Blackout - Dhonielle Clayton - E-Book
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Blackout E-Book

Dhonielle Clayton

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Beschreibung

Eine Stadt. Ein Abend. Sechsmal die Chance auf die große Liebe.

New York. Eine Hitzewelle legt die Stadt lahm und während Manhattan in Dunkelheit versinkt, kommen überraschende Wahrheiten ans Licht, aus Freundschaft entsteht Liebe und alles scheint plötzlich möglich: 1. Ein Ex-Pärchen tut sich zusammen, um von Manhattan nach Brooklyn zu gelangen. 2. Zwei Mädchen auf der Suche nach einem Foto finden etwas ganz Anderes. 3. Zwei Highschool-Jungs stecken in der U-Bahn fest und stellen sich ihren Gefühlen. 4. Zwei beste Freunde reden sich in der New York Public Library die Köpfe heiß über die Liebe. 5. Drei Teens unterwegs auf Klassenfahrt in New York – das Liebesdreieck ist vorprogrammiert. 6. Zwei Fremde kommen sich näher bei einer hitzigen Diskussion über Identität und Liebe.

Sechs Geschichten über die Liebe in all ihren Formen. Elektrisierend, charmant, herzzerreißend und humorvoll erzählt von sechs Schwarzen Young-Adult-Bestsellerautorinnen!

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Seitenzahl: 344

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Sammlungen



DHONIELLE CLAYTON

TIFFANY D. JACKSON

NIC STONE

ANGIE THOMAS

ASHLEY WOODFOLK

NICOLA YOON

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Galic und Katarina Ganslandt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Quellennachweis: »John Keats. Werke und Briefe«, Reclam Verlag, 1995, Übersetzung Mirko Bonné James Baldwin, »Beale Street Blues«, dtv, 2018, Übersetzung Miriam Mandelkow »Das Allerbeste von Dr. Seuss« S. Fischer Verlag, 2011, Übersetzung Felicitas Hoppe »The Long Walk« copyright © Tiffany D. Jackson 2021 »Made to Fit« copyright © Ashley Woodfolk 2021 »Mask Off« copyright © Nic Stone 2021 »All the Great Love Stories … and Dust« copyright © Dhonielle Clayton 2021 »No Sleep Till Brooklyn« copyright © Angie Thomas 2021 »Seymour & Grace« copyright © Nicola Yoon 2021

Published by Arrangement with CHICKENLITTLE DHONIELLE LLC.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Blackout« bei HarperCollins, New York.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Anja Galić und Katarina Ganslandt

Lektorat: Gabriele Rahnfeld

Covergestaltung: © Suse Kopp

Covermotiv: Cover design © HarperCollinsPublishers Ltd 2022 Cover illustration © Uzo Njoku

he · Herstellung: AJ

Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-27756-7V005

www.cbj-verlag.de

Für alle jungen Schwarzen Menschen auf der ganzen Welt: Eure Geschichte, Euer Glück, Eure Liebe und Euer Leben zählen. Ihr seid ein Licht in der Dunkelheit.

Der Lange Weg – Erster Akt

DER LANGE WEG

Tiffany D. Jackson

Erster Akt

Harlem, 17:12 Uhr

Heute ist einer von diesen Hitzschlag-Tagen. Einer, an dem schlimme Sachen passieren. Zusammen mit den Temperaturen steigt auch die Gereiztheit, und die Nerven der über acht Millionen Menschen in dieser Stadt liegen blank. Normalerweise würde ich an so einem Tag ums Verrecken nicht rausgehen. Ich würde bei Eistee und Putenbrust-Sandwich in meinem Zimmer direkt neben der Klimaanlage hocken und Filme schauen. Deswegen bin ich mir in dem Moment, in dem die Türen der U-Bahn aufgehen und mir schwülwarme Luft aus der aufgeheizten Station entgegenströmt, nicht mehr so sicher, ob das mit dem neuen Job wirklich so toll ist.

Ich komme aus der U-Bahn-Station auf die 125. Straße hoch und bin überrascht, wie viele Menschen unterwegs sind. Der rote Schriftzug des Apollo Theaters gleißt im brutalen Licht der Sonne. Wenn das hier mein Filmset wäre, würde ich die Leute nach Hause schicken oder höchstens später noch Nachtaufnahmen drehen. Der Asphalt ist so glühend heiß, dass die Sohlen meiner Sneakers fast schmelzen, als ich zum Theater hetze. Wegen der Bahnverspätungen habe ich ganze zehn Minuten länger gebraucht als geplant. Aber den New Yorker Verkehrsbetrieben ist es auch während einer Hitzewelle scheißegal, ob ihre Bahnen nach Plan fahren. Und deswegen komme ich zu spät. Oder okay, pünktlich, aber das ist dasselbe wie zu spät! Dad sagt immer: Wenn du zu früh kommst, kommst du pünktlich – wenn du pünktlich kommst, kommst du zu spät. Deswegen habe ich in der Schule zwischen den Stunden auch nie auf dem Flur herumgetrödelt, sondern saß immer schon Minuten vor dem Gong als Erste an meinem Platz. Wahrscheinlich war ich bei den Lehrern deswegen so beliebt. Weil ich dadurch Respekt gezeigt habe. Sogar gegenüber Mr Bishop, obwohl es bei uns niemanden gab, der Sport mehr gehasst hat als ich.

Während der Aufzugfahrt in den vierten Stock merke ich, dass mir mein Kleid am Körper klebt. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so geschwitzt. Aber sie haben geschrieben, dass ich meine Unterlagen heute abgeben muss, damit ich Montag gleich eingearbeitet werden kann.

Ganz genau. Eingearbeitet. Das ist ein echter Job. Ab nächster Woche bin ich den Sommer über die neue Büroassistentin am Apollo Theater. Den Tipp mit der Stellenausschreibung habe ich von meinem Berufsberater bekommen. Das Apollo Theater ist eine der ältesten und berühmtesten Schwarzen Konzertbühnen Amerikas. Hier haben die Karrieren von Superstars wie Michael Jackson, Mariah Carey und Stevie Wonder begonnen, weshalb ich damit rechnen kann, dass ich bald diverse Berühmtheiten aus dem Showbusiness hautnah erlebe werde. Für mich ein perfektes Training, weil ich vorhabe, später mal eine erfolgreiche Filmregisseurin zu werden.

Das Gehalt: 3500 Dollar für sechs Wochen.

