Die Maschine steht still - E. M. Forster - E-Book

Die Maschine steht still E-Book

E. M. Forster

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Beschreibung

In E. M. Forsters Dystopie leben die Menschen in einer unterirdischen, abgekapselten Welt mit allem Komfort: Das ganze Leben ist durch die Dienstleistungen der »Maschine« perfekt geregelt. Die Menschen haben kein Bedürfnis mehr nach persönlichen Begegnungen, man kommuniziert nur über die Maschine, die über allem wacht. Ihr Handbuch ist zu einer Art Bibel geworden, die Menschen sind gefangen in ihrer absoluten Abhängigkeit von der Technik, die sie nicht mehr kontrollieren können. Doch nach und nach geht das Wissen, das hinter der Maschine steckt, verloren und das System wird anfällig für Pannen ... E. M. Forsters visionäres Werk wirft Fragen auf, die von großer Aktualität sind: Wie kann der Mensch seine Selbstbestimmung wahren gegenüber Maschinen, die immer stärker unser Leben bestimmen?

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Seitenzahl: 61

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E. M. Forster

Die Maschine steht still

Aus dem Englischen von Gregor Runge

Hoffmann und Campe

Erster TeilDas Luftschiff

Stellt euch, wenn ihr könnt, ein kleines Zimmer vor, sechseckig, wie die Zelle einer Bienenwabe. Es hat weder ein Fenster noch eine Lampe – und doch ist es von einem sanften Leuchten erfüllt. Es gibt keine Abluftöffnung – und doch ist die Luft unverbraucht. Es sind keine Instrumente zu sehen – und doch wird dieses Zimmer, jetzt, da meine Betrachtung ihren Anfang nimmt, von wohligen Klängen durchpulst. In der Mitte steht ein Sessel, daneben ein Lesepult, mehr Mobiliar gibt es nicht. In dem Sessel sitzt ein in Tücher gewickelter Fleischberg – eine Frau, etwa anderthalb Meter groß, mit einem Gesicht weiß wie Pilz. Ihr gehört das kleine Zimmer.

Eine elektrische Klingel läutete.

Die Frau legte einen Schalter um, und die Musik verstummte.

»Ich werde wohl nachsehen müssen, wer da ist«, dachte sie und setzte ihren Sessel in Bewegung. Dieser wurde, wie die Musik, mechanisch gesteuert, und so rollte sie nun ans andere Ende des Zimmers, wo die Klingel noch immer aufdringlich läutete.

»Wer ist da?«, rief sie gereizt. Seit die Musik spielte, war sie wiederholt gestört worden. Sie hatte Abertausende Bekannte. In gewissen Bereichen konnte die menschliche Kommunikation erhebliche Fortschritte verzeichnen.

Den Hörer am Ohr, breitete sich in ihrem Gesicht ein Lächeln aus; sie sagte:

»Nun gut, unterhalten wir uns, ich isoliere mich jetzt. Ich gehe nicht davon aus, dass in den nächsten fünf Minuten etwas Wichtiges passiert – denn genau die bekommst du von mir, Kuno, ganze fünf Minuten. Danach muss ich einen Vortrag über die Musik der Australischen Periode halten.« Sie betätigte den Isolationsknopf, sodass sie niemand mehr erreichen konnte, tippte mit dem Finger an den Lichtapparat, und das kleine Zimmer versank in Dunkelheit.

»Mach schnell!«, rief sie und klang wieder gereizt. »Mach schnell, Kuno, ich sitze hier im Dunkeln und verschwende meine Zeit.«

Ganze fünfzehn Sekunden vergingen, bis die Scheibe in ihren Händen aufleuchtete. Ein erst blaues, dann dunkelviolettes Licht zuckte schwach darüber hinweg, und schon war ihr Sohn, der auf der anderen Seite der Erde lebte, zu sehen – und er sah sie.

»Kuno, wie lang du brauchst!«

Er lächelte ernst.

»Du scheinst mir gern zu trödeln.«

»Ich rufe nicht zum ersten Mal an, Mutter, aber du bist immer beschäftigt oder isoliert. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.«

»Was denn, mein lieber Junge? Schnell doch! Weshalb keine Rohrpost?«

»Weil ich es dir persönlich sagen will. Ich möchte …«

»Nun?«

»Ich möchte, dass wir uns sehen.«

Vashti betrachtete sein Gesicht auf der blauen Scheibe.

»Aber ich sehe dich doch!«, rief sie. »Was willst du mehr?«

»Ich will dich nicht durch die MASCHINE sehen«, sagte Kuno. »Ich will dich auch nicht durch die lästige MASCHINE sprechen.«

»Sei still!«, sagte seine Mutter verstört. »Du darfst dich nicht maschinenfeindlich äußern!«

»Warum nicht?«

»Man darf es einfach nicht.«

»Das hört sich an, als hätte ein Gott die MASCHINE erschaffen«, rief Kuno. »Wahrscheinlich betest du zu ihr, wenn es dir nicht gut geht. Vergiss nicht, die Menschen haben sie erschaffen. Begnadete Menschen, aber doch Menschen! Die MASCHINE ist vieles, aber nicht alles. Obwohl ich auf dieser Scheibe etwas sehe, das dir ähnlich ist, sehe ich nicht dich. Obwohl ich durch den Fernsprecher etwas höre, das dir ähnlich ist, höre ich nicht dich. Deswegen will ich, dass du zu mir kommst. Komm und bleib ein wenig. Komm mich besuchen, dann können wir Auge in Auge über die Hoffnungen sprechen, die mich bewegen.«

Für einen Besuch werde sie kaum die nötige Zeit haben, sagte sie.

