Die Couturière - Agnès Gabriel - E-Book
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Die Couturière E-Book

Agnès Gabriel

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Beschreibung

Elsa Schiaparelli – die große Gegenspielerin Coco Chanels.

Tief verletzt, weil ihr Mann sie mit Isadora Duncan betrogen hat, verlässt Elsa Schiaparelli New York. Nie wieder will sie von einem Mann abhängig sein. In Paris ob ihres Esprits und ihrer Kreativität gefeiert, gilt sie schon bald als originellste Couturière ihrer Zeit – und die Frau, die in der Mode bislang den Ton angegeben hat, wird zu ihrer größten Rivalin: Coco Chanel. Doch dann muss Elsa nicht nur um das Leben ihrer kleinen Tochter kämpfen, sie muss auch entscheiden, ob sie der Liebe noch eine Chance geben will …

Die Geschichte der Frau, die Kunst zum Anziehen erfand und um deren Mode sich ganz Hollywood riss. 

Mit Man Ray, Picasso, Greta Garbo, Katharine Hepburn, Marlene Dietrich u. v. a. schillernden Figuren der 20er und 30er Jahre.

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

1922: Mit ihrer kleinen Tochter in Paris angekommen, reicht Elsa Schiaparelli die Scheidung von ihrem untreuen Ehemann ein. Nie wieder wird sie sich in Abhängigkeit von einem Mann begeben. Elsa findet Anschluss an die großen Künstler der Zeit: Man Ray, Cocteau, Picasso, Strawinsky und viele andere aus dem Kreis der Surrealisten schätzen die geistreiche und kreative Frau. Sie beginnt, Kleider zu entwerfen, die Kunstwerken ähneln und dennoch tragbar sind. Ihr Aufstieg als Modeschöpferin ist kometenhaft und wird genau beobachtet von ihrer größten Konkurrentin Coco Chanel. Doch so erfolgreich Elsa ist, so groß sind ihre Sorgen: Ihre Tochter erkrankt schwer, und dann lernt Elsa auch noch einen Mann kennen, der ihre Überzeugung, der Liebe zu entsagen, ins Wanken geraten lässt …

Über Agnès Gabriel

Agnès Gabriel ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Die gelernte Kunsthistorikerin und Romanistin hat mehrere Jahre wissenschaftlich gearbeitet, bevor sie journalistisch tätig wurde und zu schreiben begann. Mit ihrem ersten Roman im Aufbau Taschenbuch, »Merci, Monsieur Dior«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, hat sie sich ein internationales Publikum erobert. Agnès Gabriel lebt in Hamburg.

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Agnès Gabriel

Die Couturière

Elsa Schiaparelli und die Kunst der Mode

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Elsa Schiaparellis Vermächtnis, Lady Gaga und ein Couturier aus Texas

Wie es zu diesem Buch kam

Literaturauswahl zum Weiterlesen

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für meine Mutmacherinnen

Sie ohrfeigte Paris, sie folterte, sie verhexte es –

und Paris liebte sie dafür.

Yves Saint Laurent (1936-2008)

Kapitel 1

»Was hält dich noch in New York, Elsa? Komm mit mir nach Paris. Die Stadt ist wie geschaffen für jemanden, der ein neues Leben beginnen will«, hatte Blanche vorgeschlagen und sogleich hinzugefügt: »Mach dir wegen der Schiffspassage keine Gedanken. Ich übernehme die Kosten.«

In unserem Haus ist viel Platz, du bist jederzeit willkommen. Ganz sicher findest du hier auch einen Spezialisten, der deiner Tochter helfen kann. Das waren die Worte in Gabrielles Brief.

Kennengelernt hatten sich die drei jungen Frauen vor sechs Jahren, bei einer Vernissage in Manhattan im Frühjahr 1916. Elsa, die gebürtige Römerin mit Wohnsitz in New York, die Pariserin Blanche, die zur Heirat ihrer Schwester angereist war, und die ebenfalls in Paris lebende Gabrielle, die im Auftrag eines französischen Kunstmagazins über amerikanische Fotografinnen recherchierte. Aus dieser zufälligen Begegnung hatte sich über die Jahre eine Freundschaft entwickelt.

Der Gedanke, New York zu verlassen und nach Europa zurückzukehren, war Elsa schon von vor geraumer Zeit gekommen. Nachdem sie sich von ihrem Ehemann getrennt hatte, einem arbeitsscheuen Hochstapler. Er hatte sie betrogen, mit einer Barfuß-Tänzerin, die ihre Liebhaber so häufig wechselte wie manche Frauen die Strümpfe. Die Metropole zwischen Hudson und East River war teuer geworden. Zu teuer für eine geschiedene Frau ohne erlernten Beruf. Zwar hatte Elsa eine Anstellung als Verkäuferin in einem Modegeschäft gefunden, doch ihre Mittel reichten kaum, um sich einen bescheidenen Lebenswandel leisten und die ärztliche Behandlung der Tochter finanzieren zu können.

Das noble Angebot von Blanche konnte sie ohne schlechtes Gewissen annehmen. Die Freundin hatte sich jüngst von einem überaus vermögenden Anwalt scheiden lassen und erhielt eine großzügige Apanage. Zurzeit war sie mit der fünfjährigen Lora bei ihrer Schwester in Brooklyn zu Besuch. Ihre Rückreise nach Frankreich hatte sie für Anfang Juni geplant.

Wenige Tage vor der Einschiffung stellte Elsa fest, dass Gogo am ganzen Körper mit roten Pusteln übersät war. Sie hustete, fieberte und mochte nicht aufstehen. In gekrümmter Haltung lag sie in ihrem Bettchen und presste weinend die Fäuste gegen den Bauch.

Müssen Abreise verschieben. Gogo hat Masern, telegrafierte sie ihrer Freundin Blanche. Mehrmals am Tag flößte Elsa der Tochter lauwarmen Kamillentee ein und legte ihr Waden- und Armwickel an, um das Fieber zu senken. Als die Ansteckungsgefahr vorüber war und die beiden Frauen zehn Tage später mit ihren Kindern an Bord gingen, sah Gogo immer noch aus wie ein gekochter Hummer. Sie klammerte sich an den Hals der Mutter, rief schluchzend nach ihrer Nanny und ließ sich auch nicht durch das Vorsingen aller ihr bekannten Kinderlieder beruhigen. Die Kleine war erst getröstet, als Elsa in der Kabine den größten Koffer ausgepackt und zuunterst eine Stoffgiraffe gefunden hatte. Mit ihrem Lieblingsspielzeug im Arm ließ sie sich widerspruchslos ins Bett bringen und war kurz darauf eingeschlafen.

Während der achttägigen Seereise zeigte Gogo sich als ein fröhliches kleines Mädchen. Bereitwillig ließ sie sich von der drei Jahre älteren Lora Zöpfe flechten und mit diversen Schals und Halsketten mal als Prinzessin, mal als Gespenst verkleiden. Unter viel Gelächter übten die Mädchen, das Lied »Frère Jacques« auf Französisch und auf Englisch zu singen.

»Warum heißt Gogo eigentlich Gogo?«, wollte Lora eines Abends wissen, als sie der Jüngeren das Nachthemd über den Kopf zog.

»Den Namen hat sie sich selbst ausgesucht. Als sie anfing zu sprechen, hat sie sich oft mit dem Finger auf die Brust getippt … siehst du, so …« Elsa ahmte die unbeholfene Handbewegung ihrer kleinen Tochter nach und musste unwillkürlich lachen. »Dann hat sie ganz große Kulleraugen gemacht und ›Go‑go … Go‑go‹ gebrabbelt. Und jetzt nennen wir sie alle so.«

»Lustig.« Lora strich Gogo sacht über das Haar und drückte ihr die Stoffgiraffe in den Arm.

Elsa und Blanche genossen den Luxus einer elegant eingerichteten Kabine mit Mahagoni-Möbeln und dicken Teppichen, einem geräumigen Badezimmer und zwei Außenfenstern. In bequemen Liegestühlen beobachteten sie an Deck farbenprächtige Sonnenuntergänge und ließen sich nur zu gern die Schmeicheleien junger Stewards gefallen.

