Whiteout – Liebe lässt die Herzen schmelzen - Dhonielle Clayton - E-Book

Whiteout – Liebe lässt die Herzen schmelzen E-Book

Dhonielle Clayton

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Beschreibung

Ein Schneesturm. Die längste Nacht des Jahres. Und sechsmal die Chance, die Liebe zu finden.

Stevie hat Mist gebaut – riesigen Mist. Und ihre (Noch-)Freundin Sola hat ihr ein Ultimatum gestellt: Entweder Stevie erklärt ihr bis 24 Uhr, wie es dazu kommen konnte, oder es ist aus. Stevie ist verzweifelt, aber hat einen Plan und die besten Freunde aller Zeiten auf ihrer Seite. Wäre da nur nicht der größte Schneesturm, den Atlanta je gesehen hat. Der sorgt dafür, dass Kaz mit seiner heimlichen Liebe in einer Mall eingeschneit wird und Evan-Rose mit ihrer Freundin am Flughafen festsitzt und sich einer unangenehmen Wahrheit stellen muss. Jordyns Gefühle kommen bei einer Schneeballschlacht auf der Autobahn ans Licht, Musikerin Jimi trifft unverhofft ihre erste große Liebe auf der Straße wieder und das frisch getrennte Paar Ava und Mason legt im Aquarium die Karten auf den Tisch. Können sie gemeinsam Stevies und Solas Liebe retten – und dabei die eigene finden?

Sechs herzerwärmende und berührende Liebesgeschichten – so einzigartig und glitzernd wie Schneeflocken! Erzählt von den sechs Schwarzen YA-Bestsellerautorinnen von »Blackout«!

Alle Bände der Blackout-Reihe:
Blackout – Liebe leuchtet auch im Dunkeln
Whiteout – Liebe lässt die Herzen schmelzen

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Seitenzahl: 372

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  Dhonielle Clayton

Tiffany D. Jackson

Nic Stone  

Angie Thomas

Ashley Woodfolk

  Nicola Yoon

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Galić

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 by Dhonielle Clayton

The stories in this book were individually written by Dhonielle Clayton, Tiffany D. Jackson, Nic Stone, Angela Thomas, Ashley Woodfolk and Nicola Yoon.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel »Whiteout« bei Quill Tree Books, an imprint of

HarperCollins Publishers, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Galić

Lektorat: Stefanie Rahnfeld

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags (Cover design © HarperCollinsPublishers Ltd 2022

Cover illustration © Uzo Njoku)

sh · Herstellung: AJ

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-27757-4V001

www.cbj-verlag.de

Für alle jungen Schwarzen Menschen, ganz egal, wo Ihr seid: Eure Freude und Eure Liebe wärmen die Herzen dieser Welt. Wir sehen Euch noch immer.

WEATHER.COM REPORT

ATLANTA

2˚C/-8˚C

Sonderwettermeldung, gültig bis 00:00 Uhr EST

Herausgegeben vom National Weather Service, Atlanta, GA

Betroffene verwaltungsbezirke

Cherokee, Clayton, Cobb, DeKalb, Douglas, Fayette, Forsyth, Fulton, Gwinnett, Henry und Rockdale

Entlang der Ostküste zieht ein immer stärker werdender Wintersturm historischen Ausmaßes heran, der von Jacksonville (Florida) bis nach Washington D. C. für rekordbrechende Schneemengen sorgen wird. Für die Küsten von Savannah (Georgia) bis Wilmington (North Carolina) wird eine Hochwasserwarnung ausgegeben. Die Windstärke kann bis zu 120 km/h erreichen. In breiten Teilen der Südstaaten können bis zu 20 cm Schnee fallen, wodurch in den betroffenen vier Bundesstaaten mit Ausnahmezuständen gerechnet werden muss.

Heftiger Schneefall und starker Wind haben bereits an mehreren Orten Whiteout-ähnliche Bedingungen ausgelöst. Die Behörden rufen die Einwohner dazu auf, nach Möglichkeit in ihren Häusern zu bleiben. Auf den Straßen besteht stark erhöhte Glatteisgefahr. Alle Flüge vom Hartsfield-Jackson Atlanta International Airport wurden gestrichen.

Die Sturmwarnung gilt von 15:00 Uhr bis 00:00 Uhr.

EINS: STEVIE

EINS

STEVIE

Morningside – Lenox Park, 15:01 Uhr

Dieser schreckliche Abend hätte auch ganz anders verlaufen können und die Möglichkeiten dafür sind unendlich.

Manche Quantentheoretiker glauben, dass es uns dort draußen noch mal gibt. Dass es mich noch mal gibt. Dass unser Universum so richtig, richtig groß ist – unendlich groß – und Materie sich deshalb nur so und so oft anordnen und neu anordnen kann, sodass sich irgendwann zwangsläufig alles wiederholen muss.

Es gibt also noch eine andere Version von dieser Realität, die parallel existiert. Eine andere Version von mir. Von euch. Eine andere Version von den Menschen, die wir lieben. Eine andere Konsequenz aus all den Fehlern, die wir gemacht haben … in einer anderen Version von diesem Universum, als wären wir nur ein Satz Karten, der immer wieder neu gemischt wird und allein den Gesetzen der Zahlen unterliegt.

Ich muss es wissen. Mit Naturwissenschaften kenne ich mich aus. Mein Notendurchschnitt schlägt alle Rekorde an der Marsha P. Johnson Magnet (oder MPJM, wie wir sie nennen). Ich hätte schon in der Neunten meinen Highschool-Abschluss machen können, entschied mich aber zu bleiben, weil …

Egal. Zurück zum Ausgangspunkt. Dieser schreckliche Abend hätte auch ganz anders verlaufen können und die Möglichkeiten dafür sind unendlich.

Angenommen, ich wäre an diesem Sonntagnachmittag nicht so in mein Experiment vertieft gewesen und hätte das Labor nicht so spät verlassen – voller Kalziumsulfat, nach Essigsäure stinkend, die langen Dreads total verheddert, die Hände von überlaufenden Messzylindern mit grünen Flecken übersät.

Angenommen, ich hätte mir die Zeit genommen, die es braucht, um wie eine Person auszusehen, mit der man gern zusammen ist. Die es wert ist, geliebt zu werden, statt so eine überängstliche Katastrophe zu sein. Und angenommen, diese Ängstlichkeit hätte mich bei dem Versuch, mich runterzufahren, nicht dazu getrieben, die verhängnisvollste Entscheidung meines Lebens zu treffen. Ich kann noch nicht mal richtig an das, was ich getan habe, denken.

Noch nicht mal an den Abend, bevor es passiert ist: Angenommen, ich hätte den Samstag nicht damit verschwendet, meiner Freundin, Ex-Freundin, meiner Hoffentlich-immer-noch-Freundin Sola meine Grafiken, computeranimierten Gehirnmodelle, chemischen Gleichungen und Untersuchungsergebnisse für mein Forschungsprojekt über Liebe zu zeigen, das ich gerade für meinen AP-Kurs in Chemie vorbereite. Darin stelle ich die Hypothese auf, dass Liebe lediglich eine biologische Reaktion im menschlichen Gehirn ist, um das Überleben der Bevölkerung zu sichern … ist Liebe also überhaupt relevant?