Okay, das Apollo ist in Harlem. Mit Umsteigen werde ich von Brooklyn aus hin und zurück jeweils eine ganze Stunde in der U-Bahn unterwegs sein. Aber dafür bin ich den ganzen Sommer über schön weit weg von Bedford-Stuyvesant.

Da will ich nämlich so wenig wie möglich sein, seit … es passiert ist. Seit aus »wir« ein »er und sie« wurde und ich übrig blieb.

In der Mail mit der Jobzusage stand, ich soll um Viertel nach fünf im Büro sein. Weil meine zukünftigen Kolleginnen und Kollegen mich heute zum ersten Mal sehen werden, habe ich das neue gelb-blaue Babydollkleid angezogen, das ich mir von meinem Collegegeld gekauft habe. Eins steht jetzt schon fest: Bevor ich ins College fahre und mein altes Leben hinter mir lasse, lege ich mir eine komplett neue Garderobe zu, die zu meinem neuen Leben passt. Vielleicht nenne ich mich dann sogar Tam statt Tammi. Weiß ja keiner, wie ich heiße. Es ist schließlich nicht so, als würde irgendjemand mit mir an die Clark Atlanta University gehen. Ich werde dort ganz … allein sein.

Was so eigentlich nicht vorgesehen war, denke ich, als ich zur Empfangstheke gehe. »Wir« hatten andere Pläne. Hatten uns was anderes versprochen. Aber es gibt kein »wir« mehr, und es wird höchste Zeit zu lernen, ohne ihn zu leben. »Hallo, Herzchen.« Die ältere Schwarze Frau hinter der Theke strahlt mich an, ihr läuft der Schweiß die Schläfen runter. »Was kann ich für dich tun?«

Ich straffe die Schultern und verscheuche die Gedanken. »Hi, ich heiße Tam Wright. Ich bin wegen dem Ferienjob hier und wollte meine Unterlagen abgeben.«

»Alles klar. Dann schaue ich gleich mal, ob Maureen da ist, um sie abzuzeichnen. Eine Mörderhitze, was?«

In dem fensterlosen Großraumbüro dampft die Luft, die Männer und Frauen, die hier arbeiten, sitzen alle in durchgeschwitzten Klamotten an ihren Schreibtischen. »Äh, ja.«

Sie dreht sich um und greift nach einem Folder. »Angeblich waren es mittags schon achtunddreißig Grad und seitdem ist es nicht kühler geworden.«

Ich schlinge meine Braids zu einem hohen Bun zusammen und fächle mir das Gesicht. Nicht, dass mir auch noch das Make-up zerfließt und aufs Kleid tropft.

»Ist es hier drin immer so heiß?« Wenn ich daran denke, dass ich total wenige Sommerkleider und dünne Tops habe, steigt Panik in mir auf. Ich möchte, dass alles perfekt ist.

Die Frau lächelt mitfühlend. »Tut mir leid, Liebes, die Klimaanlage spinnt schon den ganzen Tag. Ich glaube …«

»Whewwww! Shit. Sorry. Bin zu spät!« Ich zucke zusammen und erstarre, als ich die Stimme höre. Trotz der Hitze wird meine Haut mit einem Mal kalt. Ich schließe die Augen und fange an zu beten. Bitte mach, dass das nicht er ist. Bitte, bitte, lieber Gott. Bitte. Jeder, nur nicht er.

»Hallo, Herzchen. Wie kann ich dir helfen?«, fragt die Frau.

Seine lauten Schritte hören sich an wie die von einem Mörder, der sich von hinten nähert. Seine Sneakers sind ihm immer zu groß, die Sohlen klatschen bei jedem Schritt den Boden ab wie ein High Five.

»Hey! Hallo. Ich bin Kareem, ich …« Er stockt kurz, dann brüllt er: »Tammi?«

Verdammt.

Ich öffne die Augen wieder und drehe mich langsam zu ihm um.

Diese braune Haut. Diese wunderschönen Augen. Es ist nicht so, als hätten wir uns nie mehr gesehen. Wir sind Nachbarn und waren auf derselben Schule, der Stacey Abrams Preparatory auf der Upper West Side. Aber so nah wie jetzt bin ich ihm seit vier Monaten nicht mehr gewesen – nah genug, dass ich ihn riechen kann und mir wünsche, er würde nicht so verdammt gut riechen.

»Was machst du denn hier?« Meine Stimme klingt – zu Recht – aggressiv.

Er verdreht die Augen und wendet sich der Frau am Empfang zu, als wäre ich gar nicht da.

»Sorry. Ich bin hier, um meine Unterlagen abzugeben. Montag soll ich eingearbeitet werden.«

Eingearbeitet? Nein! Nein, nein … das kann nicht sein. Bitte nicht!

»Moment mal. Ihr seid beide hier, um eure Unterlagen für den Ferienjob vorbeizubringen?«, fragt die Frau.

»Nein«, sagen wir gleichzeitig und funkeln uns wütend an.

»Also … doch. Ja«, sagen wir, auch wieder gleichzeitig.

Tödlich verlegen mache ich einen Schritt zur Seite, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen, und räuspere mich.

»Also … Ich bin hier, um meine Unterlagen abzugeben. Keine Ahnung, was er hier will.«

Er grinst. »Dasselbe wie du, schätze ich.«

Die Frau schaut zwischen uns hin und her, dann klappt sie den Folder in ihrer Hand auf und überfliegt den Inhalt. Sie dreht sich zu ihrem Computer und liest stirnrunzelnd irgendetwas, während ich aus dem Augenwinkel einen schnellen Blick auf ihn werfe. Er hat seine Lieblingsjeans an (trotz der Hitze), ein schwarzes Poloshirt und brandneue Jordans. Wahrscheinlich wollte sie, dass er sich die zulegt. Irgendwie vermisse ich seine ausgetretenen roten Chucks und die Superhelden-T-Shirts, die er immer anhatte.

Reiß dich zusammen, Tammi! Du vermisst überhaupt nichts an diesem Arsch.

»Oh-oh. Wartet ihr bitte kurz?« Die Stimme der Frau lässt nichts Gutes ahnen. »Ihr könnt euch solange da vorne hinsetzen. Ich hole schnell Maureen und bin gleich wieder zurück.«

Kareem und ich tauschen einen misstrauischen Blick aus, während wir zum Wartebereich rübergehen. Hoffentlich dauert es nicht so lang, bis diese Maureen mich holen kommt … und den Idioten hier hocken lässt.

Ich setze mich gleich neben die Tür, Kareem lässt sich auf den Stuhl gegenüber fallen und rutscht unruhig darauf herum.