Auf die Stunde pünktlich erreichte die Abraham Lincoln am frühen Morgen des 20. Juni 1922 den Hafen von Le Havre. Von dort ging es weiter mit dem Zug nach Paris. Und nun, mittlerweile war es Nachmittag, stand Elsa mit ihrem Hab und Gut, verstaut in drei Koffern, auf dem Bahnsteig der Gare du Nord und sog den Geruch nach verbrannter Kohle, Wasserdampf und Öl in sich ein. Von den Nachbargleisen hallte das Zischen der an- und abfahrenden Züge zu ihr herüber. Aus den Schornsteinen der riesigen Lokomotiven stiegen Dampfwolken in den klarblauen Sommerhimmel.

Wie lange war es her, seit sie zum ersten Mal Pariser Boden betreten hatte? Es war vor Kriegsbeginn gewesen, im Frühjahr 1912, also vor gut zehn Jahren. Damals war sie Hals über Kopf vor einem allzu hartnäckigen Verehrer aus ihrer Heimatstadt Rom geflüchtet. Auf dem Weg nach London, wo sie eine Stelle als Kindermädchen antreten wollte, hatte Elsa einen Zwischenstopp in Paris eingelegt. Knapp zwei Wochen hatte sie hier verbracht und sich augenblicklich in die quirlige Stadt an der Seine verliebt. Bei der Erinnerung an einen Ball im studentischen Quartier Latin, auf dem sie einen wilden und anstößigen Tanz gewagt hatte, lächelte sie versonnen. Dieser Skandaltanz war wenig später in aller Munde gewesen: der Tango.

»Wo ist Nanny?« Der Klageruf ihrer Tochter brachte Elsa in die Gegenwart zurück. Auf wackeligen Beinen stand die Kleine vor ihr und hielt sich am Rocksaum fest, taumelte und fiel hintenüber. Das Schluchzen wurde zu einem Aufschrei, in dem sich die abgrundtiefe Verzweiflung einer Zweijährigen offenbarte. Hastig beugte sie sich hinunter und nahm Gogo auf den Arm, flüsterte ihr Koseworte ins Ohr und strich zärtlich über das zerzauste Seidenhaar.

In ihrem Innern fühlte Elsa einen Stich. War es richtig gewesen, ein so kleines Kind aus seiner vertrauten Umgebung herauszureißen? Hatte sie als Mutter egoistisch gehandelt und zu sehr ihr eigenes Wohl im Auge gehabt? Doch die Umstände hatten sie gezwungen zu handeln. Spät, viel zu spät hatte sie begriffen, dass dank des Schwindlers, den sie in einem Zustand närrischer Verliebtheit geheiratet hatte, ihre gesamte Mitgift aufgezehrt war.

Also hatte Elsa sich geschworen, nie wieder von einem Mann abhängig zu sein. Weder emotional noch finanziell. Eines Tages würde sie so viel Geld verdienen, dass sie der Tochter die beste medizinische Behandlung zukommen lassen könnte.

»Nanny, will zu Nanny«, jammerte Gogo und weinte heiße Tränen in den Jackenkragen der Mutter. Seufzend blickte Elsa zu der Freundin hinüber, die leise nickend Verständnis signalisierte.

»Kinder leben sich schnell in einer neuen Umgebung ein. Du wirst sehen, nach wenigen Tagen hat Gogo ihr Kindermädchen und auch New York vergessen.« Blanche machte einem Gepäckträger ein Zeichen, der sofort mit seiner Karre herbeieilte. Mit sicheren Handgriffen türmte der kräftige junge Mann Koffer und Hutschachteln aufeinander und manövrierte geschickt das Gefährt durch die Schar von Reisenden und weiterer Kofferboys Richtung Ausgang.

Hinter ihrer Sonnenbrille blinzelte Elsa zum Himmel empor und dankte dem Wettergott, dass er keinen Regen geschickt hatte, denn das hätte sie als schlechtes Vorzeichen empfunden. Verkehr und Straßenlärm erinnerten sie an das hektische Treiben auf der 5th oder der Park Avenue. Automobile fuhren knatternd an ihnen vorüber, überholten in gewagten Manövern die viel langsameren Pferdefuhrwerke. Dazwischen bahnten sich Radfahrer mit lauten Rufen oder energischem Klingeln ihren Weg. Der Geruch von Benzin, Motoröl und Pferdemist durchdrang die milde Sommerluft.

Elsa fiel auf, dass es in der Stadt zwei Arten von Frauen gab. Die jüngeren in ihren schmal fallenden, knielangen Kleidern und mit kurz geschnittenem Haar unterschieden sich äußerlich nur wenig von der modernen Großstadtamerikanerin. Doch viele der älteren Pariserinnen trugen dieselbe Kleidung wie vor dem Krieg, mit knöchellangen Röcken, geschnürter Taille und ausladenden Hüten. Und man konnte erbärmliche Gestalten sehen. Männer, oftmals ganz junge Kerle, denen ein Arm oder ein Bein fehlte, die eine Augenklappe trugen oder mit stierem Blick dicht an Hauswänden entlangschlichen. Der Krieg hatte sich in Europa abgespielt, und seine unheilvollen Spuren, das wurde Elsa unvermittelt bewusst, waren auf den Straßen auch vier Jahre nach dem Ende noch sichtbar.

Der Gepäckträger steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Sofort steuerten mehrere Taxifahrer ihre Automobile auf die Wartenden zu.

»Jetzt heißt es Abschied nehmen. Danke für alles, Blanche. Und danke auch dir, Lora, weil du dich auf dem Schiff so lieb um Gogo gekümmert hast.« Elsa setzte ihre Tochter auf dem Kofferstapel ab, umarmte die Freundin herzlich und küsste sie auf die Wange. »Ich revanchiere mich, versprochen.«

Dann beugte sie sich zu Lora hinunter, und hauchte dem fürsorglichen Mädchen einen Kuss auf das helle, gekräuselte Haar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. »Wir werden euch vermissen.«

»Auf Wiedersehen, Tante Elsa, auf Wiedersehen, Gogo«, nuschelte Lora und zupfte die Mutter ungeduldig am Ärmel. »Jetzt wollen wir aber ganz schnell nach Hause.«

Blanche beugte sich zu Gogo hinunter und strich ihr mit der Fingerspitze über die Nase. »Ihr müsst uns unbedingt bald besuchen kommen. Der Bois de Boulogne ist nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Dort machen wir ein Picknick und füttern danach die Enten am See.«

Augenblicklich ergoss sich ein neuer Sturzbach an Tränen über das Gesicht der Kleinen. Hilfesuchend streckte sie die Ärmchen nach der Mutter aus. Während Elsa die Tochter auf der Hüfte balancierte und zu trösten versuchte, kümmerte sich Blanche Hayes um die Verteilung der diversen Gepäckstücke auf zwei Fahrzeuge. Dann stieg sie mit Lora in den Fond, zückte ein spitzenbesetztes Taschentuch und winkte den beiden durch das heruntergelassene Fenster fröhlich zu. Dabei ließ sie ihr perlendes Lachen erklingen.

»Au revoir, mes amies. Und grüßt Gabrielle von mir. Ich finde es wunderbar, dass wir drei von nun an in derselben Stadt wohnen und uns viel häufiger sehen können.«

Ein zweiter Fahrer lud die verbliebenen Koffer ein und tippte sich an die Mütze. »Wohin möchten die beiden Desmoiselles chauffiert werden?«

Empört schnappte Elsa nach Luft. Eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm, das ihr zudem ähnlich sah, als Demoiselle, als Fräulein, zu bezeichnen, war ungehörig. Aber vielleicht wollte der ältere Mann mit der Zahnlücke und der löchrigen Jacke bloß ein Kompliment machen, und so ermahnte sie sich zu einem höflichen Tonfall.

»In die Rue des Petits Champs.«

Während der Fahrt blickte Elsa aus dem Fenster und versuchte sich vorzustellen, wie sie demnächst mit Gogo in einem Pferdeomnibus über die großen Boulevards fuhr. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie den Jardin du Palais Royal und waren am Ziel. Die Wohngegend wirkte bürgerlich und gepflegt. Vier- und fünfgeschossige Stadthäuser mit sandsteinfarbenen Fassaden prägten das Straßenbild, dazwischen befanden sich einige niedrigere Gebäude mit kleinen Geschäften und Pensionen.