Angenommen, ich hätte keinen Vortrag über meine Hypothese gehalten, wäre nicht so detailliert auf meine Forschungsergebnisse eingegangen, die belegen, dass Liebe in unserer Gesellschaft völlig überbewertet und in den meisten Fällen dazu benutzt wird, die Leute glauben zu machen, eine Partnerin oder einen Partner zu haben wäre so eine Art Glanzleistung.

Die klügste Person auf der Welt zu sein … das ist bemerkenswert.

Krebs zu heilen … Pandemien zu stoppen … das verdient Hochachtung.

Bibliotheken in Communitys zu bauen, die keine haben … so was kann sich sehen lassen.

Aber eine Beziehung zu haben? Das ist keinen Pokal oder ein goldenes Abzeichen wert … oder?

Angenommen, mein Experiment hätte unsere Beziehung nicht für unbedeutend erklärt.

Zurück zu dem fraglichen grauenhaften Sonntag: Angenommen, ich wäre nicht so angespannt gewesen, so erpicht darauf, Eindruck zu machen, angenommen, ich hätte nicht damit angegeben, die klügste Person an der Schule zu sein und auf das College meiner Wahl gehen zu können; jedes von ihrer Mutter zubereitete nigerianische Gericht bestimmen und korrekt aussprechen zu können, obwohl ich keinen nigerianischen Background habe; so perfekt sein zu können, dass Solas Eltern und Tanten und Onkel und Cousinen und Cousins mich mögen akzeptieren würden. Uns akzeptieren würden.

Unsere Liebe akzeptieren würden.

Wenn ich nicht so viel geredet hätte.

Wenn ich nicht so eine aufgeblasene Idiotin gewesen wäre.

Wenn ich nicht diesen Weg nach Hause gefahren wäre.

Vielleicht wäre in einem Paralleluniversum wie dem, über das die Quantentheoretiker Theorien aufstellen, diese andere Version von mir weniger ungeschickt, weniger nervös, hätte nicht so ein starkes Bedürfnis, alles wissen zu wollen, um sich mit der Realität verbunden zu fühlen, und vielleicht hätte diese Version von mir vor drei Tagen nicht ihre Beziehung kaputt gemacht. Vielleicht wären die Karten dort anders gemischt worden. Mit dem Ergebnis, dass ich nicht mein Leben an die Wand gefahren hätte.

Es klopft an meine Zimmertür. »Was … ich meine, ja?«

Die Tür öffnet sich knarzend. Pop füllt den Türrahmen aus, die melassefarbene Stirn gefurcht wie die Ingwerkekse, die Tante Lisa gestern anlässlich der Feiertage vorbeigebracht hat.

»Ich hole deine Mom vom Aquarium ab, damit wir in der Lenox Mall die Weihnachtseinkäufe erledigen können.« Pop schaut sich in meinem Zimmer um, und die Krümmung seiner Mundwinkel signalisiert, dass er mit dessen derzeitigen Zustand nicht glücklich ist. In dem Zimmer seines einst so ordentlichen und wohlerzogenen Kindes hätte nie ein solches Chaos geherrscht. Zukünftige Wissenschaftler:innen sind nie chaotisch.

»Erstens ist es unnötig, ›Mall‹ zu sagen, Pop«, korrigiere ich ihn, den Blick auf das Protokollbuch in meinem Schoß geheftet. »Lenox Mall ist zwar die korrekte Bezeichnung, umgangssprachlich reicht aber Lenox. Zweitens solltest du nicht Weihnachtseinkäufe sagen, weil jetzt gerade auch andere Feiertage sind und diesen Monat noch ein paar mehr dazukommen. Das ist exkludierendes Denken.«

Pop seufzt. »Sei nicht so streng mit mir, mein Mädchen.«

Ich schaue ruckartig auf. Pop weiß genau, wie sehr mich dieses Wort stört. Wie stark ich mich gerade davon eingeschränkt fühle. Wie hart ich daran arbeite, diese Dinge für mich herauszufinden. Ich habe es ihm gesagt. »Nenn mich nicht so.«

Er hebt entschuldigend die Hände. »Sorry. Ich kann mir deine ganzen neuen Regeln einfach nicht merken.«

»Die sind nicht neu, Pop.«

»Na ja, ich versuche immer noch, daraus schlau zu werden«, sagt er.

»Genau wie ich.« Es kommt mir so vor, als würde sich gerade alles verändern, was ich über mich zu wissen glaubte, über Sola, über meine Experimente, über die Welt.

Pop gibt ein leises Schnalzen von sich. »Hör zu, ich wollte dich nur daran erinnern, dass du immer noch unter Hausarrest stehst.«

»Das habe ich nicht vergessen.«

»Das bedeutet auch – keinen Besuch.«

Ich schaue wieder auf mein Protokollbuch. »Sie will mich nicht sehen, in dem Punkt gibt es also keinen Grund zur Sorge«, sage ich. »Ich habe ziemlich sicher alles kaputt gemacht, und da keiner von euch mir mein Handy zurückgeben will, kann ich noch nicht mal was dagegen unternehmen.«

Er seufzt und hält dann seinen Vortrag über die Konsequenzen, die das eigene Handeln nach sich zieht, blablabla, voll im Reverend-Josiah-Williams-Modus. »Und du setzt keinen Fuß vor die Tür dieses Hauses.« Er räuspert sich, wie er es immer tut, bevor er besonders streng werden muss. »Kann sein, dass ich zwischendurch anrufe, um nach dir zu hören. Du solltest also besser ans Festnetztelefon gehen.«

»Ich weiß.«

»Tatsächlich?« Pop kommt ein paar Schritte in den Raum. »In letzter Zeit habe ich nämlich das Gefühl, als wäre alles, von dem ich dachte, du würdest es wissen, alles, was ich dir beigebracht habe, zum Fenster rausgeflogen … und du benimmst dich, als hättest du komplett den Verstand verloren. Wo ist mein brillantes Mädchen?«

Ich ducke mich noch tiefer in meine Fensterecke und schaue nach draußen. Aus dem puderweißen Himmel wirbelt Schnee in unseren Vordergarten hinunter. »Kein Schneekristall gleicht dem anderen. Wusstest du das?« Aber es gibt kein Entrinnen vor seinem Monolog über meine derzeitigen moralischen Verfehlungen und sein Befremden darüber, dass sein Vorzeigekind, sein einziges Kind, es so dermaßen vermasseln konnte. Er zitiert ein paar Bibelstellen, die mir zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgehen, und ich wünschte, ich könnte ihn daran erinnern, dass wir nicht in seiner Megakirche sind und er nicht auf der Kanzel steht. Dass eine Strafpredigt darüber, »meine Eltern zu respektieren« und »dem Beispiel der Älteren zu folgen« das Letzte ist, was ich brauche. Zu schade, dass er mir nicht sagen kann, was man tun soll, wenn man den schlimmsten Fehler seines Lebens gemacht und jemanden verletzt hat, den man liebt.

