Die Maskerade - Thomas Neukum - E-Book

Die Maskerade E-Book

Thomas Neukum

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Die lässige Geschichtsstudentin Lina erlitt bei dem Attentat in einem Einkaufszentrum einen Schock und hält sich seitdem für die wiedergeborene Tochter eines römischen Kaisers. Ihr Wissen ist verblüffend. Als sie aus der Psychiatrie entlassen wird, wohnt sie bei dem traumatisierten und zugleich attraktiven Wachmann, der den Attentäter erschossen hat. Sie lockt ihn aus der Reserve, spaziert mit Eleganz in orgiastische Affären und streitet sich mit ihrer Halbschwester, der Besitzerin des Einkaufszentrums. Bis diese ein fatales Kostümfest veranstaltet. Wer braucht eine Maske, und wer ist wahrhaftig? Ein satirischer Roman wie ein Spagat zwischen Kulturgeschichte und Witz.

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Seitenzahl: 144

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Die Maskerade

TitelMottoInhaltProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelEpilog

Thomas Neukum

Die Maskerade

Satirischer Roman © 2019

Motto

Nach deinem Tode wirst du sein,

was du vor deiner Geburt warst.

Arthur Schopenhauer

Inhalt

Prolog

1. Die Erbin des Holiday Shopping Centers

2. Der Kapitalist und das Attentat

3. Aufbruch zu Lina

4. Ein trautes Gelage

5. Im Reich der Begierde

6. Linas Erzählung

7. Ben und die Versuche des Reinwaschens

8. Erregung öffentlichen Ärgernisses

9. Schleichjagd auf unchristliche Wahrheiten

10. Und im Schlepptau zu Kristin

11. Gruppentherapie mit Bacchus

12. Quer über dem dekadenten Schreibtisch

13. Buße bei Einbruch der Nacht

14. Belagerungszustände

15. Das Kostümfest - Motto: Spätantike

Epilog

Prolog

Der Mund der sommerlichen Nutte lächelte ihn an. Sehr auffällig gekleidet sah sie gar nicht aus. Doch ihr blanker Arm schmiegte sich an den Türrahmen wie an eine Lanze, und der Blick unter ihrem Wimpernvorhang wirkte prüfend. Welcher Typ Mann stand vor ihr?

Ben war 37 Jahre alt, sehr gepflegt und zugleich so kraftgemeißelt, als läge ein ausmergelnder Sturm hinter ihm. Nervös hatte er im strahlenden Tageslicht sein Carbon-Rad angekettet und versucht, nicht auf die runtergefallenen Wildpflaumen zu treten - unmöglich. Ihr Fruchtfleisch war bereits gärender Matsch.

Das Häuschen duckte sich mit bürgerlicher Fassade umringt von Wohnblöcken, Bäumchen und einer Autowaschanlage in einem Rostocker Stadtteil. Die beiden Klingeln, „Maier“ und „Schmidt“, hätten auch zu Ferienwohnungen führen können.

„Na, Süßer“, flötete die Nutte mit osteuropäischem Akzent, der wie knackende Zwetschgenkerne klang. Sein Herz pochte. „Schüchtern? Du hast mich doch vorhin angerufen, oder?“

„Ja, hab ich.“

In Rostock gab es keinen Straßenstrich. Stattdessen mieteten verschiedene Prostituierte wöchentlich Apartments, schmissen sich für Inserate in Pose und tingelten dann weiter. Berlin, Rom, Sodom - wo auch immer die alte Gier auf Frisches herrschte. Zumindest mussten diese Frauen als frei gelten. Was heißt frei? Sie hatten keinen Zuhälter außer den Bedingungen der Welt. Ben wusste das, obwohl er noch nie eine Nutte - höflicher gesprochen eine Sexarbeiterin - angefasst hatte.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und umgarnte ihn mit Parfum. „Dann komm.“

Er hinkte rein.

Durch einen weißen Flur gelangten sie in eine Wohnung mit Couchtisch, schwarzer Venus-Statuette und rosenrotem Bett. Die leichte Dame drückte ihr pralles Dekolleté an Ben und tastete über seine Hose. „Eine halbe Stunde siebzig Euro, nur blasen zwanzig. Vielleicht hast du aber spezielle Wünsche?“

Und nachdem sie ihm etwas vorgespielt hätte? Wie sollte sich dadurch sein Gefühl bessern, dass sein Leben in einer Sackgasse steckte? Er schluckte hart, versuchte seinen Nacken locker zu halten und nicht zu denken.

