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Fünf Sinne – fünf Paragone. Drei Freunde, zwei Welten und eine Magie so vielfältig wie das Leben.
Als für Ella Durand das dritte Jahr am Arkanum beginnt, ahnt sie noch nicht, dass ihr unruhige Zeiten bevorstehen. Was sie über die Vergangenheit der Schule herausgefunden hat, beeinflusst unweigerlich die Gegenwart und das Marveller-Internat steht plötzlich im Fokus der magischen Öffentlichkeit.
Ella ist auf die Hilfe ihrer Freunde Jason und Brigit angewiesen, um das letzte fehlende Puzzle-Teil aufzuspüren, das den Verrat der Marveller an den Fabulierern endgültig beweisen würde. Doch ausgerechnet jetzt verhält Brigit sich sonderbar. Kann Ella ihr noch vertrauen?
Ein packendes Lese-Abenteuer, das Fantasyfans ab 10 Jahren atemlos zurücklassen wird.
Alle Bände der Die Marveller-Reihe:
Die Marveller. Magie aus Licht und Dunkelheit – Das gefährliche erste Jahr (Band 1)
Die Marveller. Magie aus Licht und Dunkelheit – Die Stunde der Erinnerung (Band 2)
Die Marveller. Magie aus Licht und Dunkelheit – Ein Geheimnis aus der Vergangenheit (Band 3)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 491
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dhonielle Clayton
Magie aus Licht und Dunkelheit
Ein Geheimnis aus der Vergangenheit
Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood
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© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR.)
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »The Deadly Fates – A Conjuror Novel« bei Henry Holt and Company, einer Trademark der Macmillan Publishing Group, LLC
Text © 2025 by ChickenLittle, Dhonielle Inc. All rights reserved.
Übersetzung: Doris Attwood
Redaktion: Regine Teufel
Umschlagillustration und -gestaltung: Sonja Gebhardt unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (vectortatu, ledokolua, archivector, Victoria Bat, ekosuwandono, Arzu Huseynova, rtguest, Gleb Guralnyk)
Karten copyright © 2025 by ChickenLittle, Dhonielle Inc. All rights reserved.
Innenillustrationen © 2025 by Khadijah Khatib and ChickenLittle, Dhonielle Inc.
ah · Herstellung: AW
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-33739-1V001
www.cbj-verlag.de
Für all meine Lieben, die diese Welt bereits für die nächste verlassen haben …
Ihr werdet vermisst und seid doch stets präsent.
Und für Holly Black, die mich dazu herausfordert und inspiriert,
bei meiner Arbeit schockierende und wagemutige Dinge zu tun.
Danke für deine einzigartige Weisheit.
Paragon der Berührung
»Die Hand kennt keine Furcht!«
Die Tapferen
Paragon der Sicht
»Die Augen sehen klar!«
Die Weisen
Paragon des Temperaments
»Das Herz schlägt wahrhaftig!«
Die Intuitiven
Paragon des Klangs
»Die Ohren hören alles!«
Die Geduldigen
Paragon des Geschmacks
»Die Zunge spricht die Wahrheit!«
Die Aufrichtigen
Arkanum-Trainingsinstitut fürmarvelhaftes und mysteriöses Streben
Unterschule
Guten Tag, herzliche Glückwünsche und wunderprächtige Grüße,
wir sind außer uns vor Freude, dich für das dritte Jahr deiner marvelhaften Ausbildung im Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben willkommen heißen zu dürfen.
Im vergangenen Jahr hast du den Umgang mit dem Stapier, unserem Universalbündler, gemeistert und unter Beweis gestellt, dass du über das Talent und die Fähigkeiten verfügst, an unser renommiertes Institut zurückzukehren. Vergiss nicht, zu Beginn des neuen Schuljahrs deinen einzigartigen Bündler mitzubringen, und bereite dich darauf vor, dein Können zu demonstrieren. Mit diesem Schreiben erhältst du auch deinen Stundenplan für die Jahrgangsstufe drei, deinen dir zugewiesenen Schlafsaal und die Information, mit wem du ihn dir teilst, sowie eine Liste mit allem, was du benötigst.
Das Institut befindet sich über der Sahara. Denk also daran, Sonnencreme, eine Sonnenbrille und einen Sonnenschirm einzupacken! Die Temperaturen steigen, und die Sandstürme sind gewaltig. Die genauen Koordinaten findest du anbei. Die Himmelsfähren legen am 10. September stündlich am Vellischen Hafen sowie in verschiedenen Marveller-Städten ab. Bitte finde dich vor 18 Uhr koordinierte Weltzeit dort ein.
Alles Licht für dich und die Deinen! Frohes Marveln!
Laura Ruby
Erste Assistentin von Großmeister MacDonald und
Großmeisterin Rivera, Unterschule
PS: Ich nehme nicht an, dass ich dich noch an die Simplen erinnern muss, nachdem du es so weit geschafft hast. Gewiss wäre das reine Talent- und Energieverschwendung.
Arkanum-Trainingsinstitut fürmarvelhaftes und mysteriöses Streben
Handbuch Unterschule
STUNDENPLAN JAHRGANGSSTUFE DREIAUSBILDUNGSTUTORIEN
Name: Ella Durand
Zimmergenossin:Brigit Ebsen
Schlafsaal:Al Aqrab, der Skorpion
ERFORDERLICHE GRUNDKENNTNISSE:
Geschichte des Marvelns und der Marveller in Südwestasien und Nordafrika Dr. Omar Bagayoko
Marvellische Theorie – Der falsche Pfad Dr. Benjamin Mackenzie
Fabulieren III Madame Sera Baptiste
Elemente der Welt – Metall und Geist Dr. Yuri Hayashi
ERFORDERLICHE PARAGONKENNTNISSE:
Kartomanie – Tarotkarten aus aller Welt Dr. Otto Fischer
Weissagungen der Zukunft III: Das göttliche Auge Dr. Freja Karlsson
AUSSERSCHULISCHE AKTIVITÄTEN:
Die Alchemie der Sandkristalle Dr. Aziz Saidi
Islamische Astronomie seit der Antike Dr. Jamila Mostafa-Barakzai
Arkanum-Trainingsinstitut fürmarvelhaftes und mysteriöses Streben
Unterschule
EINWILLIGUNGSFORMULAR SCHULEXKURSION
Zur Bereicherung unseres Lehrplans, und um den Lehrlingen weitere Erfahrungen jenseits des Klassenzimmers bieten zu können, planen wir für das kommende Schuljahr eine Reihe von Ausflügen zu Orten außerhalb des Institutsgeländes. Um daran teilzunehmen, müssen die Lehrlinge eine vorab erteilte schriftliche Erlaubnis vorlegen. Bitte lesen Sie die folgenden Einzelheiten zu den geplanten Exkursionen aufmerksam durch, unterschreiben Sie das Formular und übermitteln Sie es an Laura Ruby, Erste Assistentin von Großmeister MacDonald und Großmeisterin Rivera.
Celestian City: Geschichtliche Tour durch die alte marvellische Stadt DiniumArkanum-Trainingsinstitut Oberschule: InformationsbesuchStadttour durch AstradamUnterschrift*Sternentinte bevorzugt
Spektakulär.
Das Wort kam Ella jedes Mal in den Sinn, wenn sie vor den mächtigen Todesdoggen am Tor zur Dunkelwelt in New Orleans, Louisiana standen. Ihre Füße erhoben sich über ihren Kopf, und ihr grunzendes Bellen legte sich wie eine feuchtheiße Decke über den Congo Square und das Fabulierer-Viertel. Die Frauen am Tor begrüßten Ella mit ihren Körben voll Wandelpulver, bereit, mit den Bündeln über die Handflächen der Besucherinnen und Besucher zu streichen, die sich darauf vorbereiteten, das Land der Verstorbenen zu betreten.
Die heiße Junisonne brannte vom Himmel herab, als Ella Granny und Mama am Kopf der zweiten Gruppe folgte. Papa führte die Prozession aus Trauernden und Musizierenden an und trug die Gedächtnisgruft von Jean-Michel Durand, Ellas Urgroßvater und berühmtester Architekt in der Fabulierer-Welt, der rein zufällig auch das Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben erschaffen hatte. Doch im Moment sprach niemand dies laut aus. Die Fabulierer- und Marveller-Zeitungen standen nach der unglaublichen Enthüllung noch immer unter Schock. Auch Ella konnte einfach nicht glauben, dass Gia Trivelino sie erst vor ein paar Wochen gezwungen hatte, dieses Geheimnis vor der ganzen Welt zu offenbaren. Ein Schauer jagte trotz der klebrigen Hitze über ihre Haut. Die Wahlnacht verfolgte sie bis zu diesem Tag, und die Bilder liefen immer wieder durch ihren Kopf.
Bleib im Hier und Jetzt, mein Liebes. Mamas Stimme huschte durch Ellas Gedanken. Ella verzog das Gesicht, ganz und gar nicht erfreut über diese zusätzliche Überwachung. Seit sie zu Ferienbeginn nach Hause gekommen war, konnte sie Mamas bohrenden Blicken, ihrer neugierigen Einmischung und ihren lästigen Fragen nicht mehr entkommen. Ununterbrochen erkundigte sie sich danach, wie es Ella ging.
