antwortet er und fährt sich über seinen sorgfältig gepflegten Drei-Tage-Bart.

Ich stoße einen Seufzer der Verärgerung aus. William besitzt diese besondere Gabe, mich auf die Palme zu bringen, wenn ich eh schon gereizt bin. Und doch liebe ich diesen Mann! Wieso bin ich mir da eigentlich so sicher? Weil ich seine Fehler ebenso liebe wie seine guten Eigenschaften. Ich liebe ihn, auch wenn ich ihn manchmal hasse. Alle Verliebten wissen genau, wovon ich rede, denn so ist es, seit die Welt besteht.

Wir haben also an einem 24. Dezember ein Problem mit einer Kuh, die ganz offensichtlich das Zeitliche gesegnet hat. Nun, William und ich sind an Herausforderungen gewöhnt. Ich weiß nicht, ob es schlechtes Karma ist – seins natürlich, denn die Engländer haben sich mehr vorzuwerfen als wir Franzosen –, jedenfalls, seitdem wir uns begegnet sind, folgte ein seltsames Ereignis auf das nächste. Vor einem Jahr mussten auf dem Flughafen von Heathrow wegen eines starken Schneesturms alle Maschinen am Boden bleiben. Ich war auf die Toilette gerannt, weil ich mich mit Chai latte bekleckert hatte, und den Fleck entfernen wollte. Aber es war die falsche Toilette, nämlich die der anderen Mannschaft, die in der Lage ist, im Stehen zu pinkeln, und sich deswegen überlegen fühlt. William war schon dort. Unsere Blicke begegneten sich im Spiegel, er sagte, ich hätte mich wohl in den Örtlichkeiten geirrt, ich wollte es einfach nicht glauben und verteidigte mich, und dann wurde alles noch seltsamer, denn am Ende des Tages feierten meine Schwester und ich bei ihm zu Hause in Kensington Weihnachten, weil wir nicht nach Saint-Malo fliegen konnten, um die Festtage bei unserer Mutter zu verbringen. Ich brauchte eine Woche, um mir über die Gefühle klarzuwerden, die mich in dem Augenblick überkamen, als sich unsere Blicke im Spiegel der Herrentoilette trafen. Aus Scham, aus Furcht, zu sehr zu leiden, wenn die Sache dann doch nur von kurzer Dauer wäre, oder mit irgendeiner anderen dummen Entschuldigung, die man sich ausdenken kann, in der kindlichen Hoffnung, nie wieder verlassen zu werden. Meine Angst, verlassen zu werden, kommt durch Papa, der viel zu früh und viel zu plötzlich gestorben ist.

Angesichts dieser ganzen seltsamen Umstände hätte mich der Freitod einer Kuh am Heiligabend eigentlich nicht weiter überraschen sollen. Was, wenn Mama mit ihrem Glauben an böse Vorzeichen recht hatte? Natürlich bin ich in William verliebt, aber reicht das aus, um mich so schnell in einem fremden Land niederzulassen und dort ein Haus zu kaufen? Oder habe ich vielleicht Schuldgefühle, aus Frankreich wegzugehen und meine Mutter und Schwester kaum ein Jahr nach Papas Tod im Stich zu lassen? Ich soll die neue tragende Säule unserer Familie sein, und was mache ich? Ich haue ab in ein anderes Land.

Scarlett, die Vorzeichen, sie hat recht!

Will mir dieser Tierkadaver sagen, dass ich mich der Trauer um Papa nicht stelle? Dass das alles noch zu früh ist? Ich habe mich wirklich darum bemüht, dass es mit William und mir nicht zu schnell geht. Selbst als ich spürte, dass es wirklich ernst zwischen uns war, habe ich dafür gesorgt, dass es nicht zu rasch offiziell wurde. In allen Ecken von Williams Wohnung lagen Sachen von mir, aber ich wäre jederzeit in der Lage gewesen, alles im Eiltempo in meinen Koffer zu packen. Das war der Beweis, dass unsere Geschichte nicht in Stein gemeißelt war. Aber dann ging eben doch alles rasend schnell. Vor ein paar Wochen haben wir mein Traumhaus in Shere in der Grafschaft Surrey gekauft, eine Stunde von London entfernt. Ein beeindruckendes Landhaus aus Stein in einem riesigen, von alten Bäumen mit knorrigen Stämmen bestandenen Garten. Typisch englisch, vor allem in dieser Jahreszeit, in der jedes Dorf jenseits des Ärmelkanals durch den Schnee in ein Weihnachtsdorf verwandelt wird. Wann ist eigentlich alles so außer Kontrolle geraten?

Und jetzt holt mich das Universum ein, ein Rindskadaver versperrt die Straße, und wir können nicht zu meiner Mutter und Schwester gelangen, die gestern aus Frankreich gekommen sind und in unserem neuen Haus auf uns warten. Die Zeichen sind eindeutig, oder?

