Die Mitte der Welt - Andreas Steinhöfel - E-Book

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Andreas Steinhöfel

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Beschreibung

Was immer ein normales Leben auch sein mag – der 17-jährige Phil hat es nie kennengelernt. Denn so ungewöhnlich wie das alte Haus ist, in dem er lebt, so ungewöhnlich sind auch die Menschen, die dort ein- und ausgehen – seine chaotische Mutter Glass, seine verschlossene Zwillingsschwester Dianne und all die anderen. Und dann ist da noch Nicholas, der Unerreichbare, in den Phil sich unsterblich verliebt.

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Andreas Steinhöfel: Die Mitte der Welt

Was immer ein normales Leben auch sein mag – der 17-jährige Phil hat es nie kennengelernt. Denn so ungewöhnlich wie das alte Haus ist, in dem er lebt, so ungewöhnlich sind auch die Menschen, die dort ein- und ausgehen – seine chaotische Mutter Glass, seine verschlossene Zwillingsschwester Dianne und all die anderen. Und dann ist da noch Nicholas, der Unerreichbare, in den Phil sich unsterblich verliebt hat … Phil sehnt sich nach Orientierung und Perspektiven. Aber vor allem danach, mehr über sich selbst zu erfahren.

Wohin soll es gehen?

  Buch lesen

  Danksagung

  Vita

Dieser Schacht war nun entweder wirklich überaus tief, oder aber sie fiel ihn sehr langsam hinunter, denn sie konnte sich während des Sturzes in aller Ruhe umsehen und überlegen, was mit ihr jetzt wohl geschehen sollte. Lewis Carroll, Alice im Wunderland Aber was weit, weit am gegenüberliegenden Ufer vorging, war unmöglich zu erkennen; dafür gab es keinen Namen, man konnte keine Farben und keine Einzelheiten unterscheiden. Boris Pasternak, Ljuvers Kindheit

PROLOG

GLASS

Eines nasskalten Aprilmorgens bestieg Glass, die linke Hand am Griff ihres Koffers aus abgewetztem Lederimitat, die rechte am Geländer einer wackeligen Gangway, einen Ozeanriesen, der im Hafen von Boston zum Auslaufen nach Europa bereitlag. Menschen wimmelten über den Pier, Wasser schlug aufgebracht gegen die Kaimauer. In der Luft hing ein stechender, übelkeiterregender Gestank, eine Mischung von verbranntem Teer und faulendem Fisch. Glass legte den Kopf in den Nacken und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die dickbauchigen Wolkenbänke, die sich über der Küste von Massachusetts stapelten. Nieselregen jagte gegen den dünnen Mantel, der ihre unmöglich mageren Beine umschlackerte. Sie war siebzehn Jahre alt und im neunten Monat schwanger.

Abschiedsrufe erklangen, weiße Taschentücher flatterten im Wind, Motoren erwachten zum Leben. Inmitten der wogenden Menschenmenge, die sich am Pier versammelt hatte, um Verwandten und Bekannten Lebewohl zu winken, stand ein Kind. Lachend erhob es eine Hand und deutete in den grauen Himmel. Hoch oben, auf salzigem Wind, tanzten Möwen wie die Papierfetzen bei einer Parade zur Feier des Unabhängigkeitstages. Die unschuldige Geste rührte Glass und reichte beinahe aus, ihren Entschluss, Amerika zu verlassen, ins Wanken zu bringen. Doch plötzlich hatte der Dampfer es eilig. Mit einem wehmütigen Tuten legte er ab und ließ den Hafen hinter sich. Sein Bug drückte tief ins Wasser. Glass wandte dem Festland den Rücken zu. Sie schaute nie zurück.

In den folgenden Tagen sahen die anderen Passagiere das Mädchen am Bug des stampfenden Schiffes stehen, den grotesk angeschwollenen Bauch gegen die Reling gepresst, den Blick unverwandt auf das Meer gerichtet. Glass hielt den neugierigen Blicken und dem Flüstern der Menschen trotzig stand. Niemand wagte es, sie anzusprechen.

Eine Woche nachdem sie Amerika für immer hinter sich gelassen hatte, spürte Glass auf der Zunge den Geschmack von salzigem Tang; am Mittag des achten Tages betrat sie die Alte Welt. Noch Stunden später hatte Glass das Gefühl, der Boden schwanke unter ihren Füßen. Vom Schiff aus hatte sie Stella mehrfach telegrafiert, dass sie auf dem Weg nach Visible sei, wo sie auf unbestimmte Zeit bleiben wolle. Ihre ältere Schwester, die sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen hatte, deren letzter Brief aber keine vier Wochen alt war, hatte keine Antwort zurückgekabelt. Das war nicht zu ändern. Glass hatte nicht Tausende von Seemeilen hinter sich gebracht, um jetzt unverrichteter Dinge und hochschwanger wieder umzukehren.

Es dauerte den verbleibenden Tag und eine halbe Nacht, um den Rest der nach Süden führenden Strecke mit der Eisenbahn zurückzulegen – in Zügen, die immer kürzer, immer unbequemer und immer langsamer wurden. Nichts an der Landschaft, die da draußen an ihr vorbeizog, erinnerte Glass an Amerika. In Amerika war der Himmel weit, der Horizont endlos, bestenfalls begrenzt von beinahe unüberwindlichen, verschneiten Gebirgsketten, und die Flüsse waren träge, uferlose Ströme. Hier aber schien das Land zu schrumpfen, je weiter man sich von der Küste entfernte. So weit das Auge reichte, hatte alles – die mit Schnee überzuckerten Wälder, die froststarren Hügel und Berge sowie die dazwischen liegenden Dörfer und Städte – die überschaubaren Maße einer Spielzeuglandschaft, und selbst die breitesten Flüsse schienen in ihrem Lauf gezähmt. Nach dem letzten Umsteigen saß Glass, die Hände auf dem Bauch gefaltet, allein in ihrem überheizten Abteil, starrte müde zum Fenster hinaus in die tintenschwarze Nacht und überlegte, ob sie den richtigen Schritt getan hatte. Schließlich fiel sie in unruhigen Schlaf. Im Traum sah sie einen unscheinbar braunen Vogel, der von einem gewaltigen Adler mit goldenen Schwingen verfolgt wurde. Tief unter ihnen der Ozean, schossen Jäger und Gejagter in Zickzacklinien durch den sturmzerrissenen schwarzen Himmel, bis der kleine Vogel der Erschöpfung nachgab, seine Flügel an den Körper legte und sich fallen ließ. Wie ein Stein schlug er auf dem Meer auf, wo er zwischen aufgewühlten, blaugrauen Wellen versank.

Glass schreckte auf, als der Zug ruckend zum Stillstand kam. Unvermittelt krampfte sich ihr Unterleib zusammen, und zum ersten Mal befürchtete sie ernsthaft, dass bald die Wehen einsetzen könnten. Sie spähte nervös zum Fenster hinaus und erblickte in einem Halbkreis aus trübgelbem Licht ein kleines Bahnhofsgebäude sowie ein verwittertes, kaum lesbares Schild. Sie war angekommen.

Schneidende Kälte empfing sie auf dem Bahnsteig. Die wenigen Menschen, die ebenfalls den Zug verließen, flatterten durch die Dunkelheit wie aus dem Schlaf geschreckte Tauben. Von Stella war nichts zu sehen. Der Bahnhofsvorsteher, ein betagter, misstrauischer Mann, klärte Glass in einer aus harten Konsonanten bestehenden Sprache und heftig gestikulierend darüber auf, dass es am Ort keine Taxis gebe. Stellas Briefen zufolge war Visible leicht zu Fuß zu erreichen, es lag höchstens eine Viertelstunde außerhalb der Stadt, am Waldrand jenseits eines schmalen Flusses. Entnervt von den Blicken des alten Mannes, die wie neugierige Hände ihren Bauch abtasteten, und unablässig die lausige Kälte verfluchend, stapfte Glass in die Richtung, die ihr der Bahnhofsvorsteher gezeigt hatte, nachdem sie mehrfach Stellas Namen wiederholt hatte.