Winnie reckte sich auf Zehenspitzen in ihrem nächsten verzweifelten Versuch, die Gedächtnisgruft in Papas Händen genauer betrachten zu können. »Wird mit dem Architekten jetzt alles wieder gut, Mama?«
Ella gab ihr einen leichten Klaps auf den Arm. »Sie hat es dir schon ein Dutzend Mal erklärt, du hörst bloß nicht zu.«
»Erklär es mir noch mal, bitte. Ich hab’s vergessen. Was passiert jetzt mit unserem Ur… Ur… ach, ich kann mir nie merken, wie viele Urs es sind … Urgroßvater? Mein Hirn wird dabei ganz matschig. Ich kann nichts dafür.« Die achtjährige Winnie schob die Unterlippe vor und blinzelte ihre ältere Schwester an. »Manchmal fällt es mir schwer zuzuhören.«
»Nicht manchmal – immer«, zischte Ella ihr zu. »Er muss in einer Art Zwischenwelt verharren, bis sie seinen Körper finden oder …« Sie versuchte, ihre eigenen heimlichen Ängste zu verdrängen. »Oder einen Teil davon.«
»Aber was, wenn das nie passiert?« Aus Winnies Augen sprach tiefe Besorgnis. »Er ist schon so lange fort!«
Über dreihundert Jahre. Ella zuckte mit den Schultern. Darüber wollte sie ebenso wenig nachdenken wie über die Tatsache, dass der Architekt, einer ihrer Urahnen, vielleicht niemals wirklich in Frieden ruhen würde, wenn sein Körper nicht auch in die Dunkelwelt gelangte. Sie wollte nicht darüber nachdenken, welch unüberwindbare Aufgabe womöglich vor ihnen lag, wenn sie abgesehen von der Gedächtnisgruft noch etwas anderes finden wollten, das ihr Vorfahr hinterlassen hatte. Beinahe kam es Ella leichter vor, Rauch mit bloßen Händen einzufangen.
Sie versuchte zu verhindern, dass ihr Verstand in einer zwanghaften Spirale nur noch darum kreiste, doch ihre Wangen begannen bereits zu glühen, Kopfschmerzen pochten an ihren Schläfen, und es fiel ihr schwer, nicht daran zu denken, was ihr Urururgroßvater ihr, Mama und Tante Sera vor ein paar Wochen erzählt hatte: Am einen Tag hatte er die Entwürfe bei Olivia Hellbourne abgeliefert, und am nächsten war er in seiner eigenen Gedächtnisgruft gefangen. In der, die Papa nun in den Händen trug. Die Ella selbst bei der Ausstellung zur marvellischen Dreihundertjahrfeier entdeckt hatte. Die zu enthüllen ihre seit Langem vermisste Tante Celeste ihr geholfen hatte. Sie wollte die Musik und das Tanzen bei der Beerdigung genießen. Sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als den Architekten, kam ihr unmöglich vor.
»Was, wenn er es nie in die Dunkelwelt schafft?«, fragte Winnie.
»Fabulierende, die in dieser Welt noch etwas zu erledigen haben, verfügen über Mittel und Wege, Frieden zu finden. Vor allem, wenn sie zu unserer Familie gehören«, erwiderte Mama. »Und jetzt seid still. Es gehört sich nicht, über so etwas zu diskutieren, junge Damen. Wir wissen unsere Toten mit dem gebührenden Respekt zu behandeln, also haltet euch bitte daran.« Sie hob ihren Regenschirm und schloss sich wieder dem Chor der Stimmen an. »Falls dich jemand fragt, wohin wir gehen, wohin wir gehen … Wir gehen hinfort …«
Ella warf Winnie einen Blick zu. Ihre kleine Schwester hätte sie beinahe in Schwierigkeiten gebracht, und Schwierigkeiten waren das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte. Es gab zu viel zu tun, zu viel herauszufinden. Sie wollte wirklich nicht schon zu Beginn des Sommers bestraft werden.
Die Blaskapelle spielte noch lauter. Ella schloss sich der Feier an und wedelte mit einem weißen Taschentuch in der Luft herum.
»Hände her!«, befahl Mama.
Ella und Winnie streckten den Frauen am Tor ihre Hände hin, damit sie die Innenseite mit Wandelpulver bestrichen. Der glitzernde indigoblaue Staub funkelte im Licht der Nachmittagssonne. Ella kniff die Augen zusammen und dachte an die Kardinale im Arkanum-Trainingsinstitut, die genauso funkelte – und daran, dass sich irgendwo im Inneren der Säule dieses wundervolle Hilfsmittel befand, das es der Schule ermöglichte, jedes Jahr an einen anderen Standort weiterzuziehen.
All diese Dinge hatte sie erst vor ein paar Monaten erfahren, und doch gab es noch so viel mehr zu entdecken.
Die Todesdoggen knurrten und senkten den Blick, als alle aus der Prozession einzeln nacheinander vortraten, um ihre Seele begutachten zu lassen, bevor sie in die Dunkelwelt hinüberschritten. Ella spannte sich an und sah zu, wie sich die roten Augen in die Besucherinnen und Besucher bohrten, während sie sich innerlich dafür wappnete, ihnen selbst gegenüberzutreten.
Die ganze Prozession fing an zu singen: »Wir schreiten hinfort …«
Winnie klammerte sich an Ellas Hand, als sie gemeinsam vortraten. »Heute hab ich Angst«, flüsterte sie.
»Bleib bei mir.« Ella war überrascht, Winnie so verängstigt zu sehen. Sie hatten die Dunkelwelt schon häufiger besucht, als sie zählen konnte. Aber andererseits war es tatsächlich ziemlich furchteinflößend, wenn sich der funkelnde Blick einer über zweihundert Meter großen Todesdogge tief in deine Augen bohrte, damit sie deine Seele begutachten konnte, ganz gleich, wie oft man es schon erlebt hatte. Das mochte Ella bei ihren Besuchen im Land der Verstorbenen am liebsten. Was sagte Mama immer über das Hinüberschreiten und das Bestehen dieser Prüfung? Wenn du nichts zu verbergen hast, dann gibt es auch nichts zu finden.
Aber heute fühlte es sich wirklich anders an. Ella konnte spüren, wie Traurigkeit, Wut, Freude und Schmerz in der Menge simmerten. Das hier war keine gewöhnliche Beerdigung für einen gewöhnlichen Menschen. Das hier war die Totenfeier eines Fabuliermeisters. Der noch nicht zu seiner letzten Ruhe zurückkehrte. Und dem großes Leid zugefügt worden war.
Ella atmete tief durch und folgte Mama. Eine der Todesdoggen blickte auf sie herab, die andere auf Winnie, und ihre Iris loderte wie rote Sonnen.
Das Dunkelziehen zerrte in ihr, als sich die Augen der Kreatur in ihre eigenen brannten. Manchmal fragte Ella sich, was sie wohl sah: all ihre Geheimnisse, all ihre Ängste, all die Dinge, die sie gerne gesagt hätte, und all die Dinge, die sie getan hatte oder noch tun wollte?
»Hallo«, flüsterte sie.
Die Todesdogge beugte sich herunter. Sie leckte über Ellas Kopf – ein Segen, der nur selten jemandem zuteilwurde. Jubel brach auf dem Platz aus, alle freuten sich mit Ella über diese besondere Auszeichnung. Ella versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, als der heilige Speichel über ihre langen Twists triefte. Neben ihr strahlte Mama, sie war jedoch weniger erfreut, als Winnie sich duckte, um nicht genauso abgeleckt zu werden.
Ella wischte sich den Schnodder vom Gesicht und schritt voller Stolz durch das Tor in die Dunkelwelt. Sie stellte es sich immer als Übergangsstation für Verstorbene vor. Zwielichtsterne tauchten alles in einen wunderschönen, weichen Glanz. Die Zugangsstraße verzweigte sich in eine Million Richtungen. Unzählige Türen führten zu verschiedenen ewigen Zielen. Endlose Grabsteine und Krypten durchzogen die Landschaft aus saftig grünen Feldern und Gärten. Hohe Wandler benutzten ihre Hütestäbe, um Seelen zu ihren richtigen Ruhestätten zu geleiten, während Niedere Wandler Käfige voller zappelnder Skelette kutschierten. Geister schwebten umher, einige folgten den Pfaden nach Diyu, andere waren auf dem Weg in den Hades und noch weiter. In der Ferne ragte eine Gebirgskette auf, und genau in der Mitte stand auf einer Insel die Villa des Todes, umschlossen von einem Bayou.
Mama klopfte Ella auf die Schulter und riss sie aus ihren Gedanken, damit sie sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrierte. »Erheb deine Stimme und singe. Es ist Zeit, unseren Vorfahr zu Hause willkommen zu heißen. Bleib im Hier und Jetzt. Du hast dabei geholfen, das alles überhaupt möglich zu machen.«
Ella schloss sich an diesem heiligen Ort mit leiser Stimme dem stetig anschwellenden Chor an. Als die zweiten Stimmen in perfekter Harmonie einsetzten, bekam sie Gänsehaut. Sie spürte die Anwesenheit unzähliger anderer Geister, die sie beobachteten und ihnen ihre Energie sandten. Ihr Puls raste, als sich die Prozession in Richtung der Villa bewegte und der Amen-Kanon in verschiedenen Höhen und Harmonien erklang.
Die Menge klatschte, als das letzte Amen verhallte, dann breitete sich Stille aus.
Papa hielt die Gedächtnisgruft fest an seine Brust gedrückt und wandte sich an die Menge: »Voller Trauer und zugleich Freude bringen wir einen Teil von unserem Bruder Jean-Michel Durand, einem meiner geliebten Vorfahren, zurück nach Hause. Doch seine Reise ist noch nicht zu Ende, und wir können nicht eher ruhen, bis endlich auch der Rest von ihm zurückkehrt und er seinen Frieden findet. Nun lasst uns die Köpfe neigen.« Papa sprach ein Gebet, und die Menge antwortete mit einem letzten Amen.
Der Chor stimmte ein neues Lied an und führte die Prozession wieder hinaus auf den Congo Square, während Ella und ihre Familie zurückblieben.