»Ich rufe besser die Polizei«, sagt William jetzt und streicht sich ein paar Schneeflocken aus seinem kastanienbraunen, leicht gegelten Haar.

»Und einen Priester.«

Ich sitze in unserem Transporter, in dem es nach Tanne riecht, und merke, wie die Wut in mir aufsteigt. Es ist Heiligabend, und auch wenn wir gerade umgezogen sind und eine Kuh beschlossen hat, zu sterben, dürfen wir Weihnachten nicht verpassen und müssen es feiern. So ist das in meiner Familie üblich, die Feiern am Ende des Jahres sind ein heiliges Ritual. Papa wollte immer …

Mein Telefon vibriert.

Mama.

In einer idealen Welt könnte ich den Anruf ignorieren. Aber in der realen Welt würde das schlimme Folgen haben und Kräfte in Bewegung setzen, die stärker sind als ich, stärker als wir alle. Dafür möchte ich nicht die Verantwortung übernehmen. Meine Schwester Mélie und meine Mutter fragen sich sicher schon, wo wir so lange bleiben, ich kenne Mama. Wenn ich nicht gleich drangehe, wird sie alle Hebel in Bewegung setzen, um mich aufzuspüren. Vielleicht würde sie Frankreich zu einer neuerlichen Invasion des Vereinigten Königreichs anstiften, um mich zu finden. Aus der Geschichte wissen wir, dass das nicht die beste aller Ideen ist. Ich gehe also dran.

»Hallo, Mama, was gibt’s? Alles in Ordnung? Was? Nein, meine Stimme klingt nicht komisch. Wenn ich dich frage, ob alles in Ordnung ist, Mama, dann heißt das nicht, dass etwas nicht in Ordnung ist. Das frage ich dich doch immer. Oder? Nein, das war nicht ironisch gemeint.«

Mama mag keine Ironie, sie sieht darin die schlimmste Pervertierung der Sprache. Ich habe immer gedacht, das käme daher, dass sie Ironie nicht versteht.

»Wir sind nicht weit von Shere entfernt. Wir brauchen noch etwa zwanzig« – ich mache eine Pause, als ich sehe, wie William der Kuh auf die leblose Flanke klopft, als wolle er sie zum Sprechen bewegen – »nein, vierzig Minuten. Ja, es ist unheimlich viel Verkehr auf der Straße. Es führt kein anderer Weg nach Shere, also ist viel los.«

Ich weiß. Ich lüge meine Mutter an. Vergessen wir aber nicht, dass sich viele Erwachsene, die von ihrer Mutter unter Druck gesetzt werden, sagen «Der Zweck heiligt die Mittel«, weil dies oft der einzige Ausweg ist. Würde ich von der Kuh erzählen, hätte das einen theologischen Disput zur Folge gehabt, für den ich nicht gerüstet bin. Meine Mutter stammt aus einer sehr frommen italienischen Familie. Ihre Religion ist allerdings purer Aberglaube, den ich mit meinen dreiunddreißig immer noch nicht ganz verstanden habe. Ich weiß nur, dass ein Unfall, an dem ein in einem Land der Erde als heilig geltendes Tier beteiligt ist, im Glaubenspantheon meiner Mutter ganz sicher ein böses Omen ist.

»Was? Nein, nein, wir nehmen keine Tramper mit, die uns umbringen könnten. Wer hat dir denn das erzählt? Du musst endlich aufhören, dir Sendungen mit Horrornachrichten anzusehen. Wir sind hier in England, und da begegnet man eher Betrunkenen als Massenmördern. Was, Jack the Ripper? Mama! Nein, ich verdrehe nicht die Augen … Woher willst du wissen, dass ich die Augen verdrehe?«

Während ich dies sage, kann ich nicht umhin, mich genauer im Auto umzusehen und in den Rückspiegel zu schauen. Das ist wirklich bescheuert.

Plötzlich sehe ich in der Ferne das Blaulicht eines Polizeiwagens und seufze erleichtert auf. Vielleicht endet diese ganze unschöne Angelegenheit doch früher, als ich befürchtet habe.

»Mama, ich muss aufhören, die Polizei ist da …« Ich schweige und halte den Atem an.

Mist!

Ich halte das Telefon ganz weit von meinem Ohr weg und rufe:

»Mama? Hallo? Ich kann dich gar nicht mehr hören! Es knistert so in der Leitung, ich rufe später wieder an, ja? Bis dann, Küsschen.«

Ich lege auf und werfe das Handy auf den Fahrersitz, als hätte ich mir daran die Finger verbrannt.

Nur die Ruhe bewahren!