Würde sie das Geld an eine kranke Mutter in Polen schicken, verprassen oder sparen, damit sie nicht in reiferen Jahren putzen müsste? Wie viele Männer hatten in dieser Wohnung schon abgespritzt? Gedämpft schwoll nebenan Gestöhn.

„Oder erst eine Massage?“

Er zog einen Zwanziger aus seinem abgenutzten Portemonnaie. „Danke, aber ich habe es mir anders überlegt. Das ist für die Umstände.“

Ernst sah sie auf das Geld und zuckte dann clownesk mit der Achsel. „Na gut“, schnappte sie es sich. „Noch einen schönen Tag.“

Ben hinkte wieder raus zu den zermatschten Wildpflaumen. Enttäuscht, unbefriedigt und wütend schwang er sich auf sein Rad.

In einem schweißtreibenden Zickzack-Kurs raste er an den Fußgängern vorbei. Hoffentlich würde ihn ein abbiegender Lkw umnieten!

Doch er landete wieder in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung, die so ordentlich war, als hätte er einen ganzen Trupp Putzfrauen. Dabei tratschte hier nicht mal ein einsamer Fernseher. Ben zog die Schuhe aus, schrubbte sie mit einer alten Zahnbürste und wusch sich im Bad die Hände.

Dann ging er zu einem Bücherregal. Statt gleich das Gewollte herauszuziehen, zählte er jedoch von links die Exemplare ab, bis er zu dem Werk eines buddhistischen Meisters gelangte. Er schlug es beim Lesezeichen auf und setzte sich.

Sinnlos ist es zu beklagen, dass du die Gelegenheit auf einen saftigen Genuss nicht genutzt hast. Was hättest du denn jetzt mehr davon? Die dürre Mumie einer Erinnerung.

Jeder erfüllte Wunsch gebiert ohnehin einen neuen, und die flüchtige Befriedigung lässt uns bestenfalls erkennen, dass wir einer Illusion nachjagten. Darum gleicht die Welt einem eitlen Maskenball, auf dem gedrängelt und geschubst wird. Willst du inneren Frieden und wahre Leidensfreiheit, so entsage.

Das tröstete ihn. Lediglich die irrationale Lehre von der Wiedergeburt übersprang er, denn er glaubte an nichts mehr, an gar nichts.

1. Kapitel

Die Erbin des Holiday Shopping Centers

Kristin Nortius hatte einen Ellbogen auf den Schreibtisch und ihren Kopf mit dem kastanienbraunen Haar in die Hand gestützt. Ihre Bluse war oben aufgeknöpft, und der Chefsessel unter ihr schaukelte wie in einem trägen Tanztrott, als sie sich durch das Labyrinth einer Bilanz klickte. Mit einem Blick auf die Uhr schaltete sie den Computer aus.

Es klopfte schmal, aber klar.

„Was brennt denn noch? Sie können reinkommen.“

Eine junge Blondine mit modischer Brille und einem Bündel Arbeit in der Armbeuge stöckelte herein, Bianca, die Sekretärin. Trotz ihrer kerzengeraden Haltung gab sie der Tür hinter sich mit dem Fuß einen sanften Schubs, wodurch diese bis auf einen Spalt schloss.

Dann fragte sie: „Kann ich Ihnen vielleicht einen aufgeschäumten Espresso machen, Frau Nortius?“

„Sehr nett, aber ich hatte schon ein Dutzend. Deswegen haben Sie doch nicht geklopft?“

„Nein, die Zeitung möchte Sie interviewen.“

„Schon wieder? Mir reicht noch das Interview nach dem Attentat. Und dieser andere Batzen da, der wie Waisenkinder in Ihrem Arm liegt?“

Schräg und steil verlagerte die Sekretärin den Stapel auf ihre Taille. „Die Baufirma kann die Minigolf-Anlage in dieser Saison nicht mehr fertigstellen und hat eine Fristverlängerung beantragt. Dafür will McDonald's die Filiale in unserem Gebäude vergrößern und die Wand zur Apotheke durchbrechen, die dann natürlich verkleinern müsste.“

„Wenn McDonald's expandieren möchte, dann muss auch die Medikamentenversorgung expandieren. Was noch? Weiter.“