Cool bleiben, Tammi.

Mit einem schnellen Selfie-Check überprüfe ich, ob das Edge-Control-Gel noch hält und nicht womöglich in der Bullenhitze zerschmolzen ist. Ich will zwar nichts mehr von Kareem, aber das heißt nicht, dass es mir egal wäre, wie ich aussehe.

»Whoa«, murmelt er.

Ich folge seinem Blick und kann nicht anders, als auch ein »Whoa« auszustoßen.

Im Wartebereich hängen lauter Konzertplakate von Musikern, die mal hier im Apollo aufgetreten sind. James Brown, Ray Charles, Ella Fitzgerald, Billie Holiday … Musik, die meine Großeltern in ihrer Jugend gehört haben. Beim Reinkommen sind die mir gar nicht aufgefallen. Und dann wird mir plötzlich bewusst, dass ich in den heiligen Hallen sitze, in denen sich all diese Legenden die Klinke in die Hand gegeben haben. Die Vorstellung ist so überwältigend, dass ich den Vollidiot neben mir beinahe vergesse. Fühlt es sich später, wenn ich täglich in Fernsehstudios und auf Filmsets bin, dann auch so an?

Kareem zappelt immer noch herum und wühlt jetzt alle seine Taschen durch. Das macht er immer, wenn er nervös ist – zum Beispiel, weil er zu spät dran ist, was bei ihm praktisch der Normalfall ist. Er wäre morgens nie pünktlich in die Schule gekommen, wenn ich ihm nicht mehrere Wecker-Apps auf seinem Handy eingerichtet und gestellt hätte. Würde mich mal interessieren, ob er die noch hat.

Jetzt schlägt er sich an die Stirn und flucht leise. Anscheinend hat er was vergessen …

Schluss! Hör auf, über ihn nachzudenken. Er denkt nie über dich nach.

Was will er überhaupt hier? Als mir unser Beratungslehrer Mr Taylor von der Ausschreibung erzählt hat, war nur von einer einzigen Stelle die Rede und zwar ausdrücklich für einen Schüler oder eine Schülerin, die was mit Medien und Entertainment machen will.

Kareems Plan war immer, im Hauptfach so was Lahmes wie BWL oder so zu studieren – »Damit ich lerne, meine vielen Geldbündel fachgerecht zu zählen!« Ach so, klar! Es geht ihm um die Kohle. Er ist scharf auf die 3500.

Tja, Pech gehabt. Gegen mich hat er keine Chance. Ich habe denen zusätzlich zu meiner Bewerbung auch noch mein Showreel mit meinen Filmen geschickt (alles am Handy gedreht und bearbeitet). Der Job ist meiner! Außerdem brauche ich ihn. Die Stelle als Assistentin ist ein weiterer Schritt auf meinem ganz eigenen Weg zu einem Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood.

Mom und Daddy sind noch nicht ganz überzeugt von der Idee, dass ich Regisseurin werde. Nur Kareem hat immer an mich geglaubt. Und jetzt … bin ich ihm scheißegal. Aber ich lasse mir das nicht von ihm wegnehmen. Er soll abhauen und mit dem A-Train zurück nach Brooklyn fahren.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, weil ich mich ablenken muss, um nicht die ganze Zeit zu ihm rüberzuschauen. Er hat sich kaum verändert. Groß, mit ewig langen Armen und Beinen, wunderschönen Augen und vollen Lippen. Nur seine Haut kommt mir ein bisschen dunkler vor. Vielleicht war er ja am Strand … mit ihr. Bei dem Gedanken könnte ich kotzen. Ich sehe die beiden vor mir, wie sie nach Far Rockaway unterwegs sind – sie in einem Winzbikini, er mit nacktem Oberkörper …

»Hey, hast du ein Ladegerät dabei?«

Ich brauche eine Sekunde, bis ich kapiere, dass er mit mir spricht.

»Was?«, würge ich hervor.

»Ein Ladegerät«, wiederholt er ganz langsam, als wäre ich schwerhörig. »Ich hab vergessen, mein Handy zu laden, und hab nur noch fünf Prozent.«

Ich blinzle ihn ungläubig an. »Das … das ist alles, was du mir zu sagen hast?«

Er runzelt die Stirn. »Was meinst du damit?«

Klar, er hat keine Ahnung. Typisch.

»Du hast in den letzten Monaten vielleicht gerade mal zwei Worte zu mir gesagt und jetzt machst du zum ersten Mal den Mund auf – aber nur, weil du was von mir willst?«

Im ersten Moment ist er sprachlos, dann verengt er die Augen, lehnt sich im Stuhl zurück und macht dieses verächtliche Geräusch, bei dem er Luft durch Lippen und Zähne saugt.

»Vergiss es.« Er verschränkt die Arme. »Keine Ahnung, warum ich dich überhaupt gefragt hab. Du interessierst dich eh nur für dich selbst.«

»Was soll das heißen?«

»Nichts«, brummt er.

Ich schaue zu der Frau am Empfang rüber, die jetzt wieder hinter ihrer Theke sitzt, aber wegsieht und so tut, als hätte sie nichts mitgekriegt. Wenn er sein Handy nicht die ganze Zeit als Soundsystem benutzen würde, wäre der Akku auch nicht leer.

Ich würde ihm nicht mal dann mein Ladegerät geben, wenn ich es mithätte. Noch nicht mal, wenn er der letzte lebende Typ auf Erden wäre. Einen Scheißdreck kriegt er von mir.

Er zieht wieder Luft durch die Zähne und rutscht tiefer in den Stuhl. »Boah, echt, du stellst dich an, als hätte ich dich gefragt, ob du mir einen Zwanziger leihst. Ego-Bitch.«

»Yo, war’s das? Oder hast du noch mehr Scheiße auf Lager, die du loswerden willst?«

Kareems Augen werden schmaler, mordlustig.

»Hallo, ihr zwei!«

Wir springen auf, als die melodische Stimme einer Frau ertönt, die um die Empfangstheke herumgeht und direkt auf uns zukommt.

»Hi! Ich bin Maureen. Du musst Tammi Wright sein. Und du Kareem Murphy?«

»Ja«, sagen wir beide gleichzeitig, und ich hasse mich dafür, dass ich es so liebe, wie wir zusammen klingen.

Schlag ihn dir endgültig aus dem Kopf, Mädchen! Es gibt kein »wir«. Wir ist tot, existiert nicht mehr. Für immer.

