Merci, Monsieur Dior - Agnès Gabriel - E-Book
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Merci, Monsieur Dior E-Book

Agnès Gabriel

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Beschreibung

»Glück ist das Geheimnis aller Schönheit.« Christian Dior.

Frankreich, 1947. Auf der Flucht vor den Zwängen des Lebens einer Ehefrau in der Provinz kommt Célestine nach Paris, wo sie dem menschenscheuen Designer Christian Dior begegnet. Die junge Frau inspiriert den Couturier mit ihrer natürlichen Weiblichkeit, sie wird seine Privatsekretärin und Muse. Die Menschen tragen schwer an den Folgen des Krieges, doch die Welt ist im Aufbruch, man sehnt sich nach Schönheit, so dass Diors femininer New Look schon bald weltweit bejubelt wird. Zwischen Haute Couture und neuer Opulenz droht Célestine sich zu verlieren, aber dann findet sie – die Liebe …

Eine junge Frau sucht ihr Glück im Paris der Nachkriegszeit und begegnet Christian Dior, mit dessen New Look eine neue Ära der Mode beginnt.

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Über Agnès Gabriel

Agnès Gabriel ist eine deutsche Autorin und Journalistin. Sie schreibt unter verschiedenen Pseudonymen historische Romane und Frauenromane. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Lüneburger Heide.

Informationen zum Buch

»Glück ist das Geheimnis aller Schönheit.« Christian Dior.

Frankreich, 1947: Auf der Flucht vor den Zwängen des Lebens einer Ehefrau in der Provinz kommt Célestine nach Paris, wo sie dem menschenscheuen Designer Christian Dior begegnet. Die junge Frau inspiriert den Couturier mit ihrer natürlichen Weiblichkeit, sie wird seine Privatsekretärin und Muse. Die Menschen tragen schwer an den Folgen des Krieges, doch die Welt ist im Aufbruch, man sehnt sich nach Schönheit, so dass Diors femininer New Look schon bald weltweit bejubelt wird. Zwischen Haute Couture und neuer Opulenz droht Célestine sich zu verlieren, aber dann findet sie – die Liebe …

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Agnès Gabriel

Merci, Monsieur Dior

Roman

Inhaltsübersicht

Über Agnès Gabriel

Informationen zum Buch

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Prolog

Teil Eins: Aufbruch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Teil Zwei: Wagnis

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Teil Drei: Erfüllung

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Epilog

Nachwort

Zum Weiterlesen

Impressum

Für meine Mutmacherinnen

Eine Dame trägt keine Kleider. Sie erlaubt den Kleidern, von ihr getragen zu werden.

Yves Saint Laurent (1936–2008)

Prolog

Über der Stadt spannte sich ein tiefblauer Sommerhimmel. Sie bat den Taxifahrer, einen Umweg zu nehmen. Von der Gare Saint-Lazare fuhren sie nach Süden, Richtung Seine-Ufer. Als sie vor einer Kreuzung stehen bleiben mussten, kurbelte sie das Fenster herunter. Hörte das Klappern eines defekten Auspuffs, das Aufheulen von Automotoren, die Trillerpfeife des Verkehrspolizisten auf seinem Podest, das durchdringende Hupen eines Busfahrers, die Rufe des Zeitungsjungen an der Straßenecke. Geräusche, die für sie wie Musik klangen und die sie vermisst hatte. Erst jetzt verstand sie, wie sehr.

Bei der Weiterfahrt sah sie, wie eine junge Frau in eleganter Kleidung auf dem Trottoir auf eine Leiter stieg und sich mit einer graziösen Handbewegung an die Hutkrempe griff. Nahezu ein Dutzend Männer mit Kameras und Reflektoren umkreisten sie in geschäftiger Hektik – sie war zurück in der Stadt der Mode, keine Frage. Vor den Bistros saßen unter tief herabgezogenen Markisen Menschen an runden Marmortischchen und unterhielten sich, tranken dabei einen Kaffee oder ein Glas Wein. Hier wurden Beziehungen angebahnt, Vertraulichkeiten ausgeplaudert oder Geschäfte abgeschlossen.

Das Taxi überquerte den Boulevard Haussmann, eine der vornehmsten Einkaufsstraßen von Paris, wo ein Tageskleid den Jahresverdienst eines Lehrers und ein besticktes Taschentuch den Monatslohn einer Modistin kostete. Passanten flanierten an kunstvoll dekorierten Schaufenstern vorüber oder kamen mit voll gepackten Einkaufstüten aus den Weihestätten der Mode und Schönheit. Die Menschen bewegten sich leichtfüßig und in einem Rhythmus, als würden sie einer beschwingten Melodie in ihrem Innern folgen.

Der Wagen passierte die Place de la Madeleine mit der Kirche, deren Fassade an einen antiken Tempel erinnerte, und sie gelangten in die Rue Royale. Ihr Blick fiel auf ein sandsteinfarbenes Gebäude, und sie lächelte bei der Erinnerung an ihre erste Zeit in dieser Stadt, als sie noch längst nicht ahnte, was das Schicksal für sie bereithielte.

An der Place de la Concorde bog der Fahrer rechter Hand in die Cours-la-Reine ab. Unter hohen Lindenbäumen schlenderten Liebespaare Hand in Hand über die Uferpromenade. Ältere Damen führten ihre Hunde aus, in der einen Hand die Leine, in der anderen einen aufgespannten Schirm gegen die gleißende Sonne. Männer mit zerknautschten Stoffhüten hielten ihre Angelruten in die behäbig dahinfließende Seine. In der Ferne ragte das stählerne Skelett des Eiffelturms auf, dessen Anblick ihr wie immer Herzklopfen verursachte.

Hinter den Jardins du Trocadéro verließ der Fahrer das Seine-Ufer und näherte sich der Avenue Henri Martin. Einem plötzlichen Einfall folgend, ließ sie den Mann anhalten, drückte ihm einen Geldschein in die Hand und nahm ihren Koffer. Sie wollte das letzte Stück zu Fuß gehen. Allein. In ihrem Tempo.

Langsam schritt sie unter mächtigen Kastanienbäumen dahin, vorbei an mehrstöckigen Wohnhäusern mit sanft geschwungenen Erkern und filigranen Balkongittern, an denen Kletterrosen emporrankten. Auf einem Fenstersims lag eine Katze und blinzelte träge in die Sonne.

Als sie den Boulevard Jules Sandeau erreichte, beschleunigte sie ihren Schritt. So schnell sie konnte, lief sie nun die Straße entlang, spürte weder das Gewicht des Koffers in ihrer Hand noch das unebene Trottoir unter ihren Sohlen. Außer Atem blieb sie vor dem Haus Nummer sieben stehen und suchte nach ihrem Schlüssel.

Schon beim Öffnen der Haustür umfing sie der vertraute Duft von Bergamotte, Jasmin und Sandelholz. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und wusste – sie war zu Hause angekommen.

Teil Eins Aufbruch

Kapitel 1

Célestine biss in das saftige Stückchen Mandelkuchen, das die Tante ihr als Wegzehrung für die Zugfahrt mitgegeben hatte. Madeleine Dufour war es schwergefallen, ihre einzige Nichte fortgehen zu lassen. Dennoch konnte sie Célestines Entschluss verstehen – nach allem, was geschehen war. Ihr Ehemann Gustave dagegen hatte die Nichte bis zuletzt von ihrem Plan abbringen wollen.

