Die Malerin des Lichts - Agnès Gabriel - E-Book

Die Malerin des Lichts E-Book

Agnès Gabriel

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Beschreibung

»Malen ist für mich so wichtig wie atmen.« Berthe Morisot.

Paris, 1868: Nachdem die junge Malerin Berthe erlebt hat, wie ihre Schwester die Kunst nach der Hochzeit aufgeben musste, will sie niemals heiraten. Sie begegnet dem Wegbereiter der Moderne Édouard Manet, der in der betörend schönen Frau seine Muse findet. Ihre künstlerischen Ambitionen indes belächelt er – obwohl Berthes Bilder teils höhere Preise erzielen als seine. Dann trifft sie seinen Bruder Eugène, der sich in sie verliebt und um ihre Hand anhält. Doch kann Berthe sich auf diese Liebe einlassen, ohne ihren Weg als Malerin zu riskieren? 

Ein farbenprächtiger, üppiger Roman über eine freie, überaus moderne Frau, die so viel mehr war als Manets Muse.

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Seitenzahl: 385

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Über das Buch

Dank ihrer großbürgerlichen Herkunft ist es Berthe Morisot und ihrer Schwester Edma möglich, ihre Ambitionen als Malerinnen zu verfolgen. Doch nach ihrer Hochzeit wird Edma gezwungen, die Kunst aufzugeben, und Berthe muss miterleben, wie ihre lebensfrohe Schwester als Ehefrau verkümmert. Berthe beschließt, niemals zu heiraten, und setzt alles daran, ihren eigenen Stil weiterzuentwickeln, um Licht und Farbe harmonisch miteinander zu vereinen. Sie macht Bekanntschaft mit dem großen Édouard Manet, der in der ausnehmend schönen und klugen Frau seine Muse findet. Ihren Ehrgeiz als Malerin belächelt er jedoch, und das, obwohl ihre Bilder bisweilen höher gehandelt werden als die seinen. Als sich dann sein jüngerer Bruder Eugène in Berthe verliebt, zögert sie lange, sich auf ihre Gefühle für ihn einzulassen – zu groß ist ihre Sorge, die Kunst zugunsten von Ehe und Familie opfern zu müssen …

Über Agnès Gabriel

Agnès Gabriel ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Die gelernte Kunsthistorikerin und Romanistin hat mehrere Jahre wissenschaftlich gearbeitet, bevor sie journalistisch tätig wurde und belletristisch zu schreiben begann. Mit ihren historischen Romanen, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, hat sie sich ein internationales Publikum erobert. Die Autorin lebt in Hamburg.

Im Aufbau Taschenbuch sind ebenfalls ihre Romane »Merci, Monsieur Dior« und »Die Coutière. Elsa Schiaparelli und die Kunst der Mode« lieferbar.

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Agnès Gabriel

Die Malerin des Lichts

Manet sucht in ihr seine Muse, doch Berthe Morisot findet ihren eigenen Weg in der Kunst

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Gespräch unter Brüdern

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Gespräch unter Brüdern

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Gespräch unter Brüdern

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Was danach geschah

Einige Worte an die Leserinnen und Leser

Historische Personen

Zum Weiterlesen:

Impressum

Für meine Mutmacherinnen

Malen ist für mich so notwendig wie atmen.

Berthe Morisot (1841–1895)

Kapitel 1

»Darf ich Sie mit zwei bezaubernden jungen Damen bekannt machen, mein lieber Freund? Mademoiselle Berthe und Mademoiselle Edma sind die Töchter von Monsieur Morisot, dem Leiter des Rechnungshofes. Sicher haben Sie schon von ihm gehört.«

Abrupt legt Berthe Pinsel und Palette auf das Tischchen neben der Staffelei und wischt sich die farbverschmierten Hände an dem braunen Kittel ab. Sie ist verärgert. Erstens, weil sie es hasst, bei der Arbeit gestört zu werden, denn die erfordert ihre volle Konzentration. Und zweitens, weil der Mann, dessen näselnde Stimme sie sogleich erkannt hat, sie und ihre ältere Schwester als Töchter eines stadtbekannten Finanzbeamten tituliert hat.

Eine steile Falte ragt zwischen ihren Augenbrauen auf. Wen hat zu interessieren, wessen Töchter sie sind? Sie sind Berthe und Edma Morisot und in den Louvre gekommen, um als zukünftige Malerinnen Ausschnitte aus einem Gemälde des flämischen Malers Peter Paul Rubens zu kopieren. Genauso wie die anderen Schüler, allesamt junge Burschen, die am Vorbild der großen Meister von Renaissance und Barock Proportionen, Perspektive und Farbauftrag studieren. Mit dem Unterschied, dass diese Männer ihre Ausbildung an einer der zahlreichen Malakademien oder gar der renommierten Académie des Beaux-Arts absolvieren. Frauen hingegen ist der Zugang zu dieser Einrichtung verwehrt. Nur in der Rolle als Aktmodell ist es ihnen gestattet, die heiligen Hallen der Académie zu betreten. Daher erhalten Berthe und ihre ältere Schwester Edma Unterricht bei einem Privatlehrer. Solche Maler machen sich das Reglement der Akademien zunutze und bilden junge Mädchen und Frauen in ihren eigenen Ateliers aus.

Mit zusammengekniffenen Lippen wendet Berthe sich um und wirft ihrem Lehrer Monsieur Camille Corot einen verächtlichen Blick zu. Doch der bemerkt nichts vom Unmut seiner Schülerin, viel zu sehr ist er damit beschäftigt, seinen zerknitterten, aus der Mode gekommenen Mantel mit fahrigen Händen glatt zu streichen. Vermutlich, um nicht allzu nachlässig neben seinem jüngeren Begleiter zu wirken. Dessen Kleidung ist von ausgesuchter Eleganz. Das feine Wolltuch beweist den erlesenen Geschmack seines Trägers ebenso wie das handwerkliche Geschick des Schneiders. Berthes geschultes Auge registriert wohlwollend die fein aufeinander abgestimmten Grün- und Brauntöne von Anzug, Weste, Mantel, Hut und Schal.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mesdemoiselles Morisot, mein Name ist Édouard Manet.«

Berthe spürt einen kräftigen Händedruck und merkt auf. Das also ist der Mann, den der vor wenigen Monaten verstorbene Dichter Charles Baudelaire als »Maler des modernen Lebens« bezeichnet hat. Der von Kollegen seiner Zunft hoch geschätzt und von Auftraggebern hofiert wird. Der von den meisten Kritikern jedoch wegen der harten Konturlinien von Personen und Gegenständen und seiner ungemischten Farbpalette verlacht oder verhöhnt wird. Der »Bürgerschreck«, dessen Gemälde mehrfach zum Tumult geführt haben, weil sie, nach Meinung des Publikums, das sittliche Empfinden stören. Manets Charaktere sind Menschen der Gegenwart, ohne Bezug zur Mythologie oder Überhöhung durch religiöse Symbolik, wie es die Maltradition verlangt. Seine Frauenfiguren sind Frauen aus dem Volk. Manchmal leicht bekleidet – oder auch gänzlich unbekleidet.

Aus dem Augenwinkel heraus beobachtet Berthe, wie Edma Monsieur Manet ihr warmherzigstes Lächeln schenkt. Ihr entgeht auch nicht das verräterische Glitzern in den Augen der Schwester. Es erscheint immer dann, wenn sie sich von einem Mann angezogen fühlt, was mitunter schnell geschieht. Doch während Edma sich in romantischen Zukunftsträumen ergeht, sind alle diese Männer entweder verheiratet oder haben keinerlei Ambitionen, ein Leben als Ehemann zu führen. Insgeheim bedauert Berthe die Schwester um ihre Trugbilder. Sie selbst hat sich noch nie verliebt und hat auch nicht vor, dies jemals zu tun.

