Die Meisterin: Alte Feinde - Markus Heitz - E-Book
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Die Meisterin: Alte Feinde E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Ein uralter Dämon und neue Verbündete: das actionreiche Finale der Dark-Fantasy-Reihe »Die Meisterin« um die Scharfrichter-Dynastien Bugatti und Cornelius von Bestseller-Autor Markus Heitz – und ein Wiedersehen mit den beliebtesten Figuren aus der Dark-Fantasy-Reihe »Pakt der Dunkelheit« Ein blutiger Zwischenfall in Leipzig lässt Geneve Cornelius und Vatikan-Polizist Alessandro Bugatti keine Zeit für aufkeimende Gefühle: In der Stadt ist ein uralter Dämon aufgetaucht, der alle Angehörigen der Schattenwelt unterwerfen will. Die Heilerin und letzte Erbin der Scharfrichter-Dynastie Cornelius eilt zurück in ihre Heimatstadt, kann jedoch allein gegen den Dämon nur wenig ausrichten. Geneves einzige Chance sind Verbündete aus Leipzigs Schattenwelt, unter ihnen die mächtige Vampirin Sia und der mysteriöse Bestatter Konstantin Korff. Kann es ihnen gemeinsam gelingen, ihren ältesten Feind ein für alle Mal zu besiegen? »Die Meisterin – Alte Feinde« ist der dritte Roman zum Hörspiel-Erfolg bei Audible – ein rasanter Mix aus düsterer Fantasy mit historischen und Thriller-Elementen. Markus Heitz' Dark-Fantasy-Reihe »Die Meisterin« umfasst die folgenden drei Bände: • »Die Meisterin – Der Beginn« • »Die Meisterin – Spiegel & Schatten« • »Die Meisterin – Alte Feinde«

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Markus Heitz

Die MeisterinAlte Feinde

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein blutiger Zwischenfall in Leipzig lässt Geneve Cornelius und Vatikan-Polizist Alessandro Bugatti keine Zeit für aufkeimende Gefühle: In der Stadt ist ein uralter Dämon aufgetaucht, der alle Angehörigen der Schattenwelt unterwerfen will. Die Heilerin und letzte Erbin der Scharfrichter-Dynastie Cornelius eilt zurück in ihre Heimatstadt, kann jedoch allein gegen den Dämon nur wenig ausrichten. Geneves einzige Chance sind Verbündete aus Leipzigs Schattenwelt, unter ihnen die mächtige Vampirin Sia und der mysteriöse Bestatter Konstantin Korff. Kann es ihnen gemeinsam gelingen, ihren ältesten Feind ein für alle Mal zu besiegen?

Inhaltsübersicht

Vorwort

Dramatis personae

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Nachwort

Leseprobe »Das Herz der Zwerge 1«

Vorwort

 

Wie es sich schon in den Vorgängerbänden andeutete: Es kommen nicht wenige bekannte Figuren aus anderen Mystery-Romanen vor, auf die manche Fans lange gewartet haben. Erneut greifen die Zahnräder ineinander und bringen die Welten näher zusammen.

Wer genau?

Oh, das verrate ich nicht. Und wer sich selbst überraschen lassen möchte, überspringt am besten das Dramatis-Personae-Verzeichnis.

Keine Sorge, auch ohne die Werke gelesen zu haben, in denen die Figuren erstmals aufgetreten sind, wird man spielend leicht verstehen, was sich zuträgt, und kleine Erklärungen gibt es obendrein.

 

An Anekdoten rund um das Henkershandwerk fehlt es ebenso wenig, um das Bild abzurunden und Einblicke in diese ungewöhnliche Zunft zu geben. Ein weiteres Mal.

 

Vorhang auf für alte Feinde und neue Freunde!

Ich wünsche beste Unterhaltung.

 

Markus Heitz

im Herbst 2020

Dramatis personae

Gegenwart

Geneve Cornelius: Heilkunde-Expertin

Alessandro Bugatti: Vatikan-Polizist

Giovanni Bugatti: Alessandros Sohn

Giovanna Battista Bugatti: Anführerin der Bugatti-Dynastie

Dara Oschatz: Gestaltwandlerin (Wölfin)

Trude Oschatz: Daras Mutter, Gestaltwandlerin (Wölfin)

Gedeon & Elaine: Dämonenpaar

Sia: Vampirin

Eric: Sias Mann

Elena: Sias Tochter

Konstantin Korff: Bestatter

Ares Löwenstein: Personal Trainer

Marlene von Bechstein: Industrielle

Thesda: Wicca des Tamesis-Covens

Pablo: Exemplum

Molaris: Confessarius

Pater Gabriel Russo: Exorzist

Giles Sanson: Bestatter

Signore Altro & Signore Romano: Investoren

Piccola: Stationsschwester

Michele: Aufpasser

Ushaß: Upyr

Vergangenheit

Geneve Cornelius: Heilerin

Catharina Cornelius: Geneves Mutter, eine Meisterin, Anführerin der Cornelius-Dynastie

Sedra: Anführerin der Vaganten

Baschno: Vagant

Conrad Machner: Sohn des Richters

Anna Schlachter: weise Frau

Hilgund Weidner: weise Frau

Rike: Hilgunds Tochter

Hinrich: Faktotum

Gospodar: Reisender

Fiktionshinweis

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Es gibt keinerlei Ähnlichkeiten zu lebenden oder toten Menschen, und sollte es welche geben, basieren sie auf reinem Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Kapitel I

Sieh einer an. Wir kennen uns doch – oder täusche ich mich?

Ich nehme an, Sie sind neugierig, wie meine Geschichte endet, die ich vor einiger Zeit zu erzählen begann. Die Geschichte von meiner Tochter Geneve und Alessandro Bugatti, mit der Fehde und den Henkersdynastien. Und der Liga der Dunkelheit.

Oder habe ich mich vertan und unsere Wege kreuzen sich just zum ersten Mal?

Dann vergeben Sie mir bitte. Das Leben als Geisterseele hat Nachteile, mein Kurzzeitgedächtnis ist nicht das beste.

Ich bin Catharina Cornelius und schon vor einiger Zeit ermordet worden. Darum soll es jedoch nicht gehen. Meine Zeit läuft ab. Meine Seele löst sich von der Erde. Diese letzten Stunden, die Sie mir schenken, will ich nutzen.

 

Sie werden von Wesen der Dunkelheit und jenen Kreaturen erfahren, die im Verborgenen lauern, die mitten unter uns sind, ohne dass gewöhnliche Menschen sie erkennen. Wir werden über das Gute und das Böse in all seinen Formen sprechen.

Zu meinen Lebzeiten hatte ich damit zu tun und war wie meine Tochter eine Wissende. Wovon ich Ihnen nun berichte, begegnete mir in dieser Art auch zum ersten Mal, und das will etwas heißen. Niemals hätte ich mit dieser Ungeheuerlichkeit gerechnet.

Nun denn.

Beginnen wir mit meinem dritten und letzten Teil der Geschichte dort, wo schon die erste begann: in Deutschland, in der heutigen Stadt Leipzig.

Oh, und eine weitere Sache hat sich nicht geändert: mein Ratschlag, wie sich diese Geschichte am besten lesen lässt.

Oder besser gesagt: am sichersten.

Nehmen Sie sich ein gutes Getränk Ihrer Wahl, suchen Sie sich einen gemütlichen Platz, mit dem Rücken zur Wand und den Blick auf Türen und Fenster, und dann folgen Sie meinen Worten.

 

Dara eilte die teils ausgetretenen, schmalen Backsteinstufen der Moritzbastei hinauf, das Smartphone in der Rechten, und lauschte angestrengt; vereinzelt knirschten Schneereste unter ihren Sohlen.

»Frau Cornelius, ich höre Sie nicht gut. Moment«, bat sie, und ihr Atem wurde in der kalten Januarluft sichtbar. Ihre modisch zerrissenen Jeans, das weiße Printshirt und die schwarze Lederjacke schützten die zierliche Blondine nicht sonderlich gut gegen die Kälte. Aber dafür waren die Klamotten auch nicht gedacht.

Mit einem Schwenk betrat Dara die flache Erdgeschossebene über den Katakomben der Bastei und eilte die Metalltreppe auf den kleinen verschneiten Wall hinauf, auf dem im Sommer Märkte oder das Freiluftkino stattfanden.

»Ist der Empfang jetzt besser?« Dara winkte ihren Dutzend Begleiterinnen und Begleitern fröstelnd zu, die ihr aus dem Gewölbekeller der Bastei folgten. Die Nacht war zu jung, um in einer Location zu verweilen. Die Wandlerinnen und Wandler gehörten zu ihrem Rudel, das sich den Süden der Stadt unter die Krallen gerissen hatte. Normale Menschen erkannten die Besonderheit der jungen Leute nicht. »Wie ist der Urlaub, Frau Cornelius?«

Geneve lachte aus Hunderten Kilometern Entfernung. »Na ja, Urlaub … Ich weiß nicht.«

»Aber klar ist das Urlaub. Sie und Alessandro sind im schönen Lausanne, genießen den See, die Berge, die Luft, das Skifahren.«

»So weit sind wir noch nicht.«

Dara hörte die Zurückhaltung in der Stimmlage und dem Tonfall ihrer Ausbilderin. Seit einiger Zeit unterrichtete Geneve Cornelius sie in Heilkunde – und sie lehrte sie das verborgene, geheime Wissen aus etlichen Jahrhunderten. In einigen Jahren besäße Dara das Wissen der Meisterin, wenngleich sich die junge Wandlerin während der Lektionen noch sehr dumm vorkam. Geneve tröstete sie stets damit, dass sie selbst Dekaden benötigt hatte, um sich dieses Wissen anzueignen.

»Sie und Alessandro haben sich noch nicht ausgesprochen«, riet Dara.