„Ihr Mann hat angerufen.“

Kristin seufzte. „Weiter.“

„Die Besucherzahlen insgesamt sind zwar gestiegen, aber der Betreiber der Pole-Dancing-Bar steht vor dem Bankrott.“

„Wen wundert das? Er lässt Abend für Abend dasselbe Sortiment an Frauen turnen, die ihre blanken Achselhöhlen zeigen. Das kann ich mir mit jeder halbwegs flotten Kosmetikwerbung reinziehen. Als Mann würde ich auch überlegen, ob ich dafür noch 'ne Kröte locker mache. Unsere Gesellschaft feiert ihre Neuerungssucht und giert nach mehr, mehr, mehr.“

Mit nachtblauer Krawatte war inzwischen Marco eingetreten, Kristins rechte Hand. Er bestach durch eine akkurat gestylte Frisur, athletische Schultern und einem couragierten Lächeln. „Genau das ist die Philosophie. Wofür brauchst du mich noch?“

„Ach, für tausend Geschichten, wie du hörst. Ich hab heute leider gar keine Zeit mehr und muss schon gehen“, stand Kristin verlegen auf.

Die Sekretärin schritt beladen zur Seite.

„Kippen Sie ruhig alles auf meinen Schreibtisch. Marco, würdest du bitte den Stoß durcharbeiten? Ich möchte meine Entscheidungen mit dir besprechen.“

„Aber mit Vergnügen.“

Kristin erwiderte seinen Blick, hörte den Stoß niedergleiten und äugte über die Schulter. Höflich hielt Marco schließlich die Tür auf.

„Danke schön“, sagte sie zu ihm, aber auch zu Bianca, die noch vor ihr aus dem Raum huschte. Auch von ihren anderen Mitarbeitern verabschiedete sich die Chefin.

Hallend ging sie durch das kleine Imperium, dasHoliday Shopping Centeroder kurzHSC.

Im obersten Stock befand sich außer den Büroräumen nur die großflächige Pole-Dancing-Bar, eigentlich geeignet als Festsaal. Es folgten ein Casino, Elektronik- und Modegeschäfte, Cafés, Restaurants, Supermarkt, Apotheke, Sauna, Massagebereich und Bowling, nicht zu vergessen innen wie außen Tennisplätze. Hier unten wimmelte es. Kristin kaufte allerdings noch zwei Papiertüten voll Lebensmittel ein, bevor sie in ihren roten Lamborghini stieg.

Mit nur mäßig überhöhter Geschwindigkeit fuhr sie in den städtischen Randbereich zu Ben.

Er entriegelte zweifach, um eine knattervolle Papiertüte in Empfang zu nehmen. „Vollkornbrot, Reis, Haferflocken, Bio-Joghurt, Obst, verschiedenes Gemüse und Salat, geröstete Pistazien, Olivenöl und noch 'ne sauscharfe Gewürzmischung“, kam Kristin mit einem Kaugummi zwischen den weißen Zähnen herein. Die andere Tüte hatte sie im Auto gelassen. „Wolltest du auch Spaghetti?“

„Alles tipptopp“, packte er in der Küche aus. „Was schulde ich dir?“

„Ben, was schuldenwirdir? Du bist Wachmann mit Invalidenrente, ich 'ne Millionärin.“

„Wie läuft's denn imHSC?“, fragte er, ohne aufzublicken. „Kommst du schon besser zurecht, seitdem du es geerbt hast?“

„Stress wie eh und je“, winkte Kristin ab. Sie verschränkte die Arme. „Rainer fragt manchmal nach dir. Wie geht's deinem Knie?“

Rainer war ihr Mann, ein Orthopäde.

„Ich bin froh, dass er mein Bein gerettet hat und nicht amputieren musste. Radfahren kann ich schon fast beschwerdefrei.“

„Wo fährst du denn hin?“

„Dahin, wo ich schnell wieder wegkomme oder keine Menschenmassen sind“, öffnete Ben den Kühlschrank und staffelte die Produkte nach Mindesthaltbarkeitsdatum. „Mein psychischer Schaden ist größer als mein körperlicher.“

Kristin schwieg, während die Abenddämmerung durchs Fenster kroch und er den Kühlschrank wieder zuflappte. Wie sollte sie ihn fragen? „Morgen wird meine Halbschwester aus der Psychiatrie entlassen- auf eigenen Wunsch. Es wäre für mich eine große Hilfe, wenn du sie abholen könntest.“

Er starrte Kristin an und schluckte.