»Wie lange nehmen Sie schon bei meinem Freund Unterricht?« Seine Stimme hat ein tiefes, raues Timbre, jede Silbe ist überdeutlich artikuliert.

Über Edmas Wangen huscht ein rosiger Hauch. »Seit drei Jahren, Monsieur Manet.«

Monsieur Corot streckt die Brust vor und streicht mit dem Daumen selbstgefällig über seinen braunroten Schnurrbart. »Die beiden sind meine fleißigsten Schülerinnen, sie haben bereits mehrfach im Salon ausgestellt. Mit anderen Worten, die Desmoiselles wussten die strenge Jury zu überzeugen.«

»Zuvor hat uns Monsieur Guichard unterrichtet. Er war es, der uns das erste Mal in den Louvre geführt hat«, ergänzt Berthe, immer noch verärgert über die Taktlosigkeit ihres Lehrers. Außerdem möchte sie vermeiden, dass Monsieur Manet den Eindruck gewinnt, ihre erfolgreiche Teilnahme beim jährlichen Salon, dem großen Pariser Kunstereignis des Jahres, sei allein auf die Lektionen bei ihrem Lehrer Corot zurückzuführen.

Unauffällig späht sie zum Ende des langen Korridors, an dessen Wänden sich ein goldgerahmtes Gemälde an das nächste reiht. Dort sitzt ihre Mutter auf einem Klappstuhl und ist über einer Stickarbeit eingenickt. Glücklicherweise, denn sonst käme Marie Morisot womöglich auf die Idee, sich in die Unterhaltung einzumischen. Nicht aus Interesse, sondern um sicherzustellen, dass die Grenzen des Schicklichen gewahrt bleiben. Schließlich diskutieren ihre unverheirateten Töchter mit zwei Männern. Ob diese Junggesellen oder verheiratet sind, spielt keine Rolle. Sie sind Männer, also ist erhöhte Wachsamkeit erforderlich.

Die beiden Künstler treten einige Schritte zurück, bis sie das Gemälde des großen flämischen Meisters und die davorstehenden Staffeleien der Schwestern im Blick haben. Mehrmals kneift Monsieur Manet die Augen zusammen, dann nickt er beifällig in Richtung seines Malerfreundes.

»Eine erstaunlich reife Leistung für zwei so junge Damen … Rubens war ein Meister der minutiösen Pinselführung, er verknüpfte dramatisches Geschehen mit leuchtender Farbigkeit. Man erkennt das Bestreben Ihrer Schülerinnen, das Thema präzise nachzubilden. Recht anschaulich auch, wie sie sich in die Gefühlswelt der agierenden Personen hineinversetzen.«

»Die Historie ist und bleibt die Königsdisziplin der Malerei«, bekundet Monsieur Corot voller Eifer. Monsieur Manet verbeugt sich leicht in Richtung der beiden Schwestern.

»Jeder Kopist weiß, dass die Auseinandersetzung mit einem Gemälde wie Der Austausch der Prinzessinnen technisch herausfordernd ist. Ich muss feststellen, dass die Desmoiselles Morisot die Anmut der dargestellten Adelsdamen bei Weitem übertreffen. Würde Rubens heute leben, er würde Sie beide porträtieren wollen.«

Berthe überhört bewusst die Bemerkung über ihr Aussehen und spürt ihr Herz pochen. Monsieur Manet, der bekannteste und einflussreichste Maler von Paris, hat ihre Arbeit gelobt! Er, der in der Presse als kauziger Eigenbrötler verschrien ist, erweist sich in Wirklichkeit als charmanter und einnehmender Mann. Eine Malerpersönlichkeit wie ihn wollte sie schon immer einmal kennenlernen.

Nach einem vierstimmigen Wortwechsel über die unterschiedlichen Oberflächenstrukturen durch den Einsatz von Rund-, Flach- und Schrägpinseln verabschieden sich die beiden Männer. Manets Blick ist ebenso nachdrücklich wie sein Händedruck.

»Au revoir, Mesdemoiselles. Ich hoffe, wir sehen uns recht bald wieder.«

Als die Männer außer Hörweite sind, zittert Edmas Hand, die zum Pinsel greift. »Sag mir, dass ich nicht träume. War das eben tatsächlich der berühmte Édouard Manet, der mit uns gesprochen hat?«

Während Berthe sich wieder ihrer Arbeit zuwendet, mischt Edma gedankenverloren einen Farbton nach dem nächsten auf der Palette. Und doch ist sie zu keinem Pinselstrich mehr fähig. Also begnügt sie sich damit, für heute ihrer Schwester beim Auffüllen einer Rosenblüte zuzusehen.

»Wer war denn der elegant gekleidete Herr, den ich vorhin an der Seite von Monsieur Corot aus dem Rubens-Saal eilen sah?«, möchte Marie Morisot von ihren Töchtern wissen. In diesem Augenblick schwenkt ihr Gefährt ruckartig erst nach links, dann nach rechts. Vermutlich hat der Kutscher gerade noch rechtzeitig ein Schlagloch umfahren können. Der Weg am Seine-Ufer zwischen dem Musée du Louvre und der Rue Franklin, dem Zuhause der Familie Morisot, wird täglich von einer Vielzahl an Fuhrwerken genutzt. Der Jahresbeginn 1868 mit seinen frostigen Temperaturen hat ein Übriges getan, die Straßen in einen beklagenswerten Zustand zu versetzen.

»Das war Monsieur Manet«, erklärt Berthe und hört die Schwester neben sich leise seufzen.

»Manet …«, Madame Morisot kräuselt die Lippen, »… nun ja, in den Zeitungen liest man so manches Widersprüchliche über diesen Maler. Er scheint die Kritiker geradezu herauszufordern. Zumindest ist er von tadelloser Herkunft. Sein Vater war Richter und arbeitete im Justizministerium. Die Mutter ist die Tochter eines französischen Diplomaten und wurde in Göteborg geboren. Der schwedische König Karl der Dreizehnte war einer ihrer Paten. Das weiß ich von der Comtesse de Valmont, die donnerstags zur Soirée von Madame Manet geht.«

»Stellen Sie sich vor, Maman, Monsieur Manet hat unsere Arbeit gelobt.« Aus Edmas Worten sind Aufregung und Stolz deutlich herauszuhören.

»Wie schön für euch. Ihr solltet aber bedenken, dass ein solches Lob zwei Seiten hat …« Madame Morisot öffnet die große Gobelintasche, in der sie ihr Stickzeug verstaut hat, und zieht einen Briefumschlag hervor. »Dieser Brief eures Lehrers erreichte mich am Vormittag. Monsieur Corot schreibt: … Ich fühle mich verpflichtet, Sie auf einen Umstand hinzuweisen, der nicht vorhersehbar war. Sie hatten mich gebeten, Ihre Töchter zu unterrichten und zu Freizeitmalerinnen auszubilden, die die Verwandtschaft zu Festen und Jubiläen mit gefälligen kleinen Aquarellen erfreuen. Bei dem Talent, das beide besitzen, besteht jedoch die Aussicht, dass aus ihnen einmal Künstlerinnen werden könnten. In gesellschaftlichen Kreisen wie den Ihren dürfte das einer Revolution gleichkommen, wenn nicht gar einer Katastrophe …«

Edma verdreht die Augen, und Berthe ringt um Luft. »Das ist ungeheuerlich. Manet, der bekannteste lebende Maler Frankreichs, lobt unsere Arbeit, und Corot, dieser greise, siebzigjährige Pinselgelehrte, spricht von Revolution und Katastrophe.«

»Berthe, mäßige dich, so spricht man nicht über seinen Lehrer. Womöglich hat Monsieur Corot sogar recht, wenn er meint …« Ihr Zeigefinger gleitet suchend über die mit brauner Tinte verfassten Zeilen. »Doch könnten die beiden jungen Damen der Sache der Malerei weitaus mehr dienen, wenn sie jeweils ein Mitglied der Académie heirateten.«

Fassungslos starrt Berthe ihre Schwester an und verstummt für den Rest der Kutschfahrt.