Sie schüttelt uns beiden die Hand und seufzt. »Tja, tut mir sehr leid. Ich wünschte, wir würden uns unter angenehmeren Umständen kennenlernen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragen wir beide gleichzeitig, und ich unterdrücke ein Stöhnen.

»Es ist mir sehr unangenehm, aber uns ist da ein kleiner Fehler passiert. Anscheinend habt ihr beide die Mail bekommen, in der euch der Job zugesagt wurde. Unser Budget reicht aber leider nur für eine Stelle.«

Mein Magen schnürt sich zusammen, mein Kiefer wird hart.

Kareem verschränkt die Arme vor der Brust, zwischen seinen Augenbrauen bildet sich ein steiles V. »Und was heißt das jetzt?«

Sie schluckt sichtbar. »Nur einer von euch bekommt die Stelle.«

Kareem und ich sehen uns an, dann höre ich ein Klick, und auf einmal wird alles schwarz um uns herum.

Im einen Moment schaue ich noch in diese schönen braunen Augen, die ich so vermisst habe, und im nächsten … Aus. Keine weiche ABBLENDE, kein SCHNITTAUF … Der Film endet. Einfach so.

Verwirrt taumle ich zurück, während im Dunkel Stimmen ertönen.

»Scheiße, was ist los!«

»Was ist passiert?«

»Alle ruhig bleiben!«

In meiner aufsteigenden Panik höre ich um mich herum Schritte, über den Boden schrappende Stuhlbeine. Vielleicht hat jemand aus Versehen auf einen Lichtschalter gedrückt, aber hätte er oder sie das Licht dann nicht sofort wieder angemacht? Irgendwas stimmt nicht. Wo ist Kareem?

»Hey! Was ist hier los?«, rufe ich. Ich strecke die Arme vor mir aus und versuche meine Augen der Dunkelheit anzupassen. Jemand rempelt mich an und ich stoße einen Schrei aus.

»Tammi?«, höre ich Kareem von weit weg irgendwo inmitten des Chaos.

»Kareem«, will ich rufen, aber mir bleibt die Stimme in der Kehle stecken.

Handytaschenlampen leuchten auf wie im Raum verstreute Strahler. Wieder ein Klick, Lichter gehen an. Das muss so eine Art Notbeleuchtung sein. Ein kleines Lämpchen alle drei Meter, aber der Großteil des Raums liegt immer noch im Dunkeln. Ich entdecke Kareem, der sich um sich selbst dreht, bis sein Blick auf mich fällt und er stehen bleibt. Kann es sein, dass er irgendwie erleichtert wirkt, mich zu sehen? Bürotüren werden aufgestoßen; schwach scheint Tageslicht durch ein paar schmale Fenster, die auf ein Ziegelgebäude hinausschauen. Es vergehen etwa fünf Minuten, in denen alle durcheinanderreden, bis Maureen ruft: »Okay, Leute. Wir evakuieren das Gebäude!«

»Bist du sicher?«, fragt die Frau von der Rezeption.

»Das Haus ist alt. Keine Ahnung, wie lang der Notstromgenerator durchhält. Alle raus. Benutzt eure Handys als Taschenlampen und nehmt die Treppe.«

Kareem und ich folgen den anderen stumm durch die Tür, den Flur entlang auf ein rot leuchtendes Notausgangsschild zu.

Im Treppenhaus treffen wir auf weitere Menschen. Alle im Gebäude nehmen denselben Weg. Mein Herz hämmert gegen die Rippen.

Vielleicht ist das ja eine Art Feuerübung oder jemand hat sein Mittagessen anbrennen lassen.

Die Straße ist überfüllt mit Leuten, die aus den umliegenden Gebäuden strömen, sich auf dem Gehweg drängen und verwirrt und aufgeregt in ihre Handys sprechen. Die Kombination aus Hitze, Luftfeuchtigkeit, panischen Stimmen und der blendenden Sonne schnürt mir den Atem ab. Irgendwas Schlimmes muss passiert sein.

»Was ist hier los?«, frage ich einen Mann an der nächsten Straßenecke in der Nähe der U-Bahn-Station. »Werden wir … angegriffen oder so was?«

Allein die Frage zu stellen, löst Übelkeit in mir aus.

»Stromausfall«, sagt der Mann, während er durch sein Smartphone scrollt. »Anscheinend in der ganzen Stadt.«

»Was? In der ganzen Stadt?«, fragt Kareem. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er noch hinter mir ist.

Ich hole mein Handy raus und rufe Mom an. Sie geht beim zweiten Klingeln dran.

»Alles okay bei dir?«, fragt sie. Im Hintergrund kann ich meinen älteren Bruder und meine Schwester streiten hören.

»Mir geht’s gut. Aber hier ist Stromausfall.«

»Ja, hier auch. Wo bist du?«

»Ich stehe vor dem Apollo mit … Kareem.«

Sie schnappt nach Luft. »Er ist … bei dir?«

»Ja. Ich, äh … erklär dir das später.«

»Wowwww. Okay. Komm so schnell du kannst nach Hause.«

»Mach ich. Bis nachher.«

»Pass auf dich auf, Tammi.«

Danach schreibe ich meinem Dad eine Nachricht, dass ich okay bin. Bestimmt steht er mit seinem Sightseeing-Bus irgendwo im Stau. Wo mein jüngerer Bruder Tremaine steckt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich unterwegs, Fotos schießen. Zum Glück kann er gut allein auf sich aufpassen. Immer mehr Leute bevölkern die Straße. Meine Eltern und Geschwister sind in Sicherheit und kommen klar, aber wie ist das mit mir? Sieht nicht so aus, als hätte irgendwer eine Ahnung, warum der Strom weg und was genau passiert ist. Das könnte auch ein Attentat sein oder Krieg!

»Du, äh …«, sagt Kareem neben mir. »Kann ich mal dein Handy haben?«

»Wozu?«, fauche ich.

»Meins ist fast leer und ich muss meine Mom anrufen.«

»Na gut.« Ich drücke es ihm in die ausgestreckte Hand. »Dann mach.«

Er tippt kopfschüttelnd die Nummer ein, was eigentlich unnötig ist. Ich habe seine Mutter nicht aus meinen Kontakten gelöscht.

