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Über dreißig Jahre lang haben Edie und Richard Middlestein ein ganz normales Familienleben in einem Vorort von Chicago geführt. Auf einmal drohen die Dinge auseinanderzubrechen, nicht ganz unschuldig daran ist Edies enormer Umfang. Essen ist für sie eine Sucht - und wenn sich das nicht ändert, hat sie nicht mehr lange zu leben. Als Richard ihren Eigensinn nicht mehr aushält und Edie verlässt, machen ihre Tochter Robin, ihr Sohn Benny und dessen Frau Rachelle es sich zur Aufgabe, Edie zu retten. Doch statt bei dieser heiklen Aufgabe an einem Strang zu ziehen, stehen sich alle gegenseitig im Weg. Und so steuert diese aberwitzige Familiengeschichte unerbittlich auf die spektakuläre Bar-Mizwa-Party der Zwillingsenkel zu, die ein Fiasko zu werden droht.
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Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
Edie, 28 Kilo
Das denkbar Gemeinste
Edie, 92 Kilo
Der Weidenbaum
Edie, 73 Kilo
Middlestein und das Exil
Edie, 95 Kilo
Exodus
Edie, 109 Kilo
Das Goldene Einhorn
Männliches Muster
Edie, 151 Kilo
Das wandelnde Elend
Middlestein und die Liebe
Sitzordnung
Am Boden
Middlestein und die Trauer
Danksagung
Zitatnachweis
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Über das Buch
Impressum
[Leseprobe – Der amerikanische Architekt]
Für meine Familie
Die Middlesteins
Edie, 28 Kilo
Sie musste ihrer Tochter doch zu essen geben!
Die kleine Edie Herzen – gar nicht so klein für ihre fünf Jahre. Der Mutter war das natürlich klar, wie konnte es ihr auch entgehen! Die ehemals pfirsichweichen Arme und Beine hatten sich zu etwas ausgewachsen, das schon nicht mehr zum Anbeißen war. Sie fühlten sich erstaunlich fest an. Ein Kind musste doch eigentlich knuddelig sein. Doch Edie war ein zementartiger Klops. Sie atmete viel zu schwer, wie ein aufgeblähter alter Onkel nach dem Essen. Und weil sie äußerst ungern Treppen stieg, bettelte sie nun darum, die vier Stockwerke zur Wohnung hinaufgetragen zu werden – von ihrer ächzenden Mutter: der Rücken, die Einkäufe, eine Tasche mit Büchern aus der Bibliothek.
»Ich bin müde«, sagte Edie.
»Wir sind alle müde«, sagte ihre Mutter. »Komm schon, hilf mir mal.« Sie reichte Edie die Tasche mit den Büchern. »Du hast sie dir ausgesucht, jetzt trag sie auch.«
Edies Mutter – selbst nicht gerade dünn. Mit fast einsachtzig und einem wuchtigen Körper verströmte sie in ihrer üppigen Majestät den Glanz einer Löwin, und brüllen konnte sie auch. Sie hielt sich für eine Königin unter den Frauen. Aber trotzdem, sie schwitzte und hatte Kopfschmerzen, und diese Treppe machte wirklich keinen Spaß.
Ihr Mann, Edies Vater, nahm immer zwei Stufen auf einmal, um möglichst rasch voranzukommen. Er war groß, hatte einen dichten, dunklen weichen Haarschopf und lange, schlaksige blasse Arme und Beine, und sein ganz und gar wässrig blau geäderter Brustkorb mit den vorstehenden Rippen war so schmal, dass er beinahe durchscheinend aussah. Wenn sie miteinander geschlafen hatten, sah sie immer träge zu, wie sich die Haut über seinem Herzen hob und senkte, schnell, langsamer, langsam.
Bei den Mahlzeiten aß er und aß, denn was Essen anging, folgte er einem fleischlichen Urinstinkt. Er beugte sich über den Tisch, legte zur Abgrenzung seines Territoriums einen Arm um den Teller und schaufelte sich mit der anderen Hand das Essen in den Mund, ohne zum Kauen oder zum Atmen innezuhalten. Aber er nahm nie auch nur ein einziges Kilo zu. Acht Jahre zuvor hatte er während seiner langen Reise von der Ukraine nach Chicago gehungert, und seither wurde er nicht mehr satt.