Monsieur Edmé Morisot füllt zum zweiten Mal seinen Teller mit dem Pot‑au-feu und blickt stirnrunzelnd zu seinen Töchtern hinüber. »Was ist mit euch? Warum esst ihr nichts? Den ganzen Abend über sitzt ihr mürrisch und schweigsam am Tisch. Ihr solltet zumindest einige Löffel von dem Eintopf probieren, das Rindfleisch ist wunderbar zart.«

»Ich bin schon satt, Papa«, presst Berthe zwischen den Lippen hervor.

»Ich mag auch nichts mehr essen«, erklärt Edma entschlossen. Sie erntet einen strengen Blick des Vaters und einen dankbaren Seitenblick der Schwester, wie immer, wenn sie der jüngeren in kritischen Momenten beisteht.

»Welche Laus ist euch denn heute wieder über die Leber gelaufen?«

»Sie wissen doch, Edmé …«, erwidert die Mutter und legt ihrem Ehemann beschwichtigend die Hand auf den Arm, »… junge Mädchen haben an einem Tag den Appetit eines Löwen und am nächsten Tag den eines Spatzen. So ist die weibliche Natur nun einmal, es besteht kein Grund zur Sorge.«

Monsieur Morisot brummt etwas Unverständliches und löffelt weiter seinen Eintopf. Dann hält er inne und richtet vorwurfsvoll den Zeigefinger auf seine Töchter. »Ihr seid ohnehin viel zu dünn, vor allem du, Berthe. Ein Besenstil hat mehr Umfang als du. Man kann nicht nur von Luft und Malerei leben. Das Renekloden-Kompott werdet ihr doch hoffentlich essen.«

Im Gleichtakt schütteln Berthe und Edma den Kopf.

»Darf ich?« Blitzschnell greift Tiburce, der jüngste Spross der Familie Morisot, zu zwei Kompottschälchen und zieht sie zu sich heran. Vergnügt zwinkert er seinen Schwestern zu und widmet sich höchst zufrieden dem Nachtisch.

Als Edmé Morisot die Tafel aufhebt, ziehen sich die drei Geschwister in ihre Zimmer zurück. Tiburce in seine Kammer unter dem Dach und Berthe und Edma in den ersten Stock, wo sie sich ein Zimmer teilen. Die Eheleute beschließen, sich zum Abschuss des Tages an den Kamin zu setzen, wo der Hausherr sich selbst ein Glas Beaujolais und seiner Ehefrau ein Glas Chartreuse einschenkt.

»Es wird Zeit, dass die Mädchen sich an ihrer ältesten Schwester ein Beispiel nehmen und heiraten. Dann vergehen ihnen auch so manche Flausen. Dieses Gehabe ums Essen ist lächerlich«, klagt Monsieur Morisot und steckt sich eine Zigarre an.

Seine Ehefrau nickt ergeben und nimmt einen tiefen Zug von dem Kräuterlikör.

»Ich weiß nicht, ob ich diese Nacht schlafen kann, ich muss fortwährend an Monsieur Manet denken, an seinen warmen Blick, den festen Händedruck und was er zu uns gesagt hat. Jedes seiner Worte könnte ich wiederholen.« Edma hat die Bettdecke fast bis zur Nasenspitze hochgezogen und beobachtet die jüngere Schwester, wie sie sich vor dem Ankleidespiegel das lange dunkle Haar bürstet.

»Sein Schneider dürfte dank ihm zu den Wohlhabenden in unserer Stadt zählen. Und da sagt man immer uns Frauen nach, wir seien eitel«, entgegnet Berthe. Dass auch sie von diesem Maler beeindruckt ist, gesteht sie sich nur insgeheim ein. Auch wenn er mit seiner beginnenden Stirnglatze, den Falten um die Augenpartie und den zu großen Ohren kein Schönling ist, strahlt er eine Präsenz und Souveränität aus, die einen unmittelbar in Bann ziehen.

»Wie alt mag er sein?«, fragt Edma sinnend.

»Auf jeden Fall bedeutend älter als wir«, erklärt Berthe bestimmt. »Warum interessiert dich das?«

»Er ist so … ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Monsieur Manet ist etwas ganz Besonderes, ein außergewöhnlicher Mann. Das muss dir doch auch aufgefallen sein. Hoffentlich kommt er wieder in den Louvre, wenn wir das nächste Mal dort sind.«

»Er ist ein Freund von Monsieur Corot, sonst wissen wir nichts über ihn. Wir haben nur wenige Worte miteinander gewechselt. Womöglich wollte Monsieur Manet uns schmeicheln, weil er meint, er könne auf diese Weise Frauen für sich einnehmen. Vielleicht wollte er sich auch über uns lustig machen, weil er ein Spötter ist. Oder aber, er ist in Wirklichkeit derselben Ansicht wie unser ignoranter Lehrer, dass wir lieber einen Maler heiraten als weiterhin selbst malen sollten.« Während sie dies sagt, spürt Berthe, wie sich ihre anfängliche Begeisterung für diesen Maler in Luft auflöst. Nein, sie wird sich nicht von falschem Lob blenden lassen. Sie wird ihren Weg gehen, und niemand wird sie davon abhalten können. Eines Tages wird sie eine erfolgreiche und geachtete Malerin sein.

Empört richtet Edma sich im Bett auf. »Das glaube ich nicht. Er klang so freundlich und aufrichtig. Ich hätte doch gespürt, wenn er es nicht ehrlich meint. Was glaubst du, ob er noch Junggeselle ist?«

Berthe schüttelt die Federdecke auf und steigt in ihr Bett an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Ganz sicher ist Monsieur Manet ein glücklicher Ehemann und fürsorglicher Vater einer großen Kinderschar.«

In diesem Augenblick landet ein Kissen aus Edmas Richtung auf Berthes Gesicht. »Du bist gemein, du bist so gemein.«

Kapitel 2

Am folgenden Mittwoch, dem Wochentag für die Kopisten, fahren die beiden Schwestern wie gewohnt in den Louvre, um ihre Studien an dem Rubens-Gemälde fortzusetzen. Reproduktionen von Gemälden berühmter Künstler sind bei ausländischen Touristen und dem Pariser Bürgertum gleichermaßen beliebt. Vielen der angehenden jungen Malerinnen und Maler eröffnet sich dadurch eine wichtige Einnahmequelle. Während Berthe an einem Spitzenkragen weiterarbeitet, kann Edma sich nur mit Mühe konzentrieren. Immer wieder blickt sie um sich, in der Hoffnung, den Mann zu entdecken, der ihr so sehr imponiert hat.

Auch in der Woche darauf bleibt ihr Wunsch unerfüllt. Lediglich Monsieur Corot lässt sich kurz blicken und korrigiert bei Berthe einen Schlagschatten auf der Wange eines Puttos und bei Edma den Grünton einer Wasserpflanze. Dann entschwindet er zur nächsten Schülerin in einen anderen Saal.