»Manche sind plättchenförmig und dendritisch. Man nennt sie Skelettkristalle.«

»Erzählst du mir gerade ernsthaft etwas über Schneeflocken, Stevie? Hast du auch nur irgendwas von dem, was ich gerade zu dir gesagt habe, mitbekommen?«

»Ich rede von Schneekristallen. Das Wort Schneeflocke ist eher ein Sammelbegriff. Damit könnte ein einzelner Schneekristall gemeint sein oder mehrere aneinanderklebende.«

»Stephanie Camilla Williams!« Pops Stimme klettert in die warnende Tiefe hinab, wie sie es immer dann tut, wenn ein Schwarzer Vater den vollen Namen seines Kindes sagt, damit es weiß, dass es gerade dabei ist, eine Grenze zu überschreiten.

»Ich heiße Stevie«, brumme ich, womit die Grenze eindeutig überschritten wäre.

»Stevie.« (Pop kann es nicht leiden, mich so zu nennen, nimmt es aber hin, weil er weiß, dass ich ihn sonst einfach immer weiter korrigiere.)

»Was denn? Es hat gerade angefangen zu schneien, und ich dachte, es wäre gut, wenn du Bescheid weißt, damit du vorsichtig fährst. Der ganze kondensierte Wasserdampf, der aus diesen Wolken kommt«, ich zeige aus dem Fenster, »könnte auf den Straßen zu gefährlichen Bedingungen führen. Statistisch betrachtet, bauen bei so einer Wetterlage durchschnittlich sechs Komma sieben Kraftfahrzeuge einen Unfall.«

»Na, dann sei froh, dass du nicht mitkommst.« Pop zwinkert mir zu, und bevor ich protestieren kann, beugt er sich blitzschnell vor und küsst mich auf die Stirn. Ich werde einen ordentlichen Schwall Endorphine brauchen, um das durchzustehen, was ich heute Abend tun muss. »Versuche bitte, unser perfektes Mäd… ich meine, Kind zu sein«, sagt er und verlässt mein Zimmer.

Mir liegt auf der Zunge, dass ich kein Kind mehr bin. Dass ich fast siebzehn bin, aber das würde für ihn nichts ändern. Ich werde selbst mit vierzig noch ein Kind sein, weil er der »Ältere« ist.

Ich schaue wieder aus dem Fenster und beobachte, wie Pops Wagen aus der Garage rollt, aus der Einfahrt biegt und einen Moment später die Straße runter verschwindet.

Ich seufze und blättere durch mein Protokollbuch, gehe alle Experimente durch, die ich gemacht habe. Die gescheiterten, die abenteuerlichen, die komplizierten, die preisgekrönten.

Ich kann nicht aufhören, immer wieder zu dem zu blättern, das meine Beziehung in die Luft gejagt hat. Ich starre es an und es starrt zurück. Das Experiment, das mich so stolz und glücklich gemacht hat, das mir ein A+ eingebracht hat. Das einen Streit entzündet hat, der auf den Abend abfärbte, der einer der bedeutsamsten in meiner Beziehungsgeschichte mit Sola sein sollte – der Abend, an dem ich endlich ihre Familie kennenlernen würde, nicht bloß als ihre beste Freundin … sondern als ihre feste Freundin.

Datum: 8.9.

TITELDESEXPERIMENTS:LIEBESKRANK, DIEOXYTOCIN-OBSESSION

FORSCHUNGSFRAGE: Was ist die Biochemie heutiger Teenager-Liebe?

Ich starre auf meine Datentabellen, die Speichelprobenauswertungen und Oxytocinmesswerte enthalten. Daten, die meine Theorie stützen: Jugendliche, die behaupten, »verliebt« zu sein, weisen denselben Oxytocinwert auf wie Personen, die von Partydrogen abhängig sind. Vielleicht würden wir jetzt nicht in dieser Scheiße sitzen, wenn ich mich nicht ausgerechnet für dieses Experiment entschieden oder Sola erst gar nichts darüber erzählt hätte. Vielleicht würde ich nicht in dieser Scheiße sitzen. Aber ich habe ihr alles erzählt. Weil ich ihr immer alles erzähle.

Ich klappe das Buch zu, gehe zu meinem Schreibtisch, nehme den winzigen Lego-Blumenstrauß, den ich immer dort stehen habe, und drücke in der Hoffnung darauf herum, meinen Herzschlag damit zu beruhigen. Ich tippe auf den Schalter hinter dem Schreibtisch, und die automatischen Rollos, die ich entlang der linken Wand angebracht habe, fahren nach oben. Statt eines Fensters enthüllen sie eine Karte von meinem Leben, die sich auf einem Stück alter Tapete ausbreitet wie eine komplizierte mathematische Gleichung.

Wäre das Leben doch nur so einfach wie ein chemisches Experiment. Man wählt die richtigen Reaktionspartner aus und verbindet sie auf die richtige Weise miteinander, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Chemie vereinfacht die Dinge. Wenn man weiß, wie sich die Elemente verhalten, kann man das Resultat vorhersagen. Et voilà: Niemand wird verletzt oder angekokelt … frustriert oder enttäuscht.

Die Reise auf der Karte meines Lebens beginnt mit Babyfotos von mir, gefolgt von sämtlichen Zeitungsartikeln über meinen Einstein-mäßigen IQ und meine wissenschaftlichen Experimente, deren Überschriften das Kind feiern, das als jüngstes aller Zeiten den Weltrekord im Kopfrechnen bricht. Dann sind da noch Artikel über meinen Wunsch, Biochemikerin zu werden, meine Medaillensammlung und peinliche Fotos von mir mit berühmten Wissenschaftler:innen und Politiker:innen, die ganz aus dem Häuschen darüber sind, was für eine kluge kleine Person ich doch bin. Das alles war vor der sechsten Klasse … bevor ich Sola kennenlernte.

Mit ihr hat sich alles verändert. Was man auch daran sehen kann, wie viel Platz sie auf dieser Karte einnimmt. Von ihr gibt es ebenfalls ein Kinderfoto, direkt neben einem von meinen, auf dem ich einen Pokal hochhalte, den ich auf der Wissenschaftsmesse in der Middleschool gewonnen habe. Ich betrachte ihr Klein-Mädchen-Gesicht. Runde Pausbacken, Perlen in den Braids, die ihr bis zu den Schultern reichen.

Fast kann ich hören, wie sie jedes Mal, wenn sie neugierig den Kopf gedreht hat, klick-klack machten.

An ihrem ersten Tag in der sechsten Klasse war Sola von der Schulsekretärin Ms Townsend in das Klassenzimmer von Mr Ringler gebracht worden. Die Vorstellungsrunde wurde von dem Klick-Klack begleitet. Ihre dunkelbraune Haut leuchtete so sehr, dass meine Mama gesagt hätte, sie würde wie frisch gebrannte Pekannüsse aussehen. Und Sola lächelte so breit, dass meine Wangen vor lauter Mit-Lächeln wehtaten.

Ich weiß noch, dass ich neidisch war. Auf ihre Fähigkeit, in einen Raum voller Menschen zu kommen, die sie nicht kannte, und einfach zu lächeln. Und wir sprechen hier nicht von einem normalen, verlegenen Lächeln … nein, wir sprechen von einem Lächeln, das total glücklich ist, als fände sie es wahnsinnig spannend, die Neue zu sein, oder als hätte sie das Gefühl, dass hier gerade ein fabelhaftes neues Abenteuer für sie beginnen würde. Sie hatte keine Angst, dass jemand sie peinlich finden könnte.