»Was passiert jetzt?«, fragte Ella an Mama gerichtet. Sie hatte noch immer so viel über die Dunkelwelt der Fabulierer zu lernen.
»Das wirst du schon sehen.« Mama küsste sie auf die Wange.
Papa winkte der Menge zum Abschied zu. Dann setzten sie ihren Weg über mehrere Eisenbrücken fort, immer tiefer in die Dunkelwelt hinein. Ella blickte auf den Bayou des Todes hinab, auf die Skelettalligatoren, die in dem wunderschönen dunklen Gewässer schwammen. Indigoblaue Seerosenblätter sprenkelten das Wasser wie glühende Amethyste, und vor ihnen erhob sich leuchtend die von Türmen gezierte Villa. Auf schmiedeeisernen Balkonen saßen Geister und Skelette auf Schaukelstühlen. Die mächtigen Wurzeln uralter Flaschenbäume und Gebirgsfelsen ließen das Gebäude über dem schwarzen Bayou aufragen, als stünde es auf Stelzen aus Mitternacht.
Ellas Herz hüpfte ein wenig vor Aufregung. Sie durfte Papa nur ganz selten bei seiner Arbeit begleiten, deshalb war es etwas ganz Besonderes, hier sein zu dürfen. Zwei Niedere Wandler öffneten ihnen die Tür, und sie betraten die prachtvolle Eingangshalle. Ein knochenweißer Flaschenbaum wuchs durch die Decke. Büros säumten die Wände, an ihren Türen Schilder mit seltsamer Aufschrift: TODESANZEIGEN, UNVOLLENDETE GESCHÄFTSARCHIVE, BESUCHSGENEHMIGUNGEN, WANDLERZENTRALE und vieles mehr.
Sie folgten Papa in den hinteren Bereich. Eine Flügeltür öffnete sich und enthüllte sein Büro und einen darin wartenden weiblichen Geist. Ella fand sie wunderschön in ihrer sanft glühenden ätherischen Gestalt. Ein langes, fließendes Gewand flatterte hinter ihr her, und ein hoher, dicker Knoten aus dicht gelocktem Haar reflektierte das Kerzenlicht. Muttermale und Sommersprossen bedeckten ihr Gesicht wie Sternbilder. »Ist er hier?«
»Ist er, Großmutter.« Papa nahm seinen Zylinder ab und verneigte sich. Der Rest der Familie tat es ihm nach.
Es war Ellas Urururgroßmutter, Vivian Durand.
»Wir haben seine Gedächtnisgruft nach Hause gebracht. Nun, meine brillante älteste Tochter Ella, deine Urururgroßenkelin, hat sie entdeckt.« Papa legte eine Hand auf Ellas Schulter, und sie lächelte den Geist ihrer Vorfahrin an.
»Ich habe die wundervolle Heimkehr gehört.« Großmutter Vivian eilte herbei. Ella spürte ein Kribbeln der Wärme, wie immer, wenn Geister in der Nähe waren.
»Erzähl mir alles, mein liebes Kind.« Sie strich mit einer durchsichtigen Hand über Ellas Wange und hinterließ eine intensive, geisterhafte Wärme darauf. Papa verscheuchte ein paar ungehörige Skelette von seinem Stuhl und ließ sich dann an seinem Schreibtisch nieder, während Mama, Tante Sera und Winnie sich auf den dick gepolsterten Sofas niederließen.
Ella plapperte drauflos: wie sie die Originalentwürfe für das Arkanum-Trainingsinstitut gefunden und dann entdeckt hatte, dass sie auf Fabulierpapier gezeichnet waren; wie sie ihnen zusammen mit ihren Freunden Brigit und Jason ihre Geheimnisse entlockt und Beweise dafür gefunden hatte, dass ursprünglich auch Fabuliererinnen und Fabulierer neben marvellischen Lehrlingen die Schule hatten besuchen sollen; und wie die Gedächtnisgruft als unidentifizierbares Objekt bei der Ausstellung anlässlich der marvellischen Dreihundertjahrfeier aufgetaucht war.
Vivian schwebte im Kreis um sie herum, ihre Fäuste geballt.
»Kannst du uns erzählen, was passiert ist, Großmutter?«, bat Papa.
»Ich habe ihn gewarnt, sich nicht in dieses marvellische Chaos mit hineinziehen zu lassen. Aber mein Jean-Michel hatte den härtesten Dickschädel und das weichste Herz. Wenn er ein Problem sah, konnte er nicht anders, als bei der Lösung behilflich zu sein. Wir hatten unsere eigenen Sorgen, weil wir damals versuchten, die Städte der Freigelassenen, die Freedmen’s Towns, zu schützen und auch den Rest der Unseren aus der Sklaverei zu befreien. Er bestand darauf, dass die Marveller uns bei ihrem Exodus mitnehmen und uns sogar dabei helfen sollten, die restlichen Fabulierenden aus der Sklaverei zu befreien.« Sie holte tief Luft. Ellas Blick klebte förmlich an jeder einzelnen Bewegung des Geists. »Jean-Michel war der festen Überzeugung, es wäre die einzige Möglichkeit, alle Fabulierenden aus der Welt der Simplen zu befreien. Amerika würde niemals ein sicherer Ort für uns sein, und wir konnten nur dann wahre Freiheit erlangen, wenn auch wir hinauf in den Himmel zogen. Also schuf er Pläne, für diese Schule und für ihr größtes Schmuckstück, Celestian City. Er arbeitete mit diesen Leuten zusammen, weil er hoffte, sie würden uns einen Platz einräumen.«
Mama atmete zischend ein.
Vivian schüttelte den Kopf. »Er pendelte unermüdlich zwischen New Orleans und London, um an diesen Entwürfen zu arbeiten …« Ihre Stimme brach. »Er reiste mit den marvellischen Dampfschiffen und war monatelang fort. Dann, nachdem er das Projekt endlich fertiggestellt hatte, feierten wir. Er wollte mich mitnehmen … aber … ich hatte zu viel Angst davor, den Ozean zu überqueren und unsere Kleinen so lange allein zu lassen. Diese Entscheidung werde ich für immer bereuen.«
Ellas Herz krampfte sich zusammen.
»Wochen, dann Monate vergingen. Ohne ein Wort von meinem Ehemann. Die Fabulierer-Gendarmerie suchte nach ihm. Ich suchte nach ihm. Setzte jeden Aufspürzauber ein, den ich kannte. Sie verboten es mir, ihre Städte zu betreten.« Sie erschauderte. »Jahre verstrichen, bis seine Leiche auf Freedom Island entdeckt wurde. Ich stellte keine Fragen, wie oder warum, weil ich vor Trauer zu gelähmt war, um gegen sie zu kämpfen. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, ihm die letzte Ehre zu erweisen, indem ich diese Gedächtnisgruft«, sie fuhr mit den Fingern über das Schmiedeeisen, »und seine Leiche für die Beerdigung vorbereitete. Ich folgte unseren heiligen Traditionen. Doch am Tag seiner Beerdigung waren beide verschwunden. Diese Leute haben ihn mir weggenommen. Er hat sie als seine Freunde bezeichnet.«
Sie wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.
Ella schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und wünschte sich, sie könnte ihre Urururgroßmutter ganz fest in den Arm nehmen.
»Ich musste mich auf den schlimmsten Handel überhaupt einlassen –«
»Was für einen?«, fragte Winnie.
Mama warf ihr einen scharfen Blick zu, und sie zuckte zusammen.
»Einen, den ich bis zum heutigen Tag bereue. Einen, über den ich nie wieder sprechen kann.« Völlig überwältigt weinte sie so heftig, dass sie nicht fortfahren konnte.
Eine einsame Träne kullerte über Ellas Wange. Sie versuchte, den Rest zurückzuhalten. Auch Winnie schniefte neben ihr, vergrub ihr tiefes Schluchzen in Mamas Rock.
Papa wischte sich über die Augen und legte eine Hand auf seine Brust. »Ein Teil von ihm ist nun zu Hause, und wir werden nicht aufhören weiterzusuchen, bis wir alles gefunden haben und er mit dir in Frieden ruhen kann.« Er erhob sich und begann zu singen. Seine Baritonstimme jagte einen Schauer über Ellas Haut. »Oh, mächtige Erinnerung, lass uns das Ungesehene erblicken.« Sie liebte es, ihn Zauber singen zu hören. Die Gedächtnisgruft wackelte, und das schmiedeeiserne Geflecht entwirrte sich, bis sich der Deckel öffnete. Papa zeigte darauf und sagte zu Großmutter Vivian: »Er ist da.«
Sie blies Papa einen Kuss zu, dann verschwand sie. Neue, unerwartete Tränen strömten über Ellas Gesicht. Heiße, wütende Tränen.
Papa zog sie zu sich heran. »Du wurdest erzogen, den Tod nicht als etwas Trauriges zu empfinden. Du weißt, er ist nicht das Ende, sondern nur ein weiterer neuer Anfang.«
»Das ist es nicht«, erwiderte Ella. Eine Mischung aus Zorn und Kummer rumorte in ihrem Magen. »Ich bin nur traurig, weil den beiden das alles passiert ist – weil er in der Gedächtnisgruft eingesperrt war und keine Ruhe finden konnte … genauso wenig wie sie.«
»Fürs Erste wird sie ihn dort besuchen können. Das ist mehr, als sie seit vielen Jahrzehnten hatte.«
Ein Wust aus Fragen verwickelte sich in Ellas Innerem, wie ein verknotetes Knäuel von Brigits Garn. »Aber was ist wirklich passiert? Wie können wir die Wahrheit herausfinden? Wer hat ihn ermordet?«
Ihre Fragen platzten wie Bomben in den stillen Raum.