»Warum ist Monsieur Manet noch nicht aufgetaucht? Schließlich hat er bei der Verabschiedung gesagt, er hoffe, uns bald wiederzusehen«, klagt Edma.

»Das kann er aus purer Höflichkeit gesagt haben, eine Floskel eben. Bestimmt hat er unsere Unterhaltung längst vergessen.« Ungerührt tupft Berthe ein wenig Ultramarin auf die rechte Gesichtshälfte des Puttos.

»Warum bist du nur so garstig?«, beschwert sich Edma. Verärgert packt sie ihre Malsachen in einen länglichen Holzkasten. »Für heute habe ich keine Lust mehr. Ich gehe jetzt zu Maman und leiste ihr Gesellschaft, bis du fertig bist.«

»Bleib doch, Edma. Ich wollte dich nicht vergraulen. Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst. Monsieur Manet ist ein gestandener Mann und ein anerkannter Maler. Warum sollte er sich ausgerechnet für zwei angehende junge Malerinnen interessierten?« Sie mischt ein wenig Weiß unter ein helles Blau und tupft mit dem Pinsel zart über einen Perlenohrring. »Im Übrigen halte ich Monsieur Corot für einen Heuchler. Was ist das für ein anmaßender Gedanke, dass wir lieber einen Maler heiraten als selbst malen sollten … Gleichzeitig unterrichtet er mehrere Schülerinnen, von denen er obendrein Geld nimmt. Viel Geld sogar. Ich bin der Meinung, dass wir keinen Lehrer mehr brauchen. Wir besitzen mittlerweile genug technische Kenntnisse.«

Die Familie hat das Abendessen beendet. Edmé Morisot faltet seine Damastserviette zusammen und legt sie neben den Teller. Auffordernd blickt er zu seiner Ehefrau.

»Was wollten Sie uns denn Wichtiges erzählen, meine Liebe? Sie taten vorhin recht geheimnisvoll. Dürfen wir jetzt die Neuigkeit erfahren?«

Marie Morisot setzt eine gewichtige Miene auf. »Am Nachmittag erhielt ich einen Brief von Monsieur Manet.« Bedeutungsschwer schaut sie ihre beiden Töchter an. »Wo steht es denn? … ach, hier … durfte ich die Bekanntschaft Ihrer beiden bezaubernden und begabten Töchter machen, auf die Sie sehr stolz sein dürfen. Ich plane ein neues Bild, eine Balkonszene mit drei oder vier Personen, und ich möchte Sie fragen, verehrte Madame Morisot, ob Ihre Tochter Berthe willens ist, mir Modell zu sitzen. Und falls ja, was ich sehr hoffe, ob Sie und Ihr Gatte mit dieser Entscheidung einverstanden sind.«

Berthe ist sprachlos. Edma hingegen braucht offenbar einen Moment, um zu begreifen. Dann zeigt sich in ihren Augen eine abgrundtiefe Enttäuschung: Er will Berthe malen, einzig und allein Berthe!

Madame Morisot wendet sich ihrem Gatten zu. »Was halten Sie von diesem Vorschlag, Edmé?«

Nachdenklich streicht sich Monsieur Morisot über den Bart. »Nun, ich weiß nicht recht. Würde es nicht dem Ruf unserer Familie schaden, wenn ganz Paris unsere Tochter auf dem Gemälde eines Skandalmalers erkennt?«

»Meine Schwester hüllenlos auf einer Leinwand … auf diesen Anblick würde ich gern verzichten«, ereifert sich Tiburce. Sofort trifft ihn die Schuhspitze von Berthe am Schienbein. Der strafende Blick seiner Mutter lässt ihn verstummen.

»Du solltest dich schämen, Tiburce. Du hast doch gehört, was ich vorgelesen habe. Es geht um eine Balkonszene.« Madame Morisot greift zu ihrem Weinglas und blinzelt ihrem Mann über den Rand hinweg zu. »Monsieur Manet ist ein Maler mit guter Reputation und von ehrenhafter Herkunft. Bestimmt wird er einmal weltberühmt. Das habe ich bei meinen Soiréen aus den Diskussionen herausgehört. Monsieur Degas und Monsieur Mendès halten ihn für äußerst begabt. Sie besuchen beide den Jour fixe von Monsieur Manets Mutter.« Sie legt die Hand auf den Arm ihres Gatten, als wolle sie einen etwaigen Widerspruch von vornherein entkräften. »Außerdem würde von seinem Ruhm auch etwas auf unsere Familie abstrahlen. Ich bin der Meinung, Berthe sollte zusagen, nicht wahr, Edmé?«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, meine liebe Marie.«

Im Gesicht der Mutter sieht Berthe Genugtuung aufblitzen.

»Berthe, was sagst du dazu? Ist dieses Angebot nicht schmeichelhaft für dich?«

Mehrmals muss Berthe schlucken. Am liebsten würde sie den Vorschlag empört und auf der Stelle zurückweisen. Schließlich ist sie Malerin und nicht Modell! Andererseits verspürt sie ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Innern. Sie würde diesem Künstler bei der Arbeit zusehen können und eventuell herausfinden, was seine Einzigartigkeit und Widersprüchlichkeit ausmachen. Vielleicht könnte sie sogar von ihm lernen, natürlich ganz unauffällig und ohne dies jemals preiszugeben. Vielleicht wäre sie aber auch enttäuscht, und Manet würde sich als wenig geistvoll erweisen. Dann hätte sie ebenfalls einen Erkenntnisgewinn. »Ich möchte eine Nacht über den Vorschlag schlafen, Maman.« Aus dem Augenwinkel wird sie Edma gewahr, die wie erstarrt neben ihr sitzt. Der Schwester zuliebe schließt sie eine Frage an. »Wissen Sie, ob Monsieur Manet Familie hat?«

»Nein, dazu kann ich nichts sagen. Wir verkehren zwar in denselben Kreisen, sind einander aber noch nicht begegnet. Von der Comtesse de Valmont weiß ich, dass die Manets wohlhabend sind und eine Reihe von Häusern und Grundstücken besitzen. Auf den Verkauf seiner Bilder ist Monsieur Manet also nicht angewiesen.«

Edma erhebt sich abrupt von ihrem Stuhl. »Ich habe schreckliches Kopfweh. Bitte entschuldigen Sie mich.« Sehr aufrecht eilt sie aus dem Raum. Madame Morisot hebt die Brauen und schaut nachdenklich ihrer Tochter hinterher.

»Was ist mit dir, Edma, hast du tatsächlich Kopfschmerzen?« Berthe setzt sich zu ihrer Schwester auf die Bettkante und legt ihr den Arm um die Schultern. Mit zusammengebissenen Lippen sitzt Edma da und starrt vor sich hin. »Nun sag schon, oder ist es wegen des Briefes, den Maman vorgelesen hat?«

»Warum will er dich malen und nicht mich? Ich bin viel schöner als du«, platzt es aus Edma heraus.

Berthe schluckt einen bissigen Kommentar hinunter und versucht, die Schwester zu besänftigen. »Ganz sicher denkt er, dass du, so hübsch, wie du bist, längst einen Verlobten hast und dass es sich aus diesem Grund nicht schickt, wenn du ihm Modell sitzt.«

»Niemals würde ich einen Mann heiraten, der mir nicht erlaubt, bei Monsieur Manet Modell zu sitzen«, entgegnet Edma, und es klingt zornig.