»… nein, Ma. Ich bin’s«, sagt er. »Ja. Ja. Lange Geschichte. Egal. Ist bei euch auch Stromausfall? Echt? Verdammt, hier auch. Okay, ich bin auf dem Weg. Ja, weiß ich. Werde ich versuchen. Alles klar. Bis dann.«

Er legt auf und hält mir das Handy hin. »Danke für die Freiminuten.«

Ich würde ihm am liebsten seinen Sarkasmus aus dem Gesicht schlagen, als ich Maureen entdecke.

»Oh, hey! Ms Maureen!« Wir schieben uns durch die Menge zu ihr an den Bordstein durch.

»Sorry, ihr beiden. Das ist jetzt gerade kein guter Moment. Ich muss meine Leute durchzählen«, sagt sie, ohne uns richtig anzuschauen. »Geht lieber nach Hause. Keiner weiß, wie lange das hier noch dauert. Wir sehen uns dann Montag, okay?«

»Aber …«, sage ich, »Sie haben uns noch gar nicht gesagt, wer die Stelle jetzt bekommt. Wer von uns soll am Montag denn kommen?«

»Jetzt geht es gerade wirklich nicht«, sagt sie gestresst. »Tut mir leid, aber erst mal muss ich sichergehen, dass alle draußen sind. Das ist Vorschrift. Sobald der Strom wieder da ist, melde ich mich bei euch, okay? Kommt gut nach Hause!«

Sie dreht sich um und ist schon weg, bevor ich sie aufhalten kann.

»Das gibt’s doch nicht«, stöhne ich entnervt. »Wir müssen das ganze Wochenende warten?«

»Ich glaub, es gibt grade wichtigere Sachen, um die wir uns Sorgen machen sollten.« Kareem streckt mir wieder die Hand hin. »Kann ich noch mal das Handy?«

»Wofür denn jetzt schon wieder?«

»Hallo? Wir haben hier den vollen Notfall und du produzierst so einen Aufstand?«

»Okay!«, knurre ich. »Aber mach mir den Akku nicht leer.«

Er schaut auf seinem Handy eine Nummer nach, bevor er sie bei mir eintippt. »Yo, Twig, was geht ab, Homie? Nein, das ist das Handy von … einer Freundin. Meins ist abgekackt.«

Twig wohnt auch in unserem Block. Er ist dünn und hoch aufgeschossen wie ein junger Baum. Warum muss Kareem ihn jetzt anrufen? Was kann so wichtig sein, dass er dafür Akku-Lebenszeit verschwendet?

»Genau, ja, der Strom ist in der ganzen verdammten Stadt weg. Krass, echt«, sagt er. »Aber was ist mit heute Abend? Ja? Ernsthaft jetzt? Ich? Sowieso. Was denkst du denn? Bis dann.«

Er gibt mir das Handy zurück und holt sein Portemonnaie aus der Jeans. »Wie viel Geld hast du mit?«

»Warum?«

Kareem schnaubt und deutet auf die U-Bahn-Station. »Wenn es keinen Strom gibt, fahren auch keine Bahnen. Wir müssen ein Taxi nehmen.«

Verdammt, er hat recht. Die Bahnen fahren nicht und selbst wenn, würde ich auf keinen Fall in der Dunkelheit in einem Tunnel festsitzen wollen.

Er zählt sein Geld. »Ich hab zwanzig. Du?«

Ich habe nur fünf Dollar dabei.

»Das wird nicht bis nach Hause reichen«, sagt er. »Die Ampeln funktionieren auch nicht. Wenn wir Glück haben, kommen wir damit gerade mal zehn Blocks weit.«

Ich sehe mich um. »Da drüben ist eine Bank«, sage ich. »Ich kann uns was abheben.«

»Ohne Strom funktionieren die Geldautomaten nicht.«

»Shit«, murmle ich. »Und jetzt?«

Keine Ahnung, warum ich ihn das frage. Wahrscheinlich weil sonst niemand da ist und ich trotz der wachsenden Panik in meiner Brust versuche, ruhig zu bleiben.

Kareem wirft einen Blick aufs Straßenschild und holt tief Luft. »Okay, dann mal los.«

Er setzt sich in Bewegung und ich gehe ihm hinterher.

»Wo willst du hin?«

»Nach Hause, wohin sonst?«

»Aber wie?«

Er zuckt mit den Schultern. »Zu Fuß.«

»Zu Fuß! Von hier aus?«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Das ist … scheißweit! Das dauert Tage.«

Er verzieht das Gesicht. »Stell dich nicht so an. Wir sind nicht in der Bronx.«

Er will von der 125. Straße aus zu Fuß nach Brooklyn? Von der Bronx aus wäre es auch nicht viel weiter.

»Ich bin raus«, seufze ich und hebe die Hand zum Abschied. »Dann bis dann.«

»Wie meinst du das? Du kommst mit.«

»Ganz bestimmt nicht!« Ich schnaube.

»Hör zu, wir wissen nicht, wie lang der Blackout dauert, und ich hab keinen Bock, hier zu warten. Es ist halb sechs. Bald wird’s dunkel und dann will ich nicht immer noch hier rumstehen. Du hast kein Geld und ich hab kein Handy. Also müssen wir zusammenbleiben, bis wir zu Hause sind. Danach kannst du mich dann ruhig wieder hassen oder was auch immer.«

Hey, ich habe nie gesagt, dass ich ihn hasse. Jedenfalls nicht laut.

Ich sehe mich um und beiße mir auf die Lippe. Keine Ahnung, wie lange das noch dauert. Der Strom könnte in ein paar Minuten oder einer Stunde wieder da sein. Aber was ist, wenn Kareem recht hat? Wenn der Blackout womöglich die ganze Nacht dauert und wir so lange hier festsitzen?

»Ich schlage vor, wir gehen über den Frederick Douglass Richtung Central Park West«, sagt er.

Ein paar Angestellte der New Yorker Verkehrsbetriebe sind dabei, den Eingang zur U-Bahn-Station abzusperren. Wie viele Leute wohl da unten in der Dunkelheit in den Tunneln feststecken? Mit all den Ratten? Dieser Gedanke bringt meine Hände zum Zittern. Aber es gibt Situationen, die noch viel schlimmer wären … besonders eine, die ich um jeden Preis vermeiden möchte.

»Kommst du jetzt oder was?«, fragt Kareem gereizt.

Ich schaue seufzend in die Abendsonne und mache einen Schritt auf ihn zu.

Ohne Maske

OHNE MASKE

Nic Stone

In einem U-Bahn-Wagen, 17:26 Uhr

Tremaine Wright findet geschlossene Räume nicht so super. Das weiß ich, Jacorey »JJ« Harding Jr., nur deswegen, weil ein paar bescheuerte Freunde von mir Tremaine vor sechs Jahren, als wir in der Sechsten waren, durch die Umkleide gejagt und dann in einen Besenschrank gesperrt haben.