»Du bist eine Normannin, Célestine, du gehörst hierher, an die Küste. Kein anständiges Mädchen zieht auf eigene Faust in dieses Sündenbabel namens Paris! In der Gosse wirst du enden!«, hatte er prophezeit.

Doch nun fuhr Célestine dem ersten großen Abenteuer ihres Lebens entgegen. Gedankenverloren blickte sie aus dem Abteilfenster und sah eine spätherbstliche Landschaft mit weiten Feldern und Obstbaumplantagen vorüberziehen. In der Ferne erstreckten sich vereinzelte Gehöfte. Mehr als die Hälfte der Strecke hatte sie bereits zurückgelegt, und in zwei Stunden würde sie am Ziel sein.

Sie zog einen Brief aus der Manteltasche und strich das gräuliche Papier glatt. Wie oft hatte sie die Zeilen ihrer einstigen Schulfreundin Marie gelesen. Zweieinhalb Jahre zuvor hatten sie sich das letzte Mal gesehen, bevor die Freundin mit ihrer Familie mehr als hundert Kilometer weiter in den Südosten der Normandie gezogen war.

Paris, 27.Oktober 1946

Meine liebe Célestine!

Wie gern wäre ich zu Deiner Hochzeit gekommen! Leider habe ich Deine Einladung zu spät erhalten, als dass sich eine Reise noch hätte organisieren lassen.

Du warst immer die auffallendste Erscheinung in unserer Klasse mit Deinen roten Haaren, kein Wunder, dass Du als Erste geheiratet hast– noch dazu an Deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Du schreibst, Dein Ehemann Albert wird einmal eine Apfelplantage erben. Du musst sehr glücklich sein.

Es gibt große Neuigkeiten: Ich habe meinem neuen Heimatdorf Aubigny Adieu gesagt und bin nach Paris gegangen. Das ist auch der Grund, warum mich Deine Post nicht rechtzeitig erreicht hat. Mit meinen Eltern hatte ich viel Streit, wie Du Dir denken kannst. Aber dennoch bin ich gegangen. Nun wache ich jeden Morgen voller Ungeduld in meiner kleinen Mansarde unter dem Dach auf und frage mich, welche Überraschungen der Tag mir bringen wird.

Die Pariser lassen keine Gelegenheit aus, das Leben zu genießen. Bei schönem Wetter sitzen sie tagsüber vor den Bistros auf den Champs-Élysées und trinken ein Glas Wein. Am Abend strömen sie in die Restaurants, besuchen Kunstausstellungen und Theater oder tanzen auf Bällen. Als wollten sie all das nachholen, woran dieser gottverdammte Krieg sie jahrelang gehindert hat.

Du musst mich unbedingt besuchen, Célestine! Sicher hat Dein Albert nichts dagegen einzuwenden. Dann erkunden wir die Stadt, in der es so viel zu entdecken gibt. Zuerst fahren wir mit dem Aufzug die tour Eiffel hinauf und sehen uns die Stadt von oben an. Danach machen wir eine Bootstour auf der Seine. Wir trinken Kakao in einem der Cafés, und ich bin mir sicher, Du wirst Paris lieben.

Nun muss ich aufbrechen. Ich arbeite als Kellnerin in einer Brasserie, nur ein paar Minuten von hier entfernt, und bald fängt meine Schicht an. Gestern hat mich ein Gast, ein gut aussehender junger Mann, auf ein Glas Bier eingeladen. Vielleicht ist er heute wieder da…

Ich umarme Dich und hoffe, dass wir uns ganz, ganz bald sehen!

Je t’embrasse.

Deine Marie

Mit einem tiefen Seufzer faltete Célestine den Brief zusammen und steckte ihn zurück in die Manteltasche. Marie, die Ahnungslose … Wie aber hätte die Freundin, während sie diese Zeilen schrieb, von den jüngsten Ereignissen wissen können?

Schmerzhaft stiegen in Célestine die Bilder auf, die sie seit Tagen bis in den Schlaf verfolgten. Sie sah eine junge Frau, wie sie an einem trüben Septembermorgen vor dem Standesamt von Genêts in einem selbst genähten Brautkleid aus altem Gardinenstoff auf die Mutter wartete. Diese war mit dem Rocksaum an einem Holzsplitter in der Haustür hängen geblieben und hatte nur noch rasch den Stoff flicken wollen, bevor sie zum Standesamt kommen sollte. Als die junge Frau nach Hause rannte, um die Mutter zur Eile zu mahnen, lag diese mit starren Augen rücklings auf dem Boden im Schlafzimmer. Die Tote war Laurianne Dufour, ihre über alles geliebte Mutter, und die junge Frau im Brautkleid war – sie selbst.

Schluchzend zog Célestine ein Taschentuch aus dem Ärmel, wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und zwang ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Schließlich war sie auf dem Weg nach Paris, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ihre Kindheit und Jugend, den unerwarteten Tod der Mutter – und auch Albert, den Mann, in dem sie sich so sehr getäuscht hatte … Ein Schaffner ging von Waggon zu Waggon und verkündete das Ende der Reise. »Nächste Station Gare Montparnasse. Alle Reisenden aussteigen!«

Leichter Schwindel befiel Célestine, als sie die ersten Schritte auf Pariser Boden tat. Das durchdringende Pfeifen der ankommenden und abfahrenden Züge an den Nachbargleisen hallte ihr in den Ohren. Aus den Schornsteinen der mächtigen schwarzen Lokomotiven stiegen Dampfwolken in den grau verhangenen Herbsthimmel auf. Eine schier unüberschaubare Menschenmenge hastete in alle möglichen Richtungen über den Bahnsteig. Mal bekam Célestine einen Koffer in die Kniekehlen gestoßen, dann wieder spürte sie einen Ellbogen zwischen den Rippen.

Die vielen Menschen machten ihr Angst und ließen sie Schutz an einem der hohen gusseisernen Strebepfeiler auf dem Bahnsteig suchen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. Wie sollte sie in diesem Gewirr ihre Freundin Marie entdecken? Marie hatte telegraphiert, sie werde sie am Bahnhof abholen. Eine Viertelstunde wartete Célestine voller Ungeduld und fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Dann aber zwang sie ihre Unruhe nieder. Womöglich war Marie für eine erkrankte Kollegin eingesprungen und hatte nicht rechtzeitig Feierabend machen können.

Ich finde den Weg auch allein, sprach Célestine sich Mut zu und durchquerte die Bahnhofshalle, deren Giebel höher war als jede Kirche, die sie zuvor betreten hatte. Auch hier herrschte dichtes Gedränge. Von allen Seiten vernahm sie fremde Sprachen, sah Menschen mit schwarzer, brauner und gelber Hautfarbe, als hätte sich die ganze Welt an diesem Ort zusammengefunden. Zeitungsjungen in altmodischen Knickerbockerhosen und derben Lederstiefeln trugen Stapel von Gazetten unter dem Arm und riefen lautstark die Schlagzeilen aus. Ein Bauchladenverkäufer bot goldgelb glänzende Brioches an. Aus einem Bistro drangen Akkordeonmusik und der verlockende Duft von Kaffee, wie er nur von echten Kaffeebohnen herrühren konnte. Denn diese waren in Zeiten rationierter Lebensmittel Mangelware.