»Aber woher sollte Monsieur Manet das wissen?«

Schniefend zieht Edma ein Taschentuch aus der Rocktasche und betupft sich die Augen. »Meinst du, Monsieur Manet malt demnächst auch mich, und du bist nur zufällig die Erste von uns beiden, die er fragt?«

In ihren Augen liest Berthe leise Hoffnung. Nur schwer kann sie es ertragen, wenn die ältere Schwester traurig ist. Nicht einen Tag waren sie jemals getrennt voneinander gewesen, sie lachen und weinen zusammen. Nicht nur in ihrem Äußeren sind sie sich ähnlich, sie haben dieselbe Begabung und dasselbe Ziel: Sie wollen Malerinnen werden. Auf diesem Weg kritisieren, korrigieren und loben sie einander, jede kann sich auf das Urteil der anderen verlassen.

»Ich vermute, dass die Wahl nur deshalb auf mich fiel, weil der erste Buchstabe meines Vornamens im Alphabet weiter vorn liegt als deiner«, versucht Berthe sich mit einer unverfänglichen Erklärung. »Vielleicht malt er uns eines Tages sogar zusammen. Wäre das nicht großartig?«

»Ja, das wäre wunderbar«, seufzt Edma und drückt ihrer Schwester erleichtert einen Kuss auf die Wange.

Drei Tage später schickt Madame Morisot eine Nachricht an Monsieur Manet. Ihre Tochter sei gewillt, sich von ihm porträtieren zu lassen.

Kapitel 3

In Begleitung ihrer Mutter betritt Berthe das Atelier von Monsieur Manet zum ersten Mal. Es befindet sich in der Rue de Saint-Pétersbourg, einer gutbürgerlichen Gegend mit mehrstöckigen sandsteinfarbenen Stadthäusern in der Nähe der Gare Saint-Lazare. Rauchschwaden und das Zischen und Pfeifen der an- und abfahrenden Lokomotiven dringen herüber.

Der Raum mit den hohen Decken ist groß und hell. Zur Einrichtung gehören samtbezogene Sessel und Tischchen aus der Zeit des Empire. Ein Paravent, bemalt mit Vögeln vor dem Hintergrund einer exotischen Landschaft, zeugt von der außerordentlichen Qualität japanischer Kunst, die sich besonders in den gehobenen Kreisen großer Beliebtheit erfreut. An den Wänden hängen unzählige Gemälde, gerahmt und ungerahmt, andere liegen auf dem Boden oder sind gegen die Wand gelehnt. Überall befinden sich Blumen in Vasen, Krügen oder Schälchen. Ihr süßlicher Duft vermischt sich mit dem von Terpentin und Leinöl. Im hinteren Teil des Ateliers, der Rue de Saint-Pétersbourg abgewandt, sind ein goldgerahmter Standspiegel und ein hohes Regal mit Farben, Tiegeln, Pinseln und Paletten zu sehen.

Der Hausherr trägt einen dunkelblauen Malerkittel mit eingestickten Initialen am Kragen. Nirgends auf dem seidig glänzenden Stoff ist auch nur der kleinste Farbsprenkel zu erkennen. »Herzlich willkommen, Madame und Mademoiselle Morisot. Darf ich Ihnen die Mäntel abnehmen? Dort drüben auf dem Tischchen finden Sie Tee und Butterkekse, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird. Zuerst aber möchte ich Ihnen mein Atelier zeigen.«

Wortreich geleitet Monsieur Manet seine Besucherinnen von Bild zu Bild, weiß zu jedem eine Geschichte zu erzählen und erweist sich als amüsanter Plauderer. »Wollen Sie dort hinten im Ohrensessel Platz nehmen, Madame Morisot? Währenddessen stelle ich Ihrer Tochter meine Bildkomposition vor.«

Er führt Berthe zu einer Staffelei mit einer großformatigen Leinwand, aufgezogen auf einen Keilrahmen. Darauf sind die Umrisse von drei Personen in Lebensgröße zu sehen. Zwei Frauen, die eine stehend, die andere sitzend, dahinter ein Mann. Im Vordergrund ist mit wenigen Kreidestrichen ein Balkongitter angedeutet.

»Meine Vorbilder sind die großen spanischen Meister Velázquez und Goya«, erläutert Manet. Berthe kommt es vor, als betone er jede Silbe wie ein Schauspieler, der auf der Bühne einen Text deklamiert. Womöglich fühlt er sich in diesem Moment auch wie jemand, der seinem Publikum ein spannendes Geschehen nahebringt.

»Bei dieser Szene habe ich mich von Goyas Gemälde Majas auf einem Balkon inspirieren lassen.« Mit einer dynamischen Handbewegung deutet Manet auf die Umrisszeichnung. »Ich möchte die Figuren allerdings nicht miteinander kommunizieren lassen, jede soll für sich allein stehen. Für den Hintergrund plane ich eine zweite Männerfigur, einen Diener, der den Tee bringt. Sein Erscheinen verweist darauf, dass die Figuren im nächsten Moment gemeinsam handeln werden.«

Das erwähnte Gemälde von Goya ist Berthe vertraut. Sie kennt es von einem Folianten mit Kupferstichen aus der Privatbibliothek ihres früheren Lehrers Joseph Guichard. »Welche der beiden Frauenfiguren soll ich darstellen, Monsieur Manet?« Angespannt horcht sie in sich hinein, ob sie selbst eine Vorliebe verspürt.

»Für die sitzende Figur hat sich eine Freundin des Hauses, Fanny Claus, als Modell angeboten. Allerdings bin ich der Ansicht, dass Sie, Mademoiselle Morisot, diese Position einnehmen sollen. Ich stelle mir vor, dass Sie einen zusammengeklappten Fächer in der rechten Hand halten und Ihren Unterarm auf das Balkongitter stützen.«

»Und wer stellt den Mann hinter der stehenden Frauenfigur dar?«

»Antoine Guillemet, ein Landschaftsmaler und Freund. Für den noch fehlenden Diener ganz im Hintergrund wird mein Patensohn Léon Modell stehen. Würden Sie hier vorn Platz nehmen und Ihren Arm auf dem Pult ablegen? Dann können wir beginnen.«

Manet führt Berthe zu einem Sessel mit grün gestreiftem Samtbezug und wartet, bis sie sich hingesetzt und ihr Kleid glatt gestrichen hat. Dann legt er behutsam ihren rechten Unterarm auf einem Mahagoni-Pult ab. »Drehen Sie den Kopf leicht nach rechts, aber nur so weit, dass Sie die Rückseite der Leinwand noch im Blick behalten. Jetzt das Kinn ein wenig nach oben … das genügt. Können Sie diese Stellung halten?«

»Aber ja«, antwortet Berthe, ohne ihre Körperhaltung auch nur einen Millimeter zu verändern. Marie Morisot unterbricht ihre Häkelarbeit und beobachtet das Geschehen aufmerksam. Manet tritt vor die Staffelei, so dass für Berthe nur noch seine Unterschenkel und die Füße zu sehen sind. An seinen Bewegungen und an dem leicht kratzenden Geräusch der Kreide erkennt sie, dass er die Umrisszeichnung bearbeitet. Zwischendrin taucht der Kopf des Malers neben der Staffelei auf, dann verschwindet er wieder.