Ich stelle HMS Titanic auf den Nebensitz und steige aus dem Wagen. Draußen kann ich mir einbilden, dass ich die 3427 Anrufe meiner Mutter, die folgen werden, nicht gehört habe. Ein paar Minuten später hält der Polizeiwagen neben dem Tierkadaver. Ein Polizist nähert sich uns und starrt auf die reglose Masse am Boden, ich sehe seinem Gesicht an, dass auch er glaubt, dass es sich um ein kosmisch gesteuertes Unglück handelt.

»Haben Sie das Tier denn nicht gesehen?«, fragt er in einem Ton, der mir gar nicht gefällt.

Doch, natürlich, aber da wir keine Zeit mehr hatten, einen Truthahn für den Heiligabend zu kaufen, haben wir uns gedacht, wir könnten ebenso gut eine Kuh in den Backofen schieben. Das ist Ironie, Mama!

»Verzeihung, aber wie Sie leicht feststellen können, ist hier das Ende einer Kurve und die Sicht ist gleich null. Außerdem ist die Straße total zugeschneit. Ich frage mich übrigens, warum sie nicht geräumt wurde. Man sieht ja, wie gefährlich das werden kann.«

»Ach, eine Französin«, meint der Polizist und sieht William mitleidig an.

Ist das wirklich Mitleid?

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass du Französin bist, chérie«, meint William beschwichtigend, »einfach nur eine sachliche Feststellung.«

»Oh nein, diesen Blick kenne ich, der ist alles andere als sachlich. Ich bin Französin, also rege ich mich auf und meckere hier rum, das meint er doch.«

»Ja, Sie meckern tatsächlich gerade«, erklärt der Polizist, dessen feuerrote Haarpracht naturgegeben ist, während ich für meine 120 Euro im Monat ausgeben muss.

»Und das ist durchaus berechtigt. Ich meckere nicht, weil ich von Haus aus unhöflich bin, und auch nicht, weil das Sich-Beschweren in der französischen DNA festgeschrieben ist«, fauche ich.

Beide Männer sehen mich stumm an.

»Das ist eine Haarnadelkurve, seht mal genau hin!«

Der Polizist vertieft sich in ein Notizbüchlein, das er aus seiner Jacke gezogen hat. Ich hasse es, wenn die Briten ihre Inselbewohner-Überlegenheit zur Schau stellen. Auch bei ihnen brennen manchmal die Sicherungen durch, und sie sind nicht zivilisierter als wir, nur weil sie die Guillotine nicht erfunden haben.

»Sind Sie gefahren?«, fragt er mich und sieht mich dabei schräg an.

Das ist wirklich der Gipfel!

»Nein. Denn wenn ich gefahren wäre, wäre ich nicht in die Kuh reingefahren, weil ich den Anweisungen des Navis gefolgt wäre.«

»Sie fährt wirklich sehr gut«, sagt William, »außer wenn sie genervt ist.«

Ich reiße unwillig meine Hände nach oben. Nie nimmt er etwas ernst. Wir wissen nicht, wie lange wir hier auf der Straße feststecken, meine Mutter hat bestimmt schon den Élysée-Palast alarmiert, und ich werde den ganzen Abend brauchen, um sie wieder zu beruhigen. Ich entferne mich ein paar Schritte, um diesem übertriebenen britischen Phlegma zu entgehen, und vertiefe mich in die Betrachtung des schneebedeckten Feldes, das sich an der Seite der Landstraße erstreckt. Plötzlich sehe ich einen kleinen, kurzbeinigen und sehr breit gebauten Mann auf uns zukommen. Ist er neugierig und hat alles beobachtet? Ist er vielleicht der Besitzer der Kuh?

Ein paar Augenblicke später hat uns der etwa sechzigjährige Unbekannte erreicht. Der Polizist fragt ihn nach seinem Namen, und aus seinem Mund dringt ein unverständliches Genuschel. William und der Rothaarige scheinen es aber zu verstehen, denn sie antworten ihm ganz unbefangen. Da der Gaffer sich aufdrängt und sie es zulassen, gehe ich davon aus, dass er der Bauer ist, dem das streunende Tier gehört. Wenn das so ist, wird es Zeit, dass er sich mal um seine Viecher kümmert. Wenn man Tiere mit Depressionen hat, ergreift man Präventivmaßnahmen, sperrt sie ein oder unternimmt etwas, das der Tierarzt empfohlen hat. Tierzüchter ist schließlich ein Beruf. Die drei Männer tauschen sich in größter Höflichkeit aus, und mich überkommt langsam die Verzweiflung. Wenn es so weitergeht, stehen wir morgen noch hier. Ich trete auf dem Schnee herum, und es knirscht unter meinen Stiefeln. Die Luft ist kalt und feucht, bestimmt bekomme ich eine Lungenentzündung, in meinem Kopf formieren sich die wildesten Gedanken, die mir normalerweise und ohne diese absurde Situation völlig verrückt erscheinen würden.

Allerdings…

Kann man von Zufall reden, wenn jedes Weihnachtsfest seit Papas Tod zu einer Katastrophe wird? Papa liebte Weihnachten über alles, und so ging es der ganzen Familie. Seit er nicht mehr da ist, läuft alles aus dem Ruder.

