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Lars Olsen

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Beschreibung

2010: Ein schrecklicher Vorfall erschüttert das ostfriesische Küstenstädtchen Suntrup: Drei Jugendliche gehen im Marschland zelten und verschwinden spurlos. Während ein Teil der Bevölkerung an ein tragisches Unglück glaubt, sind andere von einem Gewaltverbrechen überzeugt. Das Verschwinden der Jugendlichen wird jedoch nie aufgeklärt. Gegenwart: Eine Mutter aus Suntrup erleidet einen Nervenzusammenbruch. Sie schwört, eines der 2010 verschwundenen Kinder als Erwachsenen in Hamburg wiedererkannt zu haben. Niemand glaubt der psychisch labilen Frau. Bis der Hamburger Kriminalkommissar Ole Voss sich bereit erklärt, den alten Fall noch einmal aufzurollen. In Suntrup stößt der Ermittler auf Widersprüche – und eine Menge Menschen, die offenbar kein Interesse daran haben, dass der Fall aufgeklärt wird. Unbeirrt und von einer Frage besessen forscht Ole weiter: Was ist mit den Jugendlichen passiert?

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Lars Olsen

Die Marschland-Morde: Küstenkrimi

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Impressum

Prolog

Suntrup, 2010

Neeles Herz schlug bis zum Hals. Was war das? Was läuft da? Sie kauerte sich im Iglu-Zelt zusammen, während ihr Bruder draußen vor Schmerz aufschrie. Ich muss ihm helfen, dachte sie, doch die Angst hielt sie davon ab, den Reißverschluss zu öffnen und rauszugehen. Ich kann einfach nicht. Ich weiß nicht, was mich dort erwartet. Wahrscheinlich dasselbe wie Nils, und das kann nichts Gutes sein!“

„Hilfe!“, rief Nils plötzlich. Neele hasste sich dafür, dass sie ihrem Bruder nicht beistand. Sie hielt sich die Ohren zu, während die Schreie immer lauter wurden. Wie aus dem Nichts meldete sich plötzlich ihr Überlebenstrieb. Neele zog hastig ihre Hose an, riss das Zelt auf und rannte los. Weiter, nur weg von hier. Sie hatte nicht einmal Zeit, ihre Hose richtig zu schließen, mit jedem Schritt rutschte sie ein Stück tiefer. Im Augenwinkel sah Neele ihren Bruder blutüberströmt auf dem Boden liegen. Für einen kurzen Augenblick berührte er noch ihr Fußgelenk. Aber Neele war nicht mehr aufzuhalten. Meter für Meter rannte sie durch das hohe Gras der Salzwiesen. Nils’ Schreie wurden immer leiser. Ich muss mich erst um mich selbst kümmern. Sollte ich auch verletzt werden, hat keiner was davon. Wenn ich endlich zu Hause bin, benachrichtige ich die Polizei. Aber was sage ich ihr? Ich weiß ja selbst nicht mal, was gerade hier passiert, rechtfertigte Neele sich vor sich selbst. Neele verspürte auf einmal große Kraft. Ihre Hose hing inzwischen fast in den Kniekehlen, weshalb sie nur kleine Schritte machen konnte, zum Hochziehen war jetzt keine Zeit. Neele drehte sich um, es war niemand hinter ihr. Zumindest sah sie keinen Menschen hinter sich. Vielleicht hielt er sich jedoch auch im hohen Gras versteckt? Ein Anflug von Panik überkam sie bei dem Gedanken.

Welche Richtung soll ich einschlagen, weiter nach Süden durchs Gras oder durch den Priel nach Osten? Im Gras kann ich mich verstecken; wenn ich den Priel durchquere, verschafft mir das etwas Zeit. Neele entschied sich für den Priel.