Mama zuckte zusammen und zischte ihr ein Schhh zu. »Ich will dieses Wort nicht hören. Du wirst in dieser Sache nicht weiter herumschnüffeln, hast du mich verstanden? Das ist eine ernste Erwachsenenangelegenheit. Du hast schon genug getan mit den Entwürfen und der Gedächtnisgruft. Lass die Fabulierer-Gendarmerie alle weiteren Ermittlungen anstellen. Sie haben den Fall bereits wieder aufgenommen. Keine weiteren Einmischungen!«
Ella biss die Zähne zusammen. Sie hatte es satt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Morgen war ihr dreizehnter Geburtstag. Ihr Rücken war von Fabulierwurzeln bedeckt. Ihr Fabuliergefährte würde jeden Tag auftauchen. Es war an der Zeit, dass ihre Eltern anfingen, ihr die Wahrheit zu sagen. Es war an der Zeit, dass sie anfingen, sie einzuweihen. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie das alles einfach auf sich beruhen ließ. Sie musste wissen, was geschehen war, ganz gleich, was es war. »Diese ganzen Geheimnisse sind überhaupt erst der Grund dafür, dass alles so verworren ist.«
»Das reicht jetzt. Du stellst keine gefährlichen Fragen mehr oder begibst dich an irgendwelche gefährlichen Orte.« Mama schnipste mit den Fingern. »Sieh mich an und versprich es mir.«
Vor Frustration formte sich ein Knoten in Ellas Brust. Wie konnten sie sich einfach zurücklehnen und nichts unternehmen? Warum waren sie wegen dieser ganzen Sache kein bisschen wütend? Wie konnten sie einfach geduldig sein und abwarten?
»Komm schon, Kleines«, drängte Papa, und eine strenge Falte grub sich in seine Stirn. »Fabulierende halten immer ihr Wort.«
»Ich verspreche es.« Die Lüge machte Ella die Zunge schwer. Sie hatte nicht die Absicht, dieses Versprechen zu halten. Aber sie war auch Marvellerin, und offenbar fiel denen das Lügen ganz leicht. Sie würde, so viel sie konnte, über die Gründerinnen und Gründer des Arkanum-Trainingsinstituts für marvelhaftes und mysteriöses Streben herausfinden, und darüber, was in jener Nacht, als der Architekt die Entwürfe abgeliefert hatte, wirklich geschehen war. Sie würde dafür sorgen, dass alle die Wahrheit erfuhren. Wenn von ihrem Urururgroßvater Jean-Michel Durand noch etwas übrig war, dann würde sie es aufspüren, damit er und Großmutter Vivian endlich in Frieden ruhen konnten. Und sie würde sich dabei von niemandem aufhalten lassen.
AN: Allgemeine Marvellerversammlung
VON: Sicherheitsrat
Nur für Mitglieder mit höchster Sicherheitsfreigabe. Siehe Anhang. Vorabbericht und vorläufige Analyse der restaurierten Arkanum-Entwürfe eingetroffen. Mitglieder müssen im Vorfeld der Anerkennung ihres Wahrheitsgehalts durch die Marvellische Historische Gesellschaft Vorkehrungen wegen möglicher negativer Auswirkungen treffen. Bestätigung bald erwartet. Entwürfe sind echt und sehr besorgniserregend. Öffentliche Verkündung muss so lange wie möglich hinausgezögert werden, um kollektiven Wutausbruch in der Gemeinschaft zu verhindern. Ein Anerkennen der Tatsache, dass diese Entwürfe von einem Fabulierer erschaffen wurden, würde heutzutage ebenso wenig akzeptiert wie in der Vergangenheit.
Am nächsten Morgen, dem wichtigsten Morgen im ganzen Juni, dem Morgen von Ellas dreizehntem Geburtstag, spielten Ella und Reagan im Garten mit ihren Stapieren, während Ella ihre beste Freundin und Nachforschungskomplizin über alles auf den neuesten Stand brachte, was sie am Tag zuvor von ihrer Urururgroßmutter erfahren hatte.
»Was glaubst du, was ihm in jener Nacht zugestoßen ist?«, fragte Reagan, während sie den Stapier begutachtete. »Irgendwelche Theorien?«
»Es war kein Unfall, so viel steht fest. Ich glaube, man hat ihm absichtlich wehgetan. Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass er sich in der alten Marveller-Stadt Dinium verfolgt fühlte beim Abliefern der Entwürfe?«
»Du glaubst, es war nur ein Zufall? Irgendjemand könnte ihn überfallen und verletzt haben?« Reagan zog die Augenbrauen hoch. »Damals durften Fabulierende die Stadt noch nicht mal besuchen. Ich hab von den Kontrollpunkten in Westlondon gelesen, mit denen sie verhindern wollten, dass jemand unerlaubt ihr Gebiet betritt.«
»Ich glaube, sie wollten ihn loswerden, bevor der Rest der Marveller – und der Fabulierenden – herausfand, dass ein Fabulierer die Entwürfe erschaffen hatte. Ich glaube, sie haben ihn benutzt.«
»Aber wie willst du das beweisen?«
»Das weiß ich noch nicht.« Ella schürzte die Lippen. Sie war noch nicht dahintergekommen, wo sie einen derartigen Beweis finden konnte. Sie musste noch weitere Nachforschungen anstellen, wenn sie erst wieder im Arkanum-Trainingsinstitut war und Zugang zu der riesigen Bibliothek dort hatte … was auch immer sie dort entdecken würde. »Ich muss die einzelnen Teile sorgfältig zusammensetzen, sonst werden sie mich wieder als Lügnerin bezeichnen.« Sie massierte sich die Schläfen, als sie wieder daran dachte, wie die Reporter in den marvellischen Nachrichtenboxen über sie und ihre Enthüllungen gestritten und wie einige versucht hatten, alles mit irgendwelchen Ausflüchten abzutun. Jedes Mal, wenn sie besonders angestrengt über dieses Rätsel nachgrübelte, hatte sie das Gefühl, ihr Gehirn würde eine neue Windung bekommen. »Dir fällt am Ende immer was ein. Eines Tages wirst du die beste Fabulierer-Gendarmin der Welt sein und sämtliche Fälle lösen. Ich wünschte, du wärst auch im Arkanum und könntest mir helfen.«
»Ich auch«, flüsterte Reagan. Zum ersten Mal hatte ihre beste Freundin den Wunsch, wie sie auf das Arkanum-Trainingsinstitut zu gehen, laut ausgesprochen. »Ich hab das Gefühl, immer alles als Letzte zu erfahren, während ich auf deine Sternenpost warte oder darauf, dass du in den Weihnachts- oder Sommerferien wieder nach Hause kommst.«
Ella legte eine Hand auf Reagans Schulter. »Mir gefällt es auch nicht, dass du so weit weg bist. Ich lass mir was einfallen, okay? Dieses Jahr wird alles anders sein.«
Reagan lächelte sie an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Stapiere richtete.
Ella würde Herausfinden, wie ich dafür sorgen kann, dass Reagan mir bei meinen Ermittlungen helfen kann ihrer stetig länger werdenden To-do-Liste hinzufügen müssen. Jetzt brauchte sie aber erst mal eine Pause und reckte ihren Stapier in die Luft, um Reagan die korrekte Haltung für die Marvelmeisterschaft zu zeigen.
Ihre Freundin zog einen Schmollmund. »Argh, das ist zu schwer. Warum können wir nicht einfach normale Stäbe benutzen wie bei Madame Collette?«
Ella lachte, als sie an die spaßigen Spiele dachte, mit denen sie sich dort immer die Zeit vertrieben hatten: Fliegendes Seilspringen, Stabduell und Fabulierball.
»Du musst den Griff fester halten.« Ella rückte den Stapier in Reagans Hand zurecht und fühlte sich in ihren Lichtbündeln für Fortgeschrittene-Kurs zurückversetzt, nur dass sie die Rolle von Doktorin Yohannes einnahm. »Das ist ein Duellux 2.0, und er speichert ab, wie du ihn festhältst. Jason sagt, er hat den besten Griff.« Sie hatte einen zweiten bestellt, damit Winnie nicht ständig quengelte, weil sie Ellas auch mal benutzen wollte, wenn sie gerade für die Marvelmeisterschaft übte. Sie musste perfekt auf ihre Duelle vorbereitet sein, wenn sie ans Arkanum-Trainingsinstitut zurückkehrte.
Reagans Augen weiteten sich, als sie den Stapier hochhob. Er sauste über ihren Kopf hinauf und funkelte in der heißen Nachmittagssonne von Louisiana. »Und dann muss man seine Gabe hier reinfließen lassen?«, fragte sie verwirrt.
»Dein Marvel- oder dein Fabulierlicht, ja. Du musst es bündeln.«
»Bündeln?« Reagans Augenbrauen wanderten erneut nach oben.
Ella lachte. Wann immer Reagan verwirrt war oder die Stirn in Falten legte, verschmolzen ihre Sommersprossen miteinander, wie zu viele Schokotröpfchen in einem frisch gebackenen Keks. »Ich zeig es dir.« Sie streckte ihren Stapier von sich, schloss die Augen und rief ihr Licht herbei. Das intensive indigoblaue Leuchten stieg durch die dünne Klinge hinauf.
»Wow!« Reagan blickte zwischen den beiden Stäben hin und her. »Das will ich auch lernen.«
»Ich kann’s dir beibringen.«
Reagan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob Mama und Daddy wollen, dass ich …«
»En garde«, rief eine vertraute Stimme.