Ich habe viel Zeit damit verbracht, dafür zu sorgen, dass andere Leute nicht wissen, wie ich mich fühle. Ich konnte wütend sein oder traurig oder frustriert oder sogar glücklich, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Ich hatte jeden einzelnen meiner Gesichtsmuskeln unter Kontrolle. Aber Sola erlaubte ihren Gefühlen, nach draußen zu schimmern.

Sie setzte sich neben mich, füllte den leeren Platz neben mir an unserem Zweierpult aus. Ich versuchte sie zu ignorieren und beschäftigte mich mit den Arbeitsblättern von Mr Ringler oder spielte mit den Lego-Steinen, die ich in dem Fach unter meiner Seite des Pults versteckte. Vielleicht würde sie aufhören, immer wieder zu mir rüberzuschauen, wenn ich keinen Blickkontakt zu ihr aufnahm.

»Hey«, flüsterte sie. »Schau mal …«

Ich tat so, als würde ich nichts hören, aber dann tauchte ein kleines Papierzelt vor mir auf. Meine Neugier war stärker als ich, ich faltete es auf. Es waren ein Weingummiwurm darin und eine Geschichte über sein tückisches Leben als Einbrecherwurm. Ich musste kichern, und als ich aufschaute, waren ihre ausdrucksstarken (und wunderschönen) braunen Augen direkt auf mich gerichtet.

Sie lächelte ihr sonniges Lächeln. »Wir werden beste Freundinnen werden. Das weiß ich.« Ihre Stimme war sicher, ihr Tonfall prophetisch.

»Woher weißt du das?« Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden.

Sie schob noch einen Wurm in meine Richtung. »Weil du über meine Geschichte gelacht hast. Das bedeutet, dass du verstehst, wie ich bin. Und ich wusste, dass sie dir gefällt, was bedeutet, dass ich verstehe, wie du bist.«

Ich versuchte, nicht zu lächeln, und tat so, als würde ich mich auf Mr Ringlers Bruchrechnungen konzentrieren (obwohl ich schon wusste, wie sie zu lösen waren). Während sie den Matheunterricht komplett ignorierte und eifrig in ihr Notizbuch schrieb – weitere Geschichten über den Einbrecherwurm, wie ich vermutete –, machte ich aus Lego-Blumen einen winzigen Strauß und legte ihn in ihr Fach unter dem Pult, als sie in der Pause zur Toilette ging. Ich wartete den ganzen restlichen Tag darauf, dass sie ihn entdeckte, und als es so weit war, strahlte sie, als hätte ich ihr eine Million Dollar geschenkt. In diesem Moment wusste ich: Ich wollte dafür sorgen, dass sie für immer so lächelte.

Jetzt lege ich meinen eigenen Lego-Strauß auf meinen Schreibtisch zurück. Über die Jahre hinweg habe ich Dutzende davon gemacht, habe sie in Solas Schließfach oder auf das Armaturenbrett ihres Wagens gelegt oder in ihre Tasche geschmuggelt. Ein winziges Zeichen, um sie daran zu erinnern, dass ich sie liebe und in Gedanken immer bei ihr bin, auch wenn ich still werde und mich in meiner Arbeit verliere und die Worte nicht aussprechen kann.

Ich streiche mit den Fingern über die Karte an der Wand und seufze, verfolge Solas Spur, die fast jeden Meilenstein meiner Reise kreuzt. Wahrscheinlich hätte sie schon von Geburt an hier sein sollen. Überall sind Fotos von ihr – von uns: wie wir nach der Schule zusammen abhängen, während ich gemeinsam mit Kaz, der auch in unserer Klasse war, Nachhilfe in Mathe, Chemie und Physik gebe; wie wir uns während der Predigten meines Dads mit Porsha in den Seitenflügeln seiner Kirche verstecken; wie wir in der ganzen Stadt Gigs besuchen, auf denen Jimi singt; wie wir für Evan-Rose altmodische Carepakete packen und in ihr nobles Internat schicken (wo Sola und ich im Ferienlager waren und auf das wir auch fast gegangen wären); wie wir beide mit Ava im Aquarium sind und zum größten Salzwasser-Fischbecken der USA hochstarren, während meine Mom in ihrem Büro trockenen Fisch-Logistik-Kram erledigt.

Ich bewege mich auf der Lebenskarte weiter nach unten zu meinem wertvollsten Abschnitt, dem mit der Überschrift: DIEZUKUNFT.

Alle meineunsere Pläne, die mir jetzt wie ein Traum vorkommen, der kurz davor ist, sich in Luft aufzulösen.

Howard University nach dem Highschool-Abschluss.

Eine gemeinsame Wohnung in D. C.

Ein Gap Year nach dem Studium, um gemeinsam die Welt zu bereisen.

Ein Job in einem Labor oder einem großen Pharmaunternehmen, damit ich so viel verdiene, dass sie zu Hause bleiben kann, um Liebesromane zu schreiben und eine Bestsellerautorin zu werden.

Heirat.

Drei Kinder.

Lebenslange Liebe.

Ewiges Glück.

In meiner Brust wächst eine mit Angst gefüllte Blase. Ich greife nach meinem Protokollbuch und presse es an mich, in der Hoffnung, dass es die Blase zum Platzen bringt. »Du musst das wieder geradebiegen, Stevie«, sage ich laut zu mir selbst.

Ich schlage das Buch wieder auf und nehme die Elemente meines neuesten Experiments unter die Lupe. Es ist die wichtigste Theorie, die ich je überprüfen werde.

TITELDESEXPERIMENTS:MASTERPLANZURBEWÄLTIGUNGDERULTIMATIVENKRISE

FORSCHUNGSFRAGE: Kann man jemanden dazu bringen, einem zu verzeihen und einen wieder zu lieben?

HYPOTHESE: Wenn Stevie die richtigen romantischen Elemente miteinander verbindet, um die perfekte romantische Geste zu erzeugen, dann kann Solas Herz zurückerobert werden.

Ich gehe den mehrstufigen Plan noch einmal durch, zähle alle Leute auf, denen ich schon geschrieben habe, alle Gefälligkeiten, die ich angefragt habe, alle Komponenten dieses Experiments, die gelingen müssen, damit ich zu meinem gewünschten Ergebnis komme. Die wichtigste und gewagteste Pseudo-Reaktionsgleichung meines Lebens. Die einzige Möglichkeit, all das wiedergutzumachen, was diese Version von mir in dieser Version des Universums getan hat.

Ich laufe in Moms Arbeitszimmer im vorderen Bereich des Hauses, um mein Handy aus dem Safe zu holen. Sie denkt, dass ich den Code nicht kenne, aber wie die meisten Menschen benutzt Mom numerische Passwörter: Zahlenfolgen, die eine persönliche Bedeutung haben, um sie sich leichter merken zu können. Für fünfstellige Codes benutzt sie die Hausnummer der Straße, in der sie aufgewachsen ist – 52404. Die PIN ihrer Bankkarte besteht aus den letzten vier Ziffern ihrer Handynummer: 9860. Die acht Ziffern für ihr Mobiltelefon? Der Hochzeitstag von ihr und Pop: 22101995. Und dieser Safe? Mein Geburtstag: 3012.

Ich tippe die Zahlen ein, und es ertönt ein befriedigendes Pling, als das Schloss entriegelt wird.