Sie kümmerte sich nicht darum, ob ihre Hose nass wurde. Vorsichtig setzte sie ein Bein in das langsam in Richtung Meer fließende Gewässer und hielt sich am Rand des Priels fest. Der Boden war morastig, und um nicht einzusinken, durfte sie nicht zu lange an einer Stelle stehen bleiben. Wieder und wieder drehte sie nervös ihren Kopf nach hinten, es war immer noch niemand zu sehen. Ihr fiel gar nicht auf, dass ihr Bruder nicht mehr schrie. Endlich erreichte sie das andere Ufer und verließ das Wasser. Sie nahm sich einige Momente, um durchzuatmen und ihre Hose richtig anzuziehen. Zum ersten Mal war sie froh, regelmäßig im Sportverein zu trainieren. Hat sich dahinten im Gras etwas bewegt? Die Angst, weiter verfolgt zu werden, trieb sie voran. Plötzlich trat sie auf einen großen Stein und knickte um. Sie schrie vor Schmerz auf und fiel zu Boden. Sofort rappelte sie sich wieder auf. Das Adrenalin in ihrem Körper überdeckte den Schmerz in ihrem Fuß. Fluchend bemerkte sie, dass sie in einem Bereich unterwegs war, in dem über einige hundert Meter viele weitere Steine und kleine Felsbrocken verteilt lagen. Um nicht auf sie zu treten oder darüber zu stolpern, musste Neele viel Geschwindigkeit herausnehmen, was bedeutete, dass ihr potenzieller Verfolger ein ganzes Stück Strecke gutmachen konnte. Panisch drehte Neele sich noch einmal um. Während sie dabei den rechten Fuß nach vorn setzte und nicht sehen konnte, wo er aufkam, spürte sie plötzlich wieder einen großen Schmerz. Ihr Fuß war umgeknickt, sie hatte ihn auf einen rutschigen Stein gesetzt, schrie laut auf und sackte zusammen. Dass Neele mit dem Knie auf etwas Hartem landete, nahm sie noch wahr. Als ihr Kopf jedoch auf den größeren Felsen ein Stück weiter vorn prallte, hatte sie bereits das Bewusstsein verloren und um sie herum war es schwarz.

Kapitel 1

Der Himmel über Hamburg war wolkenverhangen, grau und passte ziemlich genau zur Stimmung von Kriminalkommissar Ole Voss, der, wie so oft in letzter Zeit, heute Morgen bei seinem Hausarzt und nicht bei seiner Dienststelle aufschlug.

„Wie lange sind Sie jetzt schon krankgeschrieben?“, fragte Doktor Rust und tippte auf seiner Tastatur herum.

„Seit etwa zwei Monaten“, antwortete Ole. Er musste nicht lang überlegen; seit er im Büro zusammengebrochen war, zählte er die Tage, und heute Morgen waren es genau 60.

„Und wie fühlen Sie sich? Spüren Sie eine Verbesserung im Vergleich zu vor zwei Monaten?“, hakte der Mediziner nach.

Ole zögerte mit seiner Antwort. „Ich weiß nicht, eigentlich fühle ich mich nicht anders. Ich bin immer noch lustlos und erschöpft. Und wenn ich mir vorstelle, nächste Woche wieder arbeiten zu müssen, könnte ich weglaufen.“

Doktor Rust nickte. „Das ist ganz typisch für ein Burn-out. Vor zwei Monaten dachte ich, Sie hätten ein normales Erschöpfungssyndrom, jetzt bin ich mir sicher, dass da mehr dahintersteckt.“

Burn-out. Ole hätte nie gedacht, dass er mal eines bekommen würde. Und jetzt? Jetzt saß er hier und musste sich von Doktor Rust seine Optionen erklären lassen. „Ich empfehle eine Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Behandlung. Einmal die Woche eine ambulante 45-minütige Sitzung sowie parallel dazu ein Antidepressivum. Das nehmen Sie täglich“, sagte Doktor Rust.

Ole schüttelte den Kopf, er musste die Nachricht erst einmal verdauen. „Ich möchte keine Medikamente nehmen. Außerdem habe ich Zweifel daran, dass mir eine Therapie hilft. Da liege ich auf der Couch und muss mir von einem völlig Unbekannten irgendwelche Ratschläge geben lassen.“

„Dann erklären Sie mir bitte, warum Sie sich an mich gewandt haben. Sie müssen sich schon helfen lassen wollen. Außerdem haben Sie falsche Vorstellungen“, sagte Doktor Rust.

„Ich will mir helfen lassen. Verlängern Sie einfach noch mal meine Krankschreibung. Ein bisschen mehr Erholung wird mir guttun. Die letzten Jahre waren immer anstrengend. Sie werden sehen, dass es mir in ein paar Wochen wieder gut geht.“

Doktor Rust nahm seine Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. „Ich kann Ihnen nur einen Ausweg aus Ihrer Krankheit aufzeigen. Gehen müssen Sie ihn schon selbst. Glauben Sie mir, dass ein Burn-out nicht von selbst wieder verschwindet.“ Nach einer kurzen Pause fuhr Doktor Rust fort. „Wenn eine Medikation oder eine Therapie nicht infrage kommt, sollten Sie wenigstens versuchen, in Ihrem Leben etwas zu ändern. Beruflich oder privat. Ein Burn-out kann sich auch über Routinen und immer gleiche Tagesabläufe über Jahre unbemerkt einschleichen. Etwas frischer Wind kann da helfen. Überlegen Sie doch mal, ob es etwas gibt, was Sie in Ihrem Lebens schon immer mal tun wollten.“

Ole fiel spontan nichts ein.

„Vielleicht kann eine Beziehung Ihr Leben auch bereichern, Sie leben doch allein?“, versicherte sich der Arzt.

„Ich war eigentlich all die Jahre recht glücklich ohne Frau“, antwortete Ole.