Wenn man bedachte, in wie vielen Punkten man sich auf der Welt einig sein konnte, hatten sie wenig gemeinsam, die beiden Eheleute. Er war kein Patriot, sie seit jeher in Amerika zu Hause. Sie war im Umgang mit Geld leichtsinniger als er, weil sie in diesem riesigen, reichen Land, in der gesunden Stadt Chicago das Gefühl hatte, dass man jederzeit auch mehr verdienen konnte. Sie besuchten unterschiedliche Synagogen – er die der russischen Einwanderer, sie die von Deutschen zwei Generationen zuvor gegründete, in die schon ihre Eltern zu Lebzeiten gegangen waren, die Synagoge, in der sie groß geworden war, denn das konnte sie nicht aufgeben, nicht einmal in dieser neuen Verbindung. Er hatte mehr Geheimnisse, hatte mehr Elend gesehen. Sie kannte so etwas nur aus den Nachrichten. Und wohin seine Tochter Edie auch wollte, er trug sie auf den Schultern, hoch oben am Himmel, so nahe wie möglich bei Gott. Während seine Frau der festen Meinung war, dass Edie inzwischen selbst überallhin laufen konnte.
Einig waren sie sich darin, wie sie miteinander schlafen wollten (nach Lust und Laune, ohne Voreingenommenheit) und wie oft (allnächtlich, mindestens), und sie waren sich einig, dass Essen aus Liebe gemacht war und wiederum Liebe hervorbrachte, und sie versagten sich nie einen Bissen, den sie begehrten.
Und wenn ihre geliebte, großäugige und bereits scharfsinnige Tochter Edie kräftig für ihr Alter war, dann machte das nichts.
Denn sie mussten ihr doch zu essen geben!
Da die kleine Edie Herzen einen schlechten Tag hatte, stieg sie langsamer als je zuvor in der Geschichte des Treppensteigens die Treppe hinauf und beschloss bald, dass sie keine weitere Stufe mehr schaffen würde. Es war schwül im Treppenhaus, die staubige Luft hatte sich durch das Oberlicht aufgeheizt, und als Edie sich schließlich hinsetzte und die Büchertasche neben sich zu Boden fallen ließ, quatschte der Schweiß zwischen Schenkelrückseiten und Treppenstufe.
»Edie, Bobbele, bitte nicht.«
»Es ist zu heiß«, sagte sie. »Heiß, müde. Trag mich.«
»Ich habe keine Hand frei!«
»Wo ist Daddy? Er kann mich doch tragen.«
»Was ist denn heute los mit dir?«
Edie wollte sich nicht wie ein Baby anstellen. Quengeln lag ihr nicht. Sie wollte bloß getragen werden. Sie wollte getragen und geknuddelt und mit salziger Leberwurst und roter Zwiebel auf warmem Roggenbrot gefüttert werden. Sie wollte lesen und plaudern und lachen und fernsehen und Radio hören, und abends wollte sie ins Bett gebracht werden und von einem Elternteil oder beiden einen Gutenachtkuss kriegen, egal, von wem, denn sie liebte beide gleich. Sie wollte der Welt beim Vorüberziehen zuschauen und im Kopf Geschichten über all das erfinden, was sie da sah, die vielen Liedchen singen, die sie in der Sonntagsschule lernte, und so weit zählen, wie sie konnte, nämlich schon bis über Tausend. Es gab so viel zu beobachten und zu überlegen, warum also musste sie laufen? Sie vermisste ihren Buggy, den sie manchmal aus der Abstellkammer zog und wehmütig betrachtete. Sie hätte sich so gern bis in alle Ewigkeit herumschieben lassen wie eine Prinzessin in der Kutsche und ihr Königreich inspiziert, am liebsten eins mit einem Zauberwald, in dem winzige Elfen tanzten. Elfen, die ihr eigenes Deli besaßen, in dem es nur Leberwurst gab.