Fragen über Fragen gehen Berthe durch den Kopf. Worauf nur hat sie sich eingelassen? Will sie tatsächlich von diesem Maler auf ein Stück Tuch gebannt werden? Wer wird dieses Bild, wenn es fertig ist, einmal betrachten? Wie viele Jahre wird es überdauern und von ihrer gemeinsamen Arbeit zeugen? Zehn Jahre, zwanzig oder vielleicht sogar hundert? Wie aber wäre es … dieser Gedanke kommt ihr ganz unvermittelt … wie wäre es, wenn sie die Positionen tauschten? Manet auf dem Sessel und sie an der Staffelei. Er das Modell und sie die Malerin.

Bevor sie diesen Gedanken zu Ende bringen kann, erscheint ein junger Mann im Atelier. Er ist schmal, blass und jung. Vielleicht gerade einmal sechzehn Jahre alt, fünf Jahre jünger als ihr Bruder Tiburce. Er tritt hinter die Staffelei, und Berthe hört ihn und Manet miteinander flüstern. Dann taucht der Maler wieder neben der Leinwand auf.

»Mesdames, wir machen jetzt eine kleine Pause. Ich möchte Ihnen meinen Patensohn vorstellen. Léon, das sind Madame und Mademoiselle Morisot.«

Der junge Mann nickt schüchtern. »Guten Tag.« Er verschränkt die Hände hinter dem Rücken und blinzelt verlegen. »Au revoir.« Dann hastet er aus dem Atelier, als würde er vor etwas flüchten. Berthe ist der weiche, warme Klang aufgefallen, der sich in Manets Stimme geschlichen hat. Etwas Fürsorgliches, Zartes hat sie rausgehört, etwas, das ihr Inneres berührt. Manet schenkt ihnen Tee ein und nimmt sich selbst zwei Butterkekse.

Um ihre verspannten Gliedmaßen zu lockern, geht Berthe durch das Atelier und schreitet von einem Bild zum nächsten. Jetzt, da sie allein vor den Gemälden steht und die dargestellten Szenen in Ruhe auf sich wirken lassen kann, ist sie angesichts des energischen Pinselstrichs und der kühnen Farbzusammenstellung irritiert und fasziniert zugleich. Diese Bilder berühren und provozieren. Bei zwei der männlichen Figuren fällt ihr eine Ähnlichkeit mit Monsieur Manet auf. Ob es sich um Brüder des Malers handelt, die ihm Modell gestanden haben? Eine Vielzahl an Radierungen belegt, dass der Maler auch die Technik der Druckgraphik beherrscht. Währenddessen unterhält Manet sich offenbar prächtig mit ihrer Mutter, die sich, wie Berthe an der höheren Stimmlage erkennt, geschmeichelt fühlt, von einem wesentlich jüngeren Mann auf so unverfängliche und charmante Art hofiert zu werden.

Die Sitzung wird schließlich fortgesetzt, und als Berthe schon befürchtet, ihr Nacken sei völlig steif geworden, kommt die erlösende Meldung von der anderen Seite der Leinwand.

»Danke für Ihre Geduld, wir machen für heute Schluss.«

Beim Abschied hält Manet Berthes Hand einen Moment länger als unbedingt erforderlich. »Wäre es Ihnen möglich, zur nächsten Sitzung ein weißes Kleid zu tragen, Mademoiselle Morisot? Ich sehe Sie ausschließlich in dieser Farbe auf dem Bild. In den Vordergrund will ich ein türkisfarbenes Balkongitter setzen.«

»Und was hat er noch gesagt?«, will Edma aufgeregt wissen, als die Schwestern am Abend zu Bett gehen. »Warum will er dich in Weiß malen? Deine Lieblingsfarbe ist doch Schwarz, hast du ihm das nicht gesagt?«

»Nein, und ich bin auch niemandem Rechenschaft schuldig, welche Kleiderfarbe ich bevorzuge. Auch nicht, wenn ich bei Monsieur Manet Modell sitze. Beim nächsten Mal werde ich wieder ein schwarzes Kleid anziehen – und ein weißes mitnehmen. Das kann er sich von mir aus über den Paravent hängen und abmalen. Sofern er weiterhin der Ansicht ist, dass das Weiß für seine Komposition entscheidend ist.«

»Das ist alles so aufregend. Wie schade, dass nicht ich deine Aufpasserin sein kann anstelle von Maman.«

Unwillkürlich muss Berthe lachen. »Ich sehe dich gerade mit einem Spitzentaschentuch und einer Häkelnadel vor mir … Nein, diese Aufgabe überlassen wir lieber unserer Mutter. Dafür erzähle ich dir auch das, was Maman nicht in allen Details mitbekommen hat.«

»Und was ist das?«, will Edma mit großen Augen wissen.

Dann berichtet Berthe von der Begegnung mit Léon, dem Patensohn, und wie warmherzig Manet mit ihm gesprochen hat.

»Ach, Berthe, ich beneide dich. Wie gern würde ich mit dir tauschen.«

Kapitel 4

Nach zwei weiteren Sitzungen unter den aufmerksamen Blicken von Madame Morisot hält diese es für angebracht, den Porträtisten ihrer jüngsten Tochter zu ihren Dienstags-Soiréen einzuladen. »Ich würde mich freuen, Sie demnächst in der Rue Franklin Nummer sechzehn willkommen zu heißen, Monsieur Manet. Sie werden zahlreiche alte Bekannte antreffen.«

»Glaubst du, er kommt heute, Berthe? Wie steht mir das gelbe Kleid? Meinst du, es macht mich zu blass? Soll ich lieber das blaue anziehen, das ich mir zu meinem letzten Geburtstag habe nähen lassen?« Aufgeregt läuft Edma zwischen Kleiderschrank und Ankleidespiegel hin und her, legt sich erst ein Schultertuch um, dann wechselt sie den Spitzenkragen.

»Beide Kleider stehen dir gut. Doch vielleicht ist das gelbe eher eine Sommerfarbe«, meint Berthe, die bereits fertig angekleidet ist. Sie trägt ein hochgeschlossenes, schmal fallendes Kleid mit drapiertem Überrock, der an der Rückseite und unterhalb der Hüften mit Schleifen verziert ist. Selbstverständlich in ihrer Lieblingsfarbe Schwarz.

»Dann also das blaue«, seufzt Edma ergeben und öffnet den Kleiderschrank. »O nein, da ist ja ein Flecken am Ärmel. Das kann ich auf keinen Fall anziehen. Was mache ich jetzt nur? Ausgerechnet heute, wo ich doch besonders hübsch aussehen will.«

»Du siehst in jedem Kleid hübsch aus, Edma. Wenn du möchtest, such dir etwas von mir aus. Ich gehe jetzt hinunter und sage Maman, dass du in wenigen Minuten fertig bist.«

Seit jeher hält Marie Morisot dienstags zwischen drei und sechs Uhr nachmittags ihre Soiréen ab. Die Gäste nehmen auf samtbezogenen Sesseln im Salon Platz und pflegen heitere, manchmal auch ernste Konversation. Die Wände des großen achteckigen Raums sind mit pastellfarbenen Streifentapeten verkleidet. Gemälde in kunstvoll geschnitzten Holzrahmen, meist Porträts einer langen Ahnenreihe, hängen dicht an dicht. Zu den besonderen Vergnügungen des Hausherrn gehört es, mehrmals im Jahr Möbel zu verrücken und Bilder umzuhängen. Gern wäre er Architekt geworden, doch das Schicksal hat aus ihm einen Finanzbeamten gemacht.

Auf nahezu jeder waagerechten Fläche stehen mehrarmige Kerzenleuchter. Mannshohe Palmen in üppig bemalten Blumentöpfen schaffen eine mediterrane Atmosphäre. Blickfang auf dem Kaminsims ist eine Tischuhr aus der Zeit Kaiser Napoléon Bonapartes, darüber prangt ein ovaler, goldgerahmter Spiegel. Auf mehreren Beistelltischen stehen Silbertabletts mit kleinen Brotscheiben, belegt mit Käse, Pastete oder Räucherfisch, außerdem Biskuits und Petits Fours, zubereitet von Margot, dem langjährigen normannischen Hausmädchen.