Sie hatte die Brücke, die den Stadtrand mit dem angrenzenden dichten Wald verband, kaum überquert, als ihr Unterleib sich wie ein Akkordeon ruckartig zusammenzog. Krämpfe jagten in Wellen durch ihren Körper, gefolgt von einer dumpfen, ziellosen Übelkeit. Glass atmete tief durch und zwang sich, ruhig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Blindlings draufloszulaufen war sinnlos. Kurz hinter der Brücke hatte ein Waldweg die asphaltierte Straße abgelöst. Der Boden war fest gefroren, er lag unter einer dünnen, verharschten Schneedecke. Wenn sie jetzt rannte, wenn sie darauf ausrutschte, wenn sie stürzte …

Aus dem Unterholz erklang ein leises Knacken. Für einen schreckerfüllten Augenblick glaubte Glass lang gestreckte, dahinhuschende Schatten neben sich zu sehen, streunende Hunde, Wölfe vielleicht, zusammengetrieben von Hunger und Kälte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, hob abwehrbereit ihren Koffer, der ihr plötzlich viel zu klein erschien, und lauschte, in halb gläubiger, halb ungläubiger Erwartung eines drohenden Knurrens, in den Wald.

Nichts.

Die nächste Wehe ließ auf sich warten, und Glass marschierte weiter, von plötzlicher Wut auf sich selbst erfüllt. Nichts wusste sie über dieses Land, auf das sie sich so kurz entschlossen eingelassen hatte, nichts, nicht einmal, ob es hier Wölfe gab oder nicht. Und dann teilten sich die Baumreihen, und ihre Wut verebbte, als sich vor ihr Visibles Silhouette unvermittelt in den Nachthimmel erhob. Überrascht sog Glass Luft durch die zusammengebissenen Zähne. Nie hatte sie sich das Haus so groß vorgestellt, nie so wirklich … nicht wie ein Schloss. Sie erkannte die Umrisse von Zinnen, Erkern und kleinen Schornsteinen, unzählige verriegelte Fenster, eine überdachte Veranda. Hinter zwei hohen Fenstern im Erdgeschoss brannte schwaches, orangerotes Licht.

Glass wollte eben einen erleichterten Schritt zwischen den Bäumen hindurch machen, als ohne Vorwarnung ihre Knie nachgaben. Sie sackten einfach ein, als hätte man ihr einen Teppich unter den Füßen fortgerissen. Glass stürzte nach vorn. Instinktiv riss sie die Arme hoch, der Koffer entglitt ihr, und noch ehe sie auf dem harten Boden aufschlagen konnte, schlossen sich ihre Hände um den Stamm einer vor ihr aufragenden jungen Birke. Warme Flüssigkeit rann an ihren Schenkeln herab, wurde sofort zu Eiswasser und versickerte in ihren kurzen Strümpfen. Die Innenflächen ihrer Hände schmerzten, sie hatte sich die Haut aufgerissen. Keuchend zog sie sich an der Birke empor. Die nächste Wehe fuhr durch ihren Körper wie ein Axthieb.

Glass umklammerte den Baumstamm, warf den Kopf in den Nacken und schrie auf. Undeutlich nahm sie wahr, dass jemand aus dem Haus gelaufen kam, eine junge Frau mit langen Haaren, in der Dunkelheit von dumpfem Rot, eine Farbe, die Stellas Haar nie besessen hatte. Und Glass’ nächster Schrei galt nicht dem winzigen Mädchen, das sich beinahe mühelos zwischen ihren Beinen in die Welt drängte, sondern den aufgeregten Worten dieser jungen Frau, denn Stella war tot, sie war tot, war tot, und es gab keine Möglichkeit, hier und jetzt eine Hebamme zu Hilfe zu rufen, denn die Telefonrechnungen waren seit langem nicht beglichen worden, die Leitung abgestellt. Also hastete die junge Frau zurück ins Haus und kam mit Decken wieder, in die sie das Mädchen bettete, während Glass sich weiterhin gegen den Baum stützte, wo sie so lange presste und keuchte und schrie, bis ein erster Sonnenstrahl den Horizont berührte und endlich auch der Junge, um so vieles widerwilliger als seine Zwillingsschwester, ihren Körper verließ.

So wurden Dianne und ich geboren: Nassen, kleinen Tieren gleich fielen wir auf verkrusteten Schnee, und dort wurden wir aufgehoben von Tereza, die uns fortan Freundin und Begleiterin sein sollte, Ratgeberin und zweite Mutter. Es war auch Tereza, die mir später Paleiko schenken sollte, den launischen Puppenmann aus schwarzem Porzellan.

Er ist etwas ganz Besonderes, Phil. Manchmal wird er mit dir sprechen und dir Fragen beantworten.

Warum heißt er so komisch?

Das ist ein Geheimnis.

Doch das war viele Jahre später, an einem warmen Sommertag, als keiner von uns an Schnee und Eis dachte. Glass, obwohl sie es besser wissen müsste, besteht noch heute darauf, jener weit zurückliegende Morgen sei ein magischer Moment gewesen, da sich zum Zeitpunkt von Diannes und meiner Geburt der Tag von der Nacht und der Winter vom Frühling trennte. Tatsache aber ist, dass, erst drei Tage nachdem Dianne und ich das Licht der Welt erblickt hatten, ein warmer, föhnartiger Wind aufkam. Er schmolz den letzten Schnee, er verwandelte Visibles Garten in ein Meer aus farbenprächtigen Krokussen und schwankenden weißen Schneeglöckchen, und er hielt eine ganze Woche lang an.

TEIL EINS KELLER UND DACHBÖDEN

MARTINS HANDTUCH

Die meisten Männer, mit denen Glass Affären hatte, bekam ich nie zu Gesicht. Sie kamen spätabends nach Visible oder nachts, wenn Dianne und ich längst schliefen. Dann schlugen Türen, und unbekannte Stimmen mischten sich in unsere Träume. Morgens fanden sich hier und dort verräterische Spuren ihrer Existenz: ein noch warmer Becher auf dem Küchentisch, aus dem hastig starker Kaffee getrunken worden war; die Verpackung einer Zahnbürste im Badezimmer, achtlos zerknüllt und zu Boden geworfen. Manchmal war es nicht mehr als ein verschlafener Geruch, der in der Luft hing wie ein fremder Schatten.

Einmal waren es Telefone. Dianne und ich hatten das Wochenende bei Tereza verbracht, und als wir nach Hause kamen, standen die Apparate in unseren Zimmern, angeschlossen an frisch verlegte Kabel, der Putz an den Wänden noch feucht. Glass hatte sich einen Elektriker geangelt. »Jetzt hat jeder von uns seinen eigenen Apparat«, stellte sie zufrieden fest, Dianne im linken Arm, mich im rechten. »Ist das nicht fantastisch? Findet ihr das nicht wahnsinnig amerikanisch?«

Ich liege matt auf meinem Bett, als das Telefon klingelt. Die Julihitze hat mich erschlagen, sie kriecht selbst bei Nacht durch die Zimmer und Flure wie ein müdes Tier, das nach einem Schlafplatz sucht. Ich weiß, wer der Anrufer ist, weiß es seit drei Wochen. Kat – eigentlich Katja, aber bis auf ihre Eltern und einige Lehrer gibt es niemanden, der sie bei ihrem vollen Namen nennt – ist aus dem Urlaub zurück.

»Ich bin wieder da, Phil!«, schreit sie am anderen Ende der Leitung.

»Unüberhörbar. Wie war’s?«

»Ein Albtraum, und hör auf zu grinsen, ich weiß, dass du das gerade tust! Ich bin total elterngeschädigt, und die Insel war ein verdammtes Dreckloch, du kannst es dir nicht vorstellen! Ich will dich sehen.«

Ich blicke auf die Uhr. »In einer halben Stunde auf dem Schlossberg?«

»Ich wäre gestorben, wenn du keine Zeit hättest.«

»Willkommen im Club. Ich hab mich in den letzten drei Wochen fast zu Tode gelangweilt.«

»Hör zu, ich brauche länger, ungefähr eine Stunde? Ich muss noch auspacken.«

»Kein Problem.«

»Ich freu mich auf dich … Phil?«

»Hm?«

»Ich hab dich vermisst.«

»Ich dich nicht.«

»Dachte ich mir. Arschloch!«

Ich lege den Hörer auf, bleibe auf dem Rücken liegen und blinzele eine Viertelstunde lang das blendende Weiß der Zimmerdecke an. Zypressenduft wird vom Sommerwind in Wellen durch die geöffneten Fenster getrieben. Dann wälze ich mich aus dem verschwitzten Bett, greife nach Boxershorts und T-Shirt und tapse auf knarrenden Dielen durch den Flur in Richtung Dusche.

Ich hasse das Badezimmer auf dieser Etage. Der Rahmen der Tür ist verzogen, man muss sein ganzes Gewicht dagegenstemmen, um sie zu öffnen. Dahinter wird man von zersprungenen schwarzen und weißen Kacheln, von Rissen in der Decke und rieselndem Putz begrüßt. Das veraltete Leitungssystem benötigt drei Minuten, bis es endlich Wasser liefert; im Winter ist der daran angeschlossene rostige Boiler nur durch heftige Fußtritte dazu zu bringen, sich entnervend langsam aufzuheizen. Ich drehe den Wasserhahn auf, lausche dem vertrauten asthmatischen Pfeifen der Leitung und bedauere nicht zum ersten Mal, dass Glass sich nie mit einem Klempner eingelassen hat.