Edies Mutter verlagerte die Einkäufe in ihren verschwitzen Armen. Etwas roch säuerlich, sie merkte, dass sie es selbst war, plötzlich lief ein wahrer Schweißbach von ihrer Achsel den Arm hinunter, und als sie den Arm an der Tüte abwischen wollte, drehte sich die Tüte auf einmal, und als sie mit dem anderen Arm danach griff, kam die andere Tüte ins Rutschen, und sie beugte sich vor und hielt beide fest und versuchte, die Tüten auf den Schenkeln abzusetzen, aber es half nichts, die obersten Lebensmittel quollen aus beiden Tüten heraus: Zuerst landeten der Laib Brot, das Gemüse und die Tomaten auf Edies Kopf, dann zwei große Dosen Bohnen auf Edies Fingerspitzen.
Die kleine Edie Herzen, Löwin in Ausbildung, konnte schon ziemlich gut brüllen.
Ihre Mutter ließ die Tüten fallen. Sie packte ihre Tochter, sie hielt sie fest, sie drückte sie an sich (und fragte sich wieder einmal, warum Edie schon so fest war, so hart), sie beruhigte ihre Kleine, während ihr Vergehen in ihrem Magen kochte wie ein Ei in heißem Wasser, ein Gefühl irgendwo zwischen dem Wunsch, ihre Tochter möge sofort mit dem Weinen aufhören – in fünf Minuten, fünf Jahren, fünfzig Jahren würde es ohnehin wieder gut sein, sie würde sich an den Schmerz gar nicht mehr erinnern –, und dem Wunsch, selbst zu weinen, denn sie wusste, sie würde niemals vergessen, wie ihr zwei Dosen mit Bohnen heruntergefallen waren, direkt auf die Finger ihrer Tochter.
»Komm, zeig doch mal«, sagte sie zu Edie, die heulte und gleichzeitig den Kopf schüttelte und die Hände fest an den Körper drückte. »Woher sollen wir wissen, ob alles in Ordnung ist, wenn ich sie mir nicht ansehen darf?«
Edie blieb eine Weile dabei, zu heulen und die Hände zu verstecken. Nachbarinnen machten die Türen auf, warfen einen Blick ins Treppenhaus und schlossen sie wieder, als sie sahen, dass es nur um dieses dicke Kind aus 6D ging, das eben noch klein war, und kleine Kinder weinten eben. Edies Mutter herzte und flehte. Die Eiscreme schmolz. Ein Nagel würde blau werden und eine Woche später abfallen, und wenn sie meinte, dass Edie inzwischen schrie wie am Spieß, dann hatte sie noch nichts Richtiges gehört, aber das konnte noch niemand wissen. Narben würden nicht zurückbleiben, obwohl Edie ein narbenreiches Leben bevorstehen sollte, in der einen oder anderen Hinsicht, aber auch das konnte noch niemand wissen.
Edies Mutter saß da und hielt ihre Tochter im Arm, bis sie schließlich das Einzige tat, was ihr noch übrigblieb. Sie griff hinter sich, hob das in seinem Umschlagpapier noch warme, erst vor einer knappen Stunde bei Schiller’s an der Dreiundfünfzigsten Straße gebackene Roggenbrot vom Boden auf, riss einen Brocken ab und reichte ihn ihrer Tochter, die jedoch nicht reagierte und unversöhnlich weiter schluchzte, weil gerade ein winziger Funke Gemeinheit in ihr aufgeglommen war.
»Gut«, sagte ihre Mutter. »Ich nehm’s gern.«
Wie lange mochte es wohl gedauert haben, bis Edie den Kopf wandte und ihre zitternde Hand nach Nahrung ausstreckte? Mit erwartungsvoll, wenn auch verschlafen geöffnetem Mund, wie ein Vogeljunges. Der Roggen im Mund. Sehnsucht nach Leberwurst. Elfenträume. Wie lange, bis sie ihrer Mutter auch die andere, rosa, lila und blau verfärbte Hand mit dem blutigen Nagelbett am Zeigefinger hinhielt? Bis ihre Mutter die Hand über und über küsste?