„Sie sind offenbar gerade alles andere als glücklich. Wie auch immer, etwas scheint in Ihrem Leben zu fehlen, und das teilen Ihr Körper und Ihre Psyche Ihnen gerade mit. Gehen Sie doch mal in sich, ein bisschen Ruhe wird Ihnen dabei helfen. Ich werde Sie derweil für zwei weitere Wochen aus dem Verkehr ziehen.“ Doktor Rust begleitete Ole zur Tür, der sich bei der Assistentin den nächsten Termin geben ließ.

Als Ole draußen vor der Praxis stand und dem Straßenlärm zuhörte, wurde ihm bewusst, was der Doktor mit „Ruhe“ meinte. Es war so laut und hektisch hier in der Stadt, dass er sein inneres Selbst nicht hören konnte. Wie sollte er wissen, was er wirklich im Leben wollte, wenn er sich selbst schon, wer weiß wie lang, nicht mehr zugehört hatte? Seine Seele schrie vermutlich um Hilfe und er ignorierte es. Vielleicht brauchte er wirklich eine Veränderung? Er wusste zwar noch nicht welche, aber er war entschlossen, es herauszufinden.

Ole fühlte sich eigenartig, aber vermutlich war das normal nach einer viermonatigen Auszeit. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so lange am Stück nicht gearbeitet hatte.

Hinzu kam, dass sich in den vergangenen Monaten eine Menge geändert hatte, was seine innere Einstellung betraf. Wie sein Arzt es ihm geraten hatte, war er in Ruhe in sich gegangen und hatte dabei erfahren, was er wirklich wollte. Obwohl er bezweifelte, dass sein Chef seine Entscheidung gut fand.

Ole klopfte an die Bürotür von Hauptkommissar Henning Weiler und wurde prompt hereingebeten. Als Ole das Büro betrat, stand Weiler zur Begrüßung sogar auf und schüttelte ihm die Hand. Viele Chefs wären vermutlich zurückhaltend gewesen und hätten einen versteckten Vorwurf ob einer so langen Fehlzeit eingestreut. Nicht so Henning Weiler. Er reagierte überschwänglich, als er seinen besten Ermittler zurück im Dienst begrüßte. Ole bekam fast ein schlechtes Gewissen, doch er musste jetzt an sich denken.

„Setz dich. Wie ist es dir ergangen?“, fragte Weiler.

Ole nahm auf einem der beiden Stühle vor Weilers Schreibtisch Platz. „Ganz gut, ich fühle mich viel besser.“

„Das ist schön, wir hatten hier echte Probleme ohne dich. Aber keine Angst, das soll nicht heißen, dass du jetzt wieder von 0 auf 100 durchstarten musst. Komm erst mal wieder rein“, sagte Weiler.

Ole räusperte sich. „Genau darüber wollte ich mit dir reden. Ich habe mir viele Gedanken über meine Zukunft gemacht und eine Entscheidung gefällt.“ Ole fand, dass es das Beste war, direkt zum Punkt zu kommen. „Ich werde die Dienststelle wechseln, mein Versetzungsgesuch ist bereits gestellt.“

Im ersten Augenblick dachte Weiler, Ole würde scherzen. Als dessen Miene nicht in ein Lächeln überging, realisierte er, dass die Ankündigung ernst gemeint war. „Wie meinst du das? Gefällt es dir bei uns nicht? Wir können darüber reden, wenn du etwas ändern möchtest. Du musst nicht gleich die Dienststelle wechseln. Oder liegt es an mir?“

„So ein Quatsch“, widersprach Ole.

„Und welche Dienststelle soll das denn sein? Doch wohl nicht nach Altona oder so?“, vermutete Weiler.

„Nein, ich will raus aus Hamburg. Ich muss meine innere Ruhe wiederfinden. Die Arbeit irgendwo auf dem Land ist genau das Richtige für mich“, sagte Ole.

Weiler verzweifelte innerlich. „Ole, mal unter uns: Das bist doch nicht du! Du bist ein Kind der Großstadt! Auf dem Land wirst du eingehen! Hier löst du Mordfälle, auf dem Land darfst du Strafzettel verteilen oder Streit zwischen Nachbarn schlichten!“

Ole behielt die Fassung. „Vielleicht war das all die Jahre ja gar nicht ich. Immerhin hat die Arbeit hier mich krank gemacht. Ich möchte dich nur bitten, meine Entscheidung zu akzeptieren.“

„Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig“, entgegnete Weiler, der sich vor vollendete Tatsachen gestellt fühlte. „Wie lange bist du noch hier?“

„Voraussichtlich bis Ende des Monats. Ich plane eine kleine Abschiedsfeier, Einladung folgt“, versprach Ole.