»Wegen der Rohrleitungen?«, hat sie erstaunt gefragt, als ich sie irgendwann auf die praktischen Möglichkeiten einer solchen Liaison angesprochen habe. »Wofür hältst du mich, Darling – für eine Nutte?«

Visibles Architekt muss genauso verrückt gewesen sein wie meine Tante Stella, die vor über einem Vierteljahrhundert das bereits im Verfall begriffene Haus während einer Reise durch Europa entdeckt, sich in seinen für diesen Teil der Welt völlig untypischen Südstaaten-Charme verliebt und es auf Anhieb gekauft hatte. Für eine Handvoll Peanuts, Kleines, schrieb sie damals Glass begeistert und stolz nach Amerika. Ich habe sogar etwas Geld übrig, um es in die dringend notwendige Renovierung zu stecken!

Stella war finanziell unabhängig. Sie hatte die typische Karriere amerikanischer Highschool-Schönheiten hinter sich, die sich über ihre Zukunft erst dann Gedanken machen, wenn diese schon im Begriff ist, Vergangenheit zu werden: frühe Heirat, frühe Scheidung, zu spät eintrudelnde, aber relativ großzügige Unterhaltszahlungen. Große Sprünge konnte Stella mit dem Geld nicht machen, aber es reichte für ein halbwegs sorgenfreies Leben. Es reichte für den Kauf von Visible.

Das von einem weitläufigen Grundstück umgebene Haus stand, wie Stella an Glass schrieb, auf einer Anhöhe am äußersten Rand einer winzigen Stadt, jenseits des Flusses. Die zweigeschossige Fassade mit dem säulengestützten Vorbau, die kleinen Erker und die hohen Flügelfenster, das von unzähligen Giebeln und Zinnen gekrönte Dach: All das war auf Kilometer gut sichtbar für jeden. Folgerichtig nannte Stella, auf der Suche nach einem passenden amerikanischen Namen, das gesamte Anwesen – das Haus, den dahinterliegenden Holz- und Geräteschuppen sowie den weitläufigen, an den Wald angrenzenden Garten, in dem mannshohe Statuen aus verfärbtem Sandstein wie erstarrte Wanderer herumstanden – Visible. Wie sich schnell herausstellte, reichte nach dem Kauf Visibles das übrige Geld kaum aus, auch nur einen Bruchteil der Renovierungskosten zu decken. Das Mauerwerk bröckelte, das Dach war an mehreren Stellen undicht, der Garten glich einem Urwald.

Visible scheint darauf zu warten, in sich zusammenzusinken und von besseren Zeiten träumen zu können, schrieb Stella in einem ihrer immer seltener werdenden Briefe nach Boston. Und die Bewohner der Stadt warten ebenfalls darauf. Sie mögen dieses Haus nicht. Die großen Fenster machen ihnen Angst. Weißt du, warum, Kleines? Weil es ausreicht, diese Fenster aus der Ferne zu sehen, um zu wissen und zu fühlen, dass sie zu einem weiten Blick auf die Welt zwingen.

Ich bin mit Fotos von Stella groß geworden, unzählige Aufnahmen, die Glass einige Monate nach dem Tod ihrer Schwester aus deren Unterlagen geklaubt und im Haus verteilt hat. Man begegnet ihnen überall, in der düsteren Eingangshalle, im Treppenhaus, in beinahe jedem Zimmer. Wie kitschige Heiligenbildchen hängen sie in billigen Rahmen an den Wänden, sind aufgestellt auf wackeligen Kommoden und Tischen, drängen sich auf Simsen und Fensterbänken. Mein Lieblingsporträt von Stella zeigt ihr kantiges, von der Sonne gebräuntes Gesicht. Sie hatte große, klare Augen mit unzähligen Lachfältchen. Es ist das einzige Foto, auf dem meine Tante weich und verletzlich wirkt. Aus allen anderen Bildern spricht eine Mischung aus kindlichem Trotz und stürmischer Herausforderung. Stella sieht darauf aus wie in Feuer gehärteter, gerade im Ausglühen begriffener Stahl.

Drei Tage bevor Glass auf Visible ankam, war meiner Tante der weite Blick auf die Welt zum Verhängnis geworden. Beim Fensterputzen war sie aus dem zweiten Stock des Hauses auf die Auffahrt gestürzt, wo tags darauf der Briefträger sie entdeckte. Sie lag wie schlafend auf dem kiesigen Boden, den Kopf auf einen Arm gebettet, die Beine leicht angezogen. Ihr Genick war gebrochen. Später fand Glass das Telegramm, das sie selbst vom Schiff aus nach Visible gekabelt hatte, und den Entwurf einer Antwort, die ihre ältere und einzige Schwester nicht mehr hatte abschicken können: Kleines, freue mich auf dich und Nachwuchs. Liebe, Stella.

Stellas Tod berührte Glass tief. Sie hatte ihre Schwester abgöttisch geliebt, auch nach deren Weggang aus Amerika. Die Mutter der beiden war früh gestorben, am Großen K, wie Glass es nannte, und der Vater hatte sich an geistigen Getränken deutlich interessierter gezeigt als am Schicksal seiner Töchter. Dass beide nach Europa verschwanden, nahm er so betrunken wie gleichgültig auf. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Als ich Glass irgendwann auf meinen Großvater ansprach, sagte sie knapp, der amerikanische Kontinent habe ihn verschluckt und werde ihn hoffentlich nie wieder ausspucken. Nach der ersten Trauer um Stella betrachtete sie deren Tod von der pragmatischen Seite. Einer von Glass’ Lieblingssprüchen ist, dass nichts geht, ohne dass etwas anderes dafür kommt. Der Tod hatte ihr Stella genommen und dafür Tereza gegeben: kein schlechter Tausch.

Ein ortsansässiger Anwalt wurde von der Stadtverwaltung damit beauftragt, die Papiere der toten Amerikanerin zu sichten und ausfindig zu machen, ob es Verwandte in Übersee gab. Der viel beschäftigte Mann schickte eine Praktikantin nach Visible, eine junge Frau mit langen roten Haaren, die sich – nach einem ersten gehörigen Schrecken – recht geschickt dabei anstellte, zwei neuen Verwandten Stellas in die Welt zu helfen. Tereza stammte aus der Stadt, der sie jedoch schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, um irgendwo im Norden Jura zu studieren.

In der vor Kälte starrenden Nacht, die Diannes und meiner Geburt vorausging, war Tereza, die sich für die Dauer ihrer Untersuchung mit einem Schlafsack in Visible einquartiert hatte, fündig geworden. Stella hatte tatsächlich ein Testament hinterlassen. Darin erklärte sie ihre Schwester Glass zur alleinigen Erbin Visibles und ihres gesamten Nachlasses. Die Sache gestaltete sich schwierig, es gab rechtliche Probleme – Glass war nicht volljährig, sie war Amerikanerin, und sie besaß keine Aufenthaltserlaubnis. Dass sie nur Englisch sprach, machte die Angelegenheit nicht einfacher.

Tereza nahm Glass unter ihre Fittiche und setzte sich bei dem Anwalt für sie ein. Der Mann mochte Tereza, er fand Gefallen an Glass, und er hatte Freunde, die wiederum Freunde in hohen Positionen hatten. Mehr als zwei Augen wurden zugedrückt, Gesetze vorsichtig gebeugt, Bestimmungen geschickt umgangen und wohlwollende Schreiben verfasst. Schließlich durfte Glass bleiben, doch das war nur ein erster Schritt. Stella hatte kaum Barvermögen hinterlassen, aber Geld war das, was Glass dringend benötigte. Visible zu verkaufen kam für sie nicht in Frage. Das Haus war mehr als nur Stellas Vermächtnis – es war das Dach über den Köpfen ihrer winzigen neuen Familie. Wieder war es Tereza, die sich einschaltete. Über Freunde an der Universität versorgte sie Glass mit Schreibarbeiten, die aus der Erledigung umfangreicher englischer Korrespondenz oder im Zusammenfassen von Artikeln aus internationalen Fachzeitschriften bestanden.

Ein Jahr bevor Tereza das Studium beendete, starb ihr seit langem verwitweter Vater, ein halbwegs berühmter, emeritierter Professor für Botanik, der einzige Gelehrte, den die Stadt je hervorgebracht hatte. Plötzlich war Tereza eine vermögende, aber heimatlose Frau – sie mochte das Haus ihres Vaters nicht allein bewohnen, und so verbrachte sie ihre Semesterferien regelmäßig in Visible. Sie hütete Dianne und mich, während Glass zunächst Sprachkurse besuchte und sich dann in der Abendschule zur Sekretärin ausbilden ließ.