»Nein. Aber deswegen rufe ich nicht an.«

Dara ging einige Meter den Wall entlang, weil ihre Freundinnen und Freunde die Metalltreppe hinaufstürmten und sich sogleich auf dem Wall unter großem Hallo und Gelächter eine ausgelassene Schneeballschlacht lieferten. »Entschuldigen Sie, Frau Cornelius. Ich wollte nicht neugierig sein.«

»Du hast Spaß, wie ich im Hintergrund höre?«

»Oh, das? Das ist das Rudel. Heute ist Party angesagt.« Dara ging über die verschneiten Steine bis ans Ende der Befestigungsüberbleibsel. »Wir waren in der Moritzbastei und ziehen jetzt weiter.«

»Wohin denn?«

»Oper.« Dara feixte, als sie die erschrockene Stille in der Verbindung hörte. »Nein, keine Angst, Meisterin. Diese Horde betrunkener Wölfe kann ich dem ehrwürdigen Kulturhaus nicht zumuten. Da gehe ich lieber mit Ihnen hin.«

Geneve atmete erleichtert aus und musste lachen. »Dann viel Vergnügen. Die Ablenkung tut dir gut.«

»Danke.« Dara wusste, worauf ihre Lehrerin anspielte. Zum einen hatte sie ihren Freund vor nicht allzu langer Zeit unter dramatischen Umständen verloren, zum anderen war sie in der Hand eines Inquisitors gewesen, der sie einer grausamen Behandlung unterzogen hatte, um ihr die Wölfin auszutreiben. Beide Ereignisse hatten schwere Spuren in ihrer Psyche hinterlassen. Bevor die Bilder der Vergangenheit aus Daras Unterbewusstsein aufstiegen, sagte sie schnell: »Den haben wir.«

»Aber vorher«, setzte Geneve rasch nach, »hätte ich gerne einen Bericht, was die heutigen Aufgaben angeht.«

Daras schlechtes Gewissen meldete sich, noch dazu fröstelte sie. »Oje. Ich, äh, hatte Ihnen keine Mail geschickt?«

»Nein, Dara.«

»Oh, Scheiße.« Die Wandlerin verzog schuldbewusst das Gesicht. »Ich war mir sicher, dass die Nachricht rausging.«

»Wir hatten vereinbart, dass du mir jeden Tag eine Zusammenfassung schickst: was du getan hast, welche Patienten da waren, was du ihnen gegeben hast.« Geneve klang tadelnd. »Das war die Abmachung. Sonst wäre ich nicht in Urlaub gefahren.«

Dara rieb sich mit den kalten Fingern über die Stirn und warf eine platinblonde Strähne zurück. Ihr knappes Outfit verstärkte das Frösteln. »Darf ich es Ihnen morgen schicken?«

»Einverstanden. Aber du wirst mir jetzt sagen, was du erledigt hast. Knapp. Und morgen früh will ich die Einzelheiten.«

»Ist gut.« Dara wusste noch sehr genau, was sie den ganzen Tag in der heilkundlichen Praxis getrieben hatte, vom Herstellen diverser Sude aus Pflanzenteilen bis zum Anmischen chemischer Verbindungen, damit die Grundstoffe in ausreichender Menge verfügbar waren. Artig zählte sie alles auf und erwähnte auch die vier Patientinnen und Patienten, die in die schnucklige alte Villa in Schleußig gekommen waren, um ihre Mittel abzuholen.

»Lief großartig, obwohl Sie im Urlaub sind, Frau Cornelius. Und Frau Tirinack hat Ihnen wieder Marmelade dagelassen«, schloss Dara.

»Oh, sehr gut. Welche Sorte?«

»Schwarzkirsche.«

Geneve seufzte selig. »Na, da komme ich doch gerne wieder zurück. Danke für die Zusammenfassung. Und morgen die Einzelheiten über die Destillate. Mit genauen Angaben und Lösungszahlen.«

»Ja, Frau Cornelius.« Dara fühlte sich erleichtert. »Ich habe auch nichts vergessen.«

»Dann wünsche ich dir und deinen Freunden noch einen ausgelassenen Abend. Lasst die Stadt stehen und trinkt nicht mehr, als ihr vertragen könnt.«

»Machen wir, danke.« Dara sah zu den beleuchteten, tief hängenden Wolken, aus denen die Flocken rieselten. Ganz Leipzig lag unter einer weißen Decke, die Räumfahrzeuge kamen kaum nach. Niemand, der nicht unbedingt musste, hielt sich im Freien auf. »Ich weiß, ich soll nicht zu neugierig sein, aber …«

»Genau«, unterbrach sie Geneve freundlich, doch bestimmt. »Sollst du nicht.«

»Okay. Dann richten Sie Alessandro liebe Grüße aus.« Dara räusperte sich und fing übermütig einen trudelnden Schneekristall mit der Zunge. Die Flocke schmolz kühl und brachte sie zum Schaudern. »Seien Sie nicht zu hart mit ihm, Meisterin. Er …«

»Gute Nacht, Dara.«

Klick.

»War klar«, murmelte die Wandlerin.

Die Batterieanzeige des Smartphones warnte vor dem baldigen Ende der Energie, die Kälte sog die Spannung aus dem elektrischen Gerät. Schnell steckte sie das Telefon in die Hosentasche.

In der gleichen Sekunde bemerkte Dara, dass etwas fehlte: Das heitere Rufen ihrer Freundinnen und Freunde war verstummt. Die Schneeballschlacht war entschieden, und das Rudel wartete auf sie, damit sie den nächsten Club unsicher machten.

»Na, wer hat das Gefecht gewonnen?«, setzte Dara im Umdrehen an. »Gibt es Verl–« Sie stockte vor Schreck.

Etwa drei Schritte von ihr entfernt erhob sich der gewaltige Umriss eines Menschen auf dem Wall, mindestens zwei Meter hoch und über die Maßen mit Muskeln bepackt; der um die Schultern gelegte Pelzmantel verstärkte den Eindruck. Das Gesicht lag im Schatten eines ausladenden Hutes mit breiter Krempe.

»Hallo, Dara«, erklang eine feste Frauenstimme, in der etwas Tieferes mitschwang, als soufflierte ihr ein Mann aus dem Verborgenen.

Rechts und links von der Gestalt saßen zwei elegante Katzen mit schwarz getigertem Fell, die Dara aus glühend roten Augen anfunkelten und der Unbekannten bis an den Oberschenkel reichten; die Schweife zuckten und wischten im Schnee.

»Scheiße, was bist du denn?«, entfuhr es Dara. »Und wieso habe ich dich nicht gerochen?« Aus dem Schreck wurde Schock, als sie im Hintergrund die Körper ihrer Freundinnen und Freunde sah. Sie lagen am Boden. Um sie herum hatten sich rote Lachen gebildet, der Schnee war von den Spritzern gesprenkelt und verziert.

»Weil ich es nicht wollte«, antwortete die duale Stimme. »Sonst wäre ich nicht nahe genug an dich herangekommen. Und dein Rudel.«

Dara regte sich nicht, auch wenn sie die aufsteigende Wut nicht unterdrücken konnte. »Hast du sie umgebracht?« Das aufkommende Ziehen in ihren Gliedmaßen verkündete die bevorstehende Verwandlung in ihre Halbform. Ein Kampf war unausweichlich – und sehr gewünscht. »Wieso?«

»Nicht einfach umgebracht. Vor die Wahl gestellt.« Die Unbekannte hob den Kopf leicht, und ein verirrter Lichtstrahl erhellte ihre Züge. »Sie lehnten ab.«

Daras Augen weiteten sich. Der Unterkiefer des Wesens wirkte falsch, beim Sprechen zeigten sich zu große Zähne, als habe man den Kieferknochen eines Mannes in einen Frauenkopf transplantiert. Noch schrecklicher war die sich zersetzende rechte Gesichtshälfte anzusehen, während exakt in der Mitte übergangslos das Antlitz einer wunderschönen Frau begann.

»Wer bist du? Was willst du?«

»Mein Name ist Molaris«, antwortete das Wesen ruhig. »Und ich bin erschienen, um Fragen zu stellen.« Sie zeigte mit der behandschuhten Rechten auf die Leichen. »Wie ihnen. Wie dir. Wie vielen Angehörigen der Anderswelt. Einfache Fragen, die Antworten nach sich ziehen. Und Konsequenzen haben.«

Dara hielt die Wandlung in eine Werwölfin zurück. Sie wollte mehr erfahren, falls die Auseinandersetzung nicht den gewünschten Verlauf nahm und sie flüchten musste. Ein Rudel Wandler in ihrem Rücken außer Gefecht zu setzen, ohne dass sie etwas davon gehört oder gerochen hatte, machte sie vorsichtig.

»Die Konsequenz ist der Tod?«

»Manchmal.« Molaris streichelte die riesigen Katzen, die sich an ihre Hände schmiegten und deren Schnurren an das Brodeln in einem Kessel erinnerte.

Unvermittelt erklang vielstimmiges Lachen, und mehrere Besucher kamen die Treppe der Bastei hinauf. Niemand warf einen Blick zur Wallmauer hinauf. Die Gruppe eilte durch das Gestöber davon.

Dara ballte die Finger zu Fäusten. »Du hast meine Freunde umgebracht!«

»Ganz richtig. Aber sie hatten eine Wahl«, betonte Molaris. »Jeder und jede, den oder die ich aufsuche, wird sich entscheiden können. Du wirst sehen: Es ergibt alles Sinn.« Sie lächelte unter ihrem Hut hervor, einmal halb verfault, einmal anmutig und makellos.

Dara dachte an die Gesichter zweier Puppern, die falsch montiert worden waren. Auf der Nase der Kreatur saß eine Zwickerbrille, die das Antlitz noch abstruser machte.

»Du wirst auch mich fragen?«

Molaris nickte. »Aber in deinem Fall werde ich dramatischer sein. Du bist etwas Besonderes. Das spüre ich, Dara. Du hattest Kontakt zum Reinen und Guten. Doch der Dämon in dir setzte sich hernach durch.«

»Was redest du da für eine verfickte Scheiße?«

»Du wirst wissen, was ich meine.« Molaris senkte den Kopf, und die Züge verschwanden im Schatten der Krempe. Hinkend machte sie einen Schritt auf die Wandlerin zu, dabei zog sie das rechte Bein leicht nach. »Es ist an der Zeit, dass ich dir die Wahl lasse.« Die beiden Katzen blieben stoisch sitzen und betrachteten die Wandlerin aus rot lodernden Augen.