„Schaffst du das?“

Die Psychiatrie lag auf der anderen Seite der Warnow, die durch Rostock floss und in der Ostsee mündete. „Womit soll ich sie denn abholen? Mit einem Fähre-, Bus- und Bahntrip?“

„Ich leih dir mein Auto und du saust einfach über die Brücke.“

„Welches? Den Lamborghini?“

„Der bietet maximale Beinfreiheit und Schutz vor Menschenmassen“, versuchte Kristin ihren invaliden Freund zu ermuntern.

„Und damit fahre ich sie zu dir nach Hause?“

„Ähm, nein. Da würde sie einsam rumgeistern, bis mein Sohn von der Schule heimkäme. Ich dachte deshalb, dass sie vielleicht bei dir wohnen könnte.“

„Was! Hier?“ Ben versuchte die Gefühlsbrühe abzusieden, die in ihm hochschoss.

„Du fandest sie doch früher nett.“

„Das war in … einer anderen Epoche, obwohl es erst zweieinhalb Jahre her ist. Seitdem komme ich kaum noch mit mir alleine zurecht.“

„Eben. Sie würde dich verstehen. Außer dir hat niemand unter der Schießerei imHSCso gelitten wie sie. Trotzdem muss das alles ja nicht bedeuten, dass es so bleibt oder meine Halbschwester keine eigene Wohnung findet.“

„Was sagt denn sie selber zu deinem Vorschlag?“

„Oh, sie ist offen und ganz lebendig.“

„Lebendig, hm?“ Ben neigte schon immer dazu, an seine Grenzen und darüber hinauszugehen. Zudem würde er es vermutlich bereuen, wenn er sich vor diesem zugeflogenen Versuch drückte, endlich etwas zu ändern. Er lebte ja wie ein Toter. „Also gut. Ich leih mir den Lamborghini.“

„Das ist der alte Sportsgeist!“, umarmte ihn Kristin länger als sonst und gab ihm den Schlüssel. „Nur noch eine Bitte: Kutschierst du mich nach Hause? Ich bin zu faul zum Laufen.“

„Klar.“

Der rote Schlitten mit Automatikgetriebe fuhr beinahe von selbst. In der Villa, die Kristin ebenfalls geerbt hatte, schimmerte Licht.

„Vergiss nicht deinen eigenen Einkauf“, hievte Ben einarmig ihre Papiertüte vom Rücksitz und sah Chips oben liegen. „Dafür hast du noch eine gute Figur.“

„Wer sagt, dass die für mich sind?“, schäkerte sie.

„Sind sie das nicht?“

„Nur wenn ich frustriert bin. Kommst du noch mit rein?“

Er schüttelte den Kopf. „Grüß Rainer von mir. Wir wollen es mal mit der Sozialität nicht übertreiben.“

„Nein, versteht sich. Um neun Uhr morgens kannst du sie abholen“, stieg Kristin aus. „Danke nochmals und viel Glück!“

Grübelnd kehrte er um, und sie ging in die Villa.

„Hallo, Liebling“, grüßte Rainer sie. Er saß wie ein schmusiger Eisbär von 42 Jahren auf der Couch und schaute mit dem Sohn einen fantastischen Zeichentrickfilm.

Der dunkelblonde Zweitklässler war leicht pummelig und in der Schule weder unbeliebt noch beliebt, aber ein Stubenhocker. Vorhin hatte er noch fröhlich gelacht, doch als seine Mama reinkam, musterten seine von Natur aus großen Augen sie keinesfalls zutraulich.

„Na, was glotzt ihr da?“, drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange.

Er drehte sich wieder zum Bildschirm. „Nichts.“

„Für Nichts ist das aber ganz schön viel.“

„Viel Nichts.“

Kristin riss die Chipstüte auf und mampfte im Stehen. Es ärgerte sie, dass sie keinen Zugang zu ihrem Sohn fand. Was machte sie falsch? Gut, sie hatte ihm zu früh das Inlineskaten beibringen wollen und er war auf die Schnauze gefallen, solche Sachen eben. Das durfte doch nicht der Grund sein, dass er sich nur noch an seinen Vater klammerte?

Rainer hob dafür seine Schnute, als möchte er etwas von dem knusprigen Salzgeschmack in Kristins Mund abhaben, und sie beugte sich fast widerwillig zu ihm. Vor Langeweile hätte sie kotzen können.