Dianne und ich waren inzwischen vier Jahre alt und zutraulich wie junge Hunde. Wir hatten Tereza sofort ins Herz geschlossen. Als Gegenleistung ruinierte sie unsere Milchzähne mit Popcorn, das sie allabendlich zubereitete, bevor sie uns in die Betten steckte. Dort kauten wir das klebrig süße Zeug aus zersprungenen bunten Schüsseln, während Tereza uns Märchen vorlas. Meistens schlief sie darüber noch vor uns ein, dann deckten wir sie mit einer Wolldecke zu und steckten ihr Maiskörner in die Nasenlöcher. In unsere Liebe zu ihr mischte sich eine gehörige Portion Ehrfurcht; schließlich hatte Tereza, wie die Hexen in den Märchen, rote Haare. Sie konnte kleine, panische Nervenbündel aus uns machen, wenn sie damit drohte, uns in Frösche zu verwandeln.

Nach dem Examen arbeitete Tereza in einer Anwaltskanzlei. Zwei Jahre später hatte sie genug Erfahrung gesammelt, um in der nächstgrößeren Stadt eine eigene Kanzlei zu eröffnen, und natürlich benötigte sie eine Sekretärin. Der Zeitplan war perfekt. Dianne und ich standen kurz vor der Einschulung, so dass Glass halbtags arbeiten konnte. Später, als wir gelernt hatten uns selbst zu versorgen, übernahm sie den Job ganztags. Dann stieg sie morgens in ihr Auto – der alte Ford von Terezas Vater – und kehrte am frühen Abend zurück, stets mit einem kleinen Geschenk für uns: giftgrüne, klebrige Dauerlutscher, ein schmales Bilderbuch, eine Schallplatte, die vom vielen Abspielen bald zerkratzt war.

Wenn Dianne und ich aus der Schule nach Hause kamen, wärmten wir tags zuvor zubereitete Mahlzeiten auf. Wir benötigten weder Ermahnungen noch Aufsicht, um unsere Hausaufgaben zu erledigen. Freie Zeit verbrachten wir fast ausnahmslos draußen, im Dschungel des Gartens, in den an das Anwesen angrenzenden Wäldern oder am nahen Fluss. Glass war stolz auf unsere Eigenständigkeit. Da sie mehr als einmal darauf hinwies, dass von ihrem Job unsere Existenz abhing, wagten Dianne und ich nicht ihr anzuvertrauen, dass wir uns, allein gelassen in dem großen Haus, vor Visible fürchteten. Die verwinkelten Zimmer, viele davon ungenutzt, die unendlich langen, sich verzweigenden Flure, die hohen Wände, von denen beim leisesten Schritt kleine, sich ins Unendliche fortpflanzende Echos widerhallten – all das war uns nicht geheuer. Visible war unheimlich, ein düsteres, hohles Gehäuse, und nichts erfüllte uns mit mehr Schrecken, als wenn Glass uns vorschlug, darin Verstecken zu spielen. Dianne und ich besaßen ein gemeinsames Zimmer im Erdgeschoss; erst später, als wir die Rückzugsmöglichkeiten in die Stille und Leere der oberen Stockwerke zu schätzen gelernt hatten, richteten wir uns, jeder für sich, dort ein. Ich nahm mir ein Zimmer, das eine unbegrenzte Aussicht über den Fluss hinweg auf die Stadt bot, die an den Hängen des Schlossbergs lag, dessen Spitze wiederum von einer nichtssagenden Burg aus dem frühen Mittelalter gekrönt war. In diesem Zimmer stellte ich fest, dass ich über eine gänzlich andere Mentalität verfügen musste, als Stella sie besessen hatte, denn der Blick durch die hohen Fenster auf die dahinterliegende Welt war mir nie weit genug.

Das kalte Wasser der Dusche hat mich auf Trab gebracht. Ich ziehe Shorts und T-Shirt an und gehe durch den labyrinthischen Flur zur geschwungenen Treppe, die nach unten in die Eingangshalle führt. Weder von Dianne noch von Glass ist etwas zu sehen oder zu hören. Vielleicht haben beide vor der unbarmherzigen Sommerluft kapituliert und schlafen.

Sobald ich ins Freie trete, schlägt mir die Hitze ins Gesicht. Ich schnappe mir mein an der Hauswand lehnendes Fahrrad und lasse mich die holprige, unbefestigte Auffahrt hinabrollen.

Der Garten hat Ähnlichkeit mit einem wogenden Getreidefeld. Zu beiden Seiten der Auffahrt kämpft meterhohes Gras mit farbenprächtigen Wiesenpflanzen um einen Platz an der Sonne. Wilder Efeu krallt sich in die Rinde von alten Obstbäumen und Pappeln, hangelt sich an den Stämmen nach oben und klettert über die Regenrinne zum Haus, um dort in Kaskaden wieder herabzufallen.

Während der ersten fünf oder sechs Jahre in Visible bemühte sich Glass, diesen Wildwuchs zu zähmen, den Urwald zu unterwerfen und eine Art Garten anzulegen. Ihre Gefechtskleidung bestand aus einer grünen Kittelschürze, rosa Plastikhandschuhen und gleichfarbigen Gummistiefeln; ihre Waffen waren Gartengeräte, die ausgereicht hätten, die Wüste Nevadas in fruchtbares Land zu verwandeln. Dianne und ich, unsererseits ausgestattet mit kleinen, eisernen Haken und Schippchen, umwuselten ihre Beine, wenn unsere Mutter zum Kampf ausrückte, und hielten uns stets in ihrer Nähe auf. Doch alles Zupfen, alles Jäten und Roden war vergebens, der heroische Kampf gegen das standhafte Heer von Unkraut zum Scheitern verurteilt.

»Als würde die Natur sich gegen mich wehren«, beschwerte sich Glass, wenn sie abends erschöpft und müde am Küchentisch saß, die Hände trotz der Plastikhandschuhe mit Blasen übersät. »Wo ich diese Scheißpflanzen haben will, wachsen sie nicht, und wo ich sie loswerden will, schießen sie ins Kraut!«

Sie stellte einen Gärtner ein, stundenweise. Martin war kaum älter als Glass, ein junger Mann mit schwarzem Haar und strahlenden grünen Augen. Er kam Gott weiß woher, und genau dorthin verschwand er auch wieder. Dianne machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie ihn nicht ausstehen konnte, und ging ihm aus dem Weg, aber ich war von Martin begeistert. Wenn er an heißen Sommertagen nach getaner Arbeit von draußen in die kühle Küche kam, wo Glass ihm geeiste Limonade servierte, setzte ich mich auf seinen Schoß und verbarg mein Gesicht in seinem nass geschwitzten Unterhemd. Ich mochte den Duft, den er verströmte, er roch nach Gras und dem offenen blauen Himmel. Während er mit Glass sprach, kraulten seine Hände meinen Nacken, die Finger trocken und angenehm weich, trotz der harten Gartenarbeit. Später, wenn Martin duschte und mir dabei Geschichten erzählte, sein Lachen nie weiter entfernt als das Ende des nächsten Satzes, die Haut glänzend von abperlendem Wasser, saß ich auf dem heruntergeklappten Klodeckel, den Kopf in die Hände gestützt, und betrachtete seine kräftigen Arme, die breiten, sonnengebräunten Schultern und die Stelle, an der seine schlanken Beine zusammenliefen. Das Handtuch, mit dem er sich trockenrieb, nahm ich beim Schlafengehen heimlich mit in mein Bett, wo ich es als Decke benutzte. Dass Glass wie selbstverständlich Martin mit in ihr Bett nahm, erfüllte mich mit einer bis dahin nicht gekannten Eifersucht, die mir nächtelang den Schlaf raubte.

Falls Dianne all das registrierte, fiel es mir nicht auf. Erst viele Jahre später wuchs in mir die Gewissheit, dass ihr damals selbst das kleinste Detail nicht entging und dass meine Zwillingsschwester ebenso schlaflose Nächte verbrachte wie ich, wenn auch aus einem völlig anderen Grund: Dianne hasste Glass wegen ihrer Männergeschichten.

DUMBO AUF DEM TURM

Kat und ich sitzen nebeneinander auf der Schlossmauer. Unsere Beine baumeln über die Brüstung, an der ein warmer Luftzug emporsteigt. Unter uns liegt die Stadt – ausgebreitet wie eine bunt gemusterte Karte, begrenzt von bewaldeten Hügeln, eingefasst vom dreifach gewundenen, blau schimmernden Band des Flusses. In den drei Wochen von Kats Abwesenheit hat es mich oft hierhergezogen. Es beruhigt mich, die Welt so klein zu sehen.