Überwältigt von den vielen Eindrücken blieb Célestine stehen und holte tief Luft. Rings um den Bahnhofsplatz mit seinen mehrstöckigen sandsteinfarbenen Häusern fuhren dicht an dicht Autos, Motor- und Fahrräder. Jeder Fahrer versuchte, durch Hupen oder Klingeln die Vorfahrt für sich zu behaupten. So laut und hektisch hatte sie sich die Hauptstadt nicht vorgestellt. Vorsichtig trat Célestine an die Bordsteinkante und blieb zögernd stehen. Wie sollte sie bei diesem Verkehr unbeschadet die Straße überqueren?

Zwei junge Burschen traten furchtlos auf die Fahrbahn, ein Auto bremste mit quietschenden Reifen, und dann schlängelten sich die beiden zwischen diversen zwei- und vierrädrigen Vehikeln hindurch und erreichten die gegenüberliegende Straßenseite. Lachend winkten sie Célestine zu und forderten sie mit Handzeichen auf, es ihnen gleichzutun.

Wie angewurzelt blieb sie stehen und wagte nicht, auch nur einen Fuß auf die Fahrbahn zu setzen. Sie sah sich schon von einem Auto überrollt auf dem Asphalt liegen und war den Tränen nahe. Warum nur hatte sie so überstürzt ihre Heimat verlassen, und das mit einem Koffer, in den sie kaum mehr gepackt hatte als einige Kleider und Leibwäsche, ihr Arbeitszeugnis und drei Bücher ihrer Lieblingsschriftstellerin Germaine Mercier? Plötzlich meinte sie, die Worte des Onkels zu hören, der sie eindringlich vor den Gefahren der Großstadt warnte.

Unmittelbar vor ihr hielt ein Auto an. Der Fahrer kurbelte die Scheibe hinunter, und sie blickte in das freundliche Gesicht eines Mannes mittleren Alters mit Nickelbrille und karierter Schiebermütze.

»Taxi, Mademoiselle?«

Erleichtert nickte sie ihrem Retter in der Not zu. Doch sogleich kamen Zweifel in ihr auf. Konnte sie diesem wildfremden Mann überhaupt vertrauen? Dann aber nahm sie all ihren Mut zusammen, stieg in das Taxi und nannte Maries Adresse im Arrondissement Montmartre.

Während der Fahrer den Wagen durch den dichten Verkehr lenkte, blickte Célestine mit klopfendem Herzen aus dem Fond. Sie sah baumbepflanzte Boulevards, auf denen die Menschen flanierten, imposante Hotelbauten mit herabgelassenen Markisen, vor denen ein Portier in Livree die an- und abreisenden Gäste grüßte. Weite Plätze mit Denkmälern auf hohen Steinsockeln und wasserspeiende Springbrunnen. Zwar trugen die Frauen noch immer die zweckmäßigen, häufig aus Militärmänteln gefertigten Kleider der Kriegsjahre mit der schmalen Silhouette. Doch sonst ließ nur wenig im äußeren Erscheinungsbild der glanzvollen Stadt erkennen, dass Paris noch zwei Jahre zuvor Schauplatz des Krieges gewesen war.

Schaudernd erinnerte sich Célestine daran, wie sie mit ihrer Familie im August vierundvierzig mit angehaltenem Atem vor dem Radio gesessen und verbotenerweise das französische Programm der BBC gehört hatte. Auf Befehl Hitlers sollte Paris dem Erdboden gleichgemacht werden. Dazu waren an allen wichtigen Brücken und großen Verwaltungsgebäuden im Stadtzentrum Sprengsätze angebracht worden – was jedoch erst im Nachhinein publik wurde. Dass die Hauptstadt nach der Kapitulation der Deutschen nahezu unzerstört geblieben war, erschien vielen Franzosen noch immer als ein Wunder.

Der Geruch gebratener Zwiebeln schlug Célestine entgegen, als sie das Haus Nummer vier in der Rue Capron, nahe der Place de Clichy, betrat. Das Treppenhaus mit seinen fleckigen grauen Wänden war nur spärlich beleuchtet. Marie hatte von einer kleinen Wohnung unter dem Dach geschrieben, und so schritt Célestine die ausgetretenen, knarzenden Holzstufen hinauf bis ins vierte Stockwerk. M. Tourenne las sie auf dem messingfarbenen Türschild. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sie setzte den Koffer ab und drückte auf den Klingelknopf, doch von innen drang kein Laut nach draußen. Sie klingelte ein zweites und ein drittes Mal und presste das Ohr gegen die Wohnungstür. Totenstille.

Wo um alles in der Welt mochte Marie sein? Sie war nicht wie verabredet zum Bahnhof gekommen. Zu Hause war sie auch nicht … Célestine holte tief Luft. Würde sie ihre erste Nacht in der fremden Stadt allein in einer Pension verbringen müssen? Bei dem Gedanken daran, was sie das kosten würde, wurde ihr regelrecht übel. Doch dann hörte sie Schritte auf der Treppe. Sie beugte sich über das Geländer und sah eine pummelige weibliche Gestalt in einem dunkelgrauen Mantel mit einem roten Wollschal um den Kopf gewickelt die Stufen heraufkommen.

»Célestine, bist du es?« Die Stimme kannte sie! Mit einem Seufzer der Erleichterung warf Célestine sich in Maries Arme und atmete den Duft eines schweren, süßlichen Parfums ein. Ganz fest drückte sie die Freundin an sich und fühlte neuen Mut in sich aufsteigen.

»Willkommen in Paris, Célestine! Oje, du bist ja noch dünner geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie kommt es, dass du schon hier bist? Ich habe dich erst morgen erwartet.«

Célestine löste die Umarmung und schüttelte verwundert den Kopf. »Ankunft Mittwoch, dreizehnter November, vier Uhr nachmittags, das hatte ich dir telegraphiert.«

»Tatsächlich? Da habe ich wohl etwas verwechselt …« Marie schloss die Tür auf und schaltete das Licht ein. »Du musst entschuldigen, ich habe noch nicht aufgeräumt.«

Die winzig kleine Wohnung bestand aus einem einzigen Raum. Zur Linken bemerkte Célestine ein noch ungemachtes Bett und einen hohen dunklen Kleiderschrank mit einer ovalen Spiegeltür. Unter dem kleinen Mansardenfenster umstanden zwei schwarz lackierte Stühle einen marmornen Bistrotisch. An der Wand rechts gab es einen Herd, ähnlich dem bei ihr zu Hause in Genêts, daneben eine Spüle und eine Anrichte mit schief hängenden Türen. Marie bückte sich und hob eilig Strümpfe, Mieder und Hemdchen vom Fußboden auf.

»Toilette und Waschbecken findest du auf halber Treppe abwärts. In der Zwischenzeit feuere ich den Ofen an und mache uns etwas zu essen. Du musst hungrig sein von der langen Reise.«

Kurz darauf saßen die Freundinnen bei einem Kanten Brot und einem Stück Käse beisammen und tranken frisch gebrühten Kräutertee. Mit gerunzelter Stirn blickte Marie zu der Freundin hinüber, zögerte ein wenig und wagte dann einen Vorstoß.

»Ich sehe, du trägst Schwarz, Célestine … Ist etwa jemand aus deiner Familie gestorben?«

Unvermittelt schossen Célestine die Tränen in die Augen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen, und all die Tränen, die sie mit Rücksicht auf ihren Onkel und die Tante so lange zurückgedrängt hatte, brachen nun mit Macht aus ihr hervor. »Maman … an meinem Geburtstag, der ja auch mein Hochzeitstag hätte sein sollen …«, brachte sie schluchzend hervor.