„Ist gut“, antwortete Weiler. Als Ole die Bürotür hinter sich schloss, wurde Weiler richtig bewusst, dass er Ole nicht nur als fähigen Mitarbeiter, sondern auch als Freund schätzte. Hoffentlich überlegt er es sich noch einmal anders, dachte er.

Kapitel 2

„Hast du Sonnencreme drauf?“, fragte Knud Hinrichs seine Frau Annemarie, während die beiden über die Landungsbrücken schlenderten. Der Himmel war blau, die Sonne brannte ungewöhnlich stark für einen Frühlingstag und der Wind sorgte für eine angenehme Abkühlung, sodass man die Gefahr eines Sonnenbrands nicht einmal wahrnahm. „Ich will nicht, dass einer von uns an Hautkrebs stirbt.“ Im nächsten Augenblick biss Knud sich auf die Zunge, denn er war beim Thema angelangt, das er eigentlich vermeiden wollte: der Tod. Als ihm das bewusst wurde, versuchte er schnell, abzulenken. „Wo möchtest du denn gleich essen? In Sankt Pauli oder lieber im Portugiesenviertel? Ich kenne da auch ein paar schöne Restaurants.“ Annemarie hatte schon begriffen, worum es ging. Sie kannten sich bereits zu lang, als dass sie nicht jedes Ablenkungsmanöver ihres Mannes direkt hätte deuten können. „Schon gut, ich habe mich eingecremt. Faktor 30, du musst dir keine Sorgen machen“, sagte sie und nahm seine Hand.

Die beiden gingen weiter an der Elbe entlang, bogen beim Alten Elbtunnel ab und entschieden schließlich, irgendwo in der Nähe der Reeperbahn nach einem netten Restaurant Ausschau zu halten. „Wenn man schon mal in Hamburg ist, muss man wenigstens einmal über die Reeperbahn gelaufen sein. Egal ob tagsüber oder nachts“, kommentierte Knud zufrieden den Entschluss und lachte.

Knud und Annemarie waren das Großstadtleben nicht gewohnt. Sie kamen aus einem kleinen ostfriesischen Dorf mit 800 Einwohnern namens Suntrup, das direkt an der Nordseeküste lag und zum Landkreis Friesland gehörte. Ihr ganzes Leben hatten sie dort verbracht und oft kamen sie nicht von dort weg. Nur einmal im Jahr gönnten sie sich eine Auszeit. Immer über den Todestag ihres Sohnes Marten. Diesmal wollten Annemarie und Knud sich ein paar schöne Tage in der Hansestadt machen. Und sie wollten vergessen. Den Tag vergessen, an dem vor genau zwölf Jahren ihr Sohn zusammen mit zwei Freunden ermordet wurde. Man hatte von den Kindern niemals eine Spur gefunden. Das Ereignis war in Deutschland, in ganz Europa als „Marschland-Morde“ bekannt geworden. Alle Zeitungen und Fernsehsender hatten groß darüber berichtet. Es hatten sich sogar Gruppierungen zusammengeschlossen, die zusammen mit der Polizei versucht hatten, den Mörder der Kinder zu finden. Ohne Ergebnis.

Der Verlust schmerzte Annemarie noch immer. Was sie bis heute nicht zur Ruhe kommen ließ, war die Tatsache, dass sie mit Martens Tod nicht richtig hatte abschließen können. Man hatte nie die Leichen der Kinder gefunden. Wenn es wenigstens Klarheit über ihre Todesursache gegeben hätte, wären Annemarie und Knud heute vermutlich viel ruhiger – und die Eltern der anderen Kinder natürlich auch. Wurden sie erwürgt? Erstochen? Erschossen? So genau wollte Annemarie das nicht wissen. Es ging ihr nur darum, dass sie nicht leiden mussten. Und dann war da natürlich auch die Gewissheit, dass der Mörder der Kinder noch immer frei herumlief, sowie die Möglichkeit, dass es jemand aus Suntrup war. Vielleicht sogar jemand, der ihnen nahestand.

Mit all den offenen Fragen gab es nur die Vorstellung und den Versuch, das Geschehene zu verdrängen und dazu einmal im Jahr, über den Todestag, aus Suntrup zu fliehen.

Das Vergessen gelang ihnen nie so ganz, das hatten Annemarie und Knud in den letzten Jahren immer wieder festgestellt. Der Psychologe, der sie sehr lange Zeit nach dem Tod ihres Sohnes betreuen musste, hatte wiederholt gesagt, dass es im Prinzip genauso sei, als zwänge man sich selbst dazu, nicht an etwas Bestimmtes zu denken. Gerade dann denke man umso intensiver daran. Außerdem jährte sich der Tod der vier Kinder zum zwölften Mal – ein trauriges Jubiläum, wenn man bedachte, dass Marten selbst zwölf Jahre alt war, als er aus dem Leben gerissen wurde.