Ella wirbelte herum und sah Großmeister MacDonald vor sich stehen, sein leuchtender Stapier auf sie zeigend. Ohne seinen Marvellermantel hätte sie ihn beinahe nicht erkannt. Er trug Shorts, seine blassen weißen Beine waren von denselben roten Haaren bedeckt wie die auf seinem Kopf, und auf seinem weißen T-Shirt prangte eine winzige blau-weiße schottische Flagge. In ihrem Magen gurgelte und flatterte es ganz seltsam vor Verlegenheit. Großmeister MacDonald war in New Orleans. Großmeister MacDonald war bei ihr zu Hause. Großmeister MacDonald war nicht in seinen muffigen schwarzen Mantel gekleidet.
»Was tun Sie hier?« Sie machte einen Satz auf ihn zu, und die beiden duellierten sich, während Reagan staunend zuschaute. Ella musste auf Zehenspitzen gehen, um ihn überhaupt zu erreichen.
»Ist heute nicht dein Geburtstag?« Er zwinkerte ihr zu und schlug auf ihren Stapier.
Sein langer Schatten verschlang sie förmlich, und Ella versuchte ihr Bestes, ihn zu schlagen, jedoch ohne Erfolg. Als er vor Hitze schon knallrot im Gesicht war, legten sie eine Pause ein und setzten sich auf der Veranda in den Schatten. Krüge mit Sonnentee und eiskaltem Wasser materialisierten sich dank Grannys Fabulierer-Gastfreundschaft auf dem Tisch.
»Aber mal ernsthaft, sind Sie wirklich den ganzen Weg hier runtergekommen …« Ella keuchte.
»Na ja, es ist dein dreizehnter Geburtstag, und ich würde sagen, das ist ein ziemlich bedeutendes Ereignis.« Er wandte sich Reagan zu. »Möchtest du mich deiner Freundin nicht vorstellen?«
»Oh, richtig, natürlich.« Ella schaute Reagan an. »Das ist Großmeister MacDonald vom Arkanum-Trainingsinstitut, und das ist Reagan Marsalis, meine beste Freundin in der ganzen Stadt.«
Reagan blieb der Mund offen stehen. »Sie sind den ganzen Weg nach New Orleans gekommen, nur wegen Ella?«
»Na ja …«, begann er, doch im selben Moment kam Ellas Tante Sera aus dem Haus.
»Er ist auch hier, weil wir allen etwas mitzuteilen haben.« Tante Sera legte eine Hand auf seine Schulter und bestätigte damit, was Ella seit Ende des letzten Schuljahrs bereits vermutet hatte: Ihre Patentante und der Großmeister waren ein Paar. Aber vielleicht waren sie inzwischen sogar mehr als das, denn am Finger ihrer Tante glitzerte ein großer Diamant.
Tante Sera und Großmeister MacDonald schauten einander an und kicherten so albern, dass Ellas Magen wieder nervös zu gurgeln begann. Sie konnte sehen und spüren, wie sehr die beiden einander mochten.
»Wir«, Tante Sera schaute auf ihn herab, »wollen …«
»Heiraten«, beendete er den Satz für sie und strahlte zu ihr hinauf.
»Marveller und Fabulierer können heiraten?!« Reagans Augen weiteten sich vor Staunen.
Vor Verlegenheit stieg Ella die Hitze in die Wangen, als sie an Jasons Eltern dachte.
Großmeister MacDonald rieb sich den Bart. »Natürlich können sie das. Ich weiß, es scheint, als wären unsere beiden Gemeinschaften Welten voneinander entfernt, aber das sind wir nicht. Uns verbindet mehr, als uns trennt.«
»Herzlichen Glückwunsch.« Ella umarmte die beiden und versuchte, ihre Sorge zu verdrängen, was andere – Marveller wie Fabulierer – denken könnten, wenn sie davon erfuhren. Sie musste diese Gedanken tief in ihrem Hinterkopf vergraben, bevor jemand sie hörte.
Tante Sera drückte einen Kuss auf Ellas Wange. »Keine Sorge, es wird alles gut. Wir haben beschlossen, den Rest der Welt erst nach der Hochzeit zu informieren. Deshalb möchten wir dich bitten, das Geheimnis unseres Glücks noch für eine Weile für dich zu behalten. Kannst du das für uns tun?«
»Natürlich.« Ella drückte ihre Patentante erneut an sich. Sie konnte gar nicht glauben, dass Großmeister MacDonald bald ein Teil ihrer Familie sein würde. Ihr Onkel. Wie seltsam – und cool – war das denn bitte? Selbst sein Wasserpferd, Edi, würde nun mit ihr verbunden sein. Ella fragte sich, ob sie es wenigstens Brigit und Jason erzählen durfte. Es war ein ziemlich großes Geheimnis, und sie hatte keine Ahnung, ob sie es schaffen würde, es vor den beiden zu verbergen. Aber sie wusste, sie musste es versuchen.
Winnie kam aus dem Haus gestürmt. »Zeit zum Duschen, Ella!!! Mama sagt, du riechst bestimmt nach draußen.«
Ella trottete ins Haus, um sich für ihre Geburtstagsparty fertig zu machen. Sie holte das grüne Kleid heraus, das Granny für diesen besonderen Anlass für sie geschneidert hatte, und kämpfte mit ihrem Haar. Es war nun viel länger – die Twists reichten über ihren ganzen Rücken hinab –, und sie hatte nicht mehr so viele Sommersprossen. Außerdem war sie ein gutes Stück gewachsen und musste manchmal eine Brille tragen. Ihre Fabulierzeichnung schlängelte sich nach den vielen Lektionen mit Granny im Lauf des Sommers bereits ihren Oberarm und den Rücken hinunter. Doch als sie in den Spiegel schaute, fragte sie sich, was in diesem Jahr noch mit ihr passieren würde – abgesehen von den Dingen, an die sie lieber nicht denken wollte. Ihr Gefährte sollte auftauchen, wenn sie ihn am meisten brauchte.
Sie fühlte sich wie in einem Wirbelsturm aus Was, wenns gefangen, und ihre Gedanken schweiften immer wieder zu der schrecklichen Wahlnacht ab. Wenn ihr Gefährte damals nicht aufgetaucht war … was könnte jemals noch schlimmer sein? Was stand ihr noch bevor? Sie hatte noch immer den beißenden, giftigen Duft des Parfüms in der Nase, und ihr Körper konnte sich noch allzu gut daran erinnern, welch furchtbare Angst sie auf der Bühne gehabt hatte. Immer wieder lief in ihrem Kopf ab, wie sie der ganzen Marveller-Welt die Geheimnisse über ihren Urururgroßvater, den Architekten und Fabulierer, offenbart hatte. Und ein Teil von ihr fühlte sich wie gelähmt vor Furcht, was wohl als Nächstes auf sie zukommen würde.
»Ella!« Mama steckte den Kopf ins Zimmer. »Beeil dich ein bisschen, deine Gäste sind hier.« Sie wedelte mit einem Bündel Fabulierdollars vor ihrem Gesicht herum. »Aber zuerst …« Sie zog eine Sicherheitsnadel aus der Tasche ihres Kleids und befestigte die Dollarnoten am Kragen von Ellas Kleid. »Dreizehn ist eine Glückszahl, und du bist mein Glückskind.« Mama gab Ella einen Kuss auf die Stirn und zerrte sie dann in den Garten hinaus, wo ihre bewundernden Partygäste warteten. Alle umschwärmten sie, steckten noch mehr Dollarscheine zu denen von Mama und küssten sie auf die Wange. Kolibrikuchen sausten umher und boten den Gästen einzelne Stücke an. Der Schmutzteufel der Familie wachte über den Gabentisch und stellte sicher, dass die Stapel hübsch eingepackter Geschenke nicht umkippten. An den Spieltischen regten sich alle liebevoll übereinander auf, ob sie nun in eine Partie Piek-Heilige vertieft waren und die schwebenden Karten über die kleinen Tische purzelten, oder ob sie versuchten, einen hüpfenden Dominostein zu platzieren.
Der Flaschenbaum funkelte vor lauter Lichtern. Im Garten blühten Ellas Lieblingsblumen. Der Sternenpostkasten wackelte alle paar Minuten und spuckte Päckchen und Sternenpost in Hülle und Fülle von all ihren Arkanum-Freunden aus. Bislang hatte sie Abinas, Miguels, Shannons, Samairas und Ousmanes Adressen als Absender entdeckt. Immer mehr Fabulierende strömten aus der ganzen Nachbarschaft herbei, um Geld an ihren Kragen zu pinnen, sie zu umarmen und ihr von Herzen alles Gute zum Geburtstag zu wünschen.
Und sie hätte sich so gerne mit ihnen allen in die freudige Feier gestürzt, aber dieser Geburtstag fühlte sich ein wenig seltsam an. Die Erwachsenen standen in kleinen Gruppen zusammen, den Fabulier-Kurier in der Hand, während sie flüsternd über die Schlagzeilen diskutierten. Ella erhaschte einen Blick:
FABULIERER-MÄDCHEN ENTHÜLLT SCHMUTZIGE MARVELLER-GEHEIMNISSE
VEREINIGTER FABULIERER-KONGRESS VERLANGT ANHÖRUNG BEI BUND DER VEREINIGTEN MARVELLER
KLEINER FABULIERER-AUFSTAND IN ASTRADAM ENDET MIT ZAHLREICHEN VERHAFTUNGEN
DURANDS WIRD WEITER SCHULD AN FÜLLE NEUER PROBLEME DER FABULIERER ZUGESCHRIEBEN
Doch wann immer Ella sich ihnen näherte, wechselten sie das Thema oder logen sie an, wenn sie fragte, worüber sie sich unterhielten.