Die Besucher verweilen kaum länger als eine halbe Stunde, viele von ihnen gehen zu mehreren Gesellschaften am Tag. Meist kommen die Damen allein, da ihre Ehemänner sich noch bei der Arbeit im Ministerium oder in Kanzleien befinden. Auch einzelne männliche Personen sind gelegentlich anzutreffen, vorzugsweise Schriftsteller, Maler, Musiker oder Komponisten, die nicht an feste Arbeitszeiten gebunden sind. Mit solchen Gästen umgibt sich Madame Morisot am liebsten. Da Edmé Morisot ein nüchtern-sachlicher Mensch und kein Theatergänger ist, bleibt für sie, die einmal davon träumte, Pianistin zu werden, ein Besuch in der Oper oder im Konzerthaus ein Wunschtraum. Eine verheiratete Frau ihres Standes geht nicht ohne die Begleitung des Ehemannes in ein Theater. Das würde einen von ihr so gefürchteten Skandal hervorrufen. Folglich ist die Begegnung mit Künstlern für Marie Morisot ein Ersatz für das, was ihr an eigenem Erleben versagt bleibt.

Von den Schriftstellern schätzt Berthe den burschikosen, spöttisch dreinblickenden Catulle Mendès am meisten, der ihrer Meinung nach die schönsten Gedichte schreibt und die amüsantesten Geschichten zu erzählen weiß. Der besondere Liebling ihrer Mutter ist Giacomo Rossini, ein fünfundsiebzigjähriger, in Italien geborener Komponist. Seine Leibesfülle entspricht seinem Humor, beide sind immens. Mit besonderem Vergnügen liefert er sich Wortgefechte mit dem deutlich jüngeren Mendès, der sein Enkel sein könnte.

Sobald einer der malenden Gäste wie Claude Monet, Auguste Renoir oder Edgar Degas den Salon betritt, sind Berthe und Edma zur Stelle. Schnell verlieren sie sich in Fachsimpelei. Dann muss die Mutter sie mit einem mahnenden Blick daran erinnern, was ihre eigentliche Aufgabe ist. Nämlich den Gästen Tee und Kaffee anzubieten.

Gern würden Berthe und Edma diese Gespräche in ihrem Atelier fortsetzen. Sie sehnen sich nach dem Austausch unter Gleichberechtigten, mit Künstlern, die alle schon im Salon ausgestellt haben. Doch davor hat die Mutter sie eindringlich gewarnt.

»Ihr seid die Töchter des Hauses, und es schickt sich nicht, solche bedeutenden Männer zu behelligen. Jeder der Herren soll sich als Gast fühlen und nicht als Berater zweier malender Mädchen.«

Manchmal erheitern die Schwestern die Besucher mit ihrem Klavierspiel, das sie seit ihrem achten Lebensjahr pflegen. Wie es sich für junge Mädchen aus gutem Hause gehört. Ungern erinnert sich Berthe an ihr früheres Zuhause am Stadtrand von Paris, als sie und Edma noch kein eigenes Atelier hatten. Dort mussten sie, bevor die Gäste zum Jour fixe kamen, ihre Malutensilien in einem Schrank und die Staffeleien hinter einem Paravent verschwinden lassen.

Als Berthe jetzt in den Salon tritt, sieht sie ihrer Mutter die Ungeduld an der Nasenspitze an. »Wo bleibt ihr denn nur? Soll ich meinen Gästen heute etwa selbst die Getränke servieren?«, flüstert sie verärgert.

»Edma hat vorhin einen Flecken auf ihrem Kleid entdeckt. Sie will sich nur rasch umziehen und kommt dann sofort«, beschwichtigt Berthe. Sie eilt in die Küche, wo die füllige und stets gut gelaunte Haushälterin Margot ein Tablett mit hauchdünnem chinesischem Porzellan und eine silberne Zuckerdose bereitgestellt hat. Berthe füllt den Tee in die fragilen Tassen und geht zurück in den Salon. Die Gesellschaft ist in gelöster Stimmung, es wird gescherzt und gelacht. Dort, wo mehrere Männer aufeinandertreffen, sind manchmal erbitterte Diskussionen vernehmbar. Meist geht es um Politik, um Theaterkritiken oder um Ruderwettbewerbe auf der Seine.

»Oh, was für ein köstlicher Tee … Sie werden jeden Tag hübscher, Mademoiselle Berthe. Bestimmt stehen Ihre Verehrer Schlange, und jetzt haben Sie die Qual der Wahl, wer Sie zum Traualtar führen soll.«

Berthe hasst derartige Anspielungen, und sie hasst Madame Fournier. Die taktlose Dame ist eine alte Schulfreundin ihrer Mutter, eine unansehnliche Person mit langer spitzer Nase, einem zentimetergroßen Muttermal auf dem Kinn und eng stehenden Augen. Die Frau scheint ihre Befriedigung darin zu finden, andere zu brüskieren, sofern sie sich nicht gänzlich herablassend über sie äußert.

»Die aschfarbene Bluse steht Ihnen hervorragend, Madame Fournier. Sie harmoniert perfekt mit Ihrem Teint«, erklärt Berthe und setzt ihr verbindlichstes Lächeln auf.

In diesem Moment betritt ihre Schwester den Salon, und Berthe weiß sofort, was ihr fragender Blick heißen soll: Ist Monsieur Manet gekommen? Leise schüttelt sie den Kopf und wendet sich den anderen Besucherinnen zu. »Eine Tasse Tee, Madame? Darf ich Ihnen ein Petit Four bringen?«

Den ganzen Nachmittag über scheint Edma unkonzentriert. Fortwährend blickt sie zur Tür, doch der, den sie erwartet, erscheint nicht. Auch Berthe ist enttäuscht. Sie hatte sich fest vorgenommen, Monsieur Manet unter einem Vorwand und ohne das mütterliche Einverständnis durch ihr Atelier zu führen, nachdem sie das seine bereits kennengelernt hat.

Drei Wochen vergehen, bis Monsieur Manet endlich in der Rue Franklin erscheint. Wie immer ist er umgeben von dieser besonderen Aura, die so anziehend wirkt. Eine Mischung aus Selbstsicherheit und Zurückhaltung, Ernsthaftigkeit und leiser Ironie, gepaart mit unaufdringlicher und umso augenfälliger Eleganz. Sofort ist er von den anwesenden Damen jenseits der Dreißig umringt. Jede hofft auf ein Kompliment, ein Lächeln oder Augenzwinkern. Eine knisternde Stimmung macht sich breit, die ein unbefangener Beobachter auf das Rascheln der aufwändig gearbeiteten seidenen Taftkleider zurückführen könnte.

Vor Aufregung rutscht Edma beinahe ein Tablett mit Tassen aus der Hand. Berthe hat Mitgefühl mit ihrer Schwester, die sich so offensichtlich um Monsieur Manet bemüht. Sie schenkt ihm Tee ein, bringt ihm einen Teller mit Mandelgebäck und Petits Fours und versucht, ihn in ein Gespräch über den anstehenden Salon im Mai zu verwickeln.

Irgendetwas gefällt Berthe nicht an dieser Szene, die sie vom Kamin aus beobachtet. Sie könnte nicht sagen, was, doch eine innere Stimme sagt ihr, dass Edma ihre Schwärmerei auf den falschen Mann richtet.