Marie setzte sich neben sie, schloss sie in die Arme und strich ihr über das Haar. »Du Ärmste, das habe ich nicht geahnt … Lass deinen Tränen freien Lauf. Ich kann deinen Schmerz gut verstehen.«

Den Kopf an Maries Schulter gelehnt, wimmerte und schluchzte Célestine so lange, bis ihre Augen gänzlich ausgetrocknet zu sein schienen.

»Sicher unterstützt dein Mann dich in dieser schweren Zeit, nicht wahr?«, erkundigte Marie sich mitfühlend.

Célestine stieß einen gequälten Seufzer aus. »Von Albert erzähle ich dir morgen. Ich bin entsetzlich müde.« Sie gähnte mehrmals und hielt sich an der Tischkante fest, um nicht vom Stuhl zu kippen.

Marie sprang auf, zog eine Decke und ein Kissen aus dem Kleiderschrank und schüttelte die Federn auf. Als Célestine kurz darauf neben der Freundin in dem schmalen Bett lag, fühlte sie eine bleierne Schwere im ganzen Körper. Sie war in Paris, und sie war nicht allein. Maries Herzlichkeit und Verständnis spendeten ihr Trost und Zuversicht. Morgen würde ihr neues Leben beginnen.

Kapitel 2

Der verlockende Geruch von frisch gebrühtem Pfefferminztee stieg Célestine in die Nase. Müde blinzelte sie unter der Bettdecke hervor und sah Marie, die fertig angezogen am Herd stand, die Blätter abseihte und zwei Tassen auffüllte.

»Guten Morgen. Du bist schon auf den Beinen? Wie spät ist es?« Schlaftrunken richtete Célestine sich auf und rieb sich die Augen.

»Kurz vor zehn.«

»So spät? Du hättest mich wecken sollen.«

»Ich bin selbst erst vor wenigen Minuten aufgestanden, ich habe heute Spätschicht. Nichts ist schöner, als nach dem Aufwachen noch ein Weilchen im Bett zu dösen. Du magst doch Pfefferminztee? Kaffee kann ich dir leider nicht anbieten. Letzte Woche habe ich meine Lebensmittelkarte für Kaffee gegen ein Fläschchen Parfum eingetauscht. Der Verdienst einer Kellnerin taugt eben nicht für ein Leben in Luxus.«

»Tee ist mir sehr recht.« Eilig kroch Célestine aus dem Bett, suchte nach ihren Pantoffeln und schlüpfte in Maries blauen Morgenmantel mit den leuchtend roten Mohnblumen. So leise wie möglich schlich sie durchs Treppenhaus die Stufen zum Abort hinunter und hoffte, dass keiner der anderen Mieter sie in diesem Aufzug und mit ungekämmten Haaren zu Gesicht bekäme. Durch ein schmales Fenster drang kalte Luft in den schäbigen Verschlag. Der Geruch nach Ausscheidungen und faulen Eiern verursachte ihr Übelkeit. Für den heutigen Morgen musste eine Katzenwäsche genügen, zumal aus dem rostigen Hahn über dem gelblich verfleckten Waschbecken nur ein dünner Wasserstrahl rann.

In der Zwischenzeit hatte Marie einige Mandelkekse in ein Schälchen gefüllt und den Ofen angefeuert, so dass sich in der kleinen Dachwohnung behagliche Wärme ausbreitete.

Nach einigen Schlucken fühlte Célestine sich schon lebendiger. Marie stopfte sich einen ganzen Keks in den Mund. »Ich liebe alles, was süß ist. Manchmal geben mir Gäste Zigaretten anstelle von Trinkgeld. Die tausche ich dann gegen Schokolade oder Kekse ein. Ich mache mir nichts aus Tabak. Weißt du, was man zurzeit auf dem Schwarzmarkt für eine Schachtel Zigaretten bekommen kann?« Doch eine Antwort wartete sie gar nicht ab. »Ich platze vor Neugierde. Was ist mit Albert?«

Ungerührt zuckte Célestine mit den Schultern. »Ich habe ihm den Laufpass gegeben.«

Mit offenem Mund starrte Marie sie an. »Du hast was? Aber … ihr seid doch frisch verheiratet.«

»Nein, dazu kam es glücklicherweise nicht. Eine Stunde vor der Trauung ist Maman gestorben. Völlig überraschend für uns alle, denn sie war kerngesund.«

»Schrecklich! Aber was heißt glücklicherweise? Du hattest mir in deinem Brief doch so von deinem Verlobten vorgeschwärmt. Ist er nicht gut aussehend, mit dunklem Haar, stahlblauen Augen …«

»Was zählt schon das Äußere? Nur wenige Tage nach Mamans Tod wollte Albert die Heirat nachholen. Als ich ihm sagte, dass ich Zeit zum Trauern brauche und nicht an ein fröhliches Fest denken könne, hat er mich ein ›sentimentales Dummchen‹ genannt. Auf sein Drängen hin hatte ich meine Anstellung im Bürgermeisteramt aufgegeben. Ich sollte nur noch für ihn da sein.« Verächtlich zog Célestine die Mundwinkel nach unten und zerkrümelte missmutig einen Mandelkeks. »Albert wollte mir diktieren, wie ich mich kleiden, wie ich reden und mit wem ich Umgang haben solle. Fortwährend hat er davon gesprochen, wie ich ihm zukünftig den Haushalt führen und seine Kinder zur Welt bringen solle, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu fragen, wie ich mir unser gemeinsames Leben vorstellen würde. Und statt mir bei Mamans Beerdigung beizustehen, hat er den Geburtstag seines Freundes gefeiert. Eigentlich war ich gar nicht so erpicht darauf zu heiraten, aber ich wollte Maman nicht enttäuschen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass ich wieder einen Beschützer an meiner Seite habe, nachdem … du weißt schon, Papa und Pierre …« Sie biss sich auf die Unterlippe und verstummte. In einem Zug leerte sie die Tasse, als wolle sie zugleich alle traurigen Erinnerungen hinunterspülen.

»Albert wird ein großes Vermögen erben«, gab Marie zu bedenken und tunkte gedankenverloren einen Keks in den Tee.

»Sein Geld ist mir gleichgültig«, brach es aus Célestine heraus. »Was spielt das für eine Rolle, wenn er mich nicht liebt? Er hat in mir doch nur eine Trophäe gesehen, etwas zum Vorzeigen wie seinen neuen Peugeot zweihundertzwei.«

Marie kaute auf dem weichen Keks und schüttelte tadelnd den Kopf. »Célestine, das Wichtigste für uns Frauen ist doch, dass wir einen Ernährer haben. Ich jedenfalls würde einem Mann mit Geld einiges nachsehen. Allerdings hätte ich ein solches Exemplar in meinem Kuhdorf niemals gefunden. Nicht zuletzt deswegen bin ich nach Paris gegangen. Der Krieg hat viele Männer dahingerafft, die Auswahl für uns Frauen ist begrenzt.«

»Ich lasse mir von niemandem mein Leben vorschreiben. Lieber bleibe ich allein«, widersprach Célestine entschieden.