Ihre Freundin Gabrielle Pasquier hatte einmal erzählt, dass ihr Künstler-Ehemann Henri das Haus vor allem deswegen gekauft hatte, weil es nur wenige Minuten Fußweg vom Seine-Ufer entfernt lag. Dort konnte er über Stunden auf einer Bank sitzen und die Umgebung skizzieren. Wobei sein besonderes Augenmerk den vorbeiflanierenden jungen Frauen galt, die er gerne ansprach, um sie als Modell für seine Malerei zu gewinnen.

Als Elsa die Freundin in ihrem luftigen Sommerkleid und mit weit ausgebreiteten Armen in der Haustür stehen sah, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. In diesem Moment war ihr, als würde eine bleierne Last von ihr fallen. Auch wenn sie nicht wusste, was das Schicksal mit ihr vorhatte, spürte Elsa doch, dass eine aufregende Zukunft vor ihr lag. In ihrer neuen Heimat Paris würde Gogo lernen, über Pfützen zu springen, und zu einer wunderschönen jungen Frau heranwachsen. Die Männer würden ihr hinterherpfeifen, und sie als Mutter wäre stolz auf die Tochter.

Kapitel 2

»Köstlich, eine Freude für den Gaumen, wenn auch eine Herausforderung für die Hüften. Wie heißt die süße Sünde, Gabrielle?«

Absichtlich hatte Elsa bisher nicht nach dem Ehemann der Freundin gefragt. Sie wusste, dass Henri nicht nur als avantgardistischer Künstler, sondern auch als unverbesserlicher Schürzenjäger galt. Gabrielle würde ihr beizeiten erzählen, warum der Gatte durch Abwesenheit glänzte.

»Das sind Madeleines. Das Gebäck ist nach einer Köchin benannt, die das Rezept vor zweihundert Jahren am Hof eines lothringischen Herzogs erfunden hat. Ich weiß das nur deshalb so genau, weil ich erst kürzlich für den Figaro eine Reportage über diese Frau geschrieben habe«, fügte sie lachend hinzu.

Die beiden Freundinnen hatten sich zum Nachmittagstee auf der rosenumrankten Terrasse eingefunden. Elsa wusste aus früheren Gesprächen, dass Gabrielle diese Gewohnheit von ihrer einstigen Gouvernante, einer aus bestem Hause stammenden jungen Engländerin, übernommen hatte. Mit einem Mal musste Elsa an London denken und wie sie dort bei einem Vortrag einen Religionsphilosophen namens William Wendt de Kerloer kennengelernt hatte. Den ganzen Abend und die ganze Nacht hatten sie miteinander über die Unsterblichkeit der Seele diskutiert. Am nächsten Morgen waren sie verlobt und wenige Wochen später verheiratet gewesen. Ihre Eltern hatten sie vor dieser Ehe gewarnt. Vergeblich. Aber das war in einer anderen Zeit geschehen, in einem anderen Leben …

Mit gerunzelter Stirn sah Elsa ihrer kleinen Tochter zu, wie sie auf allen vieren durch den Garten krabbelte, während die Kinder ihrer Gastgeberin fröhlich Fangen spielten und auf einem Bein um eine Regentonne herumhüpften. Gogo rupfte Gänseblümchen aus dem Rasen und warf sie juchzend in die Luft.

Gabrielle brach ein Stückchen von dem muschelförmigen Gebäck ab und tunkte es in ihre Tasse. »Es muss ein Schock für dich gewesen sein, als du die Diagnose erfahren hast.«

»Kinderlähmung … Ich war am Boden zerstört, wie du dir denken kannst. Zwei Jahre vor Beginn der Spanischen Grippe hatten wir in den Staaten an der Ostküste eine regelrechte Polio-Epidemie. Du hast sicher davon gelesen. Kurz nach ihrem ersten Geburtstag bekam Gogo hohes Fieber und war über Wochen hinfällig. Später dann merkte ich, dass sie nicht aufrecht stehen und auch nicht geradeaus gehen konnte. Sie bewegte sich lieber seitwärts, wie eine Krabbe …« Elsa musste zwinkern und presste ganz fest die Lippen aufeinander. Dann griff sie in ihre Rocktasche, zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich über die Augen. »Ich würde alles dafür geben, dass Gogo einmal laufen und springen lernt wie andere Kinder auch.«

Tröstend legte Gabrielle ihr die Hand auf die Schulter. »Wir finden ganz bestimmt einen Spezialisten für Gogo. Ich will mich bei meinen Freunden und Bekannten umhören. Gib mir einige Tage Zeit, dann kann ich dir Adressen nennen.«

»Danke, meine Liebe. Aber zuallererst muss ich meinen Pass verlängern lassen. Ein Zollbeamter in Le Havre stellte bei der Einreise fest, dass der Ausweis demnächst abläuft. Ich möchte keine Scherereien mit der Polizei riskieren. Schließlich will ich für längere Zeit in Paris bleiben.«

Die italienische Botschaft befand sich am linken Seine-Ufer im siebten Arrondissement, in einem dieser sandsteinfarbenen Stadthäuser mit hohen Fenstern und schmiedeeisernen Balustraden vor den Fenstern, wie sie für dieses Viertel charakteristisch waren. Signor Carlo Sforza, der Botschafter, war ein etwa fünfzig Jahre alter Mann mit grauen Schläfen und kräftigem Kinn- und Oberlippenbart. An der Wand hinter ihm hing ein goldgerahmtes Foto. Es zeigte Papst Pius XI. und Benito Mussolini, den Anführer der National-Faschistischen Partei, wie sie einander die Hände schüttelten. Den Schreibtisch zierte ein verkleinertes Gipsmodell der Skulptur des David von Michelangelo. Allerdings nicht in unbekleidetem Zustand wie das Original, das in der Accademia in Florenz zu besichtigen war, sondern mit einem weißen Leinentuch um die Hüften geknotet. Weswegen Elsa sich die Frage stellte, ob Signor Sforza womöglich prüde war oder Sorge hatte, dass minderjährige Besucherinnen Schaden an Augen oder Seele nehmen könnten.

Der Botschafter tippte mit dem Zeigfinger auf den Pass und musterte sie über den Rand seiner Nickelbrille. »Elsa Schiaparelli … Sind Sie womöglich eine Verwandte meines alten Schulfreundes Attilio? Ich bin ein großer Bewunderer seiner kunsttheoretischen Schriften.«

Einen Augenblick stutzte Elsa. Schon lange hatte niemand mehr diesen Namen mit perfektem italienischem Zungenschlag ausgesprochen. Dennoch fühlte sie sich geschmeichelt. Nicht nur in Rom oder Florenz, sogar in Paris war ihre Familie bekannt. Wenn das kein gutes Omen war! »Attilio ist mein Cousin. Wir haben uns längere Zeit nicht gesehen. Ich habe die letzten Jahre in New York gelebt.«

»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Signora … oder muss ich sagen Signorina?«

»Sie dürfen sagen, was Sie wollen, Signor Ambasciatore. Ich habe nach der Scheidung meinen Geburtsnamen wieder angenommen.«

»Ein guter Entschluss. Der Name Schiaparelli hat Rang und Klang. Ist Ihr früherer Ehemann ein Landsmann?«

»Nein, er ist polnisch-schweizerischer Abstammung.«

Der Mann setzte eine nachdenkliche Miene auf und schüttelte den Kopf. »Wie bedauerlich, aber unter diesen Umständen kann ich leider nichts für Sie tun.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie sind geschieden, folglich waren Sie einmal verheiratet. Durch die Heirat mit einem Vertreter einer anderen Nation haben Sie die italienische Staatsbürgerschaft verloren. Ihren Pass zu verlängern, würde gegen das Gesetz verstoßen.«

Elsa glaubte, sich verhört zu haben. »Heißt das, Sie wollen meinen Ausweis nicht verlängern, weil ich als Italienerin für Sie nicht existiere?«

»Nicht doch, von wollen kann keine Rede sein.« Signor Sforza verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und blinzelte verlegen zu ihr hinüber. »Ich darf nicht. Mir sind die Hände gebunden. Das müssen Sie verstehen, werte Signora Schiaparelli.«

Elsa sprang so abrupt von ihrem Stuhl auf, dass dieser hintenüberkippte und geräuschvoll auf dem Marmorboden aufschlug. Gabrielle hatte ihr und Gogo für unbegrenzte Zeit ihre Gastfreundschaft angeboten, und sie selbst hatte Pläne. Große Pläne sogar, auch wenn sie noch nicht genau wusste, wie diese aussehen sollten. Da würde sie sich doch nicht von einem verknöcherten Landsmann, auch wenn dieser ein Vertreter der Regierung war, ihre Zukunft rauben lassen! Elsa drückte die Knie fest durch, verlagerte ihr Gewicht nach vorn und reckte das Kinn. Zwar war sie eher als klein und zierlich zu bezeichnen, doch ihr Gegenüber sollte in diesem Moment glauben, er habe eine Riesin vor sich.