Vorsicht, Scarlett, du übertreibst mal wieder!

Und wenn dies nur der Anfang einer ganzen Reihe von Dramen wäre? Allmählich fange ich an zu spinnen. Ich schiebe den Gedanken beiseite und hüpfe ein wenig auf der Stelle herum, aus Ungeduld und weil mir kalt ist. Eine verschneite Landstraße, eine Kuh und drei Briten, wie lange dauert es noch, bis sie das Problem endlich in den Griff bekommen? Meiner Meinung nach ewig lange.

Warum starren mich jetzt alle so an?

»Was?«

Der Bauer wendet sich mit seinem Kauderwelsch an mich, da er am Ende die Stimme hebt, nehme ich an, dass er mir eine Frage stellt.

»Tut mir leid, aber ich habe kein Wort verstanden.«

»Er fragt, was Sie gegen Kühe haben«, erklärt der Polizist.

»Ich habe nichts gegen Kühe!«

Der Rothaarige übersetzt meine Antwort, denn der Akzent des Landmanns macht jede Kommunikation unmöglich. Der Bauer scannt mich von Kopf bis Fuß und sagt dann wieder etwas.

»Er spürt, dass Sie sie nicht mögen, weil Sie so auf Abstand gehen«, erklärt der Polizeibeamte.

»Das ist völliger Unsinn.«

»Er sagt, von Ihnen gehen negative Schwingungen aus.«

»Was hat das damit zu tun, dass die Kuh mitten auf der Straße liegt und nicht in ihrem Stall war? William?«

Der Mann, den ich liebe, reagiert nicht, und ich weiß auch, warum. Er kann nicht mehr vor Lachen. Nur innerlich natürlich, denn er ist genetisch so programmiert, dass er seine Gefühle verbirgt. Ich habe gelernt, das Funkeln in seinen schwarzen Augen zu lesen. Innerlich lacht er sich tot.

Na toll!

Ich sage auf Französisch zu ihm:

»William, könntest du bitte aufhören, dich zu amüsieren?!«

»Wie kannst du nur denken, dass ich mich amüsiere, wo dieses arme Tier tot ist.«

»Darf ich dir vielleicht ein Taschentuch geben?«

Ich bin kurz davor zu explodieren. Ich gebe ja gern zu, dass William es versteht, mein Leben zu würzen, das stimmt mich froh und ist sehr anregend. Ich liebe seine geistreiche Art und seinen ausgeprägten Sinn für Humor. Meistens. Aber nicht heute. Heute geht er mir auf die Nerven. Die Grenze zwischen Humor und Verärgerung ist manchmal sehr schmal. Ersterer entschärft Krisensituationen, Letztere könnte ihn von mir entfernen. Wie kann er Witze machen, während ich hier in der Kälte halb erfriere, der Polizist mich ansieht, als hätte ich Kennedy ermordet, und dieser tumbe Bauer da steht und nicht sagt, wie man seine verdammte Kuh von der Straße wegkriegt?

»Du nimmst wirklich nichts ernst, was?«, zische ich ihm zu. »Ich finde das alles nicht so lustig.« Dann hole ich tief Luft. »Haben Sie sich jetzt mal überlegt, wie Sie das Tier hier wegschaffen wollen, damit wir endlich weiterfahren können? Heute ist Heiligabend, und ich nehme an, da haben Sie auch noch was vor, oder?«

William stößt den Bauern mit dem Ellbogen an, denn dieser hat nicht kapiert, dass die Frage an ihn gerichtet war. Der Alte nuschelt etwas, und William reagiert mit einem breiten Lächeln. Ich leide nicht unter Verfolgungswahn, aber die beiden scheinen sich gegen mich verschworen zu haben. Okay, ein kleines bisschen Verfolgungswahn habe ich.

»Er sagt, man muss sie auf die Seite rollen«, übersetzt der Polizist.

»Sie auf die Seite rollen? Na klar, sie liegt ja auf Rollen, also ist das sicher ganz leicht.«

William und der Bauer knien sich neben die Kuh, sie grinsen und tuscheln wieder miteinander. Ich bin mir sicher, dass sie mich für eine Spielverderberin halten. Wenn das Kriegsschiff Charles de Gaulle sich wegen meiner Mutter der britischen Küste nähert, werden sie sich nicht mehr so aufspielen. Außerdem ist es furchtbar kalt, warum macht die Kälte nur mir zu schaffen?

»Das scheint ja alle hier sehr zu amüsieren, das nenne ich mal eine reife Einstellung. Wenn ihr eine Lösung gefunden habt, sagt Bescheid, bis dahin werde ich vermutlich erfroren sein.«

Ich wende mich ab und gehe zum Wagen.