Der Typ hockte da drin, hämmerte gegen die Tür und brüllte: »Hey, lasst mich wieder raus! Das ist nicht lustig!« Und obwohl ich nicht zu den Idioten gehörte, die sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnten, damit er nicht rauskam, war mir klar, dass mein halbherziges »Mensch, Leute, lasst ihn doch raus« nicht genug Wumms hatte, um von ihnen ernst genommen zu werden … Ja, ich bin da nicht stolz drauf.

Dann gongte es und wir rannten davon.

Ich hätte nicht weiter darüber nachgedacht, wenn Tremaine – wie ich es erwartet hätte – einfach nur ein paar Minuten zu spät zur nächsten Stunde gekommen wäre. »Kein Blut, kein Foul«, so sah es mein junges (dummes) Ich damals.

Aber er kam nicht.

Die Uhr tickte. Tremaines Platz blieb leer. Ich weiß noch, wie ich mich verwirrt im Klassenzimmer umgeschaut und mich gefragt habe, ob ich der Einzige war, dem auffiel, dass der Typ bald nicht bloß irgendwie zu spät kam, sondern absolut überhaupt nicht mehr. Und da bin ich dann langsam unruhig geworden. Was, wenn ihm was passiert war? Oder – noch schlimmer (jedenfalls in meinem zwölfjährigen Kopf) – wenn er uns gerade bei der Schulleitung meldete und behauptete, ich hätte mitgemacht? Wahrscheinlich war es vor allem das schlechte Gewissen, weil ich ihm nicht richtig geholfen hatte, aber ich war echt gestresst. Ich hab gespürt, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildete, und ahnte, dass meine Achseln bald gigantische Schweißflecken zieren würden. Falls ich wegen irgendwas Stress mit der Schulleitung bekam, würde mein Pops mich nicht Basketball spielen lassen. Das hatte er Anfang des Schuljahrs ganz klar gesagt. Die Stunde war schon fast halb durch, als ich es nicht mehr aushielt und gefragt habe, ob ich mal aufs Klo könnte. Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht panisch zur Umkleide zu rennen. Ich schwöre, die fünfzehn Sekunden, die ich gebraucht habe, um an den Toiletten und den Duschen vorbei zum Besenschrank zu gehen, waren die längsten und gruseligsten meines jungen Lebens.

Aus dem Schrank drang kein einziges Geräusch. Was für mich als Hardcore-Horrorfilm-Fan bedeutete, dass Tremaine entweder (1) nicht mehr da war und uns gerade verpfiff oder (2) nicht mehr da war und nie wiederkommen würde – im Sinne von: weg vom Fenster … tot.

Ich war derjenige, der schrie, als ich die Schranktür aufriss und ihn zwischen einem Turm Monsterklopapierrollen und einem Wischeimer voll mit trollrotzbraunem Putzwasser am Boden kauern sah.

Aber das Verrückteste war, dass er nicht mal hochgeguckt hat. Er hat mit weit geöffneten Augen ins Leere gestarrt, als würde er schon ins Große Jenseits oder so was schauen.

»Äh … Tremaine?« Ich hockte mich vor ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tremaine!« Ich rüttelte ihn.

Er schreckte zusammen und sah mich an. Dann schrie er. Und riss den Klopapierturm um. Danach saß er nur keuchend da.

Ich schaute schnell über die Schulter, ob wir allein waren. »Yo, alles okay, Mann?«

Ich meine, hurra, der Typ war noch am Leben, aber ich hatte keine Lust, mitten in der Unterrichtszeit hier erwischt zu werden. »Du … äh … Es wäre wahrscheinlich besser, wenn du aus dem Schrank kommst …«

Er hat mich komisch angeschaut. Verwundert, aber irgendwie auch ein bisschen traurig und vielleicht überrascht? Schwer zu beschreiben.

Dann hat er genickt. »Geschlossene Räume finde ich nicht so super«, hat er gesagt. Mit einer ganz ausdruckslosen Stimme.

»Ist gut. Dann lass uns abhauen.« Ich bin aufgestanden und hab ihm die Hand hingestreckt. Er griff danach. Rappelte sich hoch und schaute auf die am Boden liegenden Klopapierrollen. »Meinst du, wir sollten, äh …«

»Egal«, sagte ich. »Weiß ja keiner, dass wir das waren. Lass uns einfach schnell weg hier.«

Er nickte und wir sind schweigend an der Umkleide vorbei und dann durch die Sporthalle. Erst als wir über die Mittelfeldlinie gingen, hat er gesagt: »Ähm … könntest du das vielleicht für dich behalten?«

»Was denn?«

»Das mit meiner … Klaustrophobie. Ich bin ja eh schon euer Opfer, aber es wäre mir lieber, wenn die anderen nicht wüssten, womit sie mich so richtig fertigmachen könnten.«

»Ach so.« Das leuchtete mir ein. »Geht klar.« In mir krochen gleich wieder Schuldgefühle hoch, weil ich ihm nicht so wirklich geholfen hatte. Ich hab mich scheiße gefühlt. »Sorry … tut mir echt leid, dass ich nicht eingegriffen habe.« (Und gleichzeitig dachte ich: Hoffentlich erzählt er das niemandem, dass ich mich entschuldigt habe. Voll erbärmlich. Ich weiß.)

»Ich hab mitgekriegt, wie du gesagt hast, dass sie mich rauslassen sollen.« Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Ja?«

»So wirklich überzeugend warst du aber nicht.« Er hat mir das Gesicht zugedreht und mich angeschaut. »Na ja, wenigstens bist du mich jetzt holen gekommen.« Und dann hat er mich so breit angegrinst, dass ich seine komplette Zahnspange sehen konnte. Mit sämtlichen abwechselnd blauen und grünen Brackets.

Ich hab schnell weggeschaut, weil mich sein Lächeln verlegen gemacht hat. Obwohl ich nicht wusste, wieso.

Irgendwie war mir komisch dabei.

»Danke dafür«, sagte er.

»Ist okay, Mann. Kein Problem. Ich, äh … nächstes Mal mache ich eine klarere Ansage, wenn sie dich wieder nerven.«

»Ja, das wär nett«, sagte er.

Und das war’s. Wir trennten uns vor dem Sekretariat, wo er sich seinen Zettel fürs Zuspätkommen abholen musste, und ich bin in die Klasse zurück.