Natürlich ist der Akku leer. Ich hänge das Handy ans Ladekabel und lasse mich in Moms abgewetzten Bürosessel sinken, spüre die Kerben im Leder, die von den vielen Stunden zeugen, die sie nach ihrem eigentlichen Feierabend im Georgia Aquarium noch hier gesessen hat, um liegen gebliebene Arbeit zu erledigen.

Mein Herz pocht dumpf, während ich darauf warte, dass mein Handy wieder zum Leben erwacht. Moms Schreibtisch ist mit Papierkram übersät – Vorstandssitzungsprotokolle, Recherchen zur Mondqualle. Vielleicht sind Meeresbiologinnen chaotischer als Biochemikerinnen … aber ich bin wohl gerade nicht in der Position, mir ein Urteil darüber zu erlauben. Von Ordnung kann in meinem Zimmer nicht wirklich die Rede sein.

Das Handy leuchtet auf und das Display füllt sich mit Social-Media-Benachrichtigungen, E-Mail-Vorschauen und Erinnerungen. Und mit Nachrichten von Sola. Eine nach der anderen. Wütende Einzeiler. Traurige und enttäuschte Textblöcke. Alles, was sich in den letzten Tagen angesammelt hat.

SOLA

Ich kann nicht fassen, dass du das gemacht hast.

Ich liege nachts wach und spiele das Ganze immer wieder durch. Angefangen bei deinem bescheuerten »Experiment«, das unsere Gefühle füreinander praktisch für bedeutungslos erklärt hat, bis zu dem Abendessen mit meiner Familie, das du gesprengt hast. Dem alles entscheidenden Abendessen. Das unser großer Moment werden sollte. Kaputt gemacht an nur einem einzigen Wochenende.

Und du schreibst mir noch nicht mal zurück! DREITAGE ist das jetzt her und von dir kommt NICHTS!

Glaubst du überhaupt an Liebe? Liebst du MICH?

Wie konntest du nur?

UNSEREBEZIEHUNGISTKEINEXPERIMENT!

Die letzte lange Nachricht ist von heute Morgen:

Okay, weißt du was? Da du anscheinend nur auf deine geliebten Deadlines und Daten und klare Erwartungen anspringst, gebe ich dir genau das. Wenn ich bis Mitternacht nichts von dir gehört habe, ist es aus. Du schuldest mir eine Erklärung, Stevie. Was zum Henker war los mit dir? Warum hast du dich vor meiner Familie so verhalten? Und komm mir nicht mit irgendwelchem wissenschaftlichen Bullshit. Ich will spüren, dass du kein Roboter bist. Dass du etwas fühlst. Irgendwas. Wenn du mir das nicht zeigen kannst, ruf mich bitte nie wieder an. Oder noch besser – vergiss einfach, dass du mich je gekannt hast. Gibt mit Sicherheit irgendein biochemisches Verfahren dafür …

Meine Sicht verschwimmt und die Worte auf dem Display zerfließen in alle Richtungen. Das Herz wird mir so schwer, dass es wie ein Betonklotz in meiner Brust liegt. Die Dinge, die Sola gesagt hat, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hallen durch meinen Kopf, als würde sie vor mir stehen und mich anschreien.

»Glaubst du überhaupt an Liebe?«

»Wie konntest du mich denn lieben, wenn das alles bloß irgendwelche chemischen Prozesse sind?«

»Ist unsere Beziehung eine einzige Lüge?«

Ich rufe sie an.

Mailbox.

Ich versuche es noch mal.

Und noch mal.

Nichts.

Ich stehe auf. Laufe auf und ab. Sie denkt, ich hätte sie drei Tage lang links liegen gelassen. Sie hat keine Ahnung, dass ich Hausarrest habe und meine Eltern mein Handy und meinen Laptop konfisziert und jeden meiner Schritte überwacht haben. Alles wird sich klären, sobald sie den Grund für mein Schweigen erfährt. Ihre Wut wird sich legen. Am Ende siegt die Vernunft … sagt man das nicht so? Sie sollte eigentlich wissen, dass ich sie niemals ignorieren würde.

Ich hinterlasse ihr auf sämtlichen Kanälen eine Nachricht. Dann öffne ich meine E-Mail-App – die sich nicht synchronisiert (typisch). Also hole ich auch noch meinen Laptop aus Moms Safe und fahre ihn hoch. Die Ordner werden geladen und sprenkeln wie Sommersprossen mein Hintergrundbild von Sola. Um ihre wunderschönen Haare ist ein prächtiger Gele gewickelt, den ihre Mutter gemacht hat. Das schimmernde Pfauenblau und die satten Orangetöne des Stoffs bringen ihre tiefbraune Haut zum Leuchten.

Ich schicke ihr eine Mail. Dann checke ich noch einmal die Social-Media-Accounts.

Mein Computer plingt.

Delivery status notification (failure)

Hat sie ihr E-Mail-Konto gelöscht? Oder ist das irgendeine böse Blocker-Software? Bin ich blockiert? Würde sie so was machen? Kann sie so was machen?

Ich rufe sie noch mal an.

Wieder nur die Mailbox. Warum ist ihr Handy aus? Sie kann doch wegen mir keinen Stress gekriegt haben, oder? Ich erinnere mich, dass sie mal gesagt hat, ihre Eltern würden nicht an Hausarrest glauben.

Mit angehaltenem Atem wähle ich die Nummer von ihrem Festnetzanschluss. Das Freizeichen ertönt, und ich bekomme keinen Ton heraus, als ihre Mutter drangeht.

»Hallo?« Mrs Olayinkas starker nigerianischer Akzent brandet durch die Leitung. »Hallo?«

Ich räuspere mich. Schweiß läuft meinen Rücken hinunter. Ich zupfe an meinem Sweater. Knisternde Stille breitet sich zwischen uns aus.

»Soll das vielleicht ein Telefonstreich sein?«, blafft sie.

»Hi, Mrs Ola… Mrs Olayinka.« Ich schlucke.

»Wer ist da?«

Ich beende die Verbindung und vergrabe den Kopf in den Händen. »Reiß dich zusammen, Stevie«, ermahne ich mich. »Das ganze Cortisol, das du ausschüttest, lässt deinen präfrontalen Cortex schrumpfen. Und den brauchst du, um die beste Biochemikerin der Welt zu werden. Du musst dich beruhigen.«

Ich beuge den Kopf zwischen die Knie und atme dreimal tief ein und aus. Ich kann die ganze Sache wieder in Ordnung bringen. Der Plan, den ich vor drei Tagen entworfen habe, ist hinfällig, weil es niemals klappen wird, all die Gefallen, die ich eingefordert habe, bis zu Solas Mitternacht-Deadline zusammenzubringen. (Mitternacht! Will sie mich zerstören?) Ich muss mir etwas Neues einfallen lassen – und zwar schnell.

Ich checke noch mal sämtliche Apps. Sola hat auf keine meiner Nachrichten reagiert.

Ich renne wieder nach oben in mein Zimmer und starre auf meine Lebenskarte. Auf unsere gemeinsame Geschichte. Da ist ein Foto von dem Feuerwerk, das wir uns letztes Jahr am 4. Juli zusammen angeschaut haben, und ein anderes, auf dem wir im Stadion sind und uns meinem Vater zuliebe ein Footballspiel antun (dieser Sport ist so brutal). Das Einzige, was die Sache halbwegs erträglich gemacht hat, war »Wer sitzt in diesem Flugzeug?« – unser eigenes Spiel, bei dem wir die Flugzeuge gezählt haben, die wir durch die kreisrunde Öffnung im Dach des Mercedes-Benz-Stadions über uns vorbeiziehen sehen konnten, und uns Geschichten zu den Passagieren ausgedacht haben.