»Ich muss gar nichts verstehen! Ich bin als Italienerin geboren und habe nicht die Absicht, meine Nationalität zu verleugnen. Wie so viele Menschen anderer Herkunft möchte ich Frankreich zu meiner Wahlheimat machen und hier als ehrenwerte Bürgerin mit meiner Tochter leben. Es gibt kein Gesetz, das so etwas verbietet. Ich werde mich bei unserem König Vittorio Emmanuele persönlich beschweren!«

Resigniert zuckte der Botschafter mit den Schultern. »Tun Sie das, Signora. Aber der wird Ihnen nichts anderes sagen.«

Blitzschnell beugte Elsa sich vor und riss Signor Sforza den Pass aus der Hand. Grußlos und mit hoch erhobenem Kopf rauschte sie aus dem Amtszimmer. Go to hell!, schrie sie ihm in Gedanken auf Englisch hinterher, denn in dieser Sprache ließ es sich am besten fluchen.

»Wer denkt sich nur eine solch absurde Vorschrift aus? Staatsbürgerschaft verloren … Was willst du tun? In zwei Tagen läuft dein Pass ab.« Mit skeptischer Miene warf Gabrielle einen Blick erst auf den Ausweis, dann auf die Freundin.

Doch Elsa war plötzlich die Zuversicht in Person. Noch bevor sie das Botschaftsgebäude verlassen hatte, war in ihr ein Plan gereift. »Wenn ich heute den Nachtzug nehme, bin ich morgen Abend in Rom und kann übermorgen einen neuen Ausweis beantragen. Aber dann werde ich kein Sterbenswörtchen über meine Heirat verlieren. In diese Falle tappe ich kein zweites Mal«, erklärte sie entschlossen.

Wie sie es von Gabrielle gewohnt war, zeigte die Freundin sich augenblicklich von ihrer praktischen Seite. »Ich helfe dir beim Packen. Die Köchin soll einen Proviantkorb herrichten. Gogo bleibt bei mir. Es täte ihr nicht gut, wenn sie so rasch nach der langen Reise wieder in eine neue Umgebung kommt.«

Eine halbe Stunde später befand Elsa sich auf dem Weg zum Bahnhof. Zu ihrer Erleichterung hatte Gogo gar nicht mitbekommen, dass ihre Mutter ohne sie verreisen wollte. Viel zu sehr war die Kleine durch das Spielen mit Gabrielles Kindern abgelenkt. Die beiden größeren der drei- bis achtjährigen Geschwister hatten mit Hilfe von Estelle, ihrem Kindermädchen, ein Zelt im Garten aufgebaut und Gogo auf ein Holzpferd gesetzt, das sie voller Begeisterung anfeuerte. »Hü, Hüja. Schneller! Hüja!«

Kapitel 3

Um die Mutter nicht unnötig zu beunruhigen, hatte Elsa ihren Besuch in Rom nicht angekündigt. Sofort nach der Ankunft an der Stazione Termini suchte sie sich in der Nähe der Autorità di Registrazione eine kleine Pension. In einer nahe gelegenen Trattoria ließ sie sich zart gebratene Kalbsschnitzel in Zitronensauce mit Blattspinat servieren, trank dazu ein Glas Vino bianco della Casa und war bald darauf in dem schmalen Hotelbett eingeschlafen.

Am nächsten Morgen saß Elsa in einem muffigen, spärlich eingerichteten Büro, wo eine halb vertrocknete Topfpalme neben einem Regal voller Aktenordner vor sich hin kümmerte. Der Beamte war ein noch junger Mann mit kindlichen Gesichtszügen und buschigen, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen. Er sprach mit sardischem Akzent, wie sie sofort heraushörte. Ihre frühere Geschichtslehrerin war aus Cagliari gebürtig gewesen, der Hauptstadt Sardiniens.

»Oh, wie ich sehe, läuft heute am ersten Juli neunzehnhundertzweiundzwanzig Ihr Ausweis ab. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen, Signora Schiaparelli …«

»Signorina! Und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.« Schon in New York hatte sie eine Entscheidung getroffen, und die war unumstößlich. Nie wieder würde sie heiraten, nie wieder Ehefrau sein! Diesen Fehler wollte sie nicht noch einmal begehen!

Der junge Mann runzelte die Stirn und griff schulterzuckend zu einem Stapel mit Formularen. »Wir benötigen ein aktuelles Personenfoto. Haben Sie eines dabei? Dann können Sie den Ausweis heute schon mitnehmen. Sollten Sie erst eine Aufnahme anfertigen lassen müssen, dauert die Bearbeitung zwei Tage länger.«

»Hier, dieses Foto wurde im vergangenen Monat aufgenommen.« Wohlweislich hatte Elsa vor ihrer Abreise bei einem New Yorker Fotografen mehrere Abzüge bestellt und sogar daran gedacht, ein Exemplar in ihre Handtasche zu stecken. Der Beamte zog ein Stempelkarussell zu sich heran und tunkte seinen Füllfederhalter in ein Tintenglas.

»Statur, Augen, Haarfarbe, Gesichtsform … diese Angaben können wir unverändert übernehmen. Haben Sie besondere Kennzeichen, die in Ihrem alten Ausweis nicht aufgeführt sind?«

Jetzt, da die Dinge sich zu ihren Gunsten entwickelten, war Elsa nach einem Scherz zumute. »Die habe ich, Signor. Ich bin neugierig, chaotisch, ungeduldig, rede manchmal schneller, als ich denke … und ich liebe Eis mit Krokantsplittern.«

Der junge Beamte verzog den Mund, wobei sie nicht erkennen konnte, ob er ein Lachen oder Verständnislosigkeit zu verbergen suchte. »Tut mir leid, Signorina, aber das ist mehr, als in eine Zeile passt …«

Eine halbe Stunde und Dutzende stummer Jubelschreie später stand Elsa draußen auf der Straße und warf einer vorüberziehenden Wolke eine Kusshand zu. Was sie soeben getan hatte, war nicht ganz legal, aber niemandem war Schaden zugefügt worden. Was also hätte sie sich vorwerfen sollen? Und jetzt brauchte sie dringend einen Caffè. Einen starken, italienischen Caffè. In der Via delle Mantellate entdeckte sie eine kleine Bar, die zu ihrer Zeit noch nicht existiert hatte. Sie stellte sich an die Theke, scherzte mit dem Inhaber und ließ sich die neuesten Skandalgeschichten aus dem Vatikan erzählen.

Danach verspürte sie Lust, noch einen Umweg zu machen, vorbei an Villen, an deren Fassaden sich dunkelviolette Bougainvillea emporrankten. Als sie einen Park durchquerte, stellte Elsa überrascht fest, dass ihr der Anblick von Palmen, Zypressen und Orangenbäumen gefehlt hatte. Oleander- und Hibiskushecken säumten den Weg, in kunstvoll angelegten Rabatten blühten Rosen in allen erdenklichen Farben und verströmten ihren süßlichen Duft. Säulenfragmente und Büsten antiker Dichter und Herrscher verwiesen auf die langjährige Geschichte der Stadt.