Wir haben uns nicht angeschaut, als er nach ein paar Minuten in den Unterricht kam – er mich nicht und ich ihn nicht. Null Austausch.

Ich hab das Versprechen gehalten und meinen Homies gesagt, dass sie ihn in Ruhe lassen sollten. Was sie auch gemacht haben. Und was Tremaine und mich angeht? Wir haben in den fast sechs Jahren seit der Sache nie mehr ein Wort miteinander gesprochen (jedenfalls keins, von dem er weiß).

Wir haben uns nie wieder angesehen.

Aber jetzt in diesem stockdunklen U-Bahn-Wagen ist Tremaine Wright das Einzige, was ich sehe.

Es ist ungefähr vier Minuten her, dass plötzlich die Lichter ausgingen und der Zug langsamer wurde und dann ganz stehen geblieben ist. Wir sitzen im A-Train Richtung Brooklyn. Ich bin wie üblich in der 145. Straße eingestiegen, drei Blocks von zu Hause entfernt. Als in der 125. die Türen aufgingen, kam auf einmal Tremaine rein.

Mein erster Gedanke war, Shit, was macht denn bitte Tremaine Wright mitten in den Sommerferien in der Gegend hier? Dann hab ich die Kamera gesehen und gecheckt, dass er wahrscheinlich unterwegs ist, um Fotos zu schießen. Er ist seit der achten Klasse Mitglied im Jahrbuch-Orgateam und verbringt quasi sein Leben damit, alles um ihn rum zu fotografieren.

Unser Wagen ist zwar nicht brechend voll, aber gut gefüllt – alle Plätze sind besetzt, ein paar Leute stehen sogar. Eine Frau mit Kinderwagen; ein Hipsterbartträger mit Fahrrad; drei Mädchen um die dreizehn in Ballettröckchen; zwei Typen, die so eng nebeneinanderstehen, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass sie mehr sind als nur gute Freunde.

In der Sekunde, in der das Licht ausging, schnappten diese ganzen Leute gleichzeitig so laut nach Luft, dass sich das anhörte, als hätten sie den kompletten Sauerstoff aus dem Universum gesaugt. Kurz darauf kam aus dem Lautsprecher die gelangweilte Stimme des Fahrers, der eine »Technische Störung« meldete.

Der kollektiv angehaltene Atem entlud sich in Stöhnen, Murmeln und genervtem Seufzen.

Dann leuchteten nach und nach Handytaschenlampen auf.

Im ersten Moment war es ziemlich unheimlich, aber als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, hab ich mich wieder entspannt.

Ich riskiere jetzt sogar einen Blick auf ihn. Auf Tremaine, meine ich. Weil um ihn rum alle ihre Handylampen anhaben, kann ich ihn ziemlich deutlich erkennen, obwohl er im Schatten sitzt. Als er vorhin eingestiegen ist, hab ich so krampfhaft versucht, nicht darüber nachzudenken, ob er mich auch gesehen hat, dass ich natürlich erst recht an nichts anderes denken konnte. Deswegen hab ich ihn bewusst ignoriert. Jetzt hat er den Kopf an das »Hinsehen statt Wegschauen!«-Poster an der Rückwand gelehnt und sitzt mit geschlossenen Augen da.

Man könnte fast denken, er würde entspannt vor sich hindösen, wenn er nicht alle paar Sekunden – ja, ich schaue immer noch hin – kurz die Lippen wie zum Pfeifen spitzen würde.

Mein Blick wandert zu seinem Brustkorb, der sich hebt und senkt, und als ich das sehe, katapultiert mich das zu einem Moment im letzten Schuljahr zurück, den ich anscheinend extratief in mir vergraben hatte, damit ihn niemand – nicht mal ich selbst – wiederfindet:

Ich war der Einzige aus der Zehnten, der im Auswahlteam spielen durfte, eine Ehre, die ich wie ein unsichtbares »S« auf der Brust mit mir herumtrug. Mir konnte keiner was. Na ja, jedenfalls bis zum vierten Spiel, als ich den Ball ultrageschmeidig in den Korb legen wollte, gefoult wurde und bei der Landung richtig fies mit dem rechten Fuß umknickte. Megaverstauchung. Der Schmerz war höllisch, schlimmer als alles, was mir im Leben jemals passiert war.

Ich hockte auf dem Boden, das Knie an die Brust gezogen und die Augen zusammengekniffen, und mein Gelenk hat so übel wehgetan, dass mir fast die Tränen kamen. Aber ich wollte mir nichts anmerken lassen, weil alle Coaches, die ich je gehabt hatte, uns immer eingebläut haben: Echte Männer zeigen keinen Schmerz. Eine Trainerin ist sofort zu mir rüber. »Atme tief durch die Nase ein … So ist gut. Jetzt die Lippen spitzen und durch den Mund wieder ausatmen. Und immer so weiter.« Auf ihr Zeichen hin kamen ein paar Jungs aus der Abschlussklasse rüber und halfen mir hoch, damit ich mein zertrümmertes Ego auf einem Bein hüpfend in die Umkleide befördern konnte. Vorher hatte ich kurz zur Tribüne rübergeschaut. Und worauf traf mein Blick? Auf den von Tremaine Wright.

Er stand, seine fette Kamera in der Hand, in der dritten oder vierten Bankreihe und schaute mich an. Sein Blick war … besorgt.

»Okay«, kommt noch mal die Stimme vom Fahrer über Lautsprecher. »Gerade bekomme ich die Meldung rein, dass es in der gesamten Stadt einen Stromausfall gegeben hat. Wir können erst mal nicht viel machen, weil die Signale nicht funktionieren. Bitte bleiben Sie alle ruhig auf Ihren Plätzen sitzen. Ich melde mich, sobald ich was höre.«

Wieder eine Runde Gestöhne, Gemurmel und genervtes Geseufze.

Aber alle bleiben ruhig sitzen.

Bis auf Tremaine. Seine Brust hebt und senkt sich immer heftiger, weil er so tief Luft holt. Dazu wippt er irre mit einem Bein, so wie jemand, der gerade bei Call of Duty um sein Leben kämpft. Ich hab gar nicht gewusst, dass man überhaupt so schnell mit dem Bein wippen kann.

Mein Blick fällt auf seine Füße, und ich gucke sofort weg, als ich seine absolut blütenweißen Jordan Retro 1 sehe (so weiß, dass sie in dem arschdunklen Wagen praktisch glühen).