»Warte, Scarlett!«, ruft William. »Geh nicht weg!«

»Keine Sorge, wohin sollte ich gehen, ich habe keinerlei Orientierungssinn, und im Lieferwagen sind HMS Titanic und der Tannenbaum.«

»Nein, ich meine: Geh niemals weg!«

Was ist denn jetzt mit ihm los?

»Was?«

»Ich glaube, jetzt ist genau der richtige Moment.«

»Der richtige Moment? Wofür?«

»Na, ich habe ein Knie am Boden, überall ist Schnee, und wir sind in der Nähe von London. Du liebst Schnee, und du liebst London. Und ich bilde mir ein, mich liebst du auch.«

Er schaut mich bedeutungsvoll an, und mir bleibt die Luft weg. Ich stehe da, steif wie ein Pflock, ebenso reglos wie die Kuh.

Er meint doch wohl nicht …

»Heirate mich«, sagt er da. »Ich weiß, ich müsste es dir anders sagen, aber es trifft mich selbst ganz unvorbereitet. Ich weiß nur, dass dieser Tag nicht zu Ende gehen kann, bevor ich eine Antwort habe. Heirate mich, Scarlett. Das ist alles, was ich mir wünsche.«

Ich stehe da wie festgefroren. Dann öffne ich den Mund. Meine Stimme zittert.

»Meinst du das ernst? Du fragst mich, ob ich dich heiraten will, hier, in dieser Situation?«

»Scarlett, du bist mein Feuerfunken, ohne dich frisst mich die Kälte auf. Selbst wenn du schimpfst, wärmst du mein Herz. Wenn du misstrauisch bist, wenn du lachst, wenn du seufzt, gibst du meinem Leben Feuer. Wenn du mich ansiehst, brenne ich vor Leidenschaft. Ich war noch nie so überzeugt, verrückt nach dir zu sein, wie hier auf dieser Landstraße, im Schnee kniend, neben dieser armen Kuh und neben Irwin.«

»Irwin, wer ist denn das?«

»Der Besitzer der Kuh. Aber ich nenne ihn lieber Winnie. Er ist auch für den Antrag. Vielleicht spricht das zu meinen Gunsten …«

Er lächelt mich an, dann wird seine Stimme plötzlich wieder ernst.

»Heirate mich, Scarlett. Lass mich nicht weiter in der Kälte knien.«

Mein ganzes Leben zieht vor mir vorüber. Das ist Wahnsinn, der pure Wahnsinn.

Und dann sage ich:

»Ja!«

Winnie, der eigentlich Irwin heißt, murmelt etwas. Ich gehe um die Kuh herum, um mich in Williams Arme fallen zu lassen. Er hat gerade noch Zeit, aufzustehen, und wäre beinahe gestolpert. Ist mir egal. Wir küssen uns wie vor einem Jahr am Flughafen Heathrow, als ich schon abfliegen wollte und er mich bat, mich auf das Abenteuer einzulassen und zu sehen, wohin es uns führt. Ich spüre Schneeflocken auf meiner Wange. Als ich die Augen öffne, sehe ich, wie sie schimmernd in der Luft tanzen. Dieses Bild will ich im Kopf behalten.

Wir haben es geschafft, das Weihnachtswunder umgibt uns mit seinem Zauber.

In diesem Moment durchdringt ein Muhen die Luft. Durch den Körper der Kuh geht ein Zittern, und nach ein paar energischen Verrenkungen steht das Tier wieder auf. Winnie stößt einen Freudenschrei aus und hängt sich um ihren Hals. Selbst ich habe Lust, diese Kuh zu umarmen.

Heute ist der 24. Dezember.

Heiligabend.

1

Etwa ein Jahr späterFreitag, der 16. Dezember

Der Wetterbericht kündigt Schnee für die nächsten Tage an. Genau kann er es nicht vorhersagen. Spannung ist das Geheimnis des Wetterberichts. Ich bete laut, dass der bleierne graue Himmel, der seit 43 Tagen über uns hängt, sich erst nach meiner Hochzeit entlädt. Der Saal, in dem der Empfang stattfinden soll, ist nicht weit von zu Hause entfernt, aber nicht auszudenken, was passiert, wenn auf der Straße vierzig Zentimeter Neuschnee liegen.

»Schau mal, eine Schneeflocke«, sagt meine Schwester Mélie ruhig.