Dara wich zurück, um den Abstand zu halten. Sollte sie kämpfen oder verschwinden, um den Rest des Rudels zu warnen und die Meisterin zu kontaktieren? Die Leichen verrieten, dass Molaris trotz des Hinkens keine leichte Gegnerin war. Andererseits waren ihre Freundinnen und Freunde womöglich überrascht worden und es war kein fairer Kampf gewesen.

»Ich will die Frage nicht hören.« Mit zwei raschen Sprüngen befand sich Dara auf der Mauer und drückte sich ab, um in die Tiefe zu springen und dem Scharmützel auszuweichen. Ihre Mission war größer. Die Anderswelt von Leipzig musste von dieser Verrückten erfahren, sosehr es sie schmerzte, keine Rache zu üben.

Eine pötzliche Böe wirbelte, und wie aus dem Nichts stand Molaris auf der Mauerkrone. Sie packte Dara im Sprung in die platinblonden Haare und riss sie daran zurück, schmetterte sie auf den verschneiten Wall, sodass die Welt für Sekunden um die junge Wandlerin schwarz wurde.

 

Als Dara ächzend die Augen öffnete, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden, über sich nichts als die von Stadtlichtern illuminierten grauweißen Wolken und wehenden Flocken. Der Wind heulte, verfing sich säuselnd und pfeifend an Kanten und Gestängen.

»Das ist nicht die Bastei«, murmelte Dara und richtete sich auf. »Fuck, wo …?«

»Ganz recht.« Ihr gegenüber stand die rätselhafte Molaris, an deren langem, schwerem Pelzmantel der kleine Sturm riss und zupfte; die Hutkrempe bog sich, doch die Kopfbedeckung flog nicht davon. »Wir sind auf dem Dach des Uniriesen. Ist das nicht ein passender Ort?«

Dara rappelte sich auf und zitterte am ganzen Körper. Die Temperatur ähnelte ihrem Empfinden nach der am Nordpol, die Zähne klapperten gegen ihren Willen. Sie aktivierte ihre Selbstheilungskräfte, um die Benommenheit abzuschütteln, die der heftige Aufprall bei ihr hinterlassen hatte. »Was soll das?«

»Ich versprach dir mehr Dramatik.« Molaris kam mit einem grotesken Hüpfer näher, der zu schnell erfolgte, als dass Dara ausweichen konnte. »Die sollst du bekommen.« Die linke Hand packte Daras Kehle, das schwarze Leder des Handschuhs knirschte und unterstrich die enorme Kraft der Frau, dann wurde die blonde Wandlerin angehoben. Ihre Füße verloren den Kontakt zum Boden, bis sie am ausgestreckten Arm gut einen Meter über den Dachplatten schwebte. »Aber bevor wir zu deiner Entscheidung kommen, sollst du noch etwas wissen. Das mag dir die Wahl einfacher machen.«

»Lass mich!« Dara spürte unsägliche Angst um ihr eigenes Leben – und ließ die lauernde, drängende Wölfin in sich frei, erlaubte ihr, Besitz von ihr zu nehmen. Ohne ihre besonderen Kräfte wäre sie gegen eine Gegnerin wie Molaris verloren. »Oder ich schwöre, dass ich dich zerfetze«, sprach sie grollend unter dem Einfluss der Verwandlung. Ihre Muskeln schwollen an, ihr Kopf wurde der einer Bestie, die Reißzähne wuchsen. Warnend knarzten die Nähte ihrer Kleidung.

»Meine Arbeit ist umfassend und wird lange andauern. Denn ich fand zu neuem Leben, zu neuer Bestimmung«, erklärte Molaris unbeeindruckt. »Alles Böse unterwirft sich mir und erkennt mich als sein Oberhaupt an. Oder wird von mir vernichtet.«

»Das ist die Entscheidung, vor die du uns stellst?«, entgegnete Dara knurrend.

»Exakt. Dein kleines Rudel lehnte es ab, mich anzuerkennen.« Molaris lachte mit zersetztem Mund und vollen Lippen, zeigte perfekte Zähne gleichzeitig mit abgebrochenen, gelblichen Stummeln. »Du hast die Konsequenzen daraus gesehen.«

»Du bist vollkommen irre!«

»Irre sind jene, die sich gegen mich entscheiden. Bevor ich sie zermalme!«

Dara keuchte und versuchte, mit ihren klauenartigen Händen den Griff um ihre Kehle zu sprengen. »Und was geschieht mit den Guten auf dieser Welt?«

»Die sind mir gleich. Vorerst.« Molaris schüttelte die Wandlerin in ihrer Halbform hart und schnell, sodass Daras Kopf hin und her geworfen wurde. Ihre Wirbel knackten. Einem normalen Menschen wäre das Genick gebrochen. »Du weißt, dass du einem Dämon dienst? Du bist keine freie, wilde Wölfin.«

Dara erinnerte sich vage, dass sie etwas Ähnliches schon einmal vernommen hatte. »Das ist Scheiße!«

»Kein bisschen. Ihr Bestien und Geschöpfe des Bösen seid Knechte von Dämonen und nichts weiter als ihre irdischen Schachfiguren und Heere, die sie ins Feld schicken, weil sie Macht auf Erden wollen.« Molaris betrachtete Daras vergebliche Versuche, ihre Finger vom Hals zu lösen, mit sichtbarer Neugier. »Diesem Dämonenspiel bereite ich ein Ende. Du entscheidest, welches Ende es für dich nimmt, Dara.« Sie beugte den ausgestreckten Arm mit der Wandlerin und zog ihn langsam näher zu sich. »Warum habe ich das Gebäude für unsere kleine dramatische Einlage ausgesucht?«

»Fick dich!«

»Aus zwei Gründen. Zum einen, weil er geformt ist wie ein Zahn. Ein langer, spitz zulaufender Reißzahn. Ich dachte, es passt zu einer Werwölfin.« Molaris ignorierte die Tritte, die sie von der Wandlerin bekam. »Zum anderen, weil er sehr, sehr hoch ist. Von uns aus hundertzwanzig Meter. Dies gibt dir reichlich Gelegenheit, über meine Worte nachzudenken. Vor deinem Aufschlag.«

»Was?« Dara kam dem zweigeteilten Frauengesicht ganz nahe. Sie dachte darüber nach, eine Attacke zu wagen und zuzuschnappen – da wurde sie plötzlich zu einem brutalen Kuss nach vorne gerissen. Zähne und faulende Haut trafen sie ebenso wie warme, butterzarte Lippen, von denen man niemals genug bekam.

Noch ehe Dara den Kopf zurückziehen oder angreifen konnte, fühlte sie das Kribbeln, das sich sofort ausbreitete und überall in ihrem Körper verteilte.

Erst dann löste sich die zweigesichtige Frau von ihr. Dieses Mal behutsam und bedauernd. »Du hast meinen Segen erhalten und meine Kraft übertragen bekommen, welche die dämonische Macht in dir besiegen kann«, sprach Molaris getragen. »Sofern du es zulässt und deinem alten Herrn abschwörst.«

Dara verstand kein Wort von dem, was Molaris erzählte. Sie hatte den widerlichen Geschmack von Fäulnis und Tod im Mund, schmeckte zugleich die Süße der anmutigen Seite der Frau. Beinahe hätte sie sich übergeben. »Ich weiß nicht, was du von mir willst!«

»Du bist etwas Besonderes, Dara. Entsage deinem alten Dämonenherrn und lass dich umwandeln wie ich. Verändere dich. Erhalte eine neue Gestalt und sei meine rechte Hand«, sagte Molaris. »Nur dann wirst du den Sturz überleben.«

»Ich bin eine Wandlerin und kann mich selbst regenerieren, wenn …«

»Diesen Sturz überstehst du nicht. Nur mit meiner Macht in dir«, unterbrach sie die Frau. »Dir obliegt die Wahl. Triff im Flug deine Entscheidung. Unterwirf dich mir und wir sehen uns wieder.«

Ruckartig streckte Molaris ihren Arm zum Wurf, öffnete die Finger und gab Dara frei.

»Nein!« Hatte die zierliche Wandlerin eben noch vergeblich probiert, den Griff der Gegnerin zu lösen, versuchte sie nun, sich mit den Nägeln am Ärmel des Pelzmantels festzukrallen.

Aber es war zu spät.

In hohem Bogen flog Dara rücklings über die Aussichtsplattform des aufragenden Turmes und über das Dach hinweg.

 

Überlassen wir Dara diesem dramatischen Moment und schauen nach meiner Tochter, die nichts ahnend … nein, das stimmt nicht. Sie hatte im Gespür, dass etwas nicht so verlief, wie es sollte.

Doch ihre Gedanken waren zu sehr abgelenkt. Von diesem Bugatti-Jungen. Ja, ich weiß, er ist kein schlechter Kerl, aber es gab zwischen ihm und Geneve einige Dinge zu klären. Aufzulösen. Auszusprechen.

Dazu waren sie in die Schweiz gefahren, nach Lausanne. Da die Unterhaltung unangenehm werden konnte, sollte wenigstens das Ambiente angenehm daherkommen. Das verschneite Lausanne und die sündhaft teure Unterkunft gaben sich denn auch alle Mühe, ebenso kitschig wie schön zu sein.

 

Geneve saß an dem Tisch des hoteleigenen Restaurants, den sie vor zwei Stunden telefonisch reserviert hatte. Spontan. Für die Aussprache mit Alessandro.

Aufregung, etwas Angst und Sorge beherrschten ihre Stimmung, unter die sich Freude mischte. Ihr war in dem grünen Kleid mit hohem Kragen warm, die halblangen braunen Haare hatte sie deswegen schon hochgesteckt.

Um sie herum eilten Kellner, Besteck klapperte leise, es roch wundervoll nach den Speisen, die durch den Raum mit Almhütten-Charakter getragen wurden, der eine offene Feuerstelle in der Mitte hatte. Der Innenarchitekt hatte mit den alpinen Elementen nicht übertrieben, sie mit Glas und modernen Materialien gemixt, sodass der Kontrast zusammen mit dem phänomenalen Ausblick über den See die perfekte Mischung ergab.