Schneller Rundum-Check: Die beiden Typen haben sich auf den Wagenboden gesetzt, stecken die Köpfe zusammen (die müssen ein Paar sein) und schauen sich irgendwas auf dem Handy an. Die drei Ballettmädchen klammern sich aneinander und wünschen sich eindeutig ihre Eltern herbei. Der Hipster hat seine Fahrradlampe angemacht und an die Wagendecke gerichtet. Er strahlt, als wäre er megastolz auf seine tolle Idee.

Als das Baby am anderen Ende des Wagens losbrüllt, schaue ich hin (als Einziger – #NewYork). Die Mom hat ihr Handy mit dem Licht nach oben auf das Kinderwagendach gelegt, sodass ich sehe, wie sie sich zu dem kleinen Homie runterbeugt und ihn rausnimmt. Sie packt blitzschnell ihre Brust aus und das Baby kriegt seine Milch.

Ich muss lächeln. Wenigstens einer hier im Wagen, dem nachher nicht der Magen knurrt. Aber ernsthaft jetzt – ich bewundere diese Frau dafür, dass sie ihr Kleines so lässig in der Öffentlichkeit stillt und kein Tuch oder so was über ihre Brust und seinen Kopf legt. Klar ist es so dunkel, dass keiner wirklich was sehen kann. Trotzdem. Ich finde es cool, dass sie es so offen macht und ihn … oder sie oder was auch immer mal aus dem Baby wird … beim Stillen nicht versteckt.

Nicht, dass ich so was laut sagen würde.

Ich schüttle den Kopf.

Mann, Mann, Mann, echt. Hätte mir der Strom vielleicht den Gefallen tun können, an einem anderen Tag auszufallen? Nicht nur, weil ich jetzt mit Tremaine auf unbestimmte Zeit in dieser Sardinenbüchse feststecke, sondern auch, weil ich heute eigentlich so eine Art Neustart geplant hatte. Das Saisonende ist echt bitter gewesen – eine Weile hab ich gedacht, ich hätte mein mojo verloren –, aber in der ersten Woche vom Sommer-Trainingscamp hab ich dann allen gezeigt, dass JJ es noch draufhat.

Das war wie eine Chance auf ein zweites Leben. Die Jungs aus dem Team haben mich total abgefeiert. Und dazu dann noch die Sache mit Tasha, der Cousine von unserem Power Forward, die gerade aus den Südstaaten zu Besuch in der Stadt ist. Sie hat bei ihm ein Bild von mir und Lang gesehen und fand mich wohl gut. Normalerweise würde ich mich niemals näher (also alles, was über ein Hallo im Schulflur hinausgeht) mit einer Verwandten von einem Teamkollegen einlassen, aber der Typ hat mir selbst erzählt, dass Tasha Interesse hat.

Also alles okay.

Als ich dann die Nachricht bekommen hab, ob ich heute auch auf diese Party nach Brooklyn kommen würde, um sie kennenzulernen, hab ich zurückgeschrieben, dass ich dabei bin. Ich hab mit dem Forward ausgemacht, dass ich vorher noch bei ihm vorbeikomme, um ihm ein cooles Outfit zu verpassen. Ich dachte, wenn ich früh genug losfahre, könnte ich auch noch schnell bei meinem Granddad vorbeischauen. (Yay. Ich hab echt ein Riesenglück, dass wir in Harlem wohnen – genau entgegengesetzt von der Ecke der Stadt, wo alles passiert, was mich interessiert.) Jedenfalls sitze ich deswegen jetzt hier in der Bahn. Neue Saison, neues Mädchen, neuer Anfang, neues Ich.

Zumindest ein Neuanfang für das alte Ich. Das Ich, das alle kennen: Mein Basketball-Ich. JJ »Jump-Jump« Harding (passt perfekt, oder? Auch wenn JJ eigentlich für »Jacorey Jr« steht).

Könnte ich das jemals jemandem sagen? Dass das Basketball-Feuer in mir längst nicht mehr so heiß brennt wie früher? Dass das, was so lang mein einziger Lebensinhalt gewesen ist, was mich einfach nur glücklich gemacht hat, praktisch der Grund meines Daseins, inzwischen nur noch so eine … Sache ist? Eine Sache, die vielleicht sogar ein bisschen nervt?

Niemals. Das könnte ich genauso wenig laut sagen wie dass ich finde, Frauen sollten stillen dürfen, ohne ihre Brust und das Baby mit einem Tuch abzudecken, unter dem die Kleinen fast ersticken. Und wo wir gerade dabei sind … Vielleicht geht es ja nur mir so, aber ich finde es hier drin verdammt stickig.

Jetzt hole ich tief Luft und schaue dann noch mal unauffällig zu Tremaine.

Er hat die Augen immer noch geschlossen, und ich sehe, dass er weiter wie verrückt ein- und ausatmet. Inzwischen wippt er mit beiden Beinen. Abwechselnd. Sieht aus wie die Sticks von einem Schlagzeuger. Ich bin kurz davor, rüberzugehen und ihn zu fragen, ob alles okay ist … Aber nach dem, was vor ein paar Monaten passiert ist? Boah, ich weiß nicht.

Es kann übrigens sehr gut sein, dass er auch zu der Party will. Der Typ, der dort auflegt, ist der Ex-Freund von seiner älteren Schwester. Er hat eine Website, über die man ihn buchen kann, und ich hab gehört, dass Tremaine dafür auf seinen Gigs Fotos macht. Also gegen Bezahlung. (Klar. Warum sollte er den Ex seiner Schwester sonst mit der Kamera stalken?)

Ich schaue noch mal kurz auf seine ultraweißen Jordans, dann schließe ich auch die Augen und lehne den Kopf an den U-Bahn-Netzplan hinter mir. Was eigentlich voll der Frevel ist, weil mein Haarschnitt erst ein paar Stunden alt und ein verdammtes Kunstwerk ist. Ich bin fast versucht, mir mit meiner Handytaschenlampe auf den Kopf zu leuchten, damit die Leute würdigen können, was mein Friseur für Wunder vollbringt.

Stattdessen versuche ich meine Atmung dem Rhythmus anzupassen, den ich gerade bei Tremaine beobachtet habe.

Durch die Nase ein, durch den Mund aus.

Vor meinem inneren Auge sehe ich nur seine weißen Sneakers.

Irgendwann werde ich Farbe bekennen müssen.

Jetzt sind es schon zwölf Minuten.

Das vorhin war gelogen.