»Wenn Sie wünschen, Maman, werde ich unseren Gästen etwas auf dem Klavier vorspielen«, flüstert Edma der Mutter zu, die gerade ihre Schulfreundin Madame Fournier verabschiedet. Ein kurzer, lobender Blick, dann wendet sich Marie Morisot mit bedeutungsvoller Stimme an ihre Gäste. »Liebe Freunde, meine Tochter Edma möchte Sie heute mit einigen Klavierstücken unterhalten. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.«

Unter dem Beifall des Publikums lässt Edma sich auf der Klavierbank nieder. Feinfühlig und mit scheinbarer Leichtigkeit intoniert sie zuerst ein Allegro assai von Franz Schubert, dann ein Präludium von Johann Sebastian Bach. Beim Rondo von Wolfgang Amadeus Mozart fliegen ihre Hände nahezu über die Tasten. Berthe beobachtet Manet, der mit geschlossenen Augen den Klängen lauscht. Auch sie ist ergriffen, noch nie hat ihre Schwester makelloser gespielt als heute. Als Edma geendet hat und begeisterter Beifall den Salon erfüllt, ahnt Berthe, was die Schwester zu ihrem furiosen Vortrag angespornt haben mag: die Hoffnung, dass Monsieur Manet, wenn er sie schon nicht als Modell gewählt hat, dann zumindest aufgrund ihres Klavierspiels wahrnimmt. Bei seiner Verabschiedung stehen die Hausherrin und ihre Töchter nebeneinander.

»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Mademoiselle Morisot. Sehr geschickt, wie Sie auf Bachs Präludium in C‑Dur etwas so Dynamisches wie Mozarts Rondo alla turca folgen ließen. Ihr Spiel beweist Könnerschaft ebenso wie Leidenschaft. Ich maße mir ein solches Urteil an, weil meine Frau Pianistin ist. Sie hat vor Jahren Eugène und Gustave, meine beiden jüngeren Brüder, im Klavierspiel unterrichtet.« Mit einer halben Körperumdrehung wendet Manet sich der Gastgeberin zu und zieht einen Brief aus der Innentasche seines Jacketts. »Darf ich Ihnen diese Einladung überreichen, Madame Morisot? Meine Mutter und meine Frau würden sich freuen, wenn Sie zu ihrem Jour fixe am Donnerstag kämen. Meine Privatwohnung und mein Atelier liegen nur wenige Schritte voneinander entfernt.«

Ein kräftiger Händedruck und eine höfliche Verbeugung, dann entschwindet Monsieur Manet. Aus Edmas Gesicht ist jede Farbe gewichen. Ganz fest presst sie die Fingerspitzen gegen die Schläfen.

»Bitte entschuldigen Sie, Maman, ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Das Vorspiel hat mich zu sehr angestrengt.« Mit unsicheren Schritten wankt Edma aus dem Salon, und Berthe sieht sich in ihrer Vorahnung bestätigt. Am liebsten würde sie der Schwester hinterherlaufen, sie in den Arm nehmen und tröstende Worte für sie finden. Doch es würde unangenehm auffallen, wenn beide Töchter sich plötzlich zurückziehen. Also unterstützt sie mit betont gelassener Miene die Mutter in ihrer Gastgeberinnenrolle. Zu ihrem Verdruss hatte sie keine Gelegenheit, Monsieur Manet in ihr Atelier zu führen. Das will sie unbedingt bei seinem nächsten Besuch nachholen. Ihre Schwester wird ihr dabei helfen müssen, indem sie die Mutter ablenkt.

Später, beim gemeinsamen Abendessen, fehlt Edma. Bevor der Vater unangenehme Fragen stellen kann, berichtet ihm seine Frau wortreich von dem wunderbaren Klavierspiel der älteren Tochter und dass sie damit die gesamte Nachmittagsgesellschaft in Verzückung versetzt habe. Völlig verausgabt müsse sie sich für den Rest des Tages schonen.

Missbilligend schüttelt der Hausherr den Kopf. »Immer diese Empfindlichkeiten bei den jungen Mädchen … Gottlob hat das Schicksal mir nicht nur Töchter, sondern auch einen Sohn geschenkt.«

Tiburce reckt das Kinn vor und lächelt herablassend. »Grämen Sie sich nicht, Papa. Wir Männer sind nun einmal aus einem anderen Holz geschnitzt.«

Berthe weist ihren Bruder mit tadelndem Blick zurecht. Seine Antwort ist ein müdes Achselzucken.

Als sie später in das gemeinsame Zimmer kommt, hockt die Schwester schluchzend und in sich zusammengesunken auf dem gobelinbestickten Sofa, einem Erbstück ihrer verstorbenen Großeltern. Berthe setzt sich neben sie und legt ihr den Arm um die Schultern. »Es tut mir so leid für dich, Edma. Aber hast du allen Ernstes geglaubt, dass dieser Mann noch zu haben ist?« Sie zieht ein Taschentuch aus der Rocktasche und reicht es der Schwester, der die Tränen über das Gesicht rinnen.

»Ich hatte es gehofft, weil … ich war mir sicher, dass auch er etwas für mich empfindet, ganz deutlich habe ich das gespürt.«

»Ach, Edma, du hast es weniger gespürt als gewünscht.«

»Ich musste fortwährend an ihn denken, in jeder Minute. Nachts habe ich von ihm geträumt und mir vorgestellt, wie wir Arm in Arm durch den Louvre gehen und er mir jedes Bild erklärt. Ich werde mich nie wieder verlieben, und ich will mich auch nie wieder verlieben. So etwas passiert mir nicht noch einmal«, beschließt sie trotzig.

Behutsam streicht Berthe der Älteren über das Haar. »Ich glaube nicht, dass du dich ernsthaft verliebt hast. Was dich überkommen hat, ist eine Schwärmerei. Ich frage Margot, ob sie dir eine heiße Schokolade macht. Bestimmt sieht morgen die Welt schon wieder anders aus.«

Auch wenn Berthe über die plötzlich aufgetretene Schwermut ihrer Schwester Stillschweigen wahrt, ahnt Marie Morisot doch, dass dies etwas mit dem Besuch von Monsieur Manet zu tun haben muss.

»Sag deiner Schwester, dass sie jederzeit zu mir kommen kann, falls sie etwas bedrückt.«

»Edma fehlt nichts, Maman. Sie ist nur ein wenig erschöpft, weil sie sich den Kopf darüber zerbricht, welche Bilder sie zum diesjährigen Salon einreichen soll.«

Diese Notlüge dient Berthe auch dazu, sich selbst zu schützen. Schon vor Jahren hat sie beschlossen, heikle Themen wie Liebe, Verlobung oder eine künftige Heirat niemals von sich aus anzusprechen. Allzu leicht würde ihre Mutter sie ermahnen, sich endlich für einen der Ehekandidaten, die sie ihr seit Jahren vorstellt, zu entscheiden.

»Für eine Frau bedeutet es das größte Glück, ihrem Ehemann zu dienen und eine Familie zu gründen«, lautet die Devise von Madame Morisot. Doch Berthes größtes Glück ist die Malerei, nur ihr fühlt sie sich verpflichtet. Schließlich weiß sie, dass eine Malerin, sobald sie einen Ehering trägt, für immer den Pinsel aus der Hand legen muss und sich fortan nur noch um Heim und Herd zu kümmern hat. Alles andere wäre eine Ehrverletzung dem Ehemann gegenüber und in den Augen der Gesellschaft verwerflich.