Essen war aus Liebe gemacht und Liebe aus Essen, und wenn man so dafür sorgen konnte, dass ein Kind aufhörte zu weinen, dann war das völlig in Ordnung.
»Trag mich«, sagte Edie, und diesmal konnte die Mutter es ihr nicht abschlagen. So stieg sie dann die Treppe hinauf in den vierten Stock, um den Hals die Tasche mit Büchern aus der Bibliothek, die sie nur ein bisschen würgte, in einem Arm die beiden Einkaufstüten und auf dem anderen ihre geliebte Tochter Edie.
Das denkbar Gemeinste
Robins Mutter Edie stand in der kommenden Woche eine weitere Operation bevor. Gleicher Eingriff, anderes Bein. Alle sagten ständig: Immerhin weiß man, was einen erwartet. Robin stieß gerade mit Daniel, ihrem Nachbarn von unten, auf das Bein an, in der Bar gegenüber ihrem Mietshaus. Draußen war es kalt. Januar in Chicago. Robin hatte fünf Kleidungsschichten angelegt, nur um über die Straße zu gehen. Daniel war schon betrunken gewesen, als sie kam. Ihre Mutter wurde zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres aufgeschnitten. Prost.
Die Bar war nullachtfünfzehn, null gemütlich und überhaupt eher eine Nullnummer. Robin fiel es schwer, den Weg dorthin zu erklären. Im einzigen Fenster hing zwar eine Leuchtreklame für »Old Style«-Bier, aber an der Eingangstür stand keine Hausnummer. Zwischen 242 und 246, sagte sie meist, auch wenn die Leute das irgendwie verwirrend fanden. Daniel allerdings nicht. Er kannte den Weg.
»Auf die zweite«, sagte Daniel. Er hob sein Glas. Diesmal trank er das braune Zeug. Sonst trank er eher das hell- oder dunkelgelbe Zeug, aber schließlich war Winter. »Geht’s um das rechte oder das linke Bein?«
»Das kann ich mir nicht mal merken, stell dir vor. Ich glaube, ich hab’s verdrängt. Ist das nicht schrecklich? Bin ich ein schrecklicher Mensch?« Das Ganze hatte sie überrascht, obwohl es eigentlich kein Wunder war. Ihre Mutter weigerte sich, vernünftig zu essen oder Sport zu treiben, und war im Laufe der letzten zehn Jahre völlig verfettet. Zwei Jahre zuvor hatte man bei ihr Diabetes diagnostiziert. Im fortgeschrittenen Stadium. Der Diabetes hatte in Kombination mit der katastrophalen genetischen Veranlagung zu einer Gefäßerkrankung in den Beinen geführt. Aus dem anfänglichen Kribbeln war ein dauerhafter Schmerz geworden. Robin hatte die Beine ihrer Mutter im Krankenhaus nach der ersten Operation gesehen und beim Anblick der blauen Verfärbungen gewürgt. Das hätte ihrer Mutter doch auffallen müssen! Oder ihrem Vater! Das konnte ihnen doch nicht entgangen sein! Der Arzt hatte ein kleines Metallröhrchen, einen Stent, in das Bein eingeführt, damit das Blut richtig fließen konnte. (Robin fragte sich, was mit dem Blut passierte, wenn es nicht floss.) Ursprünglich hatte er einen Bypass legen wollen, eine Vorstellung, die alle bedrohlich fanden. Doch der Arzt blieb bei seiner Meinung, wie Benny sagte, Robins Bruder. »Daraus könnte schnell was Ernstes werden«, hatte er ihr erklärt. »Das sollte uns eine Warnung sein.« Aber Edie hatte selbst mit dem Arzt verhandelt. Sie versprach ihm, sich zu bessern. Sie versprach, an sich zu arbeiten. Nach fünfunddreißig Jahren als Anwältin wusste sie sich zu wehren. Ein halbes Jahr später hatte Edie nichts in ihrem Leben verändert, keinen Schritt unternommen, um sich selbst zu helfen, und das hatten sie nun alle davon.
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