Und dann weiß ich plötzlich, was ich tun könnte. Was ich tun muss.

Ich scrolle durch meine Kontakte, bis ich Ernest gefunden habe, den älteren Bruder von Evan-Rose, meiner anderen besten Freundin. Er ist der Einzige, der mit jetzt helfen kann.

STEVIE

Mayday, Mayday! SOS, Ern!

ERN

Little Stevie, du verrücktes Huhn. Was ist los?

Hey, so little bin ich gar nicht mehr. Und ich brauche deine Hilfe bei einer Sache, bei der es für mich praktisch um Leben oder Tod geht.

Leben oder Tod, ja? Dass ihr jungen Leute immer gleich so dramatisch werden müsst. Sag einfach, worum’s geht, und dann schauen wir weiter.

Gut möglich, dass du mich für … ähm … unverschämt halten wirst. Es geht um einen MONSTER-Gefallen. E.R. hat erzählt, dass du zurzeit einen Job im Stadion hast, bei dem du ein Topsecret-Projekt für ein Promi-Paar umsetzt.

Äh … meine Schwester ist eine Plappertante, aber yep. Geht um den bombastischen Heiratsantrag einer berühmten Person. Mehr sag ich dazu nicht.

Kann ich … dabei mitmachen?

Wie meinst du das?

Ich ruf dich gleich kurz an und erklär dir alles, bin aber praktisch schon unterwegs.

Okay, cool. Ich muss hier noch ein paar Probedurchläufe machen, aber der Schnee funkt uns immer wieder dazwischen, ich weiß also nicht, wie lange ich noch hier bin. Und Mr Celebrity bringt mein Handy zum Explodieren und will dringend einen Zwischenstand …

Ich lächle und bestelle ein Ryde. Dass Ern bereits exakt dort ist, wo ich ihn brauche, ist hoffentlich ein gutes Zeichen. Nachdem ich ihm erzählt habe, was ich vorhabe, schlage ich mein Protokollbuch auf, nehme ein paar Veränderungen in der Spalte »Verfahrensweise« vor und notiere die neue Variable: Deadline um Mitternacht.

Als die Idee in meinem Kopf immer deutlicher Gestalt annimmt, weiß ich, dass sie gut ist.

Ich hoffe nur, ich kann die Sache durchziehen. Rechtzeitig.

Sonst verliere ich Sola für immer.

OPERATION: ÜBERRASCHUNGFÜRSOLA

15:42 Uhr

Stevie

Hallo alle! Wie es aussieht, habe ich alles noch viel schlimmer gemacht, weil – Hausarrest und Handy konfisziert. Sola hat mir ein Ultimatum gestellt … das um Mitternacht abläuft. Das heißt, dass ich den ursprünglichen Plan für ihre große Weihnachtsüberraschung aus Zeitgründen verwerfen und etwas anderes machen muss … JETZT. Ihr braucht die Geschenke also nicht mehr zu besorgen.

Trotzdem danke!

Stevie hat die Gruppe verlassen.

Jimi

Warte mal … hat sie gerade …? Steht da im Ernst, dass Stevie die Gruppe VERLASSEN hat? Nachdem sie diese Bombe hat platzen lassen?

E.R.

Genau das steht da. So typisch Stevie. War ja klar, dass sie den Plan über den Haufen wirft, NACHDEM ich bereits Höllenqualen durchgestanden und einen Rauswurf riskiert habe, um dieses verfluchte Ding für sie zu besorgen.

Ava

Das kann Stevie nicht machen. Sie kann den Plan nicht einfach in letzter Minute umwerfen. Oder?

Porsha

Na ja, theoretisch schon, aber … nope. Wenn sie ein Ultimatum gestellt bekommen hat, braucht sie EINDEUTIG unsere Hilfe. Zeit, dass wir uns einen eigenen Plan überlegen. Seid ihr dabei?

Kaz hat die Gruppe inOPERATIONÜBERRASCHUNGFÜRSOLAUNDSTEVIEumbenannt.

OPERATIONÜBERRASCHUNGFÜRSOLAUNDSTEVIE

15:46 Uhr

Jimi

Ich meine, echt jetzt. Wir müssen Stevie beistehen. Sie hat in der Vergangenheit auch schon so viel für UNS getan …

Porsha

Du hast recht. Gott weiß, wie oft Stevie mich in der Kirche schon mit ihren Analysen über die wissenschaftliche Richtigkeit (und Unrichtigkeit) von Bibelversen wach gehalten hat.

15:47 Uhr

E.R.

Stevie ist in meinem ersten Jahr auf dem Internat meine Nabelschnur nach Hause gewesen. Ist immer drangegangen, wenn ich sie angerufen und mich endlos über *meine* Probleme ausgelassen habe. AUSSERDEM verschickt sie die weltbesten Carepakete.

Ava

Total. Wir sind Cousinen, aber auch so was wie Schwestern. Ich weiß, sie ist immer für mich da und ich bin immer für sie da.

Jimi

Stevie und Sola kommen zu jedem meiner Gigs. Auch zu denen, wo sich sonst niemand blicken lässt.

Und die beiden sind das glücklichste Paar, das ich kenne. Okay, meistens.

Kaz

Stimmt. Ich werde es Stevie nie vergessen, wie oft sie mir beim Nachhilfegeben geholfen hat. Ohne sie hätte ich die MPJM nicht überlebt.

Porsha

Dann bleibt es also dabei? Und allen ist klar, worum es hier geht?

Jimi

Yup.

Kaz

Sonnenklar.

Ava

Und ob es dabei bleibt.

E.R.

So was von.

ZWEI: KAZ

ZWEI

KAZ

Lenox Square Mall, 16:35 Uhr

Sieben Stunden und fünfundzwanzig Minuten bis Mitternacht

Die ganze Sache lief schon von Anfang an nicht ganz rund.

»Ich kann’s nicht fassen, dass du uns gezwungen hast, hierherzufahren«, stöhne ich.

Kein vernünftiger Mensch würde vier Tage vor Weihnachten auf die Idee kommen, zur Lenox zu fahren. Wer schon mal den Fehler gemacht hat, so kurz vor diesem hyperkapitalistischen Feiertag shoppen zu gehen, der weiß, dass in der Woche davor sämtliche Einkaufszentren der Welt von raffgierigen, blutdürstigen Konsumenten bevölkert sind, die auf den letzten Drücker Geschenke jagen.

Trotzdem bin ich hier und kurve jetzt bestimmt schon zum zwanzigsten Mal auf der Suche nach einer freien Lücke über den brechend vollen Parkplatz der Lenox. Und neben mir singt meine allerbeste Freundin Porsha Washington zum x-ten Mal Mariah Careys »All I Want for Christmas« mit.