Winnie hüpfte um den Geschenketisch herum, ausgestattet mit ihrer neuen Naseweisbrille von Godfreys Gags und Gruseleien in der Canal Street. »Ella! Ella! Ich kann sehen, was du gekriegt hast. Ich hab schon ein Weltei entdeckt, neue Notizbücher und ganz viele Griffel.«
Ella ignorierte sie und versuchte, sich von ihrem unguten Gefühl nicht den Tag verderben zu lassen. Reagan würde heute bei ihr übernachten, und Mama hatte versprochen, dass sie so lange aufbleiben durften, wie sie wollten.
»Na, meine Kleine, was glaubst du, wie dein Gefährte aussehen wird?«, fragte ihre Nachbarin, Ms. Dumas, sie. »Nun, wo du dreizehn bist, wird er jeden Tag zu dir kommen.«
Ella zuckte mit den Schultern und tat, als hätte sie nicht schon mehrere Seiten in ihrem Notizbuch mit Theorien dazu gefüllt, als welches Tier ihr Gefährte sich ihr wohl präsentieren würde. Doch sie konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie am besten fände … sie hoffte nur, dass es keine Schlange sein würde – auch wenn sie Tante Seras Boa constrictor, Echi, sehr lieb hatte.
»Alles Gute zum Geburtstag!«, rief eine unbekannte, quäkende Stimme hinter ihr.
Ella blickte über ihre Schulter zurück und sah einen ihrer besten Freunde aus dem Arkanum, Jason Eugene, in ihrem Garten stehen. Er war jetzt größer als sie, und seine Locs fielen bis über sein T-Shirt herab. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, und er überprüfte immer wieder nervös seinen Beutel.
»Was machst du denn hier?« Ella umarmte ihn, und ein intensiver Schwall Deo stieg ihr in die Nase. Sie musste niesen. »Du riechst anders.«
Jasons Augen weiteten sich, und ein nervöses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er räusperte sich und zupfte an seinem T-Shirt herum. »Das ist nur, weil … es ist … heiß hier … und ich wollte nicht … du weißt schon … stinken oder so.«
Ella blickte ihn neugierig an. Seit wann interessierte ihn, ob er gut roch? Eigenartig.
Er zeigte ihr seine Einladung. »Wir haben meine Grandma im Casino in Biloxi abgesetzt, und meine Mom«, er drehte sich um und zeigte auf sie, »wollte mit deiner Mom reden, und da hat sie uns zu deiner Party eingeladen.«
Ella und Jason schauten zu ihren Müttern hinüber, die in einer Ecke die Köpfe zusammensteckten und sich mit ernsten Mienen unterhielten. »Worüber?«, flüsterte Ella ihm zu.
»Das wollte sie mir nicht sagen«, antwortete Jason. »Sie meinte, es sei ihre Privatangelegenheit.«
Sie beäugten ihre Mütter und fragten sich, was für eine Angelegenheit die beiden wohl zu diskutieren hatten. Ella wünschte, sie könnte ihre Unterhaltung belauschen oder die Gedanken ihrer Mutter hören. Sie wusste jedoch, dass diese Kommunikationsmöglichkeit nur in eine Richtung funktionierte.
»Ich hoffe, sie werden Freunde … wie wir.« Jason legte eine Hand auf Ellas Schulter.
»Ich auch«, erwiderte sie, während sie angestrengt versuchte, bei den beiden Frauen Lippen zu lesen, bis Mamas scharfer Blick sie und Jason beim Spionieren erwischte.
Ella wandte sich erschrocken ab und nahm Jason mit zum Süßigkeitentisch, um keinen Ärger zu kriegen, weil sie gelauscht hatte.
»Ich muss dir was sagen.« Er grinste sie an. »Und dir was zeigen.«
»Was denn?«
»Erstens hat Miguel mir eine Sternenpost geschickt.« Jason zog sie aus seiner Hosentasche. »Er hat herausgefunden, dass er Verwandte in Lima hat, die Fabulierer sind. Sie wurden vom Rest der Familie verstoßen.«
»Moment mal, was?«
»Ja, er meinte, das Familiengeheimnis sei ans Licht gekommen, als du mit deinen Neuigkeiten in den Nachrichten warst.« Seine Augen weiteten sich. »Er will uns helfen, der ganzen Sache auf den Grund zu gehen.«
Ella dachte darüber nach. »Kann er Geheimnisse bewahren?«
»Ja, versprochen.«
»Wir werden dieses Jahr jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können, also … okay.«
»Und jetzt zu zweitens.« Jason ließ seinen Beutel von den Schultern gleiten und bedeutete Ella mit einem Winken, hineinzuschauen. Sie entdeckte eine winzige, moppelige Kreatur.
»Was ist das?« Ella sah Jason an, nicht sicher, was daran so ungewöhnlich war, schließlich hatte er ständig irgendein Wesen oder ein Tier dabei.
Er legte eine Hand an Ellas Ohr. »Das ist Roary. Sie ist ein Komodowaran. Meine Fabuliergefährtin.«
Ella konnte ihre Überraschung nicht verbergen. »Du hast eine gekriegt!«
»Hab ich.« Er strahlte. »Die Chancen standen fifty-fifty, aber ich bin mir ziemlich sicher, mein Verwandte-Seelen-Marvel hat geholfen.« Er begann zu berichten, wie Roary plötzlich aufgetaucht war, während er und sein Dad eine ganze Meute winziger Peris aus einer Vulkanhöhle in Indonesien retteten, aber Ella konnte nichts anderes hören als ihren rasenden Puls. Eine unerwartete Woge der Eifersucht erfasste sie, und das wütende Rauschen übertönte seine Worte. Wie war es möglich, dass er vor ihr eine Fabuliergefährtin bekommen hatte, obwohl überhaupt niemand wusste, dass er Fabulierer-Vorfahren hatte? Er musste Roary sogar verstecken. Wie unfair war das denn bitte? Und sie selbst hatte noch nicht mal eine Ahnung, wann ihr Gefährte auftauchen oder in welch einer schlimmen Situation sie sich befinden würde, damit er überhaupt erschien.
»Ella!«
»Ella!«
Jason rüttelte sie an der Schulter. »Alles okay?«
Sie blinzelte. »Ja, tut mir leid. Mir geht’s gut.« Sie versuchte, ihre Verärgerung zu verstecken.
»Hast du irgendwas von Brigit gehört? Ich hab ihr eine Sternenpost geschickt, um es ihr zu erzählen, aber sie hat nicht geantwortet«, sagte Jason.
Ella hatte auch nichts von Brigit gehört. Sie hatte ihr mindestens fünfmal geschrieben, aber ebenfalls nie eine Antwort erhalten. Sie kam jedoch nicht dazu, es Jason zu sagen, weil sich in diesem Moment Reagan zu ihnen gesellte.
Jason machte hastig den Reißverschluss seines Beutels wieder zu und richtete sich kerzengerade auf, als hätte er einen Stellazitätsschlag gekriegt.
»Reagan, das ist Jason. Jason, das ist Reagan«, stellte Ella sie einander vor.
»Ich hab schon viel von dir gehört«, sagte Reagan.
Jason räusperte sich gefühlt tausendmal.
Ella beäugte ihn misstrauisch. »Was ist denn los mit dir?«
»Gar nichts«, erwiderte er, aber seine Stimme glich eher einem Quieken. »Schön, dich kennenzulernen … Und ich hab auch schon viel gehört … von dir.« Ihm fielen fast die Augen aus den Höhlen, als Reagan kicherte.
»Hör auf, dich so seltsam aufzuführen. Wir haben zu tun.« Ella zog die beiden außer Hörweite der anderen Gäste, bevor sie Jason über alles auf den neuesten Stand brachte, was sie in der Villa des Todes von Großmutter Vivian erfahren hatte. »Wir müssen herausfinden, was in der Nacht passiert ist, als der Architekt diese Entwürfe abgeliefert hat. Es ist unsere einzige Möglichkeit, dahinterzukommen, was mit seiner Leiche passiert sein könnte – und ob noch irgendwas von ihm übrig ist.«
»Ich will ja kein Spielverderber sein …« Jason fing Reagans Blick ein. »Aber ist er inzwischen nicht nur noch Knochen und Staub? Es ist über dreihundert Jahre her.«
Reagan lachte. »Nicht als Fabulierer – und nicht, wenn er noch was zu erledigen hatte.«
»Oh«, erwiderte Jason.
Reagan rollte mit den Augen. »Ich hab ganz vergessen, dass ihr Marveller nichts über uns lernt … Trotzdem müssen wir alles über euch lernen.«
»Meine Mom ist eine«, verkündete er, und Ella war überrascht, dass er es Reagan einfach so erzählte. Doch sie spürte seine Nervosität und legte eine Hand auf seine Schulter. »Aber das weiß niemand, okay? Und eigentlich darf ich es auch niemandem sagen. Bitte verrat es nicht.«
Reagan nickte und murmelte ein leises: »Wow.«
»Ich wusste das ehrlich gesagt auch nicht … das mit den Fabulierern«, gestand Ella. Reagan wusste mehr über die Welt der Fabulierer als sie oder Jason. »Granny hat das auch immer gesagt, mir war nur nie wirklich klar, was es zu bedeuten hatte. Sie erzählen uns nicht die ganze Wahrheit. Stattdessen schreien sie uns nur an, weil wir uns aus ihren Erwachsenenangelegenheiten heraushalten sollen.«
»Was du nicht weißt, kann dir auch nicht wehtun«, ahmte Reagan ihre Mutter nach.
»Das muss nur ich wissen und du niemals erfahren«, stimmte Jason ein.