»Wo bleibt er denn?« Geneve blickte abwechselnd zum Eingang und auf ihr Smartphone. »Keine Nachricht.«

Sie waren vor drei Tagen angereist. Einzeln. Getrennte Zimmer sowieso.

Bei aller Verbundenheit, die sie für den Mann empfand, wäre es ihr unmöglich gewesen, ihm näherzukommen, bevor die Dinge zwischen ihnen geklärt waren.

»Ciao, Geneve«, sagte Alessandro plötzlich neben ihr und sie zuckte leicht zusammen. Er setzte sich rasch auf den Stuhl gegenüber und lächelte. »Scusi für die Verspätung. Giovanni wollte noch etwas von mir.«

Er war aus der falschen Richtung gekommen und hatte sie überrumpelt. Damit war ein Teil ihrer Strategie, wie sie sich verhalten wollte, hinfällig. »Geht es ihm gut?« Etwas anderes fiel ihr nicht ein, um das Gespräch zu eröffnen. Er hatte das Aftershave aufgelegt, das sie so gerne mochte.

»Ja. Sieben Jahre, der ragazzo. Die Zeit vergeht rasch.«

»Ich finde, er ähnelt dir sehr.«

»Das sagen die meisten.« Alessandro sah auffordernd zum nahenden Ober, der ihnen die Karten für Speisen und Wein brachte. »Eine Flasche Wasser schon mal, bitte.«

Der livrierte Mann nickte und verschwand sogleich.

»Was sagt deine Mutter dazu, dass wir uns treffen?« Geneve fand, dass sie sich anhörte wie zu Teenagerzeiten.

»Ich habe mit ihr nicht darüber gesprochen.« Alessandro atmete tief ein, stützte die Unterarme auf und betrachtete Geneve aus seinen warmen braunen Augen. »Du siehst gut aus.«

»Das wollte ich eben auch sagen.« Natürlich trug er einen Anzug, pflaumfarbenes Sakko über schwarzem Hemd mit dunkelgrauer Krawatte. »Extravaganza.«

»Und du mal nicht im Hoody, sondern in einem hellgrünen Kleid. Dass ich das noch erleben darf.« Sein Lächeln wurde das eines Lausbuben. »Es steht dir. Wie der Schmuck.«

»Die Kette gehörte meiner Mutter.« Geneve wusste, was ein grünes Kleid aussagte: Hoffnung. Darauf, dass es zwischen ihnen wurde wie früher. Bevor sie von der Sache mit ihrem Bruder erfahren hatte.

»Was gibt es Neues im Vatikan?«, fragte sie ausweichend.

»Willst du das wirklich wissen oder machen wir erst ein wenig Konversation?«, erkundigte er sich.

»Konversation ist nichts Schlechtes.« Geneve wollte mehr von den Schwingungen aufnehmen, die ihr Alessandro sandte. Sich in die Situation hineinfinden. Mutiger werden und Entscheidungen treffen. »Aber der Vatikan ist vielleicht kein so gutes Thema.«

»Alora, ich habe ein besseres.« Mit einer Hand nahm er einen Brief aus der Innentasche seines Sakkos. »Das ist eine Einladung.« Er schob den Umschlag bis in die Mitte des Tisches und zog die Finger weg. »Für dich.«

Geneve war sich nicht sicher, ob sie die Botschaft lesen wollte. Das rote Wachssiegel darauf zeigte die Bugatti-Insignien. »Ich hoffe nicht, dass mich deine Mutter zu einer Feier einladen möchte«, sagte sie scherzhaft. Noch eine Überraschung, die bei diesem Treffen nicht erwünscht war.

»No. Und sie gilt so oder so, ganz gleich, wie unsere Unterhaltung enden wird.«

Geneve zog den schweren Brief zu sich und brach das Siegel behutsam. Das Wachs zersprang, die roten Krümel landeten auf dem weißen Tischtuch wie bizarr geformte Tränen.

»Haben sich die Herrschaften schon überlegt, was sie speisen und trinken möchten?«, fragte der lautlos zurückgekehrte Ober.

»Geneve?«

»Bestell was für mich mit.« Sie wollte ihre unterschiedlich farbigen Augen nicht von den Zeilen wenden, die eine Besonderheit verhießen.

Geschätzte Vetterin Geneve,

 

hiermit ergeht eine Einladung an Dich zum Treffen unseres Bundes der Dynastien.

Der einzige offizielle Tagesordnungspunkt soll sein: das offizielle Verkünden der Aufhebung der Fehde zwischen den Familien Bugatti und Cornelius.

Weitere Anträge können im Vorfeld schriftlich gestellt werden, über deren Annahme der Bund der Dynastien im Plenum entscheidet.

 

Ich bitte Dich herzlich um Zusage und Erscheinen.

 

Mit den besten Grüßen und Wünschen

Giovanna Battista Bugatti

Geneve senkte das handgeschöpfte Büttenpapier und sah zu Alessandro. »Das Datum passt mir. Und es wäre schön, die ganzen alten Bekannten und Freundinnen wiederzusehen.«

»Darf ich Mamma deine Zusage überbringen?«

»Darfst du.« Geneve hatte inzwischen ein Glas Rotwein vor sich stehen, den Alessandro für sie geordert hatte. Das Getränk duftete und versprach schweren Genuss. Dafür war es ihrer Ansicht nach noch zu früh und sie nahm stattdessen einen Schluck Wasser aus dem Glas daneben. »Ist es wirklich der einzige Grund?«

»Was meinst du?«

»Signalisierte eine der Dynastien, ein besonderes Anliegen zu haben?«

Alessandro schüttelte den Kopf mit den kurzen schwarzen Haaren. »Bislang gingen keine Anträge ein. Weißt du etwas darüber von deiner Brieffreundin aus der Familie Sanson?«

»Nein. Wir schrieben uns in letzter Zeit nicht.« Seine Frage machte Geneve auf ihr Versäumnis aufmerksam. »Das sollte ich unbedingt nachholen.«

»Übergib ihr deinen Brief doch gleich beim Treffen.« Alessandro nahm die gefaltete Serviette vom Tisch, um dem Teller Platz zu machen, den der angerückte Kellner abstellen wollte; ein zweiter näherte sich Geneve. Auch sie räumte eine Lücke zwischen dem Besteck und dem weißen Tuch frei.

»Vielen Dank. Meine Dame, mein Herr, wir haben für Sie Carpaccio vom Schweizer Rind mit Parmesan und Trüffeljus.«

»Gute Wahl, Alessandro. Danke.« Obwohl Geneve keinen großen Hunger verspürte, kostete sie. Ihr Magen hatte vor zwei Stunden bereits geknurrt, aber die Aufregung nahm ihr den Appetit. Außerdem musste sie entscheiden, wie sie zum eigentlichen Thema ihres Treffens kam.

Schweigend aßen sie das Carpaccio, während die Gäste um sie herum lauter und tischweise fröhlicher wurden. Geneve und Alessandro bildeten den Gegenblock zur aufkommenden lockeren Atmosphäre. Auch er tat sich erkennbar schwer mit einer Eröffnung und schien ihr den Anfang überlassen zu wollen.

Kurze Zeit später kam das Kellnergespann und räumte die Reste der Vorspeise ab. Die Stille zwischen den beiden nahmen sie nicht mit.

Geneve knautschte den Zipfel der Serviette, die über ihrem Schoß lag. Sie hielt es nicht länger aus. »Du hast meinen Bruder ermordet, Alessandro.«

Er hob die dunklen Augenbrauen. »Das war direkt.«

Geneve hatte etwas anderes sagen wollen, aber ihr Mund machte sich selbstständig. »Wozu drum herumreden? Du hast ihn getötet und ihm den Kopf abgeschlagen, weil er deine Familie bedrohte. Im Suff bedrohte!« Er wollte etwas einwerfen, aber sie bremste ihn mit einer Geste. »Mein Bruder war ein schlechter Mensch, ich weiß. Und grausam. Und ein Sadist. Aber wie konntest du etwas auf diese Nachricht geben, die er den Bugattis schrieb? Man erkannte schon an der Schrift, dass er stockbetrunken gewesen war.« Sie vollführte eine Handbewegung, um ihn zum Sprechen aufzufordern.

»Ich sagte dir, dass ich deinen Bruder Jacob immer ernst genommen habe. Aber auch ohne dass er einen Tropfen angerührt hatte, war ihm anzusehen, was er damals dachte, als ich ihn zur Rede stellte.«

»Du hast interpretiert!«

»No! Ich wusste, dass er ein Befürworter der Fehde ist und nur auf einen Auslöser lauert. Ein Wort, eine Andeutung deiner Mutter, und er hätte uns attackiert und sich auf den Zwist berufen.«

Geneve war bewusst, dass Alessandro recht hatte. Trotzdem konnte sie sein Tun nicht hinnehmen. »Aber warum diese Heimtücke? Warum nicht … ein anderer Weg?«

»Ein Duell?«

Geneve zuckte mit den Achseln. »Was weiß ich denn? Ja, von mir aus auch ein Duell.«

Alessandro machte ein ernstes Gesicht. »Hast du vergessen, für wen er gearbeitet hat?«

»Den MI6.«

»Und was, denkst du, wäre vor dem Zweikampf geschehen?« Alessandro hob andeutungsweise sein Steakmesser. »Niemals hätte sich dein Bruder darauf eingelassen. Entweder es wäre nach seinen Regeln gelaufen oder gar nicht.«

»Und da hast du beschlossen, ihn zu töten.«

»Sì.«

Geneve schloss für Sekunden die Augen. »Und um von dir abzulenken, hast du die Tat der Familie Carstensen in die Schuhe geschoben.«

»Damit wäre diese unselige, sinnlose, längst überholte Fehde zwischen unseren Familien beendet gewesen. Die Spuren der Carstensens hätten ins Leere geführt.«

»Hast du vorher …«

»Geneve, es gibt keinen mehr aus der Carstensen-Familie, den deine Mutter oder du hättest jagen können. Ich hatte alles genau geplant.«

»Nur nicht, dass mein Bruder an dem Abend jemand treffen wollte, der die Gunst der Stunde nutzte und meine Mutter tötete.« Geneve nahm einen großen Schluck vom Wein.