»Mit dem Luftschiff bist du in weniger als zwei Tagen bei mir.«

»Luftschiffe sind mir zuwider.«

»Warum?«

»Weil es mir zuwider ist, die furchtbare braune Erde zu sehen, das Meer und nachts die Sterne.

In einem Luftschiff komme ich nicht auf Ideen.«

»Ich bekomme sie nirgendwo sonst.«

»Auf was für Ideen kann die Luft einen schon bringen?«

Er hielt einen Moment inne. »Kennst du denn nicht die vier großen Sterne, die ein Viereck bilden, in dessen Mitte drei weitere Sterne dicht beieinanderstehen, an denen wiederum drei weitere Sterne hängen?«

»Nein. Sterne sind mir zuwider. Aber dich haben sie wohl auf eine Idee gebracht? Interessant, erzähl mir davon.«

»Ich fand, sie sahen aus wie ein Mann.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Die vier großen Sterne sind Schultern und Knie. Die drei Sterne in der Mitte sind der Gürtel, den die Menschen früher trugen. Und die drei hängenden Sterne sind das Schwert.«

»Das Schwert?«

»Die Menschen trugen Schwerter, sie töteten Tiere damit und andere Menschen.«

»Das scheint mir keine besonders gute Idee zu sein, aber immerhin ist sie originell. Wann hattest du sie zum ersten Mal?«

»Im Luftschiff.« – Er verstummte. Sie nahm an, dass er niedergeschlagen war. Ganz sicher konnte sie nicht sein, denn die MASCHINE übertrug kein Mienenspiel. Wie die Menschen aussahen, davon vermittelte sie nur eine ungefähre Vorstellung, und die, fand Vashti, war in jeglicher Hinsicht »gut genug«. Das unwägbare Fluidum, das einer überkommenen Weltanschauung zufolge das Wesen einer jeden zwischenmenschlichen Begegnung ausmachte, war der MASCHINE gleichgültig, zu Recht, so wie den Erzeugern von Kunstfrüchten das Fluidum natürlicher Trauben gleichgültig war. Unsere Art hatte sich längst zufriedengegeben mit dem, was »gut genug« war.

»Offen gestanden«, sagte er, »will ich die Sterne wiedersehen. Sie sind so sonderbar. Aber diesmal nicht vom Luftschiff, sondern von der Erdoberfläche aus, wie unsere Vorfahren vor vielen tausend Jahren. Ich will an die Erdoberfläche gehen.«

Wieder war sie verstört.

»Du musst zu mir kommen, Mutter, und sei es, damit du mir erklärst, was schlecht daran sein soll, an die Erdoberfläche zu gehen.«

»Nicht schlecht!«, erwiderte sie und musste sich beherrschen. »Aber auch nicht nützlich. Die Erdoberfläche ist nur noch Schmutz und Asche, es gibt auf ihr kein Leben mehr. Du bräuchtest eine Atemmaske, die kalte Außenluft würde dich sonst töten. Wer sich ihr aussetzt, stirbt auf der Stelle.«

»So ist es, und deswegen werde ich auch alle nötigen Vorkehrungen treffen.«

»Außerdem –«

»Ja?«

Sie ging, um die richtigen Worte bemüht, einen Moment in sich. Sie wollte ihren Sohn, der so absonderlich veranlagt war, von seiner Expedition abhalten.

»Es ist unvereinbar mit dem Geist unseres Zeitalters«, sagte sie mit Nachdruck.

»Soll das heißen, es ist unvereinbar mit der MASCHINE?«

»In gewisser Weise, aber –«

Die blaue Scheibe verblasste.

»Kuno!«

Er hatte sich isoliert.

Einen Moment lang fühlte Vashti sich einsam.

Dann erzeugte sie Licht, und der Anblick ihres hell erleuchteten Zimmers mit all seinen elektrischen Knöpfen richtete sie wieder auf. Die Knöpfe und Schalter waren überall. Mit ihnen ließ sich Nahrung, Musik und Kleidung anfordern. Es gab einen Knopf für Warmbäder, nach dessen Betätigung ein Becken aus (künstlichem) Marmor aus dem Boden fuhr, bis zum Rand gefüllt mit einer warmen desodorierten Flüssigkeit. Es gab einen Knopf für Kaltbäder. Es gab einen Knopf für Literatur. Und natürlich gab es jene Knöpfe, die es ihr ermöglichten, mit ihren Freunden zu kommunizieren.

Das Zimmer war so gut wie leer, und doch stand es mit allem in Verbindung, was Vashti wichtig war.