»Warte nur ab, bis du den Richtigen triffst, dann änderst du deine Meinung.« Marie räumte das Geschirr ab, trug es zum Spülbecken und gab einen Esslöffel Soda und heißes Wasser dazu. Célestine mochte die Diskussion nicht fortsetzen. An ihrem ersten Tag in Paris wollte sie keine Zwistigkeiten ausfechten. Ganz offensichtlich hatten sie und die Freundin unterschiedliche Vorstellungen, welche Qualitäten ein Mann mitbringen sollte. Sie griff nach einem karierten Küchentuch und trocknete Teller und Tassen.

»Lass uns etwas unternehmen«, schlug Marie vor. »Ich muss erst um vier zur Arbeit. Wonach ist dir zumute?«

»Zuerst einmal möchte ich meinem Onkel und meiner Tante telegraphieren, dass ich gut angekommen bin. Und dann? Ich weiß nicht recht …«

»Was hältst du davon, wenn wir im Kaufhaus Lafayette auf Entdeckungstour gehen und uns die neueste Strumpfmode zeigen lassen? Sofern wir auf dem Weg dorthin nicht vor jedem Schaufenster stehen bleiben, sind wir in einer Viertelstunde am Boulevard Haussmann.«

Nachdem Célestine beim Postamt ein Telegramm aufgegeben hatte, folgte sie Marie zur Place de Clichy, in deren Mitte eine bronzene Figurengruppe auf einem steinernen Sockel stand. Hier trafen fünf Straßen aufeinander, so dass unentwegt Autos, Motorroller und Fahrräder an ihnen vorüberrauschten. Zwischendrin zockelte ein Pferdefuhrwerk vorbei, dessen Kutscher in der einen Hand die Zügel, in der anderen eine Zigarette hielt. Zögernd blieb Célestine an der Bordsteinkante stehen und griff Hilfe suchend nach Maries Hand. Gemeinsam warteten sie, bis ein Polizist auf seinem Podest mit gebieterischen Handzeichen den Verkehr anhielt und die Fußgänger passieren ließ. Als sie den Boulevard des Batignolles überquerten, pfiff ein Schutzmann trillernd hinter ihnen her, was Marie mit einem fröhlichen Winken beantwortete.

»Du musst nicht so ängstlich sein, ma chère. In den ersten Tagen in der Stadt habe ich mich auch kaum über die Straße getraut. Glaub mir, du wirst dich schnell an den Verkehr gewöhnen«, versprach Marie, und Célestine hoffte, dass die Freundin recht behielte.

Ein kalter Herbstwind blies ihnen ins Gesicht und ließ sie frösteln. Mit eiligen Schritten hasteten sie die Rue de Clichy entlang. Vor einem Ladengeschäft an der Ecke Rue de Milan standen Menschen an, um Lebensmittelkarten gegen Butter, Milch, Öl, Nudeln, Kaffee, Zucker und Mehl einzutauschen. Grundnahrungsmittel, die auch zwei Jahre nach dem Abzug der Deutschen noch immer rationiert waren. Was für ein Segen es gewesen war, dass ihr Onkel und ihre Tante den großelterlichen Gemischtwarenladen in Genêts weitergeführt hatten, dachte Célestine mit Dankbarkeit und Wehmut. So hatte die Familie während der Kriegsjahre genug zu essen gehabt, anders als so viele andere Menschen, denen die Entbehrungen dieser Tage bis heute von Weitem anzusehen waren.

Verwundert stellte sie fest, wie gut etliche der Menschen um sie herum gekleidet waren. Sie hatte damit gerechnet, dass die Pariser eine andere Garderobe trugen als die Bewohner der normannischen Küstendörfer, dennoch überraschte sie das Ausmaß an Eleganz, das sie nun sah. Denn nicht nur Nahrungsmittel waren seit Kriegsbeginn im September 1939 knapp geworden, in ganz Frankreich waren auch Stoffe rationiert worden. Raffinesse und Chic in Mode spielten auf dem Land ohnehin eine geringere Rolle als in der Stadt, und so wurde fortan aus einem alten Militärmantel oftmals ein Kostüm, aus einem Anzug ein Rock und aus einer Weste eine Mütze geschneidert. Auch ihre Mutter nähte ihre schlicht geschnittenen Kleider selbst, doch sie verwendete ausschließlich Stoffe bester Qualität, und sie achtete stets auf einen guten Schnitt. Der Vater ihrer ältesten Freundin war Tuchhändler, und so kam Laurianne Dufour immer wieder zu hochwertigen Stoffresten, aus denen sie etwas zaubern konnte.

Einige der Pariser Flaneure, die Célestine entgegenkamen, hatten jedoch sicher ein Vermögen für ihr Äußeres ausgegeben. Sorgfältig geschminkte und frisierte Frauen stolzierten in Schuhen mit hohen Absätzen über das Trottoir, trugen pelzverbrämte Mäntel und farblich abgestimmte Handtaschen. Die Männer, die sie begleiteten, zeigten sich in knielangen Mänteln aus feinstem Wollstoff und komplettierten ihre Garderobe mit breitkrempigen Hüten und Lederhandschuhen. So etwas hatte Célestine bisher nur aus der Ferne erlebt, wenn die reichen Städter im Sommer an die normannische Küste kamen.

Doch neben der Schönheit fesselte auch das Elend ihre Aufmerksamkeit. Immer wieder sah sie Männer und Frauen in zerschlissenen Jacken, durchlöcherten Schuhen und mit fahler Haut. In ihren Gesichtern las Célestine Hunger und Leid, was seit dem Ende des Krieges noch nicht überwunden worden war. Diese Menschen gingen gebeugt und blickten kaum auf.

Eine junge Frau mit müden Augen und strähnigen Stirnfransen unter einem geflickten Kopftuch zog einen kleinen Jungen an der Hand hinter sich her. Der Kleine hustete fortwährend und wischte sich die Nase am Ärmel ab. Ob diese Mutter wohl eine jener Frauen war, die man nach dem Abzug der Besatzer mit geschorenem Kopf durch die Straßen von Paris getrieben hatte? Deren Verbrechen darin bestanden hatte, sich in einen deutschen Soldaten verliebt und mit ihm eingelassen zu haben? Célestine erinnerte sich noch gut an die Fotos in den Zeitungen, die sie mit Wut im Herzen und Tränen in den Augen betrachtet hatte, es war kaum zwei Jahre her.

Eine Gruppe von Kriegsveteranen stand an einem Kiosk beisammen. Dem einen fehlte ein Bein, dem anderen der Unterarm. Ein Soldat mit Augenklappe nahm einen tiefen Zug aus einer Bierflasche und reichte sie an die Kameraden weiter. Und plötzlich erschienen vor Célestines innerem Auge zwei Männer in Uniform, der eine gerade einmal zwanzig Jahre, der andere doppelt so alt. Sie winkten ihr fröhlich zu, dann zogen sie mit ihrem Tornister auf dem Rücken davon. Ein Nebelschleier legte sich über die Marschierenden, und sie verschwanden im Nichts …

»Da sind wir.« Maries Worte zwangen Célestine in die Gegenwart zurück. Nur mit Mühe kämpfte sie die aufsteigenden Tränen nieder. Nein, sie wollte jetzt nicht an die Vergangenheit denken. Sie war in Paris, und mit dem heutigen Tag hatte ein neuer Lebensabschnitt für sie begonnen.

Mit klopfendem Herzen schritt Célestine durch die hohe gläserne Eingangstür, hinter der Hausdiener in dunkelgrauer Livree die Kunden willkommen hießen und ihnen den Weg zu den einzelnen Abteilungen wiesen. Ihr stockte der Atem. Mit einem Mal befand sie sich in einer Welt, die nichts mit jener draußen auf der Straße zu tun hatte. Nie zuvor hatte sie ein Gebäude von solch gigantischen Ausmaßen betreten, noch nie eine derartige Pracht gesehen.