»Kein Geigenunterricht heute?«

»Nicht am ersten Tag nach dem Urlaub. Aber üben müsste ich.« Kat sieht mich von der Seite an. »Ob du es glaubst oder nicht, ich hab das Spielen richtig vermisst.«

»Du hättest das Ding ja mitnehmen können.«

Kat schüttelt den Kopf, wie in nachträglicher Fassungslosigkeit. »Weißt du, ich hab mal was im Fernsehen über Malta gesehen: den Brückenkopf zwischen Afrika und Europa. Kreuzritter und so ein Zeugs. Und Windmühlen. Im Fernsehen haben sie Windmühlen gezeigt. O Mann, und dann diese beschissenen Deckchen, die sie da überall und ständig häkeln …«

»Wie waren die Typen? Die Malteser?«

Der Knuff, den sie mir versetzt, katapultiert mich um ein Haar ins Leere. Von hier oben bedeutet ein Sturz fünfzehn Meter freien Fall und eine Landung zwischen hohen Brennnesseln.

»Hey …!«

»Selbst schuld. Mann! Ich erzähle dir hier meine Passionsgeschichte, und du denkst nur an die Typen!«

»Komm schon.«

»Okay.« Ihr Grinsen entblößt eine breite Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die seit Jahren erfolgreich dem nächtlichen Einsatz einer Klammer trotzt. »Sie waren hässlich und hatten dicke, breite Ärsche – reicht das? Außerdem hat Daddy mich bewacht wie eine Bulldogge, ich meine, selbst wenn ich etwas gewollt hätte –«

»– hättest du dich dabei von niemandem abhalten lassen. Auch nicht von deinem Vater.«

»Ach komm, du weißt schon.« Ich erhalte einen weiteren Knuff.

»Vorsicht, ja? Du tust gerade so, als könntest du dir deine Freunde aussuchen.«

»Er hat Mama und mich völlig fertiggemacht, wie immer, ehrlich. Kulturterror und all das. Du kannst froh sein, dass du keinen Vater hast.«

Kats Augen suchen einen unbestimmten Punkt irgendwo hinter dem Horizont. Sie weiß, dass sie keine Antwort von mir erwarten kann. Wenn es um ihren Vater geht – wenn es um irgendeinen Vater geht –, fühle ich mich hilflos, dem Thema nicht gewachsen. Ich denke nicht gern darüber nach. Tue ich es doch, beschleicht mich ein Gefühl, das dem gleicht, das in mir beim Gedanken an einen Sturz von dieser Mauer aufkommt. Mit dem Unterschied, dass ich bei einem Sturz wüsste, was mich unten erwartet.

Als hätte sie meinen Gedanken erraten, sagt Kat: »Warum erzählst du nie etwas von Nummer Drei?«

»Weil es nichts zu erzählen gibt«, sage ich genervt. Wann immer sie sich bisher nach meinem Vater erkundigt hat, habe ich ihr einsilbige Antworten gegeben. Dabei wird es, wenn es nach mir geht, auch bleiben.

»Komm schon … irgendwas.«

»Glass hat nie über ihn geredet.«

»Tatsache?«

»Sie hat …« Ich suche nach den richtigen Worten und starre dabei auf die im Sonnenlicht glänzenden roten Dächer der Stadt. Man kann die über ihnen vibrierende Luft sehen, die von der Hitze in kräuselnder Bewegung gehalten wird. »Sie hat einen Strich gezogen. Es gibt ein Leben, das sie in Amerika führte, über das sie mit Dianne und mir nie gesprochen hat. Gut, ich weiß ein bisschen über meine Großeltern, aber das sind langweilige Geschichten über langweilige Leute.«

Irgendwann in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts waren unsere Vorfahren von Europa nach Amerika gegangen, unzufrieden mit der wirtschaftlichen und der politischen Situation in ihrer Heimat. Sie überquerten den Atlantik in kleinen, schlecht kalfaterten Schiffen, sie meisterten Stürme und Kälte, Hunger und Krankheit, und bald darauf verteilten sich ihre Nachkommen wie vom Wind getriebener Löwenzahnsamen über den Kontinent, den sie Gottes eigenes Land nannten, Home of the Brave, Land of the Free. Und tapfer waren sie tatsächlich gewesen, auch frei, nur Wurzeln hatten sie nie wirklich geschlagen. Die wenigsten waren in den großen, aufstrebenden Städten gelandet. Der weitaus größere Teil machte sich, beseelt von Pioniergeist und erfüllt von einem Freiheitswillen, der kein Hindernis scheute, auf den beschwerlichen Weg zur frontier, der mythischen Grenze im Westen, hinter der, so glaubte man, das Ende des Regenbogens auf einen wartete.

»Und mein Vater …«, fahre ich fort. »Es ist nicht so, als hätte ich nie versucht, etwas über ihn rauszukriegen. Aber Glass macht dann einfach dicht.«

»Es nervt dich, oder?«

»Irgendwie schon«, gebe ich widerwillig zu. Dass Nummer Drei sie hatte sitzenlassen, ist der einzige mir bekannte Grund, der meine Mutter zum Sprung über den Großen Teich bewegt hat. »Es ist so … unvollständig.«

Ich denke an die Liste, die ich vor einigen Jahren zufällig zwischen Glass’ Papieren gefunden habe, eine Liste, die ihre Männer aufführte, säuberlich durchnummeriert und mit Namen und den Daten versehen, an denen, wie ich annahm, Glass mit ihnen geschlafen hatte. An einer Stelle stand lediglich eine Zahl. Es war ein Leichtes gewesen, vom Tag meiner und Diannes Geburt bis zu dem Datum zurückzurechnen, das neben der Nummer Drei stand.

Ich weiß nicht, ob diese Liste heute noch existiert. Damals hatte sie etwa fünfzig Einträge. Ob das eine große oder kleine Zahl ist, vermochte ich nicht zu beurteilen. Auf mehr als zehn Jahre verteilt erschienen mir fünfzig Affären nicht besonders viel, was daran liegen mochte, dass die wenigsten Männer, wenn Glass sie überhaupt mit nach Hause gebracht hatte, öfter als einmal in Visible aufgetaucht waren. In meiner Erinnerung schieben sich ihre Gesichter wie graue Phantomzeichnungen übereinander, vage und austauschbar. Sie haben keinen Anteil an meinem Leben genommen, und so bleiben sie, auch wenn sie Namen besitzen, letztendlich dasselbe für mich, was sie für Glass waren: Nummern auf einem weißen Blatt Papier. Natürlich gibt es Ausnahmen – Martin mit den grünen Augen und dem Geruch nach Gartenerde ist eine davon, und später war da Kyle, der Bogenschnitzer mit den schönen Händen –, doch über allen Ausnahmen thront jener Mann, der anstelle eines Namens mit der Zahl Drei auf der Liste steht.

»Hättest du gerne einen? Einen Vater?« Kat hat etwas Moos aus den Mauerritzen gezupft, das sie zwischen den Fingern zu einer kleinen grünen Kugel zusammenrollt. »Ich meine, vermisst du ihn irgendwie?«

»Wie sollte ich ihn vermissen?«, schnappe ich. »Ich hab ihn schließlich nie gekannt.«

Kat weiß sehr genau, dass sie in gefährlichen Gewässern fischt. Sie kann ein echtes Miststück sein. Mit dreister Beharrlichkeit wird sie ihre Finger auf genau die wunden Stellen meiner Seele legen, vor denen selbst ein Psychiater zurückschrecken würde. Schwarze Löcher. Komm ihnen zu nahe, und bevor du weißt, wie dir geschieht, verschlucken sie dich. Doch was für mich schwarze Löcher sind, nennt Kat ›weiße Flecken auf der Landkarte deiner Psyche‹. Geduldig füllt sie diese Flecken aus, wann immer sich ihr eine Gelegenheit dazu bietet, und es kümmert sie herzlich wenig, wenn sie dabei Grenzen übertritt.

So wie jetzt.

»Du weißt immerhin, dass er in Amerika lebt«, bohrt sie weiter.

»Amerika ist groß«, sage ich gereizt. »Und dass er noch lebt, ist nur eine Vermutung. Also jetzt tu mir einen Gefallen und halt endlich die Klappe, okay?«

»Okay. Friede.« Die Mooskugel wird entschlossen weggeschnippt, sie trudelt auf der warmen Luft nach unten und landet am Fuß der Schlossmauer zwischen den Brennnesselbüschen. Ich erhalte eine versöhnliche Großaufnahme der Zahnlücke. »Vanilleeis?«

Im Sommer vor meiner Einschulung beschloss Glass, dass etwas mit meinen Ohren geschehen müsse.