»Was? Wo?«

»Ist schon wieder weg. Schneeflocken haben ja nur eine kurze Lebensdauer. Deshalb sind sie so kostbar.«

Ich werde nervös. Im Gegensatz zu Mélie. Meine Schwester Melanie ist seltsam und ziemlich speziell, sie verfügt über eigene Codes, die nur in ihrer Welt funktionieren. Manchmal kann keiner verstehen, was sie sagt, wenn sie in unserer Welt auftaucht. Sie war nicht immer so. Aber eines Tages, als sie ungefähr sieben war, wollte sie wissen, »wie die Bäume ganz oben schmecken«. Sie kletterte also den Baum hinauf, bis ganz nach oben, und dann rutschte sie ab. Nach sechs Monaten Koma kehrte sie zu uns zurück, die Ärzte sagten damals, sie sei vielleicht nicht mehr ganz die Alte und würde nie mehr so werden. Meine Mutter hingegen ist der Überzeugung, Mélie sei nicht allein zurückgekommen und hätte es geschafft, zwischen ihren Fingern ein paar »Stücke Engel« festzuhalten, und jetzt würde sie auf eine Art leuchten, die nicht jeder verstehen könnte. Ich glaube, sie hat sich im Multiversum aufgehalten.

Komm, Scarlett, ganz ruhig, alles halb so wild. Es ist doch nur Schnee.

Wir fahren weiter Richtung London, laut Navi sind wir in wenigen Minuten am Ziel.

»Komisch, diese englische Unart, auf der falschen Seite zu fahren, weiß man, woher das kommt?«, fragt meine Mutter (die ich nie in das Auto hätte steigen lassen sollen). »Alle anderen Länder fahren auf der anderen Seite, auf der richtigen Seite. Was für eine idiotische Idee, links zu fahren!«

»Wir machen das, um aufzufallen«, sagt Thomas, mein künftiger Schwager, vom Rücksitz aus in dem exzellenten Französisch, das alle in seiner Familie sprechen.

»Dafür habt ihr doch schon die Queen«, sagt meine Mutter.

In meinen Schläfen pocht es plötzlich wie in einem Resonanzkasten. Vor gut einer Woche sind meine Mutter und meine Schwester gekommen, um mir bei den letzten Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. Ich habe den Eindruck, dass auch Thomas, seit ihn sein schwuler Freund fallen gelassen hat, bei uns wohnt, wenn auch nicht offiziell. Es sind zu viele Leute in meinem kleinen Leben. Ich habe sie bisher alle gut beschäftigt, aber heute wollte ich meinen Hochzeitsplaner in der City treffen, um mich für ein paar Stunden nur mit meinem schönsten Tag zu beschäftigen und mit nichts sonst. Fehlgeschlagen.

»Ich weiß immer noch nicht, warum ihr mich unbedingt begleiten wolltet. Es geht um Kleinigkeiten, ihr habt Besseres zu tun, als im Stau zu stehen und die Menschenmassen in der Stadt zu ertragen.«

»Nein«, antworten meine Mutter und Williams Bruder wie aus einem Munde.

Mauricio Keynes, mein Hochzeitsplaner,wartet in seinem Büro im Norden Londons auf mich. Wir wollen unter anderem über die Tischdekoration sprechen. Ich hätte es auch telefonisch machen können, aber ich dachte, ich könnte ein bisschen Zeit allein in dem weihnachtlich geschmückten London verbringen. Ein kleiner Bummel durch die leuchtenden Straßen im urbanen Zauberland der Weihnachtszeit. Schaufenster mit bunten Lichtern und schwebenden Marionetten und Teesalons voller Girlanden und Pfefferkuchen. In der Zeit hätte meine Mutter meine Küche neu dekoriert, Thomas sich in Mitleid gebadet, weil er nun wieder Single ist, und alles wäre perfekt gewesen. War das zu viel verlangt?

»Es dauert eigentlich nur fünf Minuten …«

»Du willst also auf die Unterstützung deiner Mutter und deiner Schwester bei deiner Hochzeit verzichten? Das meinst du doch, oder?«

Don’t feed the Kraken.

»Und auch nicht die Hilfe deines künftigen Schwagers annehmen, den sowieso keiner mag«, fügt Thomas mit Leidensmiene hinzu. Er übertreibt mal wieder, wie es seine Art ist.

»Natürlich nicht. Aber es ist nur ein Treffen wegen der Tischdekoration, es geht nicht um das Brautkleid. Außerdem wollte ich die Gelegenheit nutzen, mir Schaufenster anzusehen, und das magst du doch gar nicht, Mama.«

»In Saint-Malo finde ich das grässlich, weil ich alle Läden in- und auswendig kenne. Aber hier ist eine ganz andere Welt, und alles ist so wundervoll dekoriert, wie kannst du nur denken, dass ich das nicht mag?«

»Deine Mutter hat recht, deine Erklärung ist ein bisschen dürftig«, bemerkt Thomas, der nie Öl ins Feuer gießt.

»Oh! Eine zweite Schneeflocke.«

»Mélie, bitte hör auf die Schneeflocken zu zählen, das nervt!«

»Hier, nimmt das. Zur Beruhigung«, befiehlt meine Mutter und zieht aus ihrer Handtasche einen Plastikbeutel mit dubiosen gelben Bonbons hervor.

»Was ist denn das für ein Zeug?«

»Traust du deiner eigenen Mutter etwa nicht?«

Bei Arzneimitteln lieber nicht.