Nach dem Tod des Vaters drei Jahre zuvor hatte ihre Mutter eine kleine Wohnung in der Nähe des Palazzo Corsini bezogen, wo Elsa die ersten zwei Jahrzehnte ihres Lebens verbracht hatte. Signora Maria Schiaparelli fiel beinahe der Gehstock aus der Hand, als sie ihre Tochter in der Tür stehen sah.

»Elsa, was machst du in Rom? Warum hast du kein Telegramm geschickt? Ich habe mich gerade so erschrocken, ich hätte einen Herzschlag bekommen können. Du siehst schlecht aus, ganz bleich und mager. Was ist passiert?«

Wortlos umarmte Elsa die Mutter und verspürte beinahe Erleichterung. Sie hatten sich seit ihrer Hochzeit vor acht Jahren nicht mehr gesehen. Maria Schiaparelli hatte inzwischen weißes Haar und faltige Wangen bekommen, doch ihr Wesen war unverändert. Unsentimental, geradeaus und ohne eine Spur von Feinfühligkeit.

Wenig später saßen Mutter und Tochter auf dem kleinen Balkon im ersten Stock, von dem aus sie einen Blick auf den Glockenturm der Kirche San Giacomo alla Lungara hatten. Elsa berichtete vom Verrat ihres Mannes, von Gabrielles großzügigem Angebot und dass sie künftig mit Gogo in Paris leben wollte.

»Nun, ich brauche dich wohl nicht daran zu erinnern, dass dein Vater und ich dich vor diesem Mann gewarnt hatten. Ein Wunder, dass diese Ehe überhaupt so lange gehalten hat. Aber was willst du ausgerechnet in Paris?« Maria Schiaparelli betrachtete das Kinderfoto in ihren Händen und lächelte zufrieden. »Wenigstens hat meine Enkelin das hübsche Gesicht ihrer Tante geerbt … Ich würde mich freuen, wenn Gogo in meiner Nähe aufwächst. Ihr könntet bei mir wohnen.«

Elsa machte sich nicht die Mühe, ein Seufzen zu unterdrücken. Ihre Mutter hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie ihre ältere Tochter Beatrice für bildschön hielt – im Gegensatz zu ihr, der zehn Jahre jüngeren Elsa. Und dass die Mutter keinen Sinn für ihre Zukunftspläne hatte, damit hatte sie gerechnet.

»Deine Wohnung ist für uns drei viel zu klein, Mamma«, wehrte sie entschieden ab. »Außerdem haben die Ärzte hier nur wenig Erfahrung mit Kinderlähmung. Ich möchte, dass Gogo von einem Spezialisten behandelt wird. Von meiner Mitgift ist übrigens kein Centesimo übriggeblieben. Mein geschiedener Mann hatte keine Skrupel, dieses Geld, das nicht ihm gehörte, innerhalb kürzester Zeit zu verprassen. Ich werde mir meinen Lebensunterhalt künftig selbst verdienen.«

»Und was willst du machen? Du hast doch nichts gelernt.«

Wäre ich ein Mann, hättet ihr mich etwas lernen lassen, dachte Elsa mit einiger Verbitterung. Dann wäre ich jetzt Höhlenforscher, Flugzeugpilot oder der berühmteste Architekt weltweit. Trotzdem musste sie ihren Eltern dankbar sein, dass sie sie hatten zur Schule gehen lassen. Dieses Glück war nicht allen italienischen Mädchen ihres Alters vergönnt gewesen. Selbstverständlich hatte Maria Schiaparelli verlangt, dass ihre beiden Töchter sich anstrengten und gute Noten nach Hause brachten. Was Elsa zum Kummer der Mutter in nur einem einzigen Fach gelungen war: im Kunstunterricht.

»Dass ich etwas kann, habe ich bereits bewiesen. In New York habe ich als Verkäuferin in einem Modegeschäft gearbeitet und für einen Wall Street Broker Lochkarten geprüft. Für Übersetzungen wurde ich auch angefragt … Paris ist die Stadt der tausend Möglichkeiten, Mamma. Mein Gefühl sagt mir, dass nur dort mein Platz ist.«

Missbilligend schüttelte Maria Schiaparelli den Kopf. »Du kannst deiner Freundin nicht ewig zu Last fallen. Irgendwann willst du eine eigene Wohnung mieten. Da wird von deinem Verdienst nicht viel übrigbleiben.«

»Ich werde genug Geld verdienen. Sogar mehr als genug!«, entgegnete Elsa starrköpfig und fühlte sich wieder als das kleine Mädchen, das gegenüber den Eltern seine Meinung hartnäckig verteidigen musste. Doch Maria Schiaparelli ließ sich nicht so leicht überzeugen.

»Sieh die Dinge einmal von der praktischen Seite. Hier kannst du nahezu umsonst leben. Tagsüber triffst du dich mit deinen alten Schulfreundinnen, Gogo spielt mit ihren großen Cousinen, und am Abend kochen wir zusammen Risotto oder Pasta und braten Scaloppine. Außer deiner Freundin kennst du doch niemanden in Paris.«

»Oh doch. Gabrielle schreibt für diverse Magazine Reportagen und Kunstkritiken und pflegt beste Kontakte. Viele interessante Menschen, denen ich in New York begegnet bin, leben mittlerweile in Paris. Ich freue mich schon darauf, bekannte Gesichter wiederzusehen. Fotografen, Maler, Schriftsteller … Du weißt, Mamma, wenn ich mir etwas vorgenommen habe, lasse ich mich von niemandem aufhalten. Ich will meinen eigenen Weg gehen.«

Jetzt war es Maria, die seufzte. »Du warst schon immer ein eigensinniges Kind, Elsa … Aber du bleibst doch sicher noch einige Tage. Denk nur, wie lange du deine Schwester nicht gesehen hast. Beatrice ist mit der Familie zur Hochzeit ihrer Patentochter in die Toskana gefahren. Sie kommen nächsten Mittwoch zurück.«

»Beatrice wird mich verstehen. Ich will so schnell wie möglich nach Paris zurück. Gogo ist erst zwei Jahre alt, bestimmt weint sie sich schon die Augen nach mir aus. Ich nehme morgen den Nachtzug.«

Beim Abschied am nächsten Tag drückte Maria Schiaparelli ihrer Tochter eine Schatulle in die Hand. Als Elsa das Kästchen öffnete, sah sie auf dunkelblauem Samt ein mit Amethysten verziertes Medaillon.

»Die Kette ist für Gogo. Meine Eltern haben sie mir geschenkt, als ich in die Schule kam. Aber du musst mir regelmäßig Fotos von meiner Enkelin schicken.«

Elsa umarmte die Mutter, die sich jedoch abrupt umwandte und in die Küche humpelte. Schimmerte da etwa eine Träne im Augenwinkel von Maria Schiaparelli? Aber vielleicht hatte sie sich auch geirrt. Sentimentalität war ihrer Mutter fremd.

Weil ihr bis zur Abfahrt des Zuges noch Zeit blieb, beschloss Elsa, einige Orte ihrer Kindheit aufsuchen. Sie setzte sich auf eine Bank am Ufer des Tibers, wo sie im Alter von elf Jahren ihren ersten Kuss bekommen hatte. Von einem drei Jahre älteren Jungen, der wegen ihrer stürmischen Erwiderung so erschrocken war, dass er schreiend davonlief und sich nie wieder bei ihr meldete.

Eine Weile schaute sie den jungen Mädchen zu, wie sie kichernd vorbeischlenderten und darauf aus waren, die Blicke einer Rudermannschaft auf sich zu ziehen, die auf dem Fluss trainierte. In einer Gelateria kaufte Elsa ein Krokanteis, spürte der kalten Köstlichkeit auf der Zunge nach und schlenderte durch den Botanischen Garten. In dieser blühenden Idylle hatte sie als Kind mit Freundinnen gespielt und jedem Baum einen eigenen Namen gegeben.