Knud und Annemarie suchten sich eine schattige Außenterrasse, von der aus sie eine gute Aussicht auf die Reeperbahn hatten. Viele Leute waren heute Nachmittag trotz der Hitze unterwegs, einige waren schon betrunken und warteten offenbar sehnsüchtig darauf, dass die Bars, Clubs und Bordelle endlich öffneten.

„Schön hier“, bemerkte Knud und holte seiner Frau einen Aperol Spritz und sich selbst ein Bier.

Die beiden schwiegen sich minutenlang an. Ein junger Mann, er war etwa Mitte 20, ging an ihrem Tisch vorbei und setzte sich zu seinen Eltern, die an einem Tisch einige Meter weiter saßen.

„Er wäre heute im selben Alter“, sagte Annemarie unvermittelt.

Knud verschluckte sich an seinem Bier und stellte sein Glas zurück auf den Tisch. Er nahm Annemaries Hand und streichelte sie mit seinem Daumen. „Ja, das wäre er“, bemerkte Knud, „es ist schon sehr lange her.“ Er wusste nicht wirklich, was er sonst hätte sagen sollen. Knud war nicht der emotionalste Mensch und dazu ziemlich verschlossen.

Annemarie begann zu weinen und Knud versuchte wieder vom Thema abzulenken.

„Lass nur“, schluchzte sie, „vielleicht ist es ganz gut, wenn wir mal darüber reden. Ich frage mich immer wieder, wie er heute wohl aussehen würde. Was würde er beruflich machen? Hätte er schon Kinder? Wer wäre seine Frau geworden?“

Knud drückte Annemaries Kopf an seine Schulter. „Ich glaube nicht, dass es so gut ist, wenn du darüber zu viel nachdenkst. Du ziehst dich damit immer wieder runter“, sagte er.

„Aber ich habe doch so viele Fragen“, schluchzte sie.

„Die haben wir alle, Schatz, die haben wir alle. Eines Tages werden wir die Antwort darauf finden.“

Knud war ein sehr gläubiger Mensch, und er war sich sicher, dass sie spätestens im Tod erfahren würden, was genau mit ihrem Sohn und den anderen passiert war. Annemarie glaubte nicht daran, was die Sache für sie noch unerträglicher machte. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.

Ein junger Mann passierte plötzlich die Außenterrasse, an der Hand hielt er eine Frau in seinem Alter. Die beiden waren sehr vergnügt und unterhielten sich angeregt. Als Annemarie das Gesicht des Mannes sah, traf sie der Schlag.

„Das … das kann nicht sein“, hechelte sie. Sie atmete immer schneller und flacher.

Knud merkte, dass etwas nicht stimmte. „Was ist los mit dir, Annemarie?“, fragte er besorgt.

Annemarie konnte nicht antworten, denn sie rang immer noch nach Luft. Während sie hyperventilierte, wurde ihr schwarz vor Augen. Langsam begann sie von ihrem Stuhl herunterzugleiten. Sie hielt den jungen Mann dabei immer noch fest im Blick. Knud sprang von seinem Stuhl auf und verhinderte in letzter Sekunde, dass seine Frau ungebremst auf den Boden prallte. Er versuchte sie so gut wie möglich zu stabilisieren und legte ihre Beine hoch, sodass ihr Blut zurück in den Kopf fließen konnte.

Inzwischen waren die Leute am Nebentisch auf die Szene aufmerksam geworden. „Können wir Ihnen helfen? Mein Mann ist Arzt, allerdings schon im Ruhestand“, bot eine ältere Dame an, die etwa 75 Jahre alt gewesen sein mochte. Ihr Mann hatte sich derweil bereits neben die japsende Annemarie gekniet und fühlte deren Puls. Danach machte er einige Untersuchungen, bei denen Annemarie ihre Arme anheben, die Zunge herausstrecken und lächeln musste.

„Ich weiß nicht, was es ist, aber ein Schlaganfall scheint es schon mal nicht zu sein“, sagte der Mann, der danach sein Handy aus der Tasche holte und einen Rettungswagen rief. „Hat sie das öfter?“, fragte er Knud.

„Nein, das ist das erste Mal. Wir saßen hier und haben etwas getrunken, als meine Frau plötzlich etwas gesehen hat, was das bei ihr ausgelöst hat.“ Der Arzt nickte, während seine Frau Annemarie ein Glas Wasser anreichte. „Was könnte das denn gewesen sein?“, fragte Knud.