»Aber ich brachte sie nicht um. Und hätte es niemals tun können. Die wahre Mörderin ist tot.« Alessandro breitete die Arme aus. »Weder leugne ich meine Tat, noch versuche ich, irgendwas zu beschönigen. Ich musste deinem Bruder zuvorkommen, sonst hätte er mich, meine Mutter oder meinen ragazzo attackiert.« Auch er tauschte das Wasser gegen den Wein. »Dass ich mich danach in dich verliebe … dagegen konnte ich mich nicht wehren. Und ich weiß, dass ich mit meinem Plan aufs Spiel gesetzt habe, was wir haben.«

An seiner schnell pochenden Halsschlagader erkannte Geneve, wie aufgeregt er war. »Was haben wir, Alessandro?«

»Wir empfinden etwas füreinander. Es war da. Gleich zu Beginn.« Seine Sprechgeschwindigkeit steigerte sich. »Und ich glaube fest daran, dass es etwas Großes ist. Es wird uns für immer verbinden, weil …« Sichtlich rang Alessandro mit seinen Emotionen und suchte zugleich nach passenden Worten. »Ich möchte das nicht verlieren. Ich möchte dich nicht verlieren, Geneve. Weil ich nicht mehr an die Liebe geglaubt habe. Bis ich dich traf.« Danach sackte er zusammen, sein breites Kreuz verlor die Spannung. Es war alles gesagt, jetzt war er hilflos und aufgelöst.

Geneve schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Ich spürte es auch. Von Beginn an, wie du sagst.« Sie sah auf den Teller, der vor ihr abgestellt wurde. Selbst gemachte Pasta alla casa. Natürlich. »Lass uns den Abend nicht aufgeben. Ich bin noch zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt und muss … einordnen.«

»Naturalemente.« Alessandro goss ihr vom roten Wein nach und brach das Einschenken abrupt ab. »Oder lieber nicht mehr davon? Am Ende denkst du, ich würde dich betrunken machen wollen.«

»Ich kann den Wein auch einfach nicht trinken, wenn mir nicht danach ist.« Geneve bedankte sich mit einem etwas größeren Lächeln für seine Geste und nahm den Parmesan. »Mein Bruder und ich hatten uns längst entfremdet. Wir waren sehr verschieden. Grundverschieden.«

»Das wusste ich nicht. Aber später war es meine einzige Hoffnung«, entschlüpfte es Alessandro, der prompt rot wurde. »Das war taktlos, verzeih!«

Sie konnte es ihm nicht verdenken. »Manche würden sagen: Letztlich holte ihn seine eigene Schlechtigkeit über die Jahrhunderte ein. Er bekam die Strafe für sein brutales Verhalten. Und weiß Gott, er brachte viel Leid und Tod auch über jene, die es nicht verdienten.«

Alessandro spießte ein paar Nudeln auf – und hielt inne. Ihm war ihre Formulierung aufgefallen. »Porca miseria!«, stieß er überrascht aus. »Dann … dann ist es wahr? Die Familie Cornelius ist unsterblich?«

»Deine Überraschung ist echt?« Geneve hielt es Alessandros Mutter zugute, dass sie ihm nichts verraten hatte. Um Donna Becchina, wie sie auch genannt wurde, vor dem Krebs zu schützen, hatte sie der Anführerin des Bugatti-Clans genug von ihrem geheimnisvollen Elixier überlassen, um ihr Leben um fünfzig Jahre zu verlängern.

»Certo!« Alessandro senkte die Gabel, lachte einmal auf und schlug die Hände zusammen, ohne den faszinierten Blick von ihr zu wenden. »Du bist unsterblich. Das Ewigkeitsserum. Die Legende ist wahr!«

Geneve sah keinen Grund mehr, ihm etwas vorzumachen. Sie gingen auf der Straße der Wahrheit, und sie wollte nichts aussparen. »Das ist sie.«

»Dann stimmt die Geschichte, die du Giovanni über den Gelehrten Hieronymus und den Upyr erzählt hast? Wie Hieronymus dem Vampir das Elixier stahl?«

»Ja.« Geneve ließ ihre Deckung vollends fallen. »Ich habe deiner Mutter etwas vom Serum gegeben. Die nächsten Jahre sollte sie damit überstehen. Bis dahin hat sie ihrem Enkel hoffentlich alles beigebracht, was er als Bestatter wissen muss. Und als Bugatti. Und über die Anderswelt. Und wer weiß, vielleicht darf sie noch auf seiner Hochzeit tanzen?«

Alessandros Augen wurden größer, sein Gesicht spiegelte die verschiedenen Gefühle, die ihn durchtobten. Einen Moment blitzte Ärger darüber auf, dass sie es ihm nicht früher gesagt hatte. Geneve konnte es deutlich erkennen, doch er biss sich auf die Lippen und die Verärgerung wich mehr und mehr Freude. Riesiger Freude.

Fassungslos legte Alessandro eine Hand vor den Mund, seine Stimme versagte. In seinen Augen glitzerte es feucht.

Geneve berührte kurz seine Linke und lächelte. »Iss. Es wird sonst kalt.«

 

Vieles war damit in Lausanne ausgesprochen. Aber noch längst nicht verarbeitet.

Hätte Geneve gewusst, was gerade in Leipzig geschah, wäre sie aufgesprungen und aufgebrochen, um ihrer Schülerin beizustehen.

Wobei … in dieser Lage könnte selbst meine Tochter wenig ausrichten. Denn die Wandlerin stürzte aus knapp hundert Metern vom Dach und raste der Erde entgegen …

 

Dara wirbelte in der Nacht umher, die surrenden Böen und der schneidende Fallwind zerrten an ihrer dünnen Kleidung.

Wolken, Stadtlichter, Häuserfronten, Dächer und der Uniriese flogen in raschem Wechsel vorbei. Genauso schnell raste und drehte sich Daras Denken.

Ich werde es nicht überstehen. Die Erkenntnis erschien unumstößlich in den zuckenden Gedanken. Doch um Rache an Molaris zu nehmen, um ihr Rudel zu warnen, um die Meisterin zu informieren – für all das musste sie leben! Tot nutzte sie niemandem etwas.

Der Wurf reichte aus, die schlanke Wandlerin über die weit neben dem Hochhaus angrenzende Universität zu schleudern, bevor sie über der bläulichen Glasschräge des Paulinums niederging.

»Ich erkenne dich an, Molaris!«, schrie Dara panisch in die Nacht und durchschlug in der nächsten Sekunde das Dach.

Aus dem Kribbeln in Mund und Leib wurde ein Reißen und Ziehen, als verbände sich ein Parasit mit ihrem Metabolismus, mit ihren Sinnen – und ihrer Seele. Solche Schmerzen hatte Dara in ihrem ganzen Leben nicht gefühlt. Und der Schrei löste sich von selbst aus ihrer Kehle.

Gleichzeitig prallte sie in einem Scherbenregen auf und krachte durch den Untergrund. Meter um Meter rauschte sie abwärts, um letztlich aufzuschlagen, umgeben von Splittern, Geröll und Staub.

»Oh, Scheiße«, hauchte Dara und wälzte sich auf den Rücken.

Jeder geborstene Knochen in ihrem Leib setzte sich umgehend knisternd und knackend zusammen. Die Pein loderte in jeder Zelle, die Übernahme durch Molaris’ Macht überlagerte jeglichen Verletzungsschmerz der Brüche und aufgerissenen und geplatzten Hautstellen.

Über ihr erhob sich in vielen Metern Höhe eine strahlend weiße Gewölbedecke. Die Wände und die Pfeiler um Dara herum waren in der gleichen Farbe gehalten. Fast konnte sie glauben, im Himmel gelandet zu sein – wäre die klaffende Lücke über ihr nicht gewesen, von der Betonbröckchen rieselten.

Dara wusste, dass sie mit ihren knappen fünfzig Kilogramm viel zu leicht war, um eine massive Decke zu durchschlagen.

»Es muss an der Veränderung liegen«, murmelte sie und stemmte sich schwerfällig auf die Beine. Die Füße trugen sie. Die Belastung der frisch verheilten Knochen, Bänder und Haut löste neuerliche Qualen aus; wieder fluchte sie leise.

»Du hast dich entschieden«, vernahm sie Molaris’ zufriedene, leicht hallende Stimme in ihrem Kopf, als befände sich die Frau mit Dara in der Kirche. »Ich freue mich, dass du am Leben bist.«

Dara stand gekrümmt auf der Stelle, wo sie aufgeschlagen war. Rundherum hatten sich rote Spritzer verteilt. Alles in ihr schien zu brennen und sich in Säure aufzulösen. »Was ist mit mir? Was hast du getan?«

»Dein alter Herr wurde aus deinem Innersten geworfen und durch mich ersetzt. Fortan dienst du keinem Dämon mehr, Dara. Du hast mir Treue geschworen. Aber wisse: Was ich dir gab, kann ich dir jederzeit nehmen.«

»Und dann?«

»Hast du nichts mehr. Und wirst sterben.«

»Du verdammte …«

»Es war deine bewusste Entscheidung. Nun lebe damit. Mit den Konsequenzen.«

Dara sah sich in dem leeren Andachtsraum um, der sich an die ebenso in Weiß gehaltene Aula der Universität anschloss. Reste ihres geborstenen Smartphones fanden sich hier und dort, die Hosentasche war beim Aufprall aufgerissen. »Fuck. Das ist neu gewesen.« Sie bückte sich ächzend und suchte die SIM-Karte. Die gespeicherten Daten durften nicht in falsche Hände gelangen.

Das Brennen in ihr ließ nach und verebbte. Die Umwandlung schien abgeschlossen. Dara lauschte in sich, aber von der Wölfin war nichts mehr zu spüren. »Was hast du aus mir gemacht?«

»Etwas Neues. Etwas, zu dem es keinen Vergleich gibt.«

»Was geschieht nun?«

»Geh nach Hause. Berichte niemandem davon und warte, bis ich mich melde, um dir Anweisungen zu geben«, erklärte Molaris.