Das Glöckchen an Porshas Weihnachtsmütze bimmelt, als sie lacht. »Ich hab uns zu gar nichts gezwungen. Die Mall ist der einzige Ort, wo wir kriegen, was wir brauchen. Unsere Homie von Jack and Jill of America ist in Not!«

Ich lache. Jack and Jill of America ist eine gemeinnützige Organisation mit dem Ziel, die Lebensqualität von insbesondere afroamerikanischen Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Porshas, Stevies und meine Eltern haben uns dort angemeldet, als wir neun waren, und seitdem haben wir an etlichen Leadership- und Kulturprogrammen teilgenommen (und jede Menge ehrenamtliche Stunden geleistet). Nachdem wir uns also alle einig waren, dass wir Stevie helfen wollen, und Porsha kurze Zeit später in mein Zimmer gestürmt kam und gesagt hat: »Ich weiß jetzt, wo man das kriegt, worum sie mich gebeten hat! Wir müssen sofort zur Lenox«, gab es keinen Grund zu zögern.

Aber dann schaute ich von meinem dreidimensionalen maßstabsgetreuen Modell des Georgia Aquarium auf, warf einen Blick aus dem Fenster und sah die schneebedeckte Einfahrt, die unsere Familien sich teilen.

»Nicht wirklich, oder? Es schneit.«

»Yep«, sagte Porsha. »Und Rita ist der einzige Wagen, der uns heil zur Mall bringen kann. Wir ziehen das jetzt durch. Komm schon, dauert höchstens eine Stunde.«

Also haben wir uns in meinen Pick-up gesetzt, steckten vierundzwanzig Minuten im Stau, obwohl die Mall praktisch um die Ecke von uns liegt, und fahren seitdem auf diesem Parkplatz im Kreis herum. Wenn ich die ganze Sache zu Ende gedacht hätte, hätte ich vorher die Nachrichten gecheckt und gesehen, was hier draußen los ist. Der Schnee hat Atlanta ins Chaos gestürzt. Er liegt mittlerweile ungefähr fünf Zentimeter hoch, und das reicht, um die ganze Stadt lahmzulegen.

Wie schon gesagt: Es lief nicht ganz rund.

Aber nach allem, was Stevie und Sola schon für mich getan haben, bin ich ihnen das hier schuldig. Hält mich trotzdem nicht davon ab, mein Lenkrad mit bloßen Händen zu erwürgen.

»Poah. Wieso kriechen die hier so rum, als hätten sie alle Zeit der Welt?«, sage ich gereizt und weiche einer älteren Frau aus, die sich zwischen den parkenden Autos hindurchschlängelt.

Porsha prustet leise. »Kazeem ist angry.«

»Kazeem ist hungry.«

»Kazeem ist also … hangry?«

Die Fastenzeit ist nie einfach, aber die letzten Tage sind immer am härtesten. Da geht man so richtig auf dem Zahnfleisch. Dad hat während des Ramadans Covid bekommen, weshalb unsere Familie beschlossen hat, mit dem Fasten so lange zu warten, bis er wieder gesund ist, und heute Abend unser eigenes verspätetes Zuckerfest zu feiern. Um mich abzulenken und nicht die ganze Zeit ans Essen zu denken, habe ich an Projekten für meine AP-Kurse gearbeitet, Puzzles zusammengesetzt und 3-D-Modelle gebaut. Das kniffligste Modell, für das es besonders viel Konzentration braucht, habe ich mir für heute aufgehoben, um bis Sonnenuntergang durchzuhalten.

Aber Porsha hat mal wieder dazwischengefunkt und alles über den Haufen geworfen, wie immer.

»Da drüben!«, ruft sie und zeigt auf eine freie Lücke in der nächsten Reihe. Ich trete aufs Gas, schlingere um die Ecke … und verliere den Parkplatz an einen grünen Jeep.

»Ach Mann«, sagt sie düster, dann strahlt sie plötzlich wieder. »Ohhh! Das ist mein Song.«

»Jeder Song auf dem Album ist dein Song.«

»Aber der hier gehört zu den top drei. Komm schon«, sagt sie und wiegt rhythmisch den Oberkörper hin und her. »Du weißt, dass du mitsingen willst.«

»Ich will einen Parkplatz finden«, knurre ich.

Sie verdreht die Augen. »Kazeem ist sehr hangry. Ohhh! Schau mal die schöne Weihnachtsbeleuchtung von dem Truck dort.«

»Ich hab dir doch schon erlaubt, Rita ein Geweih zu verpassen.«

»Und Rita sieht damit viel besser aus.« Sie tätschelt das Armaturenbrett.

Rita ist mein Pick-up und wahrscheinlich älter als wir beide zusammen. Mein Dad hat ihn gekauft, als wir damals aus dem Sudan nach Georgia gezogen sind, und er hat meine zwei älteren Brüder überlebt, bevor er an mich weitervererbt wurde. Weitervererbt heißt, dass ich mir Rita verdienen und zwei Jahre lang in allen Fächern Bestnoten erreichen musste, bevor ich auch nur daran denken durfte, unsere heiß geliebte Rostlaube zu berühren.

Ich schaue zu dem Weihnachtsbaum hoch, der unter einem schiefergrauen Himmel auf dem Dach von Macy’s thront. Es schneit immer noch, aber nicht so friedvoll und hübsch, wie man es von Weihnachtskarten kennt. Der Schnee ist hart und eisverklumpt und macht, dass der Parkplatz wie die glatte dunkle Oberfläche eines gefrorenen Sees aussieht.

»Uah, wenn ich dran denke, was ich noch alles erledigen muss«, sagt Porsha. »Plötzlich rast die Zeit, und kaum holt man mal kurz Luft, ist am nächsten Tag schon Weihnachten. Da fällt mir ein – denk dran, dass wir am Freitag die Lebkuchenhäuser backen. Oh, und ich muss noch den Honigschinkenbraten bestellen. Da ist wahrscheinlich wieder eine ewig lange Warteschlange.«

»Mhmmm, lecker Schweinefleisch … KOTZ!«

Sie lacht. »Entspann dich. Dad hat schon gesagt, dass er den mit Honig glasierten Lachs macht, den du so magst.«

»Wenigstens einer, der an mich denkt.«

»Wie bitte? Und wer sorgt dafür, dass es immer genügend scharfe Soßen und Ginger Beer für dich gibt?«

»Du«, gebe ich zu. »Aber jetzt mal wirklich, warum bestellt ihr einen Schinken, wenn ihr ihn gar nicht esst?«

»Weil das Tradition ist«, antwortet sie. »Mom hat jedes Jahr einen bestellt. Ohne sieht der Tisch sonst total komisch aus. Oh! Da fällt mir ein, dass ich noch Cheddar am Stück für die Käsemakkaroni besorgen muss. Den fertig geriebenen kann ich nicht ausstehen. Und Früchtebrot und Limonade. Oh, und ich brauche noch mehr grüne Lebensmittelfarbe. Und Geschenkbänder …«

Während sie abgelenkt ist, schalte ich zu dem neuen Track von Lil Kinsey, den ich zu Hause gehört habe, bevor ich so dämlich war, vor die Tür zu gehen.

»Uah, echt jetzt?«, stöhnt sie.