»Das geht Kinder nichts an«, fügte Ella hinzu, und dann prusteten sie alle drei vor Lachen. Insgeheim dachte Ella, wie wundervoll sie es fand, dass die beiden Teile ihrer Welt langsam miteinander zu verschmelzen begannen. Die Einzige, die noch fehlte, war Brigit.
»Aber ich habe vor, alles ans Licht zu bringen.« Ella wurde ernst. »Keine Geheimnisse mehr. Denn wenn wir herausfinden, was mit dem Architekten passiert ist, dann könnte das tatsächlich der nötige Auslöser sein, um zwischen Fabulierern und Marvellern alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Ich werde dir natürlich dabei helfen«, erklärte Jason.
»Ich auch«, versicherte Reagan.
»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Jason.
Ella grinste. Obwohl heute ihr dreizehnter Geburtstag war, hatte sie den Großteil des Tages damit verbracht, genau darüber nachzugrübeln und den Plan in ihrem Kopf wie Beignetteig in Form zu kneten, bis er schließlich wunderbar aufgegangen war und Gestalt angenommen hatte. Und nun verteilte sie die Aufgaben: Jason sollte versuchen, in Erfahrung zu bringen, worüber seine Mom und Mama sprachen, weil Ella die Vermutung hegte, dass es etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte. Reagan würde weitere Recherchen dazu anstellen, was mit verstorbenen Fabulierern passierte, die in dieser Welt noch etwas zu erledigen hatten. Und sie selbst würde Brigit bitten, ihr Zeitsicht-Marvel und ihre Strickkünste einzusetzen, um möglicherweise in der Vergangenheit irgendwelche Hinweise zu finden. Außerdem wollte Ella versuchen, noch einmal mit Großmutter Vivian zu sprechen. Sie hatte es satt, auf ihre Eltern zu hören und zuzusehen, wie sie nicht das Geringste unternahmen.
Mama unterbrach ihre Planungen mit dem größten Kuchen, den Ella jemals gesehen hatte. Dreizehn Kerzen steckten in der Buttercremeglasur. Die Partygäste sangen: »Happy birthday to you! Happy birthday to you! Happy birthday!«
Ella strahlte übers ganze Gesicht, als alle klatschten.
»Wünsch dir was!«, rief Papa.
»Was Gutes!«, fügte Mama hinzu.
Ella kniff fest die Augen zusammen. Sie wusste, sie sollte sich den perfekten Gefährten wünschen. Oder Fabulierkarten, mit denen sie üben konnte. Oder eins der neuen fliegenden Fahrräder, die sie in Carters Zweirad-Zone gesehen hatte. Aber in diesem Jahr galt ihr Wunsch jemand anderem: Sie wünschte sich herauszufinden, was mit dem Architekten passiert war; und sie wünschte sich, auch den Rest von ihm nach Hause zu bringen.
Sternenpost
Abina,
hast du zufällig noch eine Reisemünze? Ich muss dieses Jahr ein mächtiges Rätsel lösen und brauche dafür dringend die Hilfe einer Freundin von zu Hause. Du kannst sie auch kennenlernen, und natürlich erzähle ich dir alles, wenn wir uns in der Schule sehen.
Gib mir Bescheid. Ich bin dir was schuldig.
Ella
Die Marvellische Zeit
NACH DER WAHL: ANHÖRUNGEN UND SCHULDZUWEISUNGEN
Ein Kommentar von Benedito Sousa
Der Bund der Vereinigten Marveller ist sehr beschäftigt. Die Terminkalender der Mitglieder sind voll mit Besprechungen in Vorbereitung auf eine Reihe von Regierungsanhörungen. Sie werden sich mit den weiterhin anhaltenden Folgen beschäftigen, nachdem die berüchtigte Verbrecherin Gia Trivelino erfolglos versucht hat, die Wahl zu beeinflussen … und einen Giftmord zu begehen. Seit Wochen streiten Expertinnen und Experten in den Zeitungen über den Wahrheitsgehalt der Enthüllungen, ein Fabulierer sei der sechste Gründer des Arkanum-Trainingsinstituts und hätte die Schule sogar entworfen. Gerüchten zufolge beruhen außerdem unsere Prunkstücke im Himmel – Betelmore, Celestian City und Astradam – auf seinen Plänen. Ferner hätten die Marveller nie gewollt, dass sich die Fabulierer ihrem großen, prachtvollen Auszug aus der Simplen-Welt anschließen. Die Worte der kleinen Fabuliererin wurden komplett auseinandergenommen – in dem Versuch, sie zu widerlegen und ihre Beweise zu entkräften. Doch die Bibliothekare der Marvellischen Historischen Gesellschaft mit ihren Konservierungs-Marveln arbeiten seitdem rund um die Uhr an diesen Entwürfen.
Sie werden nicht lügen. Alles wird schon bald ans Licht kommen … also warten wir’s ab.
Die Schuldzuweisungen können beginnen … Doch dieses Kind hat eines der am tiefsten verschütteten und düstersten Geheimnisse der Marveller enthüllt – und wir sollten lieber hoffen, dass die Kleine nicht noch weitergräbt. Schließlich weiß man nie, was sie womöglich als Nächstes findet.
Sternenpost
Liebe Ella,
alles Gute zu deinem dreizehnten Geburtstag – ein wichtiger Tag für dich. Ich kann es kaum erwarten, alles über deine fantastische Party und deinen Sommer zu hören.
Ich habe ein Geschenk für dich, das ich dir nicht per Post schicken kann. Aber wir sehen uns dann zu Beginn des Schuljahrs.
Beste Grüße,
Master Thakur
Sternenpost
Brigit,
wo bist du? Ich hab dir schon fünfmal geschrieben. Ich brauche dich.
Bitte antworte mir. Geht’s dir gut? Was ist denn los?
Ella
Gegen zwei Uhr morgens schlug Ella die Augen auf. Gedämpftes Stimmengemurmel hatte sie aus dem Schlaf gelockt. Zunächst glaubte sie, es seien nur ein paar lärmende Passanten draußen auf den Straßen des Fabulierer-Viertels, auf dem Nachhauseweg von einer ausgedehnten Sommerparty, doch als sie genauer hinhorchte, erkannte sie die Stimmen. Sie kamen aus dem Fabulierzimmer der Familie. Was war hier los?
Ella setzte sich auf.
Reagan schlief auf dem Ausziehbett neben ihr, leise schnarchend, der Seidenschal von ihren Locken gerutscht.
»Wach auf.« Ella rüttelte ihre Freundin wach, während sie in ihre Pantoffeln schlüpfte.
Reagan rieb sich die Augen. »Was ist denn?«
»Hörst du das?« Ella zeigte auf den Lüftungsschacht. Sie lauschten den gedämpften Stimmen. »Das sollten wir uns genauer anhören.«
Reagan sprang aus dem Bett.
»Was glaubt ihr, was ihr da tut, junge Damen?«, fragte der heilige Raphael auf Ellas Nachttisch. »Ihr solltet euch lieber wieder ins Bett legen, das wisst ihr. Ausreichend Schlaf ist Gold wert.«
»Schh!« Ella schnappte sich ihren Morgenmantel und schlich sich mit Reagan in den Flur hinaus.
Der Schmutzteufel der Familie lauerte über der Standuhr in der Ecke. »Ihr solltet im Bett liegen. Ich könnte euch beide verpfeifen.«
»Oder du könntest mir sagen, was hier los ist?« Ella schaute ihm in die Augen. Ein brauner Wirbel formte sich zu einer Wollmaus von der Größe eines Kleinkinds.
»Sie suchen nach etwas Verlorenem«, verriet er ihnen.
Ella und Reagan wechselten einen Blick und huschten auf Zehenspitzen weiter, so schnell sie konnten. Die Neugier kribbelte in ihnen, als sie dem Stimmengemurmel zum Fabulierzimmer der Familie folgten. Durch den schmalen Türspalt konnten sie Papa, Mama, Granny und Tante Sera im Kreis stehen sehen, wie sie sich an den Händen hielten und gemeinsam sangen: »Öffne dich für unseren Herzenswunsch, gib uns, was wir suchen …«
Vor ihnen stand ein eisernes Becken, das vor Flüssigkeit und Wurzeln überquoll und von so vielen Kerzen umgeben war, dass Ella sie gar nicht zählen konnte. Schwarze Calla-Lilien und Fabulierrosen wuchsen aus dem Wasser und erschufen ein wunderschönes Spalier. Ein klebriger Bienenstock erstreckte sich zwischen den Blumen, vor Honig triefend und vor summender Bienen schwirrend.
Wärme erfüllte Ella, und ihr standen wachsam die Nackenhaare zu Berge. Die Fabulierkräfte ihrer Familie zogen an ihr, mit der Macht der Gezeiten. Sie klammerte sich an die Tür und an Reagan, um nicht mitgerissen zu werden.
»Was beschwören sie da herauf?«, fragte Ella ehrfürchtig.
»Das ist die Honigtür – ein mächtiger Lokalisierungszauber«, flüsterte Reagan. »Genau wie der Heiße Fuß, den du schon mal benutzt hast.«
Ella hatte den simplen Zauber benutzt, um zu versuchen, Master Thakur zu finden, nachdem er von Gia Trivelino verschleppt worden war. Dieser Zauber war jedoch viel größer und mächtiger als die Heiße-Fuß-Karte, die sie damals erstellt hatte. Es sah aus, als hätten die vier einen Tunnel zwischen sich und der Person erschaffen, die sie suchten.
Ihre Stimmen wurden immer lauter, und ihr synchroner Rhythmus trommelte tief in Ellas Mark. Die beiden Mädchen reckten die Hälse, um besser sehen zu können. Wen versuchten sie zu finden? Ellas Magen schlug Purzelbäume – sie wusste, dass sie das alles nicht sehen sollten.