»Was soll ich zum Tod meiner Freunde sagen?«

»Sie wurden von Unbekannten überfallen. Du kamst zu spät und hast eine Gruppe wegrennen sehen. Mehr nicht.«

Dara stiegen Tränen in die Augen. Dunkle Tropfen fielen auf den geweihten Boden und brannten zischend Flecken in die Platten.

Deutlicher hätte die Verwandlung nicht zutage treten können.

Leise stöhnend wankte Dara vorwärts.

Ich muss der Meisterin davon berichten, dachte sie. Nur ihr. Sie weiß, was zu tun ist. Und was es mit den Dämonen auf sich hat, die unsere Herren sein sollen. Endlich fand sie den Notausgang, der aus dem Paulinum führte. Sie ist die Einzige, die etwas gegen Molaris unternehmen kann. Und mich retten wird.

Eine Spur aus zischenden Tränen hinter sich lassend, floh Dara aus dem Gebäude, bevor der Objektschutz anrücken konnte.

* * *

Kapitel II

Ich mag nur noch Seele sein und gefeit gegen die Auswirkungen von Schwerkraft und andere Belange der Physik, aber Sie sehen mich beeindruckt von dem, was Dara geschah.

Und was sie überlebte.

Die Gute schleppte fortan ein Geheimnis mit sich herum. Ein tragisches. In ihrer Haut wollte ich nicht stecken. Sollte sie meine Tochter warnen und sterben – oder hoffen, dass sich schnell genug ein Gegenmittel finden ließe?

Wir treffen Dara gewiss wieder. Bis dahin kehren wir nach Lausanne zurück und schauen, wie sich die Dinge zwischen dem Bugatti-Jungen und Geneve entwickeln.

 

»Du weißt, dass ich immer in deiner Schuld stehen werde?« Alessandro hatte sich gefangen und die Tränen der Rührung weggewischt. Es war ihm nicht peinlich, derart ergriffen zu sein.

»Tust du nicht«, erwiderte Geneve sacht.

»Certamente! Du hast meine Mutter vor dem Tod gerettet.«

»Das tat ich für Giovanni. Weil ich weiß, wie sehr er seine Nonna liebt.« Sie freute sich zu sehen, dass ein gestandener Mann wie Alessandro seine Emotionen nicht verbergen konnte und wollte. »Sie erzählte es dir nicht?«

»Nein.« Alessandro stieß die Luft aus. »No, dio mio! Das hat sie nicht.«

»Gutes Zeichen. Sie bewahrte mein Geheimnis, ohne dass ich sie darum bat.«

»Das ist ein sehr gutes Zeichen.« Alessandro nahm das Weinglas und trank einen Schluck. »Du bist wirklich jene Geneve, mit der die Fehde begann«, stellte er feierlich fest. »Und mit der sie endet. Das ist ein großer Bogen durch die Jahrhunderte, den du gespannt hast.«

»Und der zu dir führte.« Geneve wartete auf das Dessert. »Einschließlich des Mordes an meinem Bruder.«

»Geneve, ich …«

»Es ist, wie es ist«, unterbrach sie. »Ich sagte dir vorhin schon, dass manche es als Gerechtigkeit für seine begangenen Untaten betrachten würden.«

»Und wie siehst du es?«

Geneve holte tief Luft. Unschlüssigkeit herrschte in ihr, gepaart mit Wut auf den Mann, der sie lange im Unklaren gelassen hatte. »Ich weiß es noch nicht.«

»Das verstehe ich.« Alessandro goss ihr Wein nach, danach sich selbst.

Die Auswahl verschiedener Schokoladenmousses wurde gebracht, dazu ein Espresso doppio für Alessandro. Erneut aßen sie schweigend und hingen ihren Gedanken nach.

»Ich denke, dass der Urlaub ein guter Anfang ist«, begann Geneve behutsam.

»Ein Anfang?«

Sie lächelte und nahm den Löffel. »Um zurück zu dem Vertrauen zu finden, das ich dir einst schenkte.«

Alessandro sah übertrieben auf die Uhr und verzog das Gesicht. »Alora, das ist ganz schöner Druck für die nächsten vier Tage.«

»Vertrauen entsteht nicht unter Druck. Oder durch eine Schuld, in der einer zu stehen glaubt.«

»Ich weiß.« Er rührte Zucker in den Kaffee und führte das Tässchen an die Lippen. »Es sollte ein Scherz sein. Und es ist das … Zeichen meiner Hilflosigkeit.« Er seufzte.

»Sehen wir, was mit uns die nächsten Tage geschieht.« Erneut berührte sie seine Hand. »Ich habe in den letzten Wochen viel nachgedacht. Viel in mich gehorcht. Lass mir die Zeit.«

Langsam beugte er sich nach vorne, sein Aftershave umschmeichelte sie auf unaufdringliche Weise. »Du hast jede Zeit. Alle Zeit. Und wie immer deine Entscheidung ausfallen wird, ich akzeptiere sie. Und solltest du Gefallen von mir brauchen, wann immer und wo immer, ich gewähre sie dir. Jeden einzelnen.«

»Wegen des Serums für deine Mutter.«

»Wegen Giovanni. Weil du ihm seine geliebte Nonna erhalten hast. Das zeigt deine unfassbare Größe.«

»Größe. Das ist ein starkes Wort.« Geneve sah nachdenklich aus dem Fenster, vor dem die dicken Flocken in kleine, kaum wahrnehmbare Kristalle übergegangen waren. »Wie wäre es mit einem Spaziergang?« Sie deutete auf die beleuchtete Schlittschuhbahn, die keine sechshundert Meter entfernt lag. »Wann warst du zum letzten Mal eislaufen?«

Alessandro trank den Espresso aus. »Ich? Auf Kufen? Wir Römer haben es nicht so mit Winter.«

Geneve lachte auf. »Du kannst nicht Schlittschuh laufen?«

»No. Purtroppo.«

Sie klatschte begeistert in die Hände. »Dann müssen wir unbedingt dorthin! Du bekommst so einen Pinguin, damit du nicht fällst.«

»Einen Pinguin?« Er staunte sie an.

»Den benutzen die kleinen Kinder. Damit sie nicht umfallen. Ist ein bisschen wie ein Rollator zum Gleiten.« Sie grinste.

»Und am besten noch einen Helm?«, stieß er gespielt vorwurfsvoll aus.

»Besser wär’s. Du brauchst deinen Kopf, Commissario. Die Vatikan-Polizei ist hilflos ohne dich.« Sie klimperte mit den Wimpern. »Niemand schnappt mehr Taschendiebe als du. Noch dazu mit deinem Wissen über die Wesen der Anderswelt. Wer kann dem Heiligen Vater da noch was anhaben?«

Der locker gemeinte Spruch löste etwas bei Alessandro aus.

»Es wird niemand nachforschen«, sagte er ernst.

»Was meinst du damit?«

»Die Anderswelt. Dass meine Mutter über die Kinder des Judas in den geheimen Archiven des Vatikans nachforschte, wird niemand erfahren. Es bleibt unter uns.«

Auf diese Idee war Geneve bislang nicht gekommen. Doch jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, setzte sich der beunruhigende Gedanke fest. Ärger mit der Kirche konnte sie nicht gebrauchen. »Weißt du, was deine Mutter genau abfragte?«

»Nein.«

»Ich meine, erwähnte sie dabei meinen Namen oder gab sie ihn in einen Computer ein oder ließ sie Notizen rumliegen?«

Alessandro hob langsam die Schulter. »Du kannst sie danach fragen.« Er tippte auf die Einladung, die neben ihr auf dem Tisch lag. »Wenn wir uns bei der Versammlung treffen.«

Der Gedanke flog vogelwild durch ihren Kopf und wollte sich nicht beruhigen. »Was, wenn es … eine Meldung gab? Intern? Bei … irgendwelchen Organisationen des Vatikans?«

»Du meinst, sie hetzen einen Exorzisten los, der bei dir auftauchen wird, um dich zu beäugen?« Alessandro zog sein Smartphone. »Va bene. Ich kann ein paar Leute anrufen, die unauffällig nachhören. Soweit ich weiß, gibt es keine … Behörde, Organisation, was auch immer.«

Geneve lachte freudlos auf. »Oh, Commissario. Das ist fast niedlich. So niedlich, dass du gleich einen Pinguin auf dem Eis vor dir herschieben wirst.«

Unvermittelt leuchtete Geneves Handy auf, summend strahlte das Display gegen die Tischdecke.

»Einen Moment.« Sie nahm das Smartphone und wollte es wegstecken. »Entschuldige, ich hätte es nicht …«

»Geh ruhig ran.«

»Wer um die Uhrzeit …«

»Gerade weil es diese Uhrzeit ist.« Alessandro nickte ihr auffordernd und verständnisvoll zu. »Wenn es einer deiner besonderen Patienten ist? Du würdest dir nicht verzeihen, jemanden in Not weggedrückt zu haben.«

Geneve drehte das Gerät um und sah die Nummer. »Dara?«, entfuhr es ihr erstaunt. Noch bevor sie den Anruf entgegennehmen konnte, wurde die Verbindung abgebrochen. »Aufgelegt.«

Sie folgte dem inneren Gefühl und versuchte einen Rückruf.

Aber die Wandlerin nahm nicht ab. Auch nicht nach vielen verstrichenen Sekunden.

»Seltsam. Erst lässt sie es lange klingeln und nun ignoriert sie mich.« Dann fiel ihr ein, dass Dara mit ihren Freundinnen und Freunden die Clubs der Stadt unsicher machte. »Die Musik wird zu laut sein.«

»Sie ist ausgegangen?«

»Sagte sie vorhin.« Geneve legte auf. »Ich musste sie an unsere Abmachung erinnern.« Das Smartphone landete in ihrer Handtasche. »Das kläre ich morgen mit ihr.« Sie stand auf und grinste Alessandro an. »Dein Pinguin wartet.«

»Ich ahnte es.« Er sah vorgetäuscht ängstlich auf seine Hände. »Ciao, ciao. Es war nett mit euch. Gebrochen werdet ihr nicht mehr so schön aussehen.«

Geneve klopfte ihm auf die breite Schulter. »Hoch mit dir, Commissario.«

Als er sich erhob, gab sie ihm einen raschen, sanften Kuss auf den Mund. Bevor er ihn erwidern konnte, zog sie den Kopf zurück, überrascht von ihrem eigenen Mut.