»Doch, schon, aber ich möchte wissen, was ich da schlucken soll.«

»Diese Frage hätte ich mir lieber öfter stellen sollen«, seufzt mein künftiger Schwager.

Thomas, Williams Bruder und unser Trauzeuge, ist das genaue Gegenteil von seinem Bruder. Während William reserviert und voller britischem Sarkasmus ist, zeichnet sich Thomas durch theatralisches Verhalten und wilde Exzesse aus. Sein Freund Moshe, mit dem er inoffiziell fünf Jahre zusammen war und offiziell seit anderthalb Jahren, hat ihn vor kurzem wegen seines Physiotherapeuten verlassen. Seither gibt es kein Zimmer in unserem Haus, in dem er nicht sein Leid vor sich herträgt.

Wie immer fühlt William sich verpflichtet, alles zu tun, damit es seinem kleinen Bruder besser geht. Ich bin mir nicht sicher, dass er dafür besonders geeignet ist, aber seit ihrer frühen Kindheit funktioniert ihr Tandem so: William zieht, Thomas lässt sich ziehen. William organisiert etwas, Thomas bringt alles durcheinander. Ich würde mich hüten zu sagen, dass ihre Beziehung nicht ausgeglichen ist. Doch so ist es seit jenem berühmten Unfall, den William sich nicht verzeihen kann. Drei tobende Jungen, eine Glasvitrine, die zu Bruch geht, Thomas verliert die Sehkraft auf einem Auge, und William nimmt die Schuld auf sich, um den Bruder vor dem Zorn ihrer tyrannischen Mutter zu schützen. Eine Geschichte wie aus einem Dickens-Roman, und heute, zwanzig Jahre später, hat sich nichts verändert.

»Das ist kandierte Yuzu«, sagt meine Mutter, »das ist gut gegen Stress.«

»So ein Quatsch, ich habe noch nie gehört, dass Yuzu beruhigt.«

»Du glaubst also, ich gehöre zu den Leuten, die ihren eigenen Töchtern irgendeinen Mist geben, damit sie gesund werden?«

Ach was!

Mélie und ich sind nur deshalb noch am Leben, weil unser Immunsystem offenbar mutiert ist, um das Hexengebräu zu verkraften, das wir in unserer Kindheit trinken mussten. Deshalb wollen wir nach unserem Tod unsere Körper auch der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Sie werden erstaunt sein, was sie bei den Proben finden werden, aber dadurch kann die Menschheit vielleicht die nächste Apokalypse überleben … Ich öffne den Mund und esse ein Stückchen von der kandierten Frucht oder was immer dieses Zeug ist. Was es ist, soll ich nicht so genau wissen.

»Es schmeckt nicht gerade gut.«

»Sonst würde es auch nicht wirken. Pass lieber auf die Straße auf, es schneit.«

»Hatte ich doch gesagt«, meint Mélie versonnen, die einen Arm um Thomas gelegt hat.

Als die beiden sich vor zwei Jahren begegnet sind, wurden sie auf Anhieb beste Freunde. Ich bin Thomas dankbar, dass er meine Schwester gernhat und nichts darauf gibt, dass sie so anders ist, aber ich bin auch ein bisschen eifersüchtig. Mélie und ich stehen uns sehr nah, vor allem seit ihrem Sturz vom Baum und dem langen Koma. Damals habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, sie in einem hübschen Zimmer ganz oben in einem Turm unterzubringen, von einem Drachen bewacht und mit einem geheimen Zugang, den nur ich kannte. Damals hatte ich offenbar ein Gespür für richtiges Handeln und Spezialeffekte. Aber eines Tages würde jemand sie genauso sehen wie ich und sie mir wegnehmen.

Na ja, ich könnte mich dieses anderen ja immer entledigen. Ein bisschen Maiglöckchensaft in die Coca-Cola, und die Sache wäre geritzt.

Nachdem ich zehn Minuten in der Nähe des Kaufhauses Westfield herumgekurvt bin, finde ich endlich einen Parkplatz. Als wir aus dem Auto steigen, wirbeln die Schneeflocken nur so um uns herum, aber glücklicherweise bleiben sie nicht liegen.

»Gut, also wir sehen uns alles an, tun unsere Meinung kund und gehen dann ein bisschen bummeln, bevor wir zum Flughafen fahren und die anderen abholen.«

Die anderen, das sind meine Tanten und mein Cousin, die am späten Nachmittag aus Korsika kommen. Sie einzuladen, war die schlechteste Idee, die ich in den letzten sechs Monaten hatte.