Schwarzer Rauch stieg aus dem Becken auf, wirbelnd und wallend, und färbte sich leuchtend violett. Die Blumen verflochten sich miteinander, bevor sie noch prächtiger aufblühten. Granny öffnete ein Bündel Wandelpulver und schüttete es auf den Bienenstock. Der Honig knisterte und knackte, wie im Winter das Holz im Kamin. Das Spalier wackelte und wankte, die Blumenranken dehnten sich zu beiden Seiten aus und formten einen leeren Türrahmen. Die Honigwaben schmolzen, und die Bienen schwirrten durch ein offenes Fenster davon.
»Komm zu uns, mein Mädchen. Komm nach Hause«, sang Granny.
Nach und nach nahm das Wandelpulver eine neue Gestalt an: zuerst zwei Beine, dann ein Oberkörper, bis schließlich eine von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllte Person erschien.
Ella verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.
»Wer ist das?«, wisperte Reagan.
Die Gestalt nahm ihren Helm ab. Taillenlange Twists fielen darunter hervor, und dann sah Ella das Gesicht. Es war praktisch identisch mit Mamas Gesicht.
»Meine … meine Tante Celeste.« Ellas Herz hämmerte so laut, dass sie sich sicher war, sie würden jeden Moment entdeckt werden.
»Mein Kind!« Granny klatschte eine Hand auf ihren Mund. »Du … bist es wirklich.«
»Ja, Mama, ich bin es.« Celestes Stimme erfüllte den ganzen Raum.
Ein Kloß bildete sich in Ellas Hals, als sie Zeugin der Wiedervereinigung ihrer seit Langem vermissten Tante mit Granny und Mama wurde. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, als sie sah, wie Granny ihre Tochter immer wieder an sich drückte und sie dann auf Armeslänge von sich schob, um Celeste anzustarren, ihr Gesicht zu berühren und ihre Wangen zu küssen.
»Nachdem Ella mich entdeckt hatte, wusste ich, ihr würdet kommen und nach Antworten suchen«, sagte Tante Celeste und hielt dabei eine Hand von Granny und eine von Mama.
»Du warst über zwanzig Jahre fort.« Mamas Stimme war tränenerstickt. Tante Celeste lehnte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Als Erwachsene sahen sie einander sogar noch ähnlicher. »Du hast so viel verpasst.«
»Ich habe immer zugesehen.« Tante Celeste drückte Mamas Hand. »Das schwöre ich dir. Ich habe dich Grandioses vollbringen und deine beiden wundervollen Mädchen großziehen sehen.«
»Wir dachten, du seist für immer für uns verloren.« Granny kaute auf ihrer Unterlippe herum.
»Es gibt so viel zu sagen, so viele Dinge, die ich euch erzählen will, aber jetzt ist dafür keine Zeit. Dass ich hier bin, bringt alles in Gefahr.«
Granny kniff die Augen zusammen. »Was alles?«
Tante Celeste sah Papa direkt an. Er lockerte seine Krawatte und wandte den Blick ab. Wovon redete sie denn da? Warum schaute sie ihn so an … so als teilten sie ein Geheimnis?
»Alles, was wir erreicht und in die Wege geleitet haben, ist gefährdet. Ella hat uns ein Geschenk gemacht, indem sie ein Bild zusammengefügt hat, das wir schon seit Jahrzehnten aufzudecken und zu verstehen versuchen. Meine Nichte ist wirklich sehr schlau – viel schlauer als ich in ihrem Alter.«
Tante Celestes Kompliment fühlte sich wie ein wärmender Schatz an, den Ella für immer bewahren wollte.
»Aber es gibt noch mehr zu tun«, sprach sie weiter. »Ich habe heute Nacht zugelassen, dass ihr mich findet, weil ich noch einmal unterstreichen wollte, was ich zu Ella gesagt habe. Meine Identität muss geheim bleiben, bis meine Arbeit getan ist. Es war nicht geplant, dass sie mich sieht. Doch die Umstände in dieser schicksalhaften Wahlnacht erforderten es, dass ich mich ihr zeigte. Ich konnte nicht zulassen, dass Ella etwas zustößt.« Sie küsste Granny und Mama die Hand und hielt sie ganz fest. »Es tut mir so leid, dass mich diese Mission so lange von euch allen ferngehalten hat. Es war meine größte Freude, unserem Volk auf diese Weise zu dienen … und zugleich mein größter Kummer …« Ihre Stimme brach. »Aber Fabulieren ist gut.«
»Zu jeder Zeit«, antworteten die anderen einstimmig.
Ella und Reagan wisperten es auch.
»Ich muss jetzt gehen. Ich habe meinen Eid bereits gebrochen – und gegen meine Befehle verstoßen.«
Tante Celeste ließ Grannys und Mamas Hände wieder los.
»Aber du hast uns so vieles noch nicht erzählt«, wandte Granny ein. »Was ist das für eine Mission? Wo warst du all diese Jahre? Was ist an jenem Tag passiert, an dem du verschwunden bist? Warum kannst du nicht wieder nach Hause kommen?«
Tante Celeste gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn. »Ich verspreche, alles wird ans Licht kommen, und sämtliche Fragen werden eine Antwort finden. Die Mission ist beinahe abgeschlossen. Ich werde schon bald zu euch zurückkehren, und ich verspreche, euch nie wieder zu verlassen. Von mir aus könnt ihr mich sogar mit einem Festhaltezauber belegen, damit ich nicht wieder abhaue. Ihr habt mein Wort. Ich liebe euch alle.« Sie trat wieder in das eiserne Becken und setzte ihren Helm auf. Nun sah sie wieder aus wie der Vollstrecker von Präsident Johan Fenris Knudsen I. und nicht wie Ellas seit Langem verschollene Tante.
Reagan schnappte nach Luft – und schlug sich dann eine Hand auf den Mund, während sie auf etwas neben Ella zeigte.
Etwas leckte an Ellas Arm. Sie senkte den Blick und sah Tante Seras Gefährtin, Echi. Ihre gelben Schlangenaugen glühten in der Dunkelheit des Flurs, eine funkelnde Ermahnung, weil sie die Erwachsenen belauschten, anstatt im Bett zu liegen.
»Bitte, verpfeif uns nicht«, flüsterte Ella der Schlange zu. »Wir gehen wieder. Versprochen.«
Echi nickte.
Vor ihnen tauchte Gumbo am Ende des Flurs auf, wo er offenbar Wache gestanden hatte. Echi schob Ella und Reagan von der Fabulierzimmertür weg, und Ella wusste, wenn sie nicht gehorchten, würden die beiden Gefährten sie doch noch verraten, und dann würden Tante Sera und Mama schnell wie der Blitz vor ihnen stehen. Sie würden Mrs. Marsalis anrufen, und dann würde Reagan für eine Weile nicht mehr herkommen dürfen. Und nach allem, was sie heute Nacht gesehen und gehört hatten, mussten Ella und Reagan noch eine Menge mehr Nachforschungen anstellen.
Die beiden Mädchen trotteten zu ihrem Zimmer zurück, wo Ella mit dem Kopf voraus unter die Bettdecke schlüpfte. Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. Ihre Gedanken sausten und wirbelten durcheinander, während Reagan endlose Theorien aufstellte, worum es sich bei Tante Celestes Mission handeln könnte. Doch Ella war nicht in der Lage, sich darauf zu konzentrieren. In ihr herrschte noch immer das reinste Gefühlschaos, nachdem sie die Wiedervereinigung von ihrer Familie und Tante miterlebt hatte.
Der Schmutzteufel hockte sich ans Fußende ihres Bettes. »Was habt ihr gesehen?«
»Alles.« Ella schwirrte der Kopf. Sie hoffte, wenn sie dem Architekten half, konnte auch ihre Tante wieder nach Hause kommen, und dann würden die Wunden ihrer Familie endlich heilen.
Ella saß mit Reagan schon in aller Frühe am Frühstückstisch und fragte sich, ob irgendjemand aus ihrer Familie ihr erzählen würde, was sie in der vergangenen Nacht erlebt und getan hatten. Ella hatte ihnen die Nachricht von Tante Celeste schließlich erst überbracht. Deshalb war sie ohnehin bereits in diese ganze Sache involviert. Außerdem rechnete sie damit, bestraft zu werden, da sie sich ziemlich sicher war, dass Echi oder Gumbo sie doch verpetzt hatten, weil sie, anstatt brav im Bett zu liegen, gelauscht hatten. Ella und Reagan wechselten immer wieder nervöse Blicke in Erwartung ihrer unausweichlichen Strafe.
Doch um sie herum herrschte nur das übliche Samstagmorgenchaos: Das Bügeleisen glättete sämtliche Hosen im Haus, Grannys Kirchenhüte schüttelten sich aus wie die Tänzer einer Mardi-Gras-Parade, der Besen kehrte Winnies riesiges Kunstprojekt für die Schule zusammen, und der Esstisch war mit Mamas Köstlichkeiten gedeckt: Maisbrei mit Garnelen, Crab Cakes und Eier, ein gefährlich schiefer Turm aus Armen Rittern und ein Teller mit Brathähnchenresten von der gestrigen Party.
»Alle zu Tisch!«, rief Mama.
Donnernde Schritte hallten durchs Haus. Ella sprudelte beinahe über vor Aufregung, während sie darauf wartete, dass sich die ganze Familie am Tisch versammelte. Tante Sera setzte sich als Letzte.
»Und … wie habt ihr alle geschlafen?«, fragte Ella und beobachtete die Mienen der anderen genau.