Das ganz in Sand und Gold gehaltene Innere mit hohen Säulen und sich darüberspannenden Rundbögen erinnerte an das Auditorium eines Theaters. Doch die Menschen hinter den Balustraden der Logen lauschten keinem Geschehen auf der Bühne, sondern eilten geschäftig hin und her, um ihre Einkäufe zu tätigen. Über drei Stockwerke wanderte Célestines Blick hinauf zu einer hohen Glaskuppel, durch die blassblaues Tageslicht hereinfiel. Im Glanz Hunderter, wenn nicht gar Tausender Leuchten erstrahlte dieser Tempel des Luxus und des Überflusses in einem hellen, warmen Licht.

»Ist das nicht phantastisch? Lass uns mit dem Aufzug bis ganz nach oben fahren! Für den Weg nach unten nehmen wir die Treppe«, schlug Marie vor und zog die Freundin entschlossen hinter sich her.

Und so erkundeten sie Etage um Etage. Die verschiedenen Verkaufsbereiche waren in mehrere einzelne Läden unterteilt, wovon jeder ganz individuell mit Regalen, Schubladenschränken, goldgerahmten Spiegeln und Blumenschmuck gestaltet war. Célestine schien sich auf eine Reise um die ganze Welt zu begeben. Sie konnte sich nicht sattsehen an filigranem chinesischem Porzellan mit blauen Drachen und Vögeln, an farbenprächtigen Teppichen aus dem Orient, golddurchwirkten Batiststoffen aus Indien, handgeflochtenen Hüten aus Südamerika und feinsten Hirschlederhandschuhen aus Italien. In gläsernen Vitrinen funkelten diamantene Colliers mit silbernen Teekannen und Bilderrahmen um die Wette.

Über eine breite Freitreppe gelangten sie hinunter in die zweite Etage. Zielsicher steuerte Marie die Strumpfabteilung an. Célestine staunte über die Gelassenheit, mit der die zierliche sommersprossige Verkäuferin, die kaum älter sein mochte als sie selbst, Schublade um Schublade öffnete und ihnen ein Paar nach dem anderen präsentierte. Schließlich sahen sie in ihren derben Wintermänteln keinesfalls wie betuchte Kundinnen aus, sondern verrieten schon auf den ersten Blick, was sie tatsächlich waren – zwei mittellose Mädchen aus der Provinz. Ehrfurchtsvoll ließ Célestine das hauchzarte Nylongewebe über das Handgelenk gleiten und bewunderte die Strumpfnaht, die so fein war wie ein Federstrich.

»Selbstverständlich bieten wir auch einen Laufmaschendienst an, sollte Ihnen ein Missgeschick widerfahren«, erläuterte die Verkäuferin mit bezauberndem Lächeln und huldvollem Augenaufschlag.

»Vielen Dank, Mademoiselle. Meine Freundin und ich müssen uns zunächst beratschlagen, ob wir die Strümpfe im Farbton Perle oder Champagner nehmen«, behauptete Marie mit todernster Miene und zwickte Célestine unauffällig in den Arm.

»Aber die können wir uns doch niemals leisten«, wandte Célestine erschrocken ein, sobald sie außer Hörweite waren.

»Natürlich nicht. Aber das ist doch letztlich nur ein Spiel. Da gilt es, so zu tun, als stünde uns für unsere Einkaufstouren ein Vermögen zur Verfügung. Und wer weiß – haben wir erst einmal den Mann unserer Träume gefunden, können wir uns Dutzende solcher Strümpfe leisten.«

Mit einer gewissen Genugtuung dachte Célestine daran, dass sie erst eine Woche zuvor ihren Verlobungsring einem Mann vor die Füße geworfen hatte, den andere Frauen sicherlich als Mann ihrer Träume bezeichnet hätten. Der sie eines Nachmittags auf den Küchenboden gezerrt hatte, um sich zu nehmen, was einem Ehemann seiner Ansicht nach zustand. Weil sie doch längst verheiratet wären – hätte nicht Célestines Mutter die Hochzeit durch ihren Tod »verpfuscht«, wie er es nannte. Célestine vereitelte seine Absicht jedoch, indem sie ihm mit aller Kraft in den Handrücken biss. Zum Glück war Albert weit weg, und an ihrem ersten Tag in Paris wollte sie nicht trübsinnig werden. Nur zu gern überließ sie sich Maries Vorschlägen, welche unerschwinglichen, aber umso schöneren Artikel sie unbedingt noch in Augenschein nehmen sollten.

Bald schwirrte ihr der Kopf von den zahllosen Pelzstolen, ledernen Reisenecessaires und Kristalllüstern, den Champagnerkühlern und Trüffelknollen. In der Parfumabteilung erstrahlten kunstvoll geformte Glasflakons in Regalen mit ausgeklügelter Beleuchtung, die jede Flasche zu einem erlesenen Kunstwerk machte. Diensteifrige Verkäuferinnen tupften ihnen die neuesten Düfte der Saison auf die Innenseite der Handgelenke. Fasziniert erschnupperte Célestine Essenzen, die mit blumigen, pudrigen oder würzigen Noten ihren Geruchssinn betörten.

Nach über vier Stunden des Schauens und Staunens fühlte sie sich wie benommen und ertrug die schmerzenden Füße mit Mühe. Sie war froh, als sie den Heimweg antraten. Die vielen Eindrücke hatten sie müde gemacht. Marie indes wirkte überaus fröhlich und hakte sich bei der Freundin unter.

»Mit dir an meiner Seite macht das Bummeln viel mehr Spaß, Célestine. Und das nächste Mal gehen wir ins Printemps, was nur wenige Schritte von den Galeries Lafayette entfernt ist. Und danach ins Bon Marché am linken Seine-Ufer, das ist das älteste Warenhaus in Paris. Bei den Schuhen arbeitet ein unglaublich charmanter Verkäufer. Dann müssen wir unbedingt auch ins Samaritaine …«

»Halt – Marie, mir ist jetzt schon ganz schwindlig! Ich habe vor, länger in Paris zu bleiben. Die Warenhäuser laufen uns nicht davon.«

Kapitel 3

Als Marie zur Arbeit aufgebrochen war, machte Célestine es sich auf dem Bett bequem. Auf dem Heimweg hatte sie einen Stadtplan von Paris und eine Tageszeitung gekauft, in der sie als Erstes die Seite mit den Stellenanzeigen aufschlug. Doch bei der Lektüre der Annoncen beschlich sie schon bald eine böse Ahnung. War es tatsächlich möglich, dass in einer Stadt wie Paris ausschließlich Krankenschwestern, Verkäuferinnen, Näherinnen, Kellnerinnen und Wäscherinnen gesucht wurden? Würde sie doch noch als Putzfrau enden, wie der Onkel es ihr prophezeit hatte? Wahrscheinlich war nur zufällig für diese Ausgabe keine Offerte für Schreibkräfte aufgegeben worden, versuchte sie, sich zu beruhigen. Morgen wäre sicher etwas Geeignetes für sie dabei.