»Sie sind zu groß, Phil«, erklärte sie. »Und sie stehen ab. Du siehst aus wie Dumbo.«

Wir saßen auf einer Steppdecke am Flussufer, von hochgewachsenem, rosarotem Springkraut vor der Nachmittagssonne geschützt, weitab von der Stadt, weitab von ihren Bewohnern. Meine Mutter griff in eine mit Getränken und klebrigen Erdnussbutter-Sandwiches gefüllte Kühlbox, holte eine Flasche Cola heraus und setzte sie an die Lippen. Sobald sie die Flasche wieder absetzte, würde es kein Entrinnen mehr geben.

Dass ihr meine Ohren nicht gefielen, erfüllte mich mit Unbehagen. Ich sah zu Dianne hinüber, die bis zu den Knien im träge dahinströmenden Wasser stand, wo sie die Unterseiten flacher Steine nach Schnecken absuchte. Niemand hätte uns für Zwillinge gehalten. Schon deshalb nicht, wie ich jetzt dachte, weil Dianne gänzlich unauffällige Ohren besaß.

»Wer ist Dumbo?«, fragte ich vorsichtig.

»Ein Elefant.« Glass stellte die Cola zurück in die Kühlbox. »Seine Ohren schleiften über den Boden, beim Laufen ist er ständig darüber gestolpert. Sie waren einfach zu groß.«

Dianne kletterte aus dem Fluss, sprang geschickt über ein paar Steine, schlug sich durch hüfthohes Gras und hielt Glass im nächsten Moment wortlos einen Stein unter die Nase, an dem ein besonders hübsches, rundes Schneckenhaus klebte.

»O Gott, bring das weg!«, rief Glass angeekelt. »Ich kann dieses glitschige Zeug nicht ausstehen!«

Sie legte sich zurück, schloss die Augen und sah deshalb auch nicht, wie sich Dianne, bevor sie zurück ins Wasser marschierte, um dort nach neuen Glitschigkeiten zu suchen, die Schnecke versuchshalber in ihr linkes Ohr steckte. In ihr nicht abstehendes linkes Ohr von normaler Größe, wie ich neidisch bemerkte.

Ich blieb auf der Decke sitzen, im Bann schrecklichster Vorahnungen. Ich erwartete, dass Glass das Thema erneut aufgriff – dass sie mir erklärte, was mit zu großen und abstehenden Ohren gemacht wurde, damit diese nicht über den Boden schleiften –, aber sie war eingeschlafen, und da sie auch auf dem Nachhauseweg nicht wieder darauf zu sprechen kam, betrachtete ich, wenn auch zögernd, die Angelegenheit schließlich als erledigt.

Der frühe Abend verging mit dem erfolglosen Versuch, die unglückliche Flussschnecke aus Diannes Ohr zu entfernen. Glass fuhrwerkte mit dem Inhalt von drei Küchenschubladen in Diannes Gehörgang herum, mit dem wenig überraschenden, aber schmerzhaften Resultat, dass der Fremdkörper irgendwann gegen das Trommelfell drückte. Schließlich murmelte sie etwas von der eustachischen Röhre, und ich wusste nicht, was ich mehr bewundern sollte – dass meine Mutter ein so kompliziertes Wort aussprechen konnte oder dass sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre Lippen um Diannes Nase schloss und so kräftig hineinpustete, dass ich tatsächlich erwartete, die Schnecke wie ein Schnellfeuergeschoss aus dem Ohr und durch die Küche fliegen zu sehen. Als auch das nicht half, schob Glass uns fluchend ins Auto und fuhr mit uns in das städtische Krankenhaus, wo ein geduldiger junger Notarzt mit Hilfe mehrerer Spülungen und einer feinen Pinzette das Unglück behob.

»Ich heiße Clemens«, sagte er zu Dianne. »Und du?«

Dianne gab keine Antwort.

Der Arzt lachte. Ich beobachtete, wie seine sonderbar rosigen Hände mit der Pinzette hantierten. Seine Fingernägel waren ganz kurz geschnitten.

Die Schnecke war selbstverständlich tot, doch ihr schmutzig braunes Gehäuse hatte, wie durch ein Wunder, den Eingriff völlig unbeschadet überstanden. Als wir wieder im Auto saßen, ließ Dianne das Schneckenhaus über ihre geöffnete Handfläche rollen. »Darf ich es behalten?«, fragte sie.

»Du kannst es dir von mir aus … ach, Scheiße, von mir aus behalt es«, gab Glass zurück.

Es krachte, ein Ruck ging durch den Wagen, als sie in den falschen Gang schaltete. Ich wusste, dass sie wütend war, unsagbar wütend, weil sie wegen einer kaum erbsengroßen Schnecke dazu gezwungen gewesen war, einen fremden Menschen um Hilfe zu bitten, auch wenn es ein sehr netter fremder Mensch gewesen war. Viele Jahre später fand ich Clemens auf der Liste wieder. Hinter seinem Namen stand die Nummer 24.

Bis wir zu Abend gegessen hatten und schlafen gingen, war es dunkel geworden. Glass kam in unser Zimmer und trat an mein Bett, das Licht war bereits gelöscht, Dianne schon eingeschlafen. Sie hatte die Schnecke unter ihr Kopfkissen gelegt, am nächsten Morgen war das Gehäuse in hundert Splitter zerbrochen.

Als Glass sich über mich beugte, hatte ich das Gefühl, mit ihrer Stimme allein zu sein.

»Wegen deiner Ohren …«

Es war Diannes Schuld! Hätte sie diese blöde Schnecke in Ruhe gelassen, wäre Glass nicht dazu gezwungen gewesen, stundenlang über Ohren nachzudenken.

»Dir ist hoffentlich klar«, sagte die Stimme, »dass sie dasselbe mit dir machen werden, was sie mit Dumbo gemacht haben.«

»Wer?«

»Die da draußen.«

Vor dem nachtblauen Viereck, das der Rahmen des weit offenen Fensters aus der Dunkelheit stanzte, sah ich den Schattenriss einer Hand vorbeiwischen. Die Bewegung umfasste alles und jeden – die Stadt, ihre Bewohner auf der anderen Seite des Flusses, den Rest der Welt, das Universum –, und in ihrer Allumfassenheit machte sie mir Angst.

»Was haben sie mit Dumbo gemacht?«

Die angespannte Erwartung hatte mich flüstern lassen, und jetzt bildete ich mir ein, dass die Stimme mit einer Antwort zögerte. Stille legte sich um mein pochendes Herz wie ein zu enger, rauer Mantel.

»Sie stellten ihn im Zirkus auf einen zwanzig Meter hohen Turm«, antwortete die Stimme endlich. Die Dunkelheit wurde noch dunkler. »Er musste in ein Becken voller Grießbrei springen. Und alle haben gelacht!«

Anfangs flösste Oberschwester Marthe mir höllischen Respekt ein. Wann immer ich sie mit kampfbereit gesenktem Haupt durch die Flure des Krankenhauses eilen sah, stellte ich mir vor, wie sie vor langer Zeit zu einem Eroberungsfeldzug angetreten war, der mit der erfolgreichen Einnahme von Station 303 geendet hatte. Erst später bemerkte ich, dass unter dem Panzer ihrer stets frisch gestärkten Blusen ein butterweiches Herz schlug.

»HNO«, schnaubte sie auf meine erste an sie gerichtete Frage, und ich sah ein an einer feinen silbernen Halskette befestigtes Kreuz aufblitzen, »heißt Halsnasenohren!«

Unabhängig von deren Alter bezeichnete sie ihre Patienten als Kinderchen, und wer, wie ich, an den Ohren behandelt wurde, gehörte zum enger gefassten Kreis der Löffelchen. Sie weigerte sich standhaft, von der weichen Aussprache meines Vornamens Gebrauch zu machen, und nannte mich Pill.

Pill, mein Löffelchen.

Bei allem Respekt, den sie mir abverlangte, fühlte ich doch instinktiv, dass Oberschwester Marthe in der kalten, von fremdartigen Gerüchen erfüllten Welt des Krankenhauses ein Hafen der Sicherheit war. Um in diesem Hafen anzulegen, musste ich, wie alle anderen Löffelchen auch, nicht mehr tun, als meine großen Ohren als Segel zu benutzen, vorzugsweise dann, wenn Oberschwester Marthe sich unbeobachtet durch anderes Personal wusste. Dann ließ sie ihren Mutterinstinkten freien Lauf, sprach weich und zärtlich, und wenn man Glück hatte, wurde man an ihren dicken Busen gedrückt und hinter den wahlweise abstehenden oder bereits malträtierten Ohren gekrault.