Wir haben sie seit über zehn Jahren nicht gesehen, aber soviel ich weiß, sind Tante Giulia und Tante Pietra vom selben Schlag wie meine Mutter, nur noch etwas schlimmer. In der Archer-Familie machen wir keine halben Sachen und glauben, die Erde würde sich auftun, wenn wir nicht aus allem ein Drama machen. Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte und er sie überredete, die schönste Insel von allen und vor allem ihre Schwestern zu verlassen, um mit ihm in die Bretagne zu ziehen, war das für die Familie meiner Mutter wie eine Kriegserklärung. Am Anfang taten sie so, als hielten sie die Verbindung zu ihr, aber vor zehn Jahren gab es mal wieder einen Streit, den keiner so richtig verstand. Danach brachen sie alle Brücken ab.

Jedenfalls bis zu Papas Tod. Kaum war der unerwünschte Kidnapper unter der Erde, riefen meine Tanten meine Mutter wieder an, als hätte es die zehn Jahre der Funkstille nie gegeben. Meine Familie ist in ihrer Inkohärenz sehr kohärent. Mélie und ich haben von dieser Annäherung nichts gespürt – nicht alle Brücken lohnen einen Wiederaufbau, aber da unsere Mutter sich so allein fühlte, haben wir nichts gesagt. Warum ich mich habe breitschlagen lassen, die korsische Verwandtschaft zu meiner Hochzeit einzuladen, kann ich mir allerdings bis heute nicht erklären.

»Aber reden wir denn nicht mit deinem … äh … diesem …?«, fragt meine Mutter und verstummt.

»Mit Mauricio? Worüber sollten wir mit ihm reden?«

»Ich weiß nicht, ich stelle mir vor, dass die Tischdekoration vielleicht nicht so schön ist, wie du es dir vorgestellt hast.«

»Mama, die Hochzeit ist in knapp einer Woche, wir haben jetzt nicht mehr die Zeit, irgendetwas zu ändern. Der Tisch wird so aussehen wie auf den Fotos, einfach sehr gut. Und falls es nicht so ist, musst du eben während der Feier an etwas anderes denken.«

»Wenn du meinst«, seufzt sie theatralisch.

»Du sorgst mit deiner Angst am Ende noch für einen Riesenschlamassel.«

»Und du beschwörst den Schlamassel herauf, wenn du davon redest.«

»Danke, Mélie, du bist mir eine große Hilfe.«

»Immer wieder gerne. Wenn du an etwas zweifelst, brauchst du dich nur der Philosophie zuzuwenden.«

»Manchmal ist deine Philosophie ziemlich bescheuert«, sagt Thomas und zieht sich seinen roten Schal vors Gesicht. Ich schließe die Augen und hole tief Luft. Meine Mutter kann nicht rennen. Mélie weigert sich, es zu tun, und Thomas hat Angst, dass er zu sehr ins Schwitzen kommt. Wenn ich jetzt anfange zu laufen, kann ich sie alle abhängen. Mir ist die Tischdekoration egal, die Tanten ebenfalls, es gibt Prioritäten im Leben, meine seelische Unversehrtheit zum Beispiel. Ein verführerischer Gedanke!

Mélie gibt mir einen leichten Stoß mit dem Ellbogen in die Seite und holt mich in die Wirklichkeit zurück. Wir gehen an reich geschmückten Auslagen vorbei, es sind die letzten Verkaufstage vor dem Fest – ja, ich heirate tatsächlich an Heiligabend. Ich liebe Weihnachten, aber es war nicht meine Idee. Sie kam von William. Er fand, das sei die beste Art, meines Vaters zu gedenken, der dem Weihnachtsritual immer huldigte, wenn wir daraus ein besonderes Ereignis machen, an das ich mich jedes Jahr erinnern kann. Ich heirate ihn auch aus diesem Grund. Aber ebenso wegen des wunderschönen Kleides, das ich entdeckt habe. Weihnachten heiraten? Warum nicht? Papa hätte das sehr gefallen, ganz bestimmt.

Mauricios Büro befindet sich in einem Loft in der zweiten Etage eines eleganten modernen Gebäudes. Thomas hat ihn mir empfohlen, er hat stets wertvolle Kontakte parat für den Fall, dass jemand ein unvergessliches Fest feiern will. Mein Hochzeitsplaner ist zwar ein recht ausgefallener Typ und benimmt sich oft wie eine Diva, hat aber einen sehr guten Geschmack, das muss ich anerkennen. Bei jedem unserer Treffen zeigte er mir Kataloge und Fotos, sprudelte von Ideen nahezu über, die das Dekor und die schicksten und originellsten Accessoires betreffen. Ich traue mich kaum, es zu sagen, denn ich will nicht prätentiös erscheinen und auch keinen Schlamassel heraufbeschwören, aber meine Hochzeit wird bestimmt die schönste von allen.

Ich drücke auf den Klingelknopf und höre, wie eine der zahlreichen Assistentinnen von Mauricio mich fragt, wer ich bin.

»Scarlett Archer, ich habe einen Termin bei Mauricio.«

»Ms. Archer, ja … richtig, also …«