Sie streckte den zwei die Chipstüte hin und sagte zu ihrem Mann: „Wie war's in der Praxis? Ich soll dir Grüße von Ben ausrichten.“

„Oh, das freut mich …“ Rainer begann zu reden, und sie hörte überhaupt nicht zu. Auf Fragen antwortete sie wie ein Android aus weiter Ferne. Zwischenzeitlich zog sie sich sogar im Schlafzimmer leger um.

Sie hatte schon lange keine Lust mehr auf ihren Mann. Nicht zu ändern. Für dieses Gekuschel und Ohrengeschlabber fehlte ihr einfach der Nerv. Wenn er sie kurz entschlossen durchgevögelt hätte, dann wäre das natürlich etwas anderes gewesen.

Doch Rainer liebte Kristin. Er wusste, wie viel eine Managerin leisten musste, und hatte sich anscheinend entschieden, nichts Negatives über seine Frau zu denken.

Morgen würde sie auf jeden Fall länger im Büro bleiben. „Ich muss noch telefonieren“, sagte sie zusammenhangslos.

2. Kapitel

Der Kapitalist und das Attentat

Als „Itaker mit fetter Eroberer-Manier“ wurde der alte Nortius einmal betitelt, ein italienischstämmiger Amerikaner, der nach Deutschland siedelte. Seine ersten Erfolge landete er mit kleinen Geschäftsmodellen im südwestlichen Rheingebiet. Er heiratete vom Podestchen weg eine schusslige Schönheitskönigin, Kristins Mutter, und auch die Tochter selbst wurde anno 1983 noch dort geboren.

Doch nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes und dem Mauerfall zog er mit seiner Familie wagemutig in den Nordosten von Deutschland. Er wusste, wonach hier die Bevölkerung ungeachtet manch Abwehrhaltung lechzte - nach Investoren, nach Arbeitsplätzen, Lebensqualität und freiem Konsum. Exzessiv arbeitete er in Rostock am Bau des Holiday Shopping Centers, das wuchs und wuchs.

Einerseits verwöhnte er Tinchen, wie er seine Tochter gern nannte. Andererseits pushte er sie, bis sie jammerte. Kristin besuchte das Sportgymnasium, wo ein schüchterner und gleichwohl standfester Junge ihr bester Freund wurde, Ben. Weil sie ein herausragendes Tennistalent zeigte, engagierte ihr Vater zudem einen Personal Trainer. Doch die Teenagerin hatte keinen Bock, sich auch noch in den Sommerferien auf den Außenanlagen des HSCs anzustrengen. Lieber schleckte sie mit nackten Beinen Waffeleis und wartete darauf, dass der lateinamerikanische Tennislehrer sie mit sanfter Gewalt auf den Platz ziehen würde. Diese blöd-geilen Träumereien hielten sie zusätzlich von einem ernsthaften Flirt mit Ben ab. Und nichts folgte, außer dass ihr Vater wie ein rotköpfiger Drache die Backen blähte und den Rauch durch die Nase abließ.

Dabei liebte er selber Eiscreme, aber auch Spaghetti, Steak, Weißbier und bonbonweise Viagra. Seine Frau darbte in Selbstmitleid, weil er sie trotz zunehmender Anzugsgröße chronisch betrog.

Kristins Halbschwester, Lina, wurde 1999 in Rostock geboren. Ihre Mutter war eine alleinstehende Maßschneiderin, die sie mit schnörkelloser Herzensgüte zur Selbstständigkeit erzog. Dementsprechend zeichnete sich das hellhäutige Mädchen mit den brünettschwarzen Haaren durch Sensibilität und ein starkes Gerechtigkeitsempfinden aus. Lange wurde sie von ihrem Vater verleugnet, bis er sie endlich als uneheliche Tochter anerkannte. Schon aufgrund des Altersunterschieds konnte die Erstgeborene jedoch keine enge Bindung zu Lina aufbauen.

Der alte Nortius zwang sein erwachsen gewordenes Tinchen, BWL zu studieren. Als sie die Prüfung schaffte, betrank sie sich schwindelerregend. Im Lift lehnte sie breitbeinig gegen die Wand, pinkelte vor einer Quadrille gut aussehender Burschen ihre nicht mal runtergezogenen Nylons voll und knackste weg. Hinterher war ihr das so peinlich, dass sie nie mehr eine Party feierte. Rainer, damals noch als Assistenzarzt tätig, kurierte dafür mit verständnisvollen Händen und Äuglein ihren leichten Fußknöchelbruch.