Und dann tat Célestine etwas, was sie schon als junges Mädchen in manch dunklen Stunden als tröstend empfunden hatte. Sie nahm eines der Bücher mit schon abgegriffenem Einband ihrer Lieblingsautorin Germaine Mercier zur Hand: Die Herrin von Château Marmontelle. Sie verstand es einfach meisterhaft, ihre Leser in die glanzvolle Zeit der Belle Époque zu entführen. Mit adligen jungen Frauen in raschelnden Seidenkleidern, feinen Herren mit Monokeln und ehernen Prinzipien, mit samtbezogenen Sesseln in geschmackvoll eingerichteten Salons, funkelnden Kristalllüstern und goldgerändertem Porzellan, mit nächtlichen Spaziergängen in Parks und leisen Seufzern hinter mannshohen Ligusterhecken.

Besonders an Tagen, an denen die Berichte über die hungernde Bevölkerung in den Städten, über Hinrichtungen von Widerständlern und Tausenden Kriegstoten auf französischer und deutscher Seite ihr fast den Lebensmut nahmen, waren die Romane von Germaine Mercier ihre geheime Zuflucht gewesen. Diese romantischen Erzählungen ließen sie hoffen, dass die Welt eines Tages eine bessere sein würde.

Damals war ihr der kühne Gedanke gekommen, Germaine Mercier nachzueifern und ebenfalls eine Erzählung zu schreiben, die die Leserinnen von ihren Nöten ablenkte und ihnen neuen Mut schenkte. Bisher hatte sie mit niemandem über diesen Plan gesprochen, ihre Familie hätte sie zweifellos für verrückt erklärt. Doch das war in ihrem alten Leben gewesen. Jetzt war sie in Paris, und gewiss hielt das Schicksal so manche Überraschung für sie bereit.

* * *

In der darauffolgenden Woche begann Maries Arbeitstag bereits um sechs Uhr morgens. Die Freundin verließ das Haus ohne Frühstück, weil Madame Renard den Angestellten gestattete, die vom Vortag übrig gebliebenen Brot- und Käsereste zu verzehren. Da gerade diese Lebensmittel schon so lange rationiert und an vielen Tagen vorzeitig ausverkauft waren, wussten die Mitarbeiter die Großzügigkeit der Patronne zu schätzen.

Célestine nutzte die Gelegenheit, um auf eigene Faust Erkundungstouren durch das Viertel zu unternehmen. Von Mal zu Mal wagte sie sich weiter von der Rue Capron weg, entdeckte hier einen Schusterladen und dort eine Bäckerei, lernte Umwege und Abkürzungen kennen. Bald schon hatte sie keine Mühe mehr, mit anderen Fußgängern eine Straße zu überqueren. Wie von selbst reihte sie sich in die Gruppe der Passanten ein, passte sich ihrem Tempo an und fühlte sich als Teil einer namenlosen Schar mit demselben Ziel.

Dann entdeckte Célestine eine Anzeige, bei der ihr Herz augenblicklich höherschlug. Eine Schreibkraft, nicht älter als fünfundzwanzig Jahre, wurde für ein Hotel garni gesucht. Sie faltete ihren Stadtplan auseinander und stellte zu ihrer Freude fest, dass das Hotel in Montmartre lag, in der Rue Pouchet, nur wenige Minuten Fußweg von Maries Wohnung entfernt. Am nächsten Morgen wollte sie sich dort vorstellen.

Die Freundin, die erst irgendwann in der Nacht zurückgekommen war, schlief noch tief und fest, als Célestine aufstand und sich so leise wie möglich fertig machte. Nach einigem Zögern beschloss sie, anstelle der Trauerkleidung ein dunkelblaues Kleid mit Perlmuttknöpfen anzuziehen. Dass sie wenige Wochen zuvor ihre Mutter verloren hatte, war ihr ganz persönliches Schicksal, über das sie nicht mit Fremden reden wollte. Außerdem hatte das Kleid Maman gehört. Célestine hatte die gleiche Figur, und sicher hätte es Laurianne Dufour gefallen, dass die Tochter ihre Kleider auftrug.

Die Fensterläden in der Rue Pouchet waren geschlossen. Das Haus machte einen heruntergekommenen Eindruck, an den Wänden bröckelte der Putz ab, an der Tür die Farbe. Mehrmals drückte Célestine auf den Klingelknopf. Als sie sich enttäuscht zum Gehen umwenden wollte, wurde die Tür geöffnet. Eine etwa fünfzigjährige Frau in einem hellblauen Morgenmantel, der nur unzureichend ihre Büste bedeckte, blickte sie prüfend vom Scheitel bis zur Schuhspitze an.

»Bist du wegen der Anzeige gekommen?«

»Ja, Madame.« Célestine wunderte sich über die vertrauliche Anrede. Hatte sie sich womöglich in der Adresse geirrt? Diese Frau wirkte keinesfalls wie die Angestellte eines Hotels.

»Komm rein, ich bin Madame Denise.«

Célestine folgte ihr in einen spärlich beleuchteten Salon mit geblümten Sesseln und einem grünlichen Samtsofa, auf dem sich eine rot getigerte Katze zusammengerollt hatte. Auf einem Tresen standen mehrere leere Gläser und ein Champagnerkübel mit verwelkenden Rosen. An jeder der vier Wände hingen breite goldgerahmte Spiegel. Célestine fühlte eine Hand auf ihrer Wange.

»Du bist hübsch, hast eine natürliche Ausstrahlung. Außerdem fehlt in unserer Runde noch eine Rothaarige. Ich glaube, wir könnten miteinander ins Geschäft kommen.«

Irgendetwas an der Frau und dem Haus kam Célestine sonderbar vor, am liebsten wäre sie umgehend wieder gegangen. Doch sie wollte sich bei ihrer ersten Bewerbung nicht gleich entmutigen lassen. »Sollen die Schreibarbeiten in diesem Hotel von Hand oder auf einer Maschine erledigt werden?«

Madame Denise kräuselte die Lippen, aus ihren Augen sprach Mitleid. »Du bist gerade erst in Paris angekommen, stimmt’s?«

»Ja, aber was spielt das für eine Rolle? Dies hier ist doch ein Hotel, oder nicht?«

»Selbstverständlich. Allerdings ein sehr spezielles. Wärest du von hier, wüsstest du, was es heißt, wenn eine Schreibkraft unter fünfundzwanzig für ein Hotel garni gesucht wird.«

Célestines Verwirrung wuchs. »Ich verstehe nicht …«

»Nun, dann übersetze ich dir die Annonce: Hure für ein Bordell gesucht. Sie soll jung sein, die Kunden verlangen Frischfleisch. Aber diesen Wortlaut hätte die Zeitung niemals abgedruckt.«

»Ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor …«, stammelte Célestine entsetzt und stolperte zur Tür hinaus. Draußen auf der Straße holte sie tief Luft. Hatte der Onkel etwa recht, dass die Stadt ein Sündenpfuhl war? Hoffentlich bedeutete diese Begegnung kein böses Omen.

Marie lachte laut auf, als Célestine ihr wenige Minuten später von dem Missverständnis berichtete. »Mach dir nichts draus, ma chère. Am Anfang müssen wir alle Lehrgeld zahlen. Dann versuchst du es eben morgen oder übermorgen mit einer anderen Annonce.«

Kapitel 4

Um sich bei Marie für die Gastfreundschaft zu revanchieren, schlug Célestine vor, dass sie die Wohnung putzen, Einkäufe erledigen und für sie beide kochen würde. Als sie sich dann zum Einkaufen aufmachte, fand der Gemüsehändler in der Rue Ganneron, ein schwergewichtiger Bretone mit schütterem Haar, Gefallen daran, seiner neuen Kundin die frischsten und aromatischsten Produkte zu empfehlen.