„Nun ja, es sind heute über 30 Grad Celsius draußen, da macht der Kreislauf selbst bei gesunden Menschen manchmal Probleme. Die im Krankenhaus sollen sie jetzt erst mal untersuchen und dann sehen Sie weiter.“

Das nette Ehepaar wartete noch, bis die Ambulanz Annemarie eingeladen hatte. Knud bedankte sich freundlich bei den beiden und stieg dann mit in den Rettungswagen ein. Er bestand darauf, dass Annemarie ins Universitätsklinikum in Eppendorf gebracht wurde, die einzige Klinik, von der er schon mal gehört hatte. Bis dorthin benötigte der Krankenwagen nur zehn Minuten. Annemarie wurde direkt in die Notaufnahme gebracht, wo sie ein freundlicher junger Arzt in Empfang nahm und ihr einige Fragen stellte. Knud füllte derweil alle wichtigen Formulare aus, die für die Einlieferung seiner Frau vonnöten waren. Auf dem Rückweg zu Annemaries Bett kam ihm der junge Arzt entgegen, der ihm erklärte, dass sie jetzt einige Untersuchungen machen würden, um alle schlimmen Krankheiten auszuschließen. Dieser bestätigte auch noch mal, dass es sich wohl nicht um einen Schlaganfall handelte und dass er von einer harmlosen Ursache ausgehe, was Knud schon mal ein wenig beruhigte.

Annemarie lag in einem Krankenbett in einer kleinen Abteilung. Sie war an ein EKG angeschlossen, das ruhig und regelmäßig piepte. „Was machst denn du für Sachen?“, fragte er seine Frau und nahm ihre Hand.

„Ich weiß auch nicht. Auf einmal fing mein Herz an, mir bis zum Hals zu schlagen. Dann kribbelten meine Hände, ich bekam schlecht Luft und mir wurde schwarz vor Augen.“

„Kannst du dich noch erinnern, warum das passiert ist?“, fragte Knud.

Annemarie überlegte angestrengt. Nach einigen Augenblicken fiel es ihr wieder ein. Das Piepen des EKGs wurde schneller, während Annemarie sich auf ihrem Bett aufrichtete. Knud versuchte, sie zu beruhigen. „Mir fällt es wieder ein. Vor dem Café, da lief ein junger Mann entlang, der genauso aussah wie Marten. Unser Sohn, verstehst du?“

Knud wusste im ersten Moment nicht, wie er reagieren sollte. Hatte seine Frau doch einen Schlaganfall und war gerade verwirrt? „Schatz, Marten ist vor zwölf Jahren zusammen mit Nils und Neele Janssen gestorben! Außerdem wäre er 24 Jahre alt. Dass du ihn hier in Hamburg vor einem Café erkannt hast, ist völlig unmöglich.“

Das Piepen des EKGs wurde wieder schneller, als Annemarie antwortete. „Ich bin mir fast sicher, dass er es war! Ich weiß ja, wie er als Kind und Jugendlicher aussah. Und jetzt, zwölf Jahre später, könnte er so aussehen. Ich meine, ich bin mir sicher, dass er es ist, glaub mir!“

Knud atmete tief durch. Zu gern würde er seiner Frau glauben, doch er war sich sicher, dass sie heute ein Gespenst gesehen hatte. Er wollte sie nicht verletzen, weshalb er diplomatisch versuchte, sie davon zu überzeugen, dass sie falschliegen musste. „Hör zu, es ist heute sehr heiß draußen, und da ist es nicht ungewöhnlich, dass man manchmal einen Sonnenstich bekommt. Dazu kommt, dass wir uns vorher über Marten unterhalten haben, und da könnte es doch sein …“

„… dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe? Na, vielen Dank!“, sagte Annemarie und verschränkte ihre Arme.

Knud versuchte die Situation zu retten. „Ich sage ja nur, dass …“

Der Arzt betrat die Abteilung und unterbrach Knud: „Ich muss Ihre Frau jetzt entführen, wir fahren zum MRT, Sie können ruhig hierbleiben, es dauert nicht lang“, erklärte der Doktor, löste die Bremsen an Annemaries Krankenbett und schob sie davon.

Knud nutzte die Zeit und dachte nach. Wie sollte er sich jetzt gegenüber seiner Frau verhalten? Ohne dass er eine Antwort auf diese Frage fand, kam eine halbe Stunde später der Arzt mit Annemarie zurück. Wie erwartet war das MRT unauffällig. Der Mediziner erklärte, dass es sich seiner Ansicht nach um einen Nervenzusammenbruch gehandelt habe, ausgelöst durch die psychische Anspannung am Todestag des Sohnes und einen Mann, der Annemarie aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Marten in die damalige Situation zurückkatapultiert habe. Das heiße Wetter und der Genuss von Alkohol hätten außerdem eine Rolle gespielt. Zum Schluss empfahl der Arzt, dass Annemarie die Nacht über zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben sollte – nur um sicherzugehen. Widerwillig stimmte Annemarie zu.