Der Arzt, der dafür sorgen sollte, dass mich wegen dieser Ohren niemand jemals auslachen würde, hieß Dr. Eisbert.

Dr. Eisberts Stimme war dunkel und vertrauenerweckend. Er hatte tiefe, scharf eingegrabene Falten, die sich von seinen Nasenflügeln bis hinunter zu den Mundwinkeln zogen und die ich mit einigem Misstrauen beäugte. Solche Falten, beschloss ich später, bekam man vom Lügen. Dr. Eisbert erläuterte mir den Verlauf der Operation. Hinter jedem meiner Ohren würde ein winziger Schnitt gemacht werden, um Knorpelmasse entnehmen zu können.

»Sie schneiden mir die Ohren nicht ab, oder?«

»Nein. Nur ein kleiner Schnitt«, versicherte er mit seiner Brummbärstimme. »Anschließend nähen wir alles wieder zusammen, und du bekommst einen hübschen kleinen Turban. Du wirst aussehen wie ein orientalischer Prinz.«

»Tut es weh?«

Dr. Eisbert schüttelte den Kopf. Ich ließ mich zufrieden zurück in die Kissen sinken. Ein orientalischer Prinz genoss königliche Immunität. Niemand da draußen würde auf die Idee kommen, ihn aus zwanzig Meter Höhe in ein Becken voller Grießbrei springen zu lassen.

Tief in meinem Inneren blieb ich dennoch unruhig. Halsnasenohren war keine Station unseres kleinen städtischen Krankenhauses, sondern die einer Spezialklinik. Visible lag mehr als zwei Autostunden entfernt, entsprechend selten waren Besuche von Glass und Dianne oder Tereza. Vor allem Glass, die Krankenhäuser für die Brutstätten exotischer Bakterien und überhaupt für Orte der Grausamkeit und des Todes hielt, um die man nach Möglichkeit einen weiten Bogen schlug, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass mit ihr kaum zu rechnen war. Sie trug die Hauptverantwortung für meine jämmerliche Lage und konnte mir sowieso gestohlen bleiben. Auf Diannes Anwesenheit legte ich ebenfalls keinen großen Wert, weil ich immer noch der Überzeugung war, dass sie durch das dumme Experiment mit der Flussschnecke zu meinem Unglück beigetragen hatte. Es hätte ihr recht geschehen, wenn die Schnecke für immer und immer in ihrem blöden Kopf geblieben und bei jeder Bewegung laut klackernd darin herumgekullert wäre. Tereza war die Einzige, nach deren Trost ich mich sehnte, aber die hatte alle Hände voll mit ihrer neuen Anwaltskanzlei zu tun. Ich fühlte mich alleingelassen und einsam. Eingeschüchtert von den neonfahlen Korridoren des Krankenhauses, von denen ich befürchtete, sie würden mich verschlingen, wenn ich hinausging, wagte ich kaum, mein Zimmer zu verlassen. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, unzählige Malbücher geduldig mit Buntstiften auszumalen.

Am Vorabend der Operation ertönten aus dem Nachbarzimmer mörderische Schreie und die dröhnende Stimme Oberschwester Marthes. Es war unschwer zu erraten, dass sie in ein Gefecht mit einem der Löffelchen geraten war.

»Lass mich!«, brüllte eine Kinderstimme. »Lass mich!«

»Wirst du wohl –«

»Nein!«

Metallisches Scheppern erklang, gefolgt vom Klirren zerspringenden Geschirrs. Ich huschte aus dem Bett und öffnete die Tür. Ein kleines, weißes Etwas hastete an mir vorbei durch den Flur. Um seine Stirn flatterten aufgelöste Bandagen, darunter blitzten zwei ebenso zornige wie entschlossene grüne Augen. Oberschwester Marthe stürmte hinterher. In ihrer rechten Hand schwang sie drohend eine Spritze.

»Bleib sofort – Pill, Tür zu und ins Bett, ins Bett! – bleib sofort stehen, du …«

Die wilde Jagd schoss erneut an mir vorüber, diesmal in entgegengesetzter Richtung. Der Abstand zwischen dem panisch quietschenden Löffelchen und seiner Verfolgerin war deutlich geschrumpft. Beide verschwanden aus meinem Blickfeld, dann belegte ein letzter spitzer Schrei des Flüchtlings, dass der ungleiche Kampf zugunsten der Spritze entschieden war.

Keine guten Aussichten.

Stunden später, die Station war längst zur Ruhe gekommen, weckte mich das vorsichtige Tapsen nackter Füße aus unruhigem Schlaf. Das Löffelchen mit den grünen Augen, von einem bis zu den Knien reichenden Nachthemd umwallt, den Kopf eingewickelt in geisterhaft leuchtende Bandagen, huschte durch die offen stehende Tür. Vor meinem Bett blieb es stehen und bohrte sich in der Nase.

»Meinem Papa gehört eine Schule«, sagte es.

Dem hatte ich nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Ich kannte meinen Vater nicht, ich kannte nicht einmal seinen Namen. Ich wusste nur, dass er in Amerika lebte. Amerika war das magische Wort, das ich vor dem Einschlafen vor mir herzusagen pflegte wie ein Gebet, immer und immer wieder.

Das Mädchen, scheinbar wild entschlossen, sich mit mir zu unterhalten, ließ sich von meiner ausbleibenden Antwort nicht entmutigen. »Wirst du auch an den Ohren operiert?«

Das war sicherer Boden. Ich nickte. »Meine Mutter hat gesagt, ich würde aussehen wie Dumbo, der Elefant. Er musste von einem Turm runter in Grießbrei springen. Alle haben ihn ausgelacht.«

»Aber später konnte er fliegen mit seinen großen Ohren, und er war berühmt und ein Star.«

»Wer?«

»Dumbo. Darf ich in dein Bett?«

Ich schlug die Decke zurück und rutschte zur Seite. Das Mädchen, das Dumbo kannte und dessen Vater eine Schule gehörte, krabbelte zu mir und kuschelte sich an mich. Ihr Verband drückte gegen mein Gesicht, er roch nach Salbe und Desinfektionsmitteln. Über dem linken Ohr war er leicht erhoben. Die Stelle war dunkel von verkrustetem Blut.

»Tut es weh?«, fragte ich voller Mitgefühl.

»Arschweh.«

Glass, die kräftigen Flüchen selbst nicht abgeneigt war, hätte mich für die Benutzung dieses Schimpfwortes mit zweiwöchigem Erdnussbutter-Entzug bestraft. Plötzlich stieg Wut in mir auf. Meine eigene Mutter hatte mich … nun, angelogen mochte nicht die richtige Bezeichnung sein, aber sie hatte einen Teil der Wahrheit verschwiegen. Den wichtigsten Teil. Was mich anging, so liefen Lügen und Verschweigen auf dasselbe hinaus. Ich würde niemals fliegen können wie Dumbo. Ich würde nie berühmt und ein Star werden. Dass Dr. Eisbert mit seiner tiefen Stimme gelogen hatte, stand zweifelsfrei fest. Ich hasste ihn. Der orientalische Prinz würde einen blutbefleckten Turban tragen. Die Operation würde wehtun.

»Arschweh«, wiederholte ich erschauernd. Ich berührte das Mädchen bei der Schulter. »Wie heißt du?«

»Katja. Und du?«

»Phil.«

»Wenn ich will, kriege ich hier jeden Tag Eiskrem. Am liebsten habe ich Kirsch.«

»Ich Vanille … Darf ich dein Nachthemd anziehen?«

Wir stiegen aus dem Bett und zogen uns aus. Nackt fühlte ich mich unwohl, im Gegensatz zu Katja. Als ich ihr meinen Schlafanzug entgegenhielt, schüttelte sie den Kopf.

»Brauch ich nicht.«

»Aber meine Mum sagt, es gibt hier überall Bakterien.«

»Quatsch.«

Ich war kleiner als sie, ihr Nachthemd reichte mir bis zu den Waden. Es war weich und duftig; es fiel, als ich es über Kopf und Schultern gleiten ließ, an meinem Körper herab wie kühles Wasser. Zurück im Bett schmiegte Katja sich an mich, nackt bis auf den schrecklichen Kopfverband und so allen Bakterien der Welt schutzlos preisgegeben. Ich legte einen Arm um sie, um sie zu schützen. Sie schlief sofort ein, während meine Fingerspitzen langsam über den ungewohnt glatten Stoff des geblümten Nachthemdes wanderten. »Amerika«, flüsterte ich mit geschlossenen Augen.