»Alessandro.«

»Sì?«

»Lass mich diesen Kuss in vier Tagen nicht bereuen.« Mit einem Kribbeln im Bauch ging Geneve los und fühlte sich wie ein verliebter Teenager. Das hatte sie schon lange nicht mehr gehabt.

 

Was will man schon gegen Gefühle machen?

Nun ja: Vernunft walten lassen. Das wäre mein Ratschlag an meine Tochter gewesen, aber so ist das eben, wenn man nicht mehr als eine Seele, eine Art restliche Energie einer Toten ist. Zudem ist Geneve wirklich alt genug. Nicht klug genug, aber alt.

Klugheit wurde auch an anderer Stelle benötigt. Von jemand aus dem Bugatti-Clan, und das an einem für die Dame ungewöhnlichen Ort.

 

Es fiel Giovanna Battista Bugatti nicht schwer, sich in herkömmlicher Kleidung zu bewegen, dennoch war es ungewohnter als ihre schwarze Garderobe, die sie als Bestatterin trug.

Als Inhaberin des erfolg- und traditionsreichen Familienunternehmens Pompe Funebri Bugatti stand die Mittsechzigerin oft auf Friedhöfen und vor Erd- und Urnengräbern, Mausoleen oder altehrwürdigen, monumentalen Grabanlagen, um den Toten das letzte Geleit zu geben, sei es eine herausragende Politikerin mit staatszeremonienhafter Beisetzung oder ein Obdachloser in einem anonymen Grab. Giovanna Battista Bugatti war stets mit voller Aufmerksamkeit und größter Würde dabei. Das war die Bestatterin den Menschen schuldig, ganz egal, welchen gesellschaftlichen Stand sie hatten.

Auch an diesem Tag stand Giovanna, die den inoffiziellen Beinamen Donna Becchina führte, auf einem Totenacker. Doch weder ihre legere Kleidung noch die Geräusche aus dem Hintergrund passten dazu. Menschen riefen ausgelassen, es wurden verzückte Schreie ausgestoßen. Gelegentlich wehte der Wind heitere Musik herüber oder ein Lautsprecher pries die neuesten Angebote an der heißen Theke an. Soundeffekte erklangen, gelegentlich zischte es laut oder Wasser prasselte wie von einer Kaskade.

»Hier?« Giovanna sah über den verfallenen Friedhof, der ungefähr so groß wie ein Fußballfeld war. Er schmiegte sich an eine heruntergekommene Villa, an deren Ausgang sie und die beiden Männer standen. Aus dem Gebäude dröhnten dumpfe Schläge hinter den verrammelten Fenstern, eine Frau kreischte spitz, gefolgt von einem hohlen Lachen. Weder Giovanna noch ihre Begleiter störten sich an dem Theater. »Was ich sehe, ist der Ausgangspunkt, nehme ich an?«

»Ja, Signora Bugatti.« Der jüngere der beiden Anzugträger hielt ein Klemmbrett, auf dem er eine Skizze des Gräberfeldes angebracht hatte. »Schauen Sie: Da kommen die Zombies heraus.« Er umkreiste ein Mausoleum im vorderen Teil.

»Was noch?«

»Vampire. Aus der Gruft.« Der zweite Mann zeigte die Stelle mit dem Finger. »Und von dort nähern sich die Mutanten.« Sein ausgestreckter Arm deutete über das Feld mit den schiefen Kreuzen, wo sich eine Nebelwand formierte.

»Welche Art Mutanten?«

Die Männer schauten sich an und suchten eine Antwort.

»Alora, meine lieben Signori Altro und Romano«, setzte Giovanna an. »Das ist alles recht nett. Doch am helllichten Tag? Wo bleibt der Grusel?«

Romano räusperte sich. »Wir dachten daran, diesen Teil des Vergnügungsparks erst nach Einbruch der Dunkelheit freizugeben. Als Sonderattraktion. Für Volljährige.«

»Um es authentisch zu machen«, schaltete sich Altro hinzu.

»Ich bin keine Expertin für solche Themenparks, aber wenn ich viele Kilometer aus Rom rausfahre, um hier einen Tag zu verbringen, will ich alles erleben und im Sommer nicht bis zweiundzwanzig Uhr warten, um mich von Vampiren, Zombies und Mutanten jagen zu lassen.« Giovanna kreuzte die Arme unter der Brust; dabei stach es in ihrer linken Schulter, als wäre sie dort von einem Messer erwischt worden. Nebenwirkungen. Sie wusste um die Nachteile des lebensverlängernden Serums und ertrug sie stumm, solange dafür der Krebs in ihren Zellen in Schach gehalten wurde. »An Ihrer Stelle würde ich eine Halle errichten.«

»Wir haben bereits hundert Millionen nach dem Aufkauf des Rainbow Magiclands investiert.« Romano wagte sanften Widerspruch. »Sie, Signora, stehen im sechstgrößten Freizeitpark Europas. Unsere Geldgeber, zu denen wir Sie gerne zählen würden …«

»Eine Halle kann nicht so teuer sein«, fuhr ihm Giovanna in die Rede. »Es ist nicht meine Art von Geschäft, aber bedenken Sie, welche Wirkung es hat, wenn die Besucher nach dem Horrorhotel in die vermeintliche Sicherheit gelangen und auf einem finsteren Friedhof herauskommen.«

Passend dazu kreischte und lachte wieder jemand hinter ihnen in der Villa des Schreckens.

»Da haben Sie schon recht, Signora Bugatti.« Altro machte sich Notizen auf seinem Plan. »Wir hätten auch eine bessere Kontrolle über die Beleuchtung, das Wetter und nachts gegen unbefugten Zutritt.«

»Und denken Sie bitte nicht, wir wären Dilettanten«, sagte Romano. »Das haben wir bereits bei der letzten Sitzung besprochen, aber es fand sich keine echte Mehrheit.«

Giovanna nickte. »Sagen Sie Ihren Leuten, dass die von Ihnen angeheuerte Beraterin sich für eine Halle ausspricht. Und dann kann ich mir gut vorstellen, eine Geldgeberin zu werden. Gegen gute Geschäfte habe ich nichts einzuwenden.« Mit der Linken zeichnete sie die Umrisse eines imaginären Gebäudes um den Kulissenfriedhof. »Außerdem benötigen Sie eine Geschichte.«

»Um über einen verfluchten Friedhof zu laufen?« Altro schien skeptisch.

»Sicher doch! Bilden Sie kleine Gruppen, unter der Führung eines Guides, und dann sollen sie in Dreierteams unbeschadet über das Feld gelangen.« Giovanna grinste. Es machte ihr großen Spaß, sich an der Planung zu beteiligen. Man hatte sie am Rande einer Beerdigung angesprochen, um ihre Expertise in Sachen Friedhofsanlage einzuholen, auf der verschiedene Elemente der römischen Gottesacker vereint werden sollten. Ein Vorwand, um sie als Investorin zu locken.

»Oh, ich habe einen glänzenden Einfall! Sie sind doch Bestatterin«, warf Romano ein. »Haben Sie nicht ein paar Geister, die Sie uns ausleihen können?«

Giovanna lachte schallend. »Glauben Sie mir, die Kreaturen und Wesen, die ich Ihnen besorgen kann, wären nicht gut fürs Geschäft.«

»Weswegen?«

»Niemand würde es lebend auf die andere Seite schaffen.«

Die beiden Parkleiter stimmten in die Heiterkeit ein.

Tatsächlich war es Giovanna ernst damit. Die echte Anderswelt hielt Albträume parat, an welche die Schausteller im Horrorhaus nicht heranreichten.

»Nun, wir freuen uns über Gäste, die oft wiederkommen.« Altro spielte mit dem Stift. »Danke für den Hinweis mit der Geschichte. Erscheint mir sinnvoll.«

»Sie haben mich als Beraterin engagiert. Und ich sage Ihnen: Alles verkauft sich besser mit einer Geschichte.«

»Auch Bestattungen?«

»Das ist immer das Ende der Geschichte.« Giovanna lächelte. »Wollen wir das Feld abgehen? Wir können gemeinsam überlegen, an welcher Stelle ein Schreckelement gut aufgehoben wäre. Und ich sage Ihnen, welche Besonderheiten aus verschiedenen römischen Friedhöfen angebracht wären. Sie haben bestimmt ein Beteiligungsangebot in der Tasche, Signori. Das würde ich im Anschluss gerne lesen.«

Die beiden Männer lachten ertappt.

»Nonna!« Unvermittelt kam Giovanni angeflitzt und nahm seine Großmutter an der Hand. »Bitte, bitte, geh mit mir ins Horrorhaus! Das klingt so cool!«

Romano und Altro grinsten.

»Nanu? Bist du deiner Aufpasserin entwischt?« Giovanna sah sich um und erspähte Laura, die jüngste Tochter der Institutssekretärin, die verschwitzt heraneilte. Donna Becchina machte eine beruhigende Handbewegung. »Du hältst dich nicht an die Abmachung, ragazzo.«

»Doch. Ich bin bei ihr geblieben.«

»Aber wir haben ausgemacht, dass ich mit den Signori eine Besprechung habe, während du mit Laura den Park unsicher machen darfst.« Sie zupfte am Band, mit dem der VIP-Pass um seinen Hals hing. »Ohne anzustehen.«

»Ich weiß, Nonna.« Giovanni zeigte sich halbherzig reumütig. »Aber Laura hat mir verboten, in das Horrorhaus zu gehen.«

»Da hat sie recht. Das ist erst ab achtzehn«, sprang Altro bei.