Plötzlich war ihr, als zögen unsichtbare Fäden sie Richtung Petersdom, in das Gotteshaus, das sie in ihrer Kindheit von allen Kirchen Roms am häufigsten aufgesucht hatte. Und wie jedes Mal fühlte sie sich überwältigt von der Magie, die von diesem einzigartigen Bauwerk ausging. Farbenprächtige Gemälde, Marmorsäulen und kunstvoll geschnitzte Altäre faszinierten durch die Perfektion ihrer Ausführung. Sie schritt vorbei an der hinreißenden Skulptur der Pietà von Michelangelo. Der Künstler hatte den stillen Schmerz der Gottesmutter über den Tod ihres Sohnes so einfühlsam in Marmor gemeißelt, dass jeder Besucher von diesem Anblick berührt war. Sodann passierte sie den goldverzierten Taufbrunnen, an dem sie zweiunddreißig Jahre zuvor getauft worden war, und wandte sich Richtung Nordosten zur Cappella Gregoriana. Dort befand sich am Altar das Gnadenbild der Madonna di Soccorso, der Madonna der immerwährenden Hilfe.

Elsa kniete in der vorderen Kirchenbank nieder, faltete die Hände und sprach eine stumme Fürbitte zu Maria, der Gottesmutter, zu der sie von klein auf eine innigere Verbindung verspürt hatte als zu deren göttlichem Sohn. In einem tonlosen Gebet äußerte sie ihre Sorge um die Tochter und offenbarte ihren sehnlichsten Wunsch: dass Gogo ihre Krankheit besiegen würde.

Als sie hinter sich Frauenstimmen vernahm, die das Ave-Maria beteten, breitete sich eine tiefe Ruhe in ihr aus. Sie eilte hinaus ins Freie und schritt über den Platz bis zum ägyptischen Obelisken in der Mitte. Dort wandte sie sich noch einmal um, blickte hinauf zu der Kuppel mit dem Kreuz, und dann wollte sie nur noch eines. So schnell wie möglich nach Paris fahren und Gogo in die Arme schließen.

Kapitel 4

Der Arzt hatte seine Praxis in der Rue Montesquieu nahe dem Musée du Louvre. An sämtlichen Wänden hingen Gemälde und Zeichnungen mit Darstellungen ärztlicher Heilkunst. Docteur Martin war ein stämmiger Mittvierziger mit Halbglatze und einer dunklen, volltönenden Stimme. Seine ganze Erscheinung strahlte etwas Väterliches und Beruhigendes aus.

Er forderte Gogo auf, über ein Fußbänkchen in der Mitte des Untersuchungszimmers zu steigen und bis zur gegenüberliegenden Wand zu gehen. Während er das Mädchen mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, machte er sich in einem Schreibblock Notizen.

Blitzschnell krabbelte Gogo über den anthrazitfarbenen Marmorboden, stieß das Fußbänkchen um und setzte sich auf den Hosenboden. Docteur Martin rollte ihr einen roten Ball mit weißen Punkten entgegen, den sie ihm zurückbringen sollte. Gogo blieb sitzen, warf den Ball in die Luft und fing ihn glucksend wieder auf.

»Demoiselle Gogo scheint ihren ganz eigenen Kopf zu haben.« Docteur Martin lächelte amüsiert, wurde dann aber wieder ernst. »Leidet Ihre Tochter an Schluck- und Atembeschwerden, Madame Schiaparelli?«

»Glücklicherweise nicht. Allerdings wollen ihre Beine nicht mitwachsen. Sie kann nicht richtig stehen und auch nicht geradeaus laufen, wie Sie sehen.«

»Ich frage, weil bei der Poliomyelitis häufig eine Lähmung des Zwerchfells vorliegt. Dann kommen die Patienten an ein Beatmungsgerät, eine sogenannten Spirophore oder Eiserne Lunge. Andere leiden unter einer Muskellähmung der unteren Extremität, so wie Ihre Tochter. Es gibt allerdings auch Patienten, die beide Krankheitssymptome zeigen.«

Der Arzt machte sich weitere Notizen, dann legte er den Stift beiseite. »Nun, würde Ihre Tochter eine Therapie mittels der Eisernen Lunge benötigen, wären Sie bei mir genau an der richtigen Adresse. In Gogos Fall haben wir es aber mit einer rein funktionellen Störung der Beinmuskulatur zu tun. Ich würde Ihnen gern einen Kollegen in Lausanne empfehlen. Professor Georges Perrault kenne ich von mehreren Kongressen. Er ist Leiter einer Spezialklinik und eine Koryphäe auf seinem Gebiet. In der ganzen Welt hält er Vorträge. Ich bin überzeugt, er weiß, wie Ihrer Tochter zu helfen ist.« Docteur Martin notierte einige Zeilen auf einem Zettel und reichte ihn Elsa. »Hier ist seine Adresse. Und sollten Sie ihn aufsuchen, richten Sie ihm herzliche Grüße von mir aus.«

Als Elsa mit Gogo auf dem Arm die Praxis verließ, fühlte sie große Erleichterung. Es gab also einen Experten, der ihre kleine Tochter behandeln konnte, auch wenn sie dafür in die Schweiz fahren müsste. Wichtig war einzig, dass Gogo zu einem fröhlichen Mädchen heranwuchs. Und irgendwann, so hoffte Elsa, würden sie gemeinsam Seilchen springen und vielleicht sogar Skifahren. Dafür war ihr jeder Aufwand recht.

»Lausanne … Du solltest sofort in der Klinik anrufen und den Professor um einen Termin nachfragen«, schlug Gabrielle vor. Sie ließ die Verbindung beim Telegrafenamt binnen Minuten herstellen, und Elsa übernahm das Gespräch. Die Vorzimmerdame, die sich am Telefon meldete, war offenbar eine wenig auskunftsfreudige Frau.

»Nein, der Professor kann Ihre Tochter zurzeit nicht untersuchen. Er befindet sich auf einer Vortragsreise in Skandinavien.«

»Wann wird er wieder zurück sein?«

»Ende August, vielleicht auch Anfang September …«

»Können Sie mir dann für Mitte September einen Termin geben?«

»Mitte September fährt der Professor zu einem Kongress nach Österreich.« Der Tonfall der Vorzimmerdame war inzwischen gänzlich unterkühlt.

Wäre es nicht um das Wohl ihrer Tochter gegangen, hätte Elsa auf der Stelle das Gespräch beendet. Ihre Stimme wurde laut und ungehalten. »Hören Sie, ich lebe in Paris. Mir wurde Ihre Klinik sehr empfohlen. Nennen Sie mir bitte ein Datum, an dem ich dem Professor meine Tochter vorstellen kann.«

»Rufen Sie Anfang Oktober wieder an. Auf Wiederhören.« Es klickte in der Leitung, dann war es still.

»So eine unfreundliche Person«, schimpfte Elsa und hätte am liebsten den Telefonapparat von der Wand gerissen und aus dem Fenster geworfen. Gabrielle, die das Gespräch mitverfolgt hatte, drückte ihr ein Glas Wasser mit einem Spritzer Pastis in die Hand. »Hier, nimm einen Schluck, das beruhigt die Nerven.«

»Um die zu beruhigen, müsste ich vermutlich ein ganzes Glas Pastis trinken – mit nur einem Spritzer Wasser. Was soll ich jetzt machen? Mit Gogo zu einem weiteren Arzt gehen? Aber zu welchem?«

»Der Professor in der Schweiz gilt als Koryphäe«, gab Gabrielle zu bedenken. »Ich schlage vor, du wartest ab, bis er von seinem Kongress zurück ist. In der Zwischenzeit wird Gogos Krankheit nicht besser werden, sich aller Voraussicht nach aber auch nicht verschlimmern. Lass dir von einer mürrischen Sekretärin nicht den Tag verderben.«

»Vielleicht hast du recht«, seufzte Elsa ergeben und trank ihr Glas in einem Zug leer.