„Ich habe gesehen, was ich gesehen habe – ich bin doch nicht verrückt!“, sagte Annemarie, als der Arzt schließlich verschwunden war. Knud entgegnete lieber nichts darauf. Ein Pfleger kam mit einem Rollstuhl herbei, in dem Annemarie nur unter Protest Platz nahm, und brachte sie in ein freies Zimmer.

„Schau mal, von hier oben hast du eine super Aussicht! Dahinten kann man sogar den Hafen sehen!“, bemerkte Knud.

Annemarie legte sich auf das Bett. „Versuch nicht schon wieder, vom Thema abzulenken! Ich möchte, dass wir beide morgen zur Polizei gehen und sie bitten, herauszufinden, wer dieser Mann heute war“, sagte Annemarie bestimmt.

„Na, die werden sich bedanken, in einem zwölf Jahre alten Fall zu ermitteln, der nicht mal in ihre Zuständigkeit fällt“, sagte Knud.

„Das werden sie wohl müssen. Du weißt, wie überzeugend ich sein kann“, insistierte Annemarie. Und natürlich wusste Knud es. Dennoch hoffte er, dass Annemarie sich bis morgen beruhigt haben würde.

Eine Stunde später brach er auf ins Hotel, um Annemarie ein paar Kleidungsstücke und die nötigsten Hygieneartikel für die Nacht im Krankenhaus zu holen. Er selbst fuhr später wieder ins Hotel zurück, da im Krankenhaus keine Gästebetten frei waren und er sich mehrmals versichert hatte, dass er seine Frau tatsächlich für eine Nacht allein lassen konnte.

Knud lag noch lange Zeit wach in seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Der Vorfall heute wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Außerdem hatte er die Geschehnisse von damals wieder aufgewühlt. Sie waren ihm genauso präsent wie vor zwölf Jahren. Es heißt, dass alles, was wir versuchen zu verdrängen, im Schlaf nach Hilfe schreit. Offenbar hatte Knud die Geschehnisse doch nicht so gut verarbeitet, wie er immer gedacht hatte. Erst gegen Morgen schlief er endlich ein.

Die Sonne ging auf und die Glasfront des Gebäudes gegenüber reflektierte die Strahlen direkt in Annemaries Gesicht. Umgehend erhob sie sich aus ihrem Krankenbett, schlurfte schlaftrunken in die Nasszelle ihres Zimmers, machte sich frisch und zog sich an. Als die Schwester um sieben Uhr in das Zimmer kam, saß Annemarie bereits abreisefertig auf einem Stuhl neben dem Fenster. „Sie sind aber früh dran! Haben Sie gut geschlafen?“, erkundigte sich die Schwester.

„Es geht so. Ich warte auf meinen Mann.“

Die Schwester kündigte an, dass ein Arzt Annemarie später noch einmal untersuchen würde. Dann stellte sie ihr einen Plastikteller mit zwei Toastscheiben und etwas Aufschnitt auf den Tisch. Nach dem Frühstück – oder dem, was man im Krankenhaus so Frühstück nannte – kam der freundliche Arzt von gestern in Annemaries Zimmer. Er kontrollierte ihren Blutdruck, stellte einige Fragen zu Annemaries Körperfunktionen, gab ihr den Ratschlag, es die nächste Zeit etwas ruhiger angehen zu lassen, und entließ sie ganz offiziell.

Etwas später kam Knud und holte seine Frau ab. „Was machen wir denn heute Schönes?“, fragte er. Kurz darauf musste er feststellen, dass sich seine Hoffnung von gestern Abend nicht erfüllt hatte, denn Annemarie war immer noch überzeugt von ihrer Hypothese, am Vortag ihren Sohn Marten gesehen zu haben.

„Wir nehmen uns jetzt ein Taxi und fahren zur Polizei“, sagte sie.

Knud hatte zu schlecht geschlafen und war zu müde, um jetzt eine Diskussion zu beginnen. Vermutlich würden die Beamten auf der Wache seiner Frau überzeugender klarmachen, dass die Ermittlungen aufzunehmen völlig unsinnig war. Knud war kein Jurist, doch vielleicht war es nicht einmal zulässig, einen Fall nach so langer Zeit wieder aufzurollen. Insgeheim hoffte er immer noch, dass seine Frau die Vergangenheit ruhen lassen würde.

Er winkte ein Taxi von der Straße zu sich heran, das prompt vor ihnen zum Stehen kam. Der Fahrer war offenbar indischer Abstammung, denn er trug einen Turban, wie ihn Angehörige der Religionsgemeinschaft der Sikh trugen. Er öffnete seinen Fahrgästen die Tür und stellte Annemaries Reisetasche in den Kofferraum.

„Wo soll es denn hingehen?“, fragte er mit indischem Akzent.

„Zur Reeperbahn?“, antwortete Knud schnell. Er hatte noch nicht gefrühstückt und hoffte, vorher mit seiner Frau in einem Café dort etwas essen zu können.