»Nehmen Sie heute den Weißkohl, Mademoiselle. Mit ein wenig Schmalz, zwei bis drei Pimentkörnern und einer Prise Muskat gedünstet, wird er zum Hochgenuss. Die Eier stammen von unseren eigenen Hühnern. Meine Frau hat sie heute Morgen aus dem Nest geholt.«

Wenn Marie nach einer Frühschicht am späten Nachmittag nach Hause kam, hatte Célestine schon den Ofen angefeuert, und das Essen stand dampfend auf dem Tisch. Die Freundinnen plauderten endlos miteinander und ließen es sich schmecken. Allmählich hatte Célestine das Gefühl, dass ihre Trauer, die ihr in mancher Stunde noch immer das Herz schwermachte, ein wenig schwächer wurde.

»An eine warme Mahlzeit nach der Arbeit könnte ich mich gewöhnen. Meinetwegen musst du dich mit der Stellensuche nicht beeilen. Ich lasse mich gern noch ein wenig länger von dir verwöhnen«, erklärte Marie mit einem Augenzwinkern.

* * *

Als Célestine tags darauf die Kartoffeln, die sie für ein Gratin gekauft hatte, aus dem Zeitungspapier wickelte, fiel ihr Blick auf ein Inserat.

Seriöse und zuverlässige Sekretärin für Privathaushalt gesucht. Gewünscht sind perfekte Schreibmaschinen- und Stenographiekenntnisse. Interessierte Damen stellen sich bitte vor am Mittwoch, 27.November, um 3Uhr in der Rue Royale No. 10, 3. Stock.

War diese Anzeige nicht geradezu ein Wink des Schicksals? Heute war der siebenundzwanzigste November, und der Zeiger der Uhr stand auf eins. Aufgeregt suchte Célestine den Stadtplan heraus und stellte fest, dass der Weg sie über bereits bekannte Straßen führte. Von der Rue d’Amsterdam ging es an der Gare Saint-Lazare vorbei und von dort fast geradlinig über die Rue du Havre in die Rue Royale. Mehr als eine halbe Stunde würde sie für diese Strecke nicht benötigen.

Um einen möglichst seriösen Eindruck zu machen, steckte sie das schulterlange Haar zu einer Nackenrolle zusammen. Auf die Rückseite ihres Einkaufszettels schrieb sie eine Nachricht an Marie, dass sie sich auf den Weg zu einem Vorstellungsgespräch begebe und im Verlauf des Nachmittags zurück sei. Zum Glück regnete es nicht, und sie konnte mit trockenen und sauberen Schuhen vorsprechen. Kurz vor dem Ziel passierte Célestine die Église de la Madeleine, deren Fassade eher an einen griechischen Tempel als an eine Kirche gemahnte. Sie musste an ihre Tante denken, die sich vergeblich Kinder gewünscht hatte und die Launen ihres kriegsversehrten Ehemannes Gustav mit Gleichmut ertrug. Wie es Madeleine in diesem Moment wohl erging? Vermutlich saß sie an dem blank gescheuerten Küchentisch über dem Rechnungsbuch und zählte die Wocheneinnahmen des kleinen Gemischtwarenladens zusammen.

Weil sie mehr als eine Viertelstunde zu früh ankam, schlenderte Célestine noch eine Weile um den ungewöhnlichen Kirchenbau herum. In der Ferne, am Ende der Rue Royale, erkannte sie einen Obelisken mit vergoldeter Spitze. Wenn sie sich richtig erinnerte, musste sich dort die Place de la Concorde befinden. Die Stelle, an der Louis XVI. und seine Gemahlin Marie Antoinette unter der Guillotine exekutiert worden waren wie so viele andere bekannte und namenlose Persönlichkeiten während der Französischen Revolution.

Célestine spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Dann aber wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Auslage gefesselt, bei der ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Im Schaufenster einer Pâtisserie mit dem Namen Ladurée wurden auf silbernen Etageren Pralinen, Bonbons sowie Macarons in wunderschönen Pastellfarben präsentiert. Jene luftig zarten Mandelbaisertaler, die sie zwar noch nie gekostet hatte, aber sehr wohl aus den Romanen von Germaine Mercier kannte, wenn die vornehmen Herrschaften zum Nachmittagskaffee luden.

Das Haus Nummer zehn in der Rue Royale war eines der typischen vierstöckigen Pariser Stadthäuser mit schlichter sandsteinfarbener Fassade und einem hohen blaugrünen Eingangstor, durch das vermutlich einst Kutschen gefahren waren. Célestines Herz pochte laut, als sie über ausgetretene Marmorstufen ins dritte Stockwerk hinaufstieg. Wie mochte es hinter der Wohnungstür aussehen? Über den Bewohner verriet das messingfarbene Türschild nicht mehr als die Initialen C.D. Nach einigen Sekunden des Zögerns fasste Célestine sich ein Herz und drückte auf den Klingelknopf.

Ein hagerer Mann mittleren Alters öffnete die knarrende Tür, an der schwarz-weiß gestreiften Hose und dem schwarzen Jackett unschwer als Butler zu erkennen. Mit seinen schmalen Lippen und dem stechenden Blick erinnerte er Célestine an ihren früheren Mathematiklehrer, vor dem sich die ganze Klasse gefürchtet hatte.

»Guten Tag, Monsieur, mein Name ist Célestine Dufour. Ich komme wegen der Stellenanzeige«, erklärte sie mit klopfendem Herzen und verschränkte vor Aufregung die Hände hinter dem Rücken.

»Bitte einzutreten, Mademoiselle«, nuschelte der Bedienstete. Célestine folgte ihm in den Salon – und hielt den Atem an. Zart bedruckte Seidentapeten schmückten die Wände, dazu harmonierten makellos geschwungene Nussbaummöbel, die mit Intarsien verziert waren. Champagnerfarbene Vorhangstoffe an den Fenstern verliehen dem Raum Leichtigkeit und Eleganz. Mehr als ein halbes Dutzend goldgerahmter Gemälde und die Skulptur eines Fauns ließen auf kunstbeflissene Bewohner schließen. Ein üppiges Blumenbouquet aus Lilien, Tulpen und Rosenranken auf dem Kaminsims musste von einem Meister der Floristik gebunden worden sein. In diesem Augenblick stand für Célestine fest: Dies war der Ort, an dem sie arbeiten wollte.

»Wenn Mademoiselle dort drüben Platz nehmen wollen. Monsieur Dior wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein.« Der Butler deutete auf einen grauseidenen Sessel. In diesem Moment sah sie drei Frauen, die hinter einer fast deckenhohen Topfpalme auf einem breiten Sofa nebeneinandersaßen und sie feindselig anstarrten, und Célestine begriff, dass sie nicht die Einzige war, die sich auf diese Stelle bewarb.

So ungezwungen wie möglich ließ sie sich in dem ihr zugewiesenen Sitzmöbel nieder und beobachtete aus den Augenwinkeln ihre Konkurrentinnen, von denen jede ihr etliche Lebens- und Berufsjahre voraushaben musste. Die linke Frau war mindestens doppelt so alt wie sie. Am Seitenscheitel ihres pechschwarzen Haars war ein weißer Ansatz zu erkennen, die kräftigen Finger umklammerten eine Tasche, wie