Gabrielle nickte aufmunternd und wechselte das Thema. »Übrigens, Madame Claire Chopinel, eine der bekanntesten Galeristinnen der Stadt, gibt in zwei Wochen einen Empfang. Selbstverständlich kommst du mit, wir werden alte Bekannte aus New York wiedersehen.«

»Wunderbar!« Elsa spürte, wie die Aussicht, sich endlich wieder einmal zu zerstreuen, ihre Stimmung aufhellte. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal bei einer Festlichkeit war. Es wird also höchste Zeit. Glücklicherweise muss ich nicht nackt auf dem Empfang erscheinen. In zwei meiner drei Koffer habe ich ausschließlich Kleidung verstaut.«

»Eine gute Entscheidung«, lobte Gabrielle. »Denn wie heißt es doch so treffend? Kleider machen Leute. Ich selbst würde mir gern etwas Neues zum Anziehen kaufen. Aber oft gefällt mir nicht, was ich in den Geschäften sehe. Wollen wir morgen meinen Kleiderschrank in Augenschein nehmen? Du weißt, ich schätze deinen guten Geschmack und deinen Blick für das Besondere. Vielleicht kommt dir eine Idee, was mir am besten steht.«

Am nächsten Tag hatten Gabrielles Kinder wieder ihr Zelt im Garten aufgebaut und spielten unter der Aufsicht des normannischen Kindermädchens Estelle Prinz und Prinzessin im Wunderland. Gogo mimte eine verzauberte Katze. So konnten die beiden Freundinnen ungestört mit der Kleiderschau in Gabrielles Zimmer beginnen.

Als ihre Freundin sämtliche Türen des meterbreiten Schrankes öffnete, fühlte sich Elsa an ihre Kindheit erinnert. Mit dem größten Vergnügen hatten sie und ihre ältere Schwester auf dem Dachboden der elterlichen Wohnung gestöbert, in Truhen und Koffern gewühlt und eine Modenschau vor einem imaginären Publikum inszeniert.

»Die meisten Teile stammen aus den Jahren vor Kriegsbeginn, sind also mehr als zehn Jahre alt«, stellte Gabrielle nüchtern fest. »Dem Himmel sei Dank, dass wir diese Schreckenszeit überwunden haben … Ich will etwas Ungewöhnliches tragen, etwas, worüber die Leute reden. ›Provozieren statt lamentieren‹ heißt jetzt meine Devise, wenn du verstehst, was ich meine. Niemand soll auf die Idee kommen, er müsse Mitleid mit einer betrogenen Ehefrau haben.«

»Wen hat dein Henri denn diesmal auserkoren?«, wollte Elsa wissen und fügte sogleich entschuldigend hinzu. »Sofern meine Frage nicht zu indiskret ist.«

Gabrielle lachte bitter auf. »Natürlich darfst du fragen. Da unsere Ehemänner mit derselben Frau, dieser amerikanischen Barfuß-Tänzerin, ins Bett gegangen sind, müssen wir auch keine Geheimnisse voreinander haben.« Dann aber wurden ihre Lippen schmal und ihr Tonfall ernst. »Soweit ich weiß, ist die derzeitige Geliebte verheiratet. Ab und zu taucht der große Künstler hier zu Hause auf. Dann zieht er sich in sein Atelier zurück und malt. Wenn Freunde zu Besuch kommen, mimt er den charmanten Gastgeber. Bis in den späten Abend diskutiert er mit ihnen über diese neue Bewegung, die sich Dadaismus nennt. Die Maxime lautet, dass Regeln in der Kunst nur dazu dienen, missachtet zu werden.« Sie stockte und fuhr resigniert fort. »Henri hat diese Forderung auch auf das Eheleben übertragen. Zu seinen Gunsten, natürlich. Wären die Kinder nicht, ich hätte mich schon längst scheiden lassen.«

»Ich verstehe das nicht«, empörte sich Elsa. »Du bist eine gebildete, einfühlsame Frau und hast obendrein eine Figur wie ein junges Mädchen. Und das nach vier Kindern … Henri ist nur zu beneiden.«

»Offenbar ist er anderer Meinung.«

»Sag jetzt nicht, dass du diesen Schmierenkomödianten auch noch liebst.« Elsa überlegte, ob sie jemals wahre Liebe empfunden hatte, oder ob es nur Verliebtheit gewesen war, die sich irgendwann in Selbstzweifel und dann in bittere Enttäuschung verwandelt hatte.

Gabrielle zuckte mit den Schultern. »Liebe ist nur ein Wort … Oh, das klingt nicht schlecht. Vielleicht sollte ich irgendwann einen Roman mit diesem Titel schreiben.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Also, was schlägst du vor, meine Liebe? Wie werde ich an diesem Abend zur aufregendsten Pariserin – neben dir als der aufregendsten Römerin? Meine Verwandlung darf allerdings nicht allzu kostspielig werden. Henri ist, was den Unterhalt für seine Familie angeht, ausgesprochen geizig.«

Auf Elsas Vorschlag hin probierte Gabrielle ein gelbes bauschiges Nachmittagskleid mit spitzenbesetztem Halsausschnitt an, danach ein knöchellanges Taftkleid mit einer rauchblauen Samtjacke und schließlich ein zweiteiliges Kleid mit Rüschenärmeln und einer gefältelten Schärpe. Doch jedes Mal schüttelte Elsa den Kopf. Rasch breitete sie einige Dutzend Röcke, Blusen und Kleider auf dem großen Ehebett aus und trennte sie nach Farben. Dann ordnete sie neu, mischte die Teile untereinander, fand aber keine Kombination, die sie überzeugte.

»Nein, ist sehe nichts, was deine hübsche Figur betont. Die Zeit der Korsetts und der steifen Unterröcke ist vorbei, ma chère. Wir leben nicht mehr in der Belle Époque, wir schreiben das Jahr neunzehnhundertzweiundzwanzig. In deine Garderobe gehört frischer Wind. Kennst du jemanden, der nähen kann? Ich selbst kann leider nicht einmal einen Knopf befestigen, geschweige denn eine Nähmaschine bedienen.«

Gabrielle öffnete eine Schublade mit Halstüchern und dachte einen Moment konzentriert nach. »Aber ja, Eugénie, meine frühere Nachbarin. Sie hat einige meiner Lieblingskleider umgearbeitet, als sich meine Figur durch die Schwangerschaften fortlaufend veränderte. Warum fragst du?«

Kapitel 5

Madame Claire Chopinel war eine füllige Mittfünfzigerin mit warmherziger Ausstrahlung und einem winzig kleinen, weißgelockten Hund auf dem Arm. In sämtlichen Räumen ihres pompös eingerichteten Stadtpalais in der Nähe des Jardin du Luxembourg hatte sie ausschließlich roséfarbenen Blumenschmuck aufstellen lassen. Kellner im Frack servierten auf hochglänzenden Silbertabletts Champagner und Appetithäppchen mit Entenlebercreme, getrüffeltem Käse, Kaviar und anderen Delikatessen. Ein Quartett, bestehend aus gutaussehenden Männern im Studentenalter, unterhielt die bestens gelaunten Gäste mit Salonmusik. Der Duft der schweren süßlichen Damenparfums mischte sich mit dem von herben Rasierwässern der Herren.

Der Abend wurde ein voller Erfolg. Für Gabrielle, die in ihrem dunkelblauen Seidenensemble mit plissiertem, grasgrünem Taftkragen und einer kleinen, gleichfarbigen Tasche am Gürtel die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Und ebenso für Elsa, die von Gabrielle als ›langjährige Freundin aus Amerika‹ vorgestellt wurde und mit den Gästen über den neuesten Film der beliebten Schauspielerin Gloria Swanson, die besten New Yorker Jazz Clubs und das vor Kurzem in Amerika eingeführte Frauenwahlrecht diskutierte.

Eugénie hatte aus Gabrielles veralteten Kleiderbeständen einen weit schwingenden Rock verschmälert und auf eine Länge knapp unterhalb des Knies gekürzt. Elsa hatte entschieden, dass zu einer dunklen Farbe wie dem klassischen, zurückgenommenen Blau ein unerwarteter Farbkontrast gehörte. Und so hatte die Schneiderin aus einer leuchtend grünen Seidenbluse, die im Vorderteil einen Flecken hatte, der sich nicht herauswaschen ließ, Kragen und Tasche genäht.

Elsa war überrascht, wie schnell und sicher ihr das Skizzieren von der Hand gegangen war. Innerhalb weniger Minuten hatte sie eine Zeichnung angefertigt und damit die Freundin glücklich gemacht. Die hatte nur den Lohn für die Schneiderin zahlen müssen und erhielt in ihrer ungewöhnlichen Aufmachung jetzt die erhoffte öffentliche Aufmerksamkeit.