„Zur Polizei“, antwortete Annemarie nachdrücklich.

Der Fahrer startete den Motor und fuhr los. Annemarie war offenbar überzeugender gewesen, denn der Fahrer setzte das Ehepaar 15 Minuten später vor dem modernen Bau des Polizeipräsidiums am Bruno-Georges-Platz ab.

Verdammte Hitze, dachte Knud, ihm rann der Schweiß den Rücken hinunter.

In der Lobby landeten Annemarie und Knud bei einem grimmig aussehenden Polizei-Oberkommissar. Er war Mitte fünfzig, hatte grau meliertes Haar und trug einen Schnäuzer. Mit zwei Zeigefingern hackte er gerade etwas in die Tastatur, deren lautes Klacken durch die gesamte Halle schallte.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er in einem unerwartet freundlichen Ton, als er die beiden bemerkte.

„Es geht um einen Mordfall“, sagte Annemarie.

„Eigentlich“, korrigierte Knud, „geht es um einen Mordfall, der bereits zwölf Jahre in der Vergangenheit liegt.“ Für seinen Einwurf erntete Knud einen bösen Blick von Annemarie.

„Dann müssen Sie nach oben, zu Hauptkommissar Henning Weiler. Einfach die Treppe rauf in den ersten Stock. Dort finden Sie sich schon zurecht“, sagte der Polizist und lächelte.

Knud und Annemarie gingen durchs Treppenhaus. Annemarie war eingeschnappt wegen Knuds Kommentar und redete auf dem Weg nach oben kein Wort mit ihm. Im ersten Stock angekommen, suchte sie sofort zielstrebig nach dem Namensschild von Hauptkommissar Weiler an den Bürotüren. Knud folgte ihr und schaute orientierungslos nach links und rechts. Außer einem langen Flur mit vielen Türen war hier nichts und niemand zu sehen. Es dauerte eine Weile, bis schließlich ein uniformierter Polizist aus einem der Büros kam. Er schien recht erstaunt zu sein, als er Knud und Annemarie auf dem Flur entdeckte. Der Mann ging auf die beiden zu und begrüßte sie. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

„Ja, wir suchen Herrn Weiler“, sagte Annemarie. „Wir möchten ein paar Angaben zu einem Mordfall machen“, erklärte sie und schaute Knud dabei böse an, sodass er gar nicht erst auf die Idee kam, noch mal einen blöden Kommentar wie vorhin zu machen.

„Dann folgen Sie mir einfach unauffällig“, scherzte der Polizist.

An der letzten Tür im Gang klopfte er an. „Herein!“, ertönte eine laute Stimme dahinter. Der Polizist öffnete und ließ Knud und Annemarie eintreten. „Henning, die Herrschaften hier möchten eine Aussage in einem Mordfall machen“, sagte er und verschwand.

Annemarie stellte sich und Knud vor, während der Hauptkommissar Weiler sie bat, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selbst pflanzte sich wieder genüsslich in seinen Sessel und blickte Annemarie und Knud auffordernd an.

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen“, brachte Annemarie schließlich hervor, die ein wenig nervös war. Der Hauptkommissar beschwichtigte mit einer Handbewegung und gab zu, dass derzeit ausnahmsweise sowieso nicht allzu viel zu tun sei und er sich deshalb gern ein paar Minuten Zeit nehme, um sich ihrem Anliegen zu widmen.

Annemarie beruhigte sich. Sie erzählte Hauptkommissar Weiler alles, was sich in ihrer Erinnerung vor zwölf Jahren in Suntrup zugetragen hatte. Sie berichtete von ihrem Sohn und zwei befreundeten Geschwistern, die im Marschland zelten gehen wollten und nicht zurückkehrten. Von der überforderten Polizei, die ihrer Meinung nach nicht genug unternommen hatte, um den Fall aufzuklären, und von der Unsicherheit unter den Menschen im Dorf. Während sie erzählte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Knud nahm ihre Hand. Annemarie erinnerte sich, wie die Polizei ihnen damals erzählt hatte, dass man die Leichen nie gefunden habe, sie beschrieb ihren Sohn und die beiden anderen, die sie seit diesem Tag fast jede Nacht in ihren Träumen vor sich sah.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber der Fall liegt zwölf Jahre zurück! Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt zu uns?“, unterbrach Weiler, der sich während Annemaries Ausführungen keinen Millimeter bewegt hatte und sich erst jetzt einmal kurz am Kopf kratzte.

„Das wollte ich als Nächstes erzählen. Gestern habe ich auf der Reeperbahn einen jungen Mann gesehen, von dem ich glaube, dass es unser Sohn war.“

Weiler schaute Annemarie ungläubig an. „Sind Sie sicher?“, fragte er.

Annemarie nickte.

---ENDE DER LESEPROBE---


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