Ebenso flog diese oder jene schicke Freundin auf Ben. Er hatte unlängst seine Stelle als Wachmann im HSC angetreten, und Kristin wurde Büromitarbeiterin in der Logistik.

Ihre Mutter, die ehemalige Schönheitskönigin, ließ sich dagegen verbittert scheiden und forderte eine Abfindung in Millionenhöhe. Kristin versicherte ihr, dass niemals eine unproduktive Bruthenne eine hysterischere Summe erstritten und sich mieser mit Kindern ausgekannt habe. Irgendwie hatte sie selber sich als Papas Prinzessin mehr von der Welt erhofft.

Genau vor 29 Monaten, Ende Februar 2018, zerriss das Attentat alle vorhersehbare Kontinuität.

Im HSC zog ein Deutscher unter seinem langen Anorak ein illegal beschafftes Sturmgewehr hervor und schoss auf drei Ausländer - einen vorbeilaufenden Afrikaner sowie zwei türkische Imbissverkäufer. Dabei brüllte der Mörder die verwirrenden Worte: „Gottverdammte Dekadenzpolitik!“ Doch es gab noch weitere Opfer.

Lina hatte gerade das beliebte Freizeit- und Einkaufszentrum zusammen mit ihrer Mutter betreten. Instinktiv schob sich dieselbe vor ihre schreckensstarre Tochter in die Schusslinie, sofern sich überhaupt von einer Linie reden lässt. Eine Kugel traf die Mutter tödlich in die Brust. Allerdings durchdrang das Kaliber vollständig den Körper und verwundete - abgeschwächt - auch noch Lina. Sie verlor das Bewusstsein. Das alles dauerte nur wenige Sekunden.

Beeinträchtigt durch die panischen Menschenmenge, zielte Ben seinerseits und drückte den Abzug. Ein Schwall Blut fegte aus der Schulter des blindwütigen Täters. Wankend feuerte er weiter, ließ Kinder ebenso wie Ältere unter Streifschüssen aufschreien und zerfetzte das Knie des Wachmanns, der zu Boden fiel. Dennoch hielt Ben seine Pistole fest umklammert. Er stützte sich auf, zielte noch einmal und knallte dem Attentäter nun die Visage weg. Fünf Tote und elf Verletzte.

Und wie immer lauteten die Fragen: Warum? Hätte man das nicht verhindern können?

Bei dem Attentäter handelte es sich um einen öligen Fischbrötchenhändler. Er hatte für seinen Stand im HSC nur einen hinteren Platz bekommen und nicht mit dem vorderen Döner Palast konkurrieren können, geschweige denn mit McDonalds. Irgendeinem Netzwerk gehörte er nicht an. Er hatte nur gerne vom alten Sozialismus geschwärmt und Litaneien vom Stapel gelassen wie: „Das Pack sollte man grillen, bis es noch schwärzer wird.“ Aber das fand niemand seiner wenigen Bekannten besonders auffällig. Ja, man versicherte bestürzt, dass sein Vater sogar ein guter Pastor gewesen sei.

Der Stress unter den hereinbrechenden Reportern, Sanitätern, Kriminalbeamten und Aufgaben in der Chefetage des HSCs war gewaltig. Der Imageschaden riss die Aktienkurse in den Abgrund. Innerhalb von einer Woche starb das italoamerikanische, hohe Tier an einem Herzinfarkt.

Kristin erbte sein gesamtes Unternehmen. Zu allem hin erkrankte ihre Mutter an Alzheimer, und weil die Tochter selber nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand, schob sie die Alte ins Pflegeheim ab.

Vor Überforderung heulte Kristin. Deshalb stellte sie einen ehrgeizigen, spritzigen Marketingspezialisten ein - Marco. Die beiden verstanden sich auf den ersten Blick. Dank manipulativer Werbekampagnen und punktuell hübscher Innovationen gewann das HSC wieder Oberwasser.

In der Zwischenzeit kämpfte sich Ben durch eine medizinische Reha. Seine Freundin trennte sich in den dunkelsten Stunden von ihm und machte eine Reise in die hellsten Länder der Welt. Bei ihm blieb die Gewissensqual, ob er nicht schneller hätte reagieren können.