»Was? Das Stück ist tight!«

»Kein Trap während der Jesus-Saison.« Sie schaltet schnell zu Mariahs »Joy to the World« zurück und grinst mich an. »So. Und komm mir jetzt nicht mit deinem dumpfen ›Never touch a Black man’s radio‹-Spruch.«

Ich wohne seit der dritten Klasse neben diesem Weihnachtsjunkie und sollte eigentlich daran gewöhnt sein, dass sie keine Gnade kennt, wenn es um die Playlist dieser Saison geht. Kaum schlägt es nach Halloween Mitternacht, verwandelt sie sich von einem Kürbis in eine Weihnachtslichterkette und verbündet sich mit Sola, um uns mit Santa hier und Santa da zu terrorisieren.

Manche Menschen verstehen keinen Spaß, wenn es um Weihnachten geht. Meine beste Freundin ist einer davon. Thanksgiving existiert praktisch nicht. Ist bloß eine Verschnaufpause. Und dann: das Haus schmücken, Schlittschuhlaufen, unschuldige Bäume fällen, sämtliche Filmklassiker gucken, ein Riesen-Trara um das Festtags-Menü machen, an dem seit der Erfindung von Mobiltelefonen nie auch nur das Kleinste geändert wird, Geschenke einpacken, Papiersterne basteln. Sie bereitet sich mit geradezu militärischer Präzision auf Weihnachten vor. Und wehe, jemand wagt es, einen Millimeter aus der Spur zu treten.

Aber dieses Jahr ist alles ein bisschen anders. Unsere Fastenzeit fällt mitten in die Weihnachtssaison, was uns irgendwie zu Ebenbürtigen macht. Und heute Abend feiert meine Familie unser verspätetes Zuckerfest mit einem bombastischen Dinner. Auf keinen Fall kann Porsha sich wie sonst immer irgendeine Ausrede ausdenken, warum sie nicht kommen kann.

»Yo, am Flughafen sind alle Flüge gestrichen worden«, sagt sie, die Nase im Handy vergraben.

»Was? Alle?«

»Yep. Steht in Avas Feed. Auf allen Kanälen geht es praktisch nur noch darum, ob und wie man von A nach B kommt. Auf der 75 und 85 geht anscheinend gar nichts mehr.« Sie zeigt mir einen kurzen Clip.

»Zurück nehmen wir besser die Nebenstraßen.«

Sie saugt Luft zwischen Lippen und Zähne. »Die haben wir schon auf dem Weg hierher genommen.«

»Dabei schneit es doch nicht mal so krass. Stimmt echt, was immer alle sagen. Dass Autofahrer in Atlanta sowieso schon eine Katastrophe sind, aber wenn dann noch Schnee dazukommt …«

Porsha grinst. »Hangry.«

Dieses Lächeln. Auch wenn ich hier ausschließlich als ihr bester Freund spreche, muss ich es mal kurz loswerden: Porsha Washington ist schön. Umwerfend schön. Leuchtende braune Augen, Locken, die ihr bis knapp zu ihren süßen runden Wangen reichen, athletischer Körper, bei dem ein Typ zwangsläufig einen zweiten Blick riskiert. Aber dieses Lächeln, unfassbar …

»Okay, ready?« Sie streckt den Arm für ein Selfie aus und lächelt. Ich schaue in die Kamera und schnipse gegen ihr Wangengrübchen.

»Kaz! Lächeln!« Sie gibt mir lachend einen Klaps auf den Arm. »Na los, rück zu mir und hör auf, mein Foto zu sabotieren! Du siehst aus, als würdest du gleich ersticken.«

Reiß dich zusammen, Mann.

Ich lehne mich zu ihr, klebe mir mein schönstes »Ich bin nicht in meine beste Freundin verliebt«-Lächeln ins Gesicht und versuche, nicht zu atmen, weil mir sonst der Duft ihres Bodysprays in die Nase weht und mich umhaut. Wenn sie sich einen Hoodie von mir leiht und ihn mir wiedergibt, wasche ich ihn manchmal wochenlang nicht. Ich schlafe sogar darin, um mich in ihrem Duft zu vergraben.

Und mich heftig nach diesem Mädchen zu sehnen.

Aber heute Abend wird sich das alles ändern. Heute Abend werde ich Porsha sagen, dass ich sie liebe. Ich habe alles genau geplant. Nach dem Dinner gehe ich mit ihr zu dem Tisch mit den Süßspeisen und überreiche ihr ihren Lieblingskuchen, auf dem die drei Worte mit Zuckerguss geschrieben stehen. (Dazu muss man wissen – das Mädchen liebt Kuchen.) Je nachdem, wie sie darauf reagiert, kann ich einfach sagen, der Konditorei sei ein Fehler unterlaufen. Ich könnte diese Worte nämlich nie laut aussprechen. Viel zu riskant.

»Ohhh, das hier ist total süß geworden, schau!« Sie hält mir das Handy hin. »Vielleicht kommt das ja in den Rahmen.«

Porsha redet schon seit Jahren davon, ein Bild von uns auf echtem Fotopapier ausdrucken zu lassen. Sie hat sogar schon einen Rahmen dafür. Vergisst nur ständig wieder, es dann auch zu machen.

Genau wie sie immer sämtliche Feiertage vergisst, die für meine Familie wichtig sind.

Aber diesmal nicht. Ich wusste, es würde nur eine Möglichkeit geben, sie auch wirklich zu unserem Zuckerfest heute Abend zu bewegen, nämlich: ihr den ganzen Tag nicht von der Seite zu weichen.

»Oh!«, sagt Porsha, als das Display ihres Handys aufleuchtet, und dreht das Radio leiser. »Hey, Ummi.«

»Ummi? Warte … ist das meine Mom? Du hast mit meiner Mom Nummern getauscht?«

»Schscht! Ich versteh kein Wort«, zischt sie, bevor sie mit meiner Mutter weiterspricht. »Ach nichts, wir suchen bloß einen Parkplatz … Ja, ich hoffe auch, dass mit Stevie und Sola alles wieder gut wird. Die beiden sind so ein süßes Paar … Klar, ich erinnere ihn daran … Ja … okay … super! Bis später. Hab dich auch lieb! Ma’a s-salaama.«

Ich verkneife mir ein stolzes Lächeln. Über die Jahre habe ich ihr ein paar arabische Wörter beigebracht, und wie immer imponiert es mir, dass sie zumindest versucht, sie anzuwenden, auch wenn sie Hackfleisch daraus macht.

»So ist das also. Kommt das öfter vor, dass ihr beiden miteinander telefoniert?«

Sie verdreht die Augen. »Ich kann nichts dafür, wenn deine Mom mich mehr liebt als dich.«

Wundert mich überhaupt nicht. Ist nicht schwer, Porsha zu lieben.

»Jedenfalls hat sie mich angerufen, damit ich dich daran erinnere, für das Dingsda heute Abend die Brötchen bei Mrs Ahmed abzuholen.«

Prompt fängt mein Magen an zu knurren. Würde mir jemand einen mickrigen kleinen Cracker in Aussicht stellen, wenn ich ihm zustimme, dass zwei plus zwei fünf ist, würde ich sofort »Korrekt!« sagen. Nur um eine ungefähre Vorstellung davon zu geben, an welchem Tiefpunkt ich hungertechnisch gelandet bin. Weil ich zu lange geschlafen habe, habe ich das Sahūr verpasst, die letzte Mahlzeit vor der Morgendämmerung. Jetzt würde ich so ziemlich alles für die frittierten Sambuxa von Ummi geben.