Am wohlsten fühlte sich Elsa in Kleidern, in denen sie sich ungezwungen bewegen konnte. Deshalb hatte sie für diesen Abend ein schwarzes Kostüm mit hüftlanger Jacke aus einem feinmaschigen Jersey gewählt. Dieser Stoff, benannt nach der britischen Kanalinsel, wurde nicht gewebt, sondern gewirkt. Eine Technik, die ihn nachgiebig und leicht machte. Das Ensemble hatte sie kurz nach Gogos Geburt in einem kleinen Modegeschäft in Manhattan an der Upper West Side nahe der Metropolitan Opera gekauft. Die Verkäuferin hatte es hervorragend verstanden, ihr die Vorzüge dieses Materials zu erklären.

Unterhalb des linken Schlüsselbeins trug Elsa eine handtellergroße Brosche, die unzweifelhaft als eine sitzende, unbekleidete Frau zu erkennen war. Eine antike Göttinnenstatue im Miniaturformat als Reminiszenz an ihr Sternzeichen Jungfrau. Um die Taille hatte sie anstelle eines Gürtels einen golddurchwirkten Seidenschal gewickelt. Plötzlich vernahm sie hinter sich eine bekannte Stimme.

»Das ist aber eine Überraschung, Elsa. Was verschlägt Sie nach Paris?«

Sie wandte sich um und sah sich einem Mann mit intensivem Blick und dunklem, welligem Haar gegenüber: Man Ray, ein Fotograf und Maler, den sie in ihrer frühen New Yorker Zeit bei einer Vernissage kennengelernt hatte und dessen Scharfsinn sie zu schätzen wusste. Freudig ergriff sie seine ausgestreckte Rechte. »Ray, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Es müssen drei oder vier Jahre sein. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe mich scheiden lassen und bin mit meiner kleinen Tochter letzten Monat angekommen. Dies ist mein erster Ausflug in die Pariser Kulturwelt.«

Man Ray gab einem Kellner ein Handzeichen, der sofort mit zwei Gläsern Champagner zu ihnen eilte. »Dann sehen wir uns in Zukunft also häufiger. Darauf sollten wir anstoßen. Santé!« Mit einem freundschaftlichen Kopfnicken prosteten sie einander zu.

»Sie haben richtig entschieden, Elsa. Paris ist die Stadt, die den Menschen unerwartete Chancen gibt. Erinnern Sie sich an Marcel Duchamps?« Ihr Gesprächspartner deutete in den Raum. »Er steht dort drüben neben dem Kamin und plaudert gerade mit der Gastgeberin. Wir planen eine gemeinsame Ausstellung, zusammen mit einigen Freunden. Die Namen André Breton, Paul Éluard und Max Ernst sagen Ihnen vermutlich nichts, aber sie werden bald in aller Munde sein.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Elsa, wie einige der männlichen Gäste nicht nur Gabrielle, sondern auch ihr anerkennende Blicke zuwarfen. Worauf deren Begleiterinnen ihre Ehemänner am Ärmel zupften und mit frostiger Miene fortzogen.

»Gehören Sie ebenfalls dieser neuen Kunstrichtung an, von der Gabrielle mir erzählt hat? Dem Dadaismus … In Amerika kann man darüber noch gar nichts lesen. Was ist das Ziel dieser Bewegung?«

»Ich stelle fest, Sie haben nichts von Ihrer Neugierde verloren.« Man Ray schmunzelte. »Ich erinnere mich gern an unsere Begegnungen in New York. Wie oft haben wir bis spät in die Nacht diskutiert.«

Mit rosigen Wangen und einem vollen Glas in der Hand war Gabrielle unbemerkt zu ihnen getreten. »Hier bist du, meine Liebe … Sie erlauben doch, Ray, dass ich unsere Freundin entführe? Die Gastgeberin möchte Elsa unbedingt kennenlernen und alle Klatschgeschichten über den charismatischen Rudolph Valentino erfahren. Viele Frauen gehen nur seinetwegen ins Filmtheater.«

»Ich trenne mich ungern von zwei so charmanten Damen.« Man Ray verbeugte sich leicht. »Kommen Sie beide mich demnächst in der Rue Compagne besuchen. Ich bin gerade dabei, mir dort ein Wohnatelier einzurichten. Wenn Sie mögen, fotografiere ich Sie. Als kleines Dankeschön für den einfühlsamen Artikel im Figaro, den Sie, liebe Gabrielle, über unsere neue Bewegung verfasst haben.«

»Wir kommen auf Ihr Angebot zurück.« Gabrielle hakte sich bei Elsa unter und zog sie mit sich. »Du musst unbedingt alle wichtigen Künstler von Paris kennenlernen. Lass uns noch etwas trinken, der Abend hat erst begonnen.«

Am nächsten Morgen wachte Elsa mit schwerem Kopf und leichtem Herzen auf. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so amüsiert. Wie sollte sie sich nur all die Namen und Gesichter ihrer Gesprächspartner merken? Sie würde sich Notizen machen, denn sie wusste, dass sie sich auf ihr Namensgedächtnis nicht verlassen konnte.

Nach der Flut an Komplimenten, die Gabrielle am Abend zuvor entgegengenommen hatte, hatte Elsa vorgeschlagen, die gesamte Garderobe der Freundin umzugestalten. Sie plädierte für eine schmalere und modischere Linienführung, wie sie sie von den jungen Amerikanerinnen her kannte. Von den Fabrikarbeiterinnen, Sekretärinnen und Telefonistinnen, den Frauen, die ihr eigenes Geld verdienten.

Den gesellschaftlichen Vorsprung verdankten die Amerikanerinnen der Tatsache, dass ihre Nation im gegenwärtigen Jahrhundert keinen Krieg erlebt hatte. Die Französinnen dagegen, wie auch die übrigen Europäerinnen, hatten mehrere Jahre aufzuholen. Während des Krieges hatten sie die Arbeit von Männern übernommen, waren Schaffnerinnen, Lehrerinnen und Postbotinnen gewesen. Als dann die überlebenden Männer zurückkehrten, wurden die Frauen eilends an ihren alten Platz zurückversetzt: an den heimischen Herd.

In kürzester Zeit zeichnete Elsa etliche Entwürfe, und Eugénie trennte auf, schnitt zu und nähte neu zusammen. Dass Gabrielle nur wenig Geld zur Verfügung hatte, empfand Elsa keineswegs als Hindernis, sondern als Herausforderung. Ihre Strategie war, aus Vorhandenem etwas zu kreieren, das es so noch nicht gab. Deshalb war jedes Kleidungsstück von ihr mit einem Blickfang versehen, einem Überraschungsmoment. Sei es eine Stickerei am Ärmelaufschlag, Knöpfe in unterschiedlichen Farben oder ein Gürtel mit Pailletten. Nicht zuletzt konnte sie sich auf diese Weise für Gabrielles Gastfreundschaft revanchieren. Die sie aber nur so lange in Anspruch nehmen wollte, bis sie sich eine eigene Wohnung leisten konnte.

Kapitel 6

Einen ganzen Tag lang dauerte die Zugfahrt nach Lausanne. Elsa hatte sich in einer kleinen Pension nahe dem Krankenhaus ein Zimmer genommen. Am nächsten Morgen, als sie noch überlegte, ob sie zu ihrem weinroten Kostüm eine Goldkette mit emailliertem Mondanhänger oder ein Silberarmband in Schlangenform tragen sollte, war Gogo unbemerkt auf den Balkon gekrabbelt und deutete aufgeregt in die Ferne.

»Da! Meer!«, rief sie und richtete sich am Balkongitter auf.

»Aber nein, das Meer ist viel größer. Was du dort hinten siehst, ist ein See, der Genfer See. Nach dem Frühstück gehen wir zu einem berühmten Arzt, der schon die ganze Welt gesehen hat.«

»Ganze Welt?«, wollte Gogo wissen.

»Zumindest ganz viele Länder. Nun komm, Darling, wir wollen den Doktor nicht warten lassen.«



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