»Dadrin ist es viel zu unheimlich«, sagte Romano mit einem breiten Lächeln. »Du würdest davon Albträume kriegen.«

Giovanni ignorierte die beiden Männer und rüttelte an Giovannas Hand. »Nonna, bitte!«

»Nein.«

»Ich verspreche, dass ich keine Albträume haben werde. Hatte ich nach der Vampirgeschichte auch nicht! Weißt du noch? Die Geneve mir erzählt hat.«

»Es ist etwas anderes, Dinge zu sehen, anstatt nur davon zu hören.« Giovanna beugte sich nach unten und verstrubbelte seine kurzen schwarzen Haare. »Ein anderes Mal.«

»In elf Jahren? Und wenn die vorher pleitegehen?«

»Na, na, na«, machte Romano amüsiert.

»Wir bauen dir bis dahin ein neues Horrorhaus. Versprochen. Das da ist doch zu langweilig für dich«, fügte Altro hinzu. »Du kannst heute noch so viele von den über dreißig Attraktionen nutzen. Und die Theater. Und Leckereien naschen. Kostenlos, dank deiner Nonna.«

Giovanni zog einen Schmollmund und schielte zum Horrorhaus. »Aber …«

»Nichts aber.« Giovanna würgte den Protest kategorisch ab. »Und büxt du Laura noch mal aus, junger Mann, ist der Besuch beendet, und du wartest mit ihr auf dem Parkplatz.«

»Bene.« Giovanni löste seine kleine Hand aus ihrer. »Geh ich eben zu den doofen Sachen für Babys und tue so, als hätte ich Spaß.«

»Sehr theatralisch«, kommentierte sie und erhob sich. »Ich rufe Laura dann an, um herauszufinden, wo ihr seid. Danach werden wir was Leckeres essen. Sofern noch etwas in deinen Bauch reinpasst.«

»Ist gut.« Giovanni trottete davon.

Giovanna wandte sich an die zwei Herren. »Signori, machen wir doch –«

»He! Nein! Wirst du wohl stehen bleiben?«, rief Romano ansatzlos und fuchtelte hektisch mit der rechten Hand. »Komm zurück!«

Giovanna blickte über die Schulter. Ihr Enkel hatte geschickt die Richtung gewechselt und rannte auf den hinteren Notausgang des Horrorhauses zu. Noch bevor ihn Laura zu fassen bekam, öffnete er die Tür und verschwand in der Dunkelheit.

»So. Das war’s«, beschloss Giovanna schlecht gelaunt und eilte los. »Entschuldigen Sie bitte, Signori. Ich bin gleich wieder da.«

Sie folgte dem Jungen durch den Notausgang in die Finsternis, aus der gelegentliches Stöhnen und Heulen erklang. Schwerer Kunstnebel wallte um ihre Schenkel, der den Boden unsichtbar machte.

Menschen kreischten fröhlich-erschrocken aus den Gängen und Kammern, Kettensägen jaulten auf, dazu grollte ein Unwetter. Es blitzte und flackerte hier und da von der Decke und durch die abgeklebten Fenster.

Von ihrem Enkel fehlte jede Spur.

»Giovanni?«, rief sie und machte sich auf den Weg durch die Gänge, Themenzimmer, Treppen hinauf und hinab. »Giovanni! Wehe, du kommst nicht zu mir! Noch gewähre ich dir Gnade, aber solltest du meine Geduld …«

Schlagartig endeten die Geräusche im Horrorhaus.

Gleich darauf verstummten die Stimmen der Besucherinnen und Besucher nach einem letzten langen, gellenden Schrei.

»Endlich. Das hätten sie schon früher abstellen können«, murmelte Giovanna. Sie nahm an, dass Romano oder Altro die schauderlichen Attraktionen hatten anhalten lassen, um den Ausreißer einfacher zu finden.

»Giovanni?«

Verwundert blieb sie stehen, als eine riesige schwarz getigerte Katze vor ihr an einer Ganggabelung erschien. Die roten Augen glommen und betrachteten die Bestatterin. In aller Ruhe setzte sich das Tier auf den Boden und ragte nur noch halb aus dem Nebel; die Schwanzspitze stand schlangengleich in die Höhe und zuckte leicht.

Zuerst dachte Giovanna, dass es sich um eine mechanische Puppe oder eine Projektion in den Gespinsten handelte, weil ihr das Tier selbst im Sitzen bis an die Hüfte reichte. Aber als eine zweite, identische Katze hinzustieß, schwand der Eindruck.

»Ihr seid ja echt. Woher haben sie euch denn?« Giovanna ging langsam näher. »Na, ihr beiden? Wollt ihr mir verraten, wo mein Enkel ist?«

Die Tiere sahen sie auf unergründliche Weise an, das Schnurren tönte in der Stille überlaut.

Giovanna wurde unheimlich zumute. Sie mochte Katzen, kannte sie von den Friedhöfen, wo sie wie kleine geheime Wächter auf die Gräber achteten. Aber diese beiden Exemplare, aus deren roten Augen Bosheit schimmerte, schienen direkt aus der Hölle zu stammen.

»Na los. Husch!« Sie machte einen Schritt auf die Tiere zu.

Die schwarz getigerten Riesenkatzen erhoben sich majestätisch und gingen los; bedeuteten der Bestatterin, ihnen auf den linken Pfad zu folgen.

Überraschend lichtete sich der Nebel und gab den Blick auf Männer und Frauen verschiedenen Alters frei, die leblos an der Gangwand lagen.

Im Vorbeigehen biss eine der Katzen ein Stück aus der Wange einer regungslosen Frau heraus, in deren Torso ein großes, blutiges Loch klaffte, und verschlang es leise schmatzend.

»Dio mio!«, entfuhr es Giovanna entsetzt. »Das … das sind echte Tote!« Schnell ging sie neben der Unbekannten in die Hocke und berührte sie. Der Körper war warm, der Tod konnte erst vor Kurzem eingetreten sein. »Was geht in diesem Haus vor?«

Auffordernd maunzten und schnurrten die Katzen und trieben Giovanna an, sich zu beeilen.

Der Korridor mündete in einen Raum, der einem Kriminaltatort nachempfunden worden war. Überall lagen bewusstlose Menschen in dem arrangierten Wohnzimmer, saßen auf den Sofas oder waren auf den Stühlen zusammengesunken, hatten Messer und Werkzeuge in den Leibern stecken. Das Blut tröpfelte und troff aus den Wunden, sammelte sich in Rinnsalen und Lachen auf dem Boden.

Zwischen den Opfern standen die gelben nummerierten Aufsteller der Spurensicherung. Die Anzahl der Abgeschlachteten passte bei Weitem nicht zu den wenigen Hinweisschildchen.

»Dio mio«, entfuhr es Giovanna erneut, und sie bekreuzigte sich. Der Geruch nach Blut verriet ihr, dass auch dies echte Leichen waren.

»Ah, die Rettung naht«, erklang die Stimme einer Frau, in der schleppend eine männliche nachhallte. »Sie sind meinen Katzen gefolgt. Ich begrüße Sie im Horrorhaus.«

»Nonna!«, quietschte Giovanni in Panik. »Nonna, hilf mir!«

Giovanna wandte den Kopf nach rechts und hielt unwillkürlich den Atem an.

Eine hünenhafte, breitschultrige Person stand im Halbschatten der gedimmten Scheinwerfer, der breitkrempige Hut warf einen Schatten auf das Gesicht und verdeckte es vollständig. Ihre behandschuhte Linke umfasste Giovannis Nacken, die langen, muskulösen Finger spannten sich bis vorne um die Kehle.

»Lassen Sie sofort meinen Enkel los!«

»Keine Frage danach, wer ich bin?« Die Unbekannte hob leicht den Kopf und zeigte eine makellose, wunderschöne rechte Gesichtshälfte – wäre da nicht der wie falsch angesetzte Unterkiefer gewesen.

»Eine Irre, die offenbar aus der Psychiatrie ausgebrochen ist und Menschen umbringt.« Sie sah zu dem Jungen. »Schließ die Augen! Das sollst du nicht sehen.«

Giovanni knifft die Lider fest zusammen, Tränen sprangen heraus und rollten über die Wangen. »Es tut mir leid, Nonna.«

»Was denken Sie, warum es so still ist? Ich habe die möglichen Störenfriede unserer Unterhaltung ausgeschaltet. Zur Sicherheit.«

»Die Polizei wird Sie erwischen und erledigen.«

»Ich glaube nicht, dass das geschehen wird, Donna Becchina.«

Giovanna stutzte. »Woher kennen Sie diesen Namen?«

»Von einem Freund.« Die Frau steckte die freie Hand in die Manteltasche und nahm einen Zwicker heraus, den sie auf den schmalen Nasenrücken setzte. »Genau wie das hier. Ein Andenken an ihn. Sie erinnern sich?«

Die beiden Katzen ließen sich rechts und links von der Unbekannten nieder.

Giovanna lauschte in die Grabesruhe. Niemand kam, um ihr und ihrem Enkel beizustehen. »Nein.«

Langsam drehte die muskulöse Frau den Kopf zur anderen Seite und offenbarte ein fast vollständig zersetztes Antlitz, durch dessen verwesendes Fleisch und zerfallende Haut die Zähne schimmerten. »Sie kommen noch drauf, Donna Becchina.« Sie lachte dämonisch. »Mein Name ist Molaris. Ich ziehe über die Erde und stelle den Wesen, denen ich begegne, eine einfache Frage.«

»Und dann?«

»Entscheidet sich ihr weiteres Leben.«

»Wieso mein Enkel?«

»Weil er das Haus vor Ihnen betrat. Sonst würden Sie in meinem Griff hängen. Und ich würde Ihnen eine Frage stellen.« Molaris funkelte sie aus dem intakten Auge an. »Sollten Sie mich allen Ernstes angreifen wollen, werden meine beiden Lieblinge Sie zerfetzen.«

»Haben Sie die aus der Hölle?« Giovanna wagte es nicht, sich zu rühren. Was hätte sie auch gegen eine Gestalt wie diese unternehmen sollen? Mit dem Schlagring in ihrer Tasche, den sie stets bei sich führte, käme sie hier nicht weit.