Die Welt war zu einem gefährlichen Ort geworden. In ihrem Zentrum warteten, wie Spinnen im Netz, gewissenlose Ärzte, die ihre Skalpelle kaltblütig an kleinen Kindern schärften. Mit Spritzen bewaffnete Krankenschwestern hetzten wehrlose Löffelchen durch die neongrünen, labyrinthischen Eingeweide gigantischer Krankenhäuser. Auf Mütter konnte man sich, was Hilfe anging, nicht verlassen. Sie waren Verräter am Ruhm, am Vertrauen und am eigenen Kind. In Zukunft würde ich mich vorsehen müssen.

Die Zukunft ist nie weiter als der nächste Augenblick entfernt. Als ich ein tiefes, beunruhigtes Grunzen hörte und die Augen öffnete, stand Oberschwester Marthe wie ein Racheengel vor meinem Bett. »Immer auf der Flucht! Ihr Löffelchen seid doch alle gleich.« Ich sah, wie die gestärkte Bluse energisch glatt gestrichen wurde. »Der Herrgott sieht es nicht gern, wenn Jungen und Mädchen sich ein Bett teilen.«

Der Herrgott, dachte ich, musste wahrscheinlich auch keine Angst vor einer Operation haben, bei der ihm Knorpelmasse hinter den Ohren entfernt werden sollte. Der Herrgott, entschied ich bitter, war letzten Endes überhaupt dafür verantwortlich, dass ich mit zwei von ihm fehlfabrizierten Löffelchen in Halsnasenohren gelandet war.

Es überraschte mich keineswegs, dass er auch mit dem Nachthemd nicht einverstanden war. Oberschwester Marthe hatte bereits die Decke zurückgezogen und Katja behutsam aus meinem Bett gehoben, als ihr Blick auf mich fiel und sie stockte.

»Warum trägst du das, Pill?«

»Ich hab Angst.«

»Du musst keine Angst haben. Niemand will dir wehtun.«

»Doch. Katja hat es gesagt.«

»Zieh das Nachthemd aus. Der Herrgott –«

»Nein!«

Der Herrgott konnte mir gestohlen bleiben. Trotzig zog ich die Decke unter mein Kinn und wappnete mich innerlich gegen das zu erwartende Donnerwetter.

Es blieb aus. Vielleicht war es die Nacht und die Stille, oder es war die warme Haut des in ihren Armen liegenden Löffelchens, die Oberschwester Marthe erweichte. Mit einem Kopfschütteln und einem letzten missbilligenden Blick auf das geblümte Nachthemd verließ sie das Zimmer.

Katjas nackter Körper verschwand fast gänzlich in den starken Armen, doch trotz ihres zarten Rückens, trotz des zur Seite gerollten Kopfes mit den mitleiderregenden blutigen Flecken auf dem Verband sah sie nicht zerbrechlich aus. Ich überlegte, ob ich meine Angst vor dem Krankenhaus verlieren würde, wenn ich genügend Kirscheis aß. In die Dunkelheit starrend, streichelte ich über das Nachthemd.

»Amerika, Amerika, Amerika …«

In der dumpfen Mittagshitze liegt der Marktplatz mit seinem unter Taubenmist verschwindenden Kriegerdenkmal und den Häuschen im Zuckerbäckerstil wie ausgestorben. Die Luft steht still, nichts rührt sich. Wer einigermaßen bei Verstand ist, hält sich im Schwimmbad auf oder bleibt zu Hause.

Kat und ich setzen uns an einen Tisch in der hintersten Ecke der lärmend bunten Eisdiele und bestellen gigantische Portionen Vanille und Kirsch. Eine Weile beobachten wir die Kinder, die ab und zu hereinkommen, um ihre abgezählten Groschen auf den Tresen zu knallen und dann mit Eis zu verschwinden, das zu zerlaufen beginnt, sobald sie es in den verschwitzten kleinen Händen halten.

»Übrigens hat Daddy neulich erzählt, wir bekämen einen Neuen«, unterbricht Kat die behäbige Stille. Am Montag enden die Sommerferien, Schule wird langsam wieder ein Thema.

»Neu … Ist er von hier?«

Kat nickt.

»Hängengeblieben?«

»Vom Internat geflogen.« Sie fischt eine klebrige Maraschinokirsche aus ihrem Becher, bevor sie lauernd hinzufügt: »Reine Jungenschule.«

»Und?«

»Und …? Was meinst du, warum die dort jemanden rauswerfen? Vielleicht ist der Typ einem seiner Mitschüler an die Wäsche gegangen.« Die Maraschinokirsche zerploppt zwischen perlweißen Zähnen. »Lässt diese Vorstellung dein einsames Herz nicht höherschlagen?«

»Und deins?«

»Also, falls du auf Thomas anspielst …«

Thomas ist im Jahrgang über uns. Im vergangenen Winter ist Kat für einige Wochen mit ihm zusammen gewesen – gerade lange genug, wie sie mir verkündete, um ihre Jungfräulichkeit zu verlieren und anschließend festzustellen, was sie mit Sicherheit nicht vom Leben will. Wozu, unter anderem, auch Thomas gehörte. Kat trägt die Tatsache, dass er ihr noch immer nachtrauert, vor sich her wie eine nach zähem Kampf errungene Trophäe. Obwohl sie Thomas damals mehrfach versichert hat, ich sei nicht mehr als ihr bester Freund, wissen wir beide, dass er maßlos eifersüchtig auf mich ist.

»Und wenn ich auf ihn anspiele …?«

»Ach, vergiss es.« Kat grinst. »Oder zeig mir einen Typen, der nicht nur gut aussieht, sondern der auch einen IQ über 130 hat und der ab und zu an was anderes denkt als an Fußball, Autos und melonengroße Titten.«

»Er sitzt neben dir.«

»Du zählst nicht, Darling.« Sie imitiert Glass. Sie wirft sogar auf dieselbe charakteristische Art die langen blonden Haare über die Schultern. »Und wenn du zähltest, wäre damit der Ärger bei mir zu Hause vorprogrammiert.«

Es wäre Ärger, den Kat willkommen heißen würde. Vor über zehn Jahren, in Halsnasenohren, haben wir festgestellt, dass wir aus derselben kleinen Stadt stammen. Seit dem dieser Entdeckung folgenden heiligen Schwur ewiger Freundschaft ist unsere Beziehung Kats Eltern ein Dorn im Auge gewesen. Ich war der Sohn dieser Frau – Glass und ihr notorischer Lebenswandel waren schon damals Stadtgespräch –, also wurde Kat der Umgang mit mir untersagt. Ihr Vater ist der Direktor des städtischen Gymnasiums; es gelang ihm, dafür zu sorgen, dass wir bereits in der Grundschule auf verschiedene Klassen verteilt wurden. Nach dem Schulwechsel kümmerte er sich persönlich darum, dass seine einzige Tochter nicht in meinen unmittelbaren Dunstkreis geriet. Ich habe oft überlegt, ob er wirklich so dumm war, nicht zu merken, dass er Kat und mich umso enger aneinanderschmiedete, je entschiedener er uns voneinander fernzuhalten versuchte.

Kat hatte sich schon damals, aus welchen Gründen auch immer, in den Kopf gesetzt, mich zum Freund zu wollen, und sie ließ nie locker. Sie wurde älter, und im Lauf der Jahre kämpfte sie ihre Eltern müde. Stur setzte sie sich über alle Verbote und Vorbehalte hinweg, mit jenem Gleichmut und der Kampfbereitschaft, die mich so sehr für sie einnehmen. Sie kennt keine Vorurteile. Als hätte ihr bei ihrer Geburt eine Fee ins Ohr geflüstert, dass die Welt ein Ort ohne Geheimnisse sei, lässt sie alles gelten – man kann Kat in Erstaunen versetzen, aber man kann sie nicht wirklich überraschen. Im Kern ihres Wesens ist sie das barfüßige Löffelchen geblieben, das einem verängstigten kleinen Jungen fraglos sein Nachthemd überlässt. Dass schon damals ihre Motive ganz und gar nicht purer Selbstlosigkeit entsprangen, ist eine andere, aber unschuldige Geschichte: Wer will schon ohne Freunde leben?

Ich bin zurückhaltender als Kat, weniger bereit zu grenzenloser Offenheit. Es gibt Dinge, die ich ihr verschweige, weniger aus Misstrauen – niemandem vertraue ich so sehr wie Kat –, sondern weil es sich dabei um Dinge handelt, die ich noch nicht fertig durchdacht habe. So wie mein Verhältnis zu Nummer Drei.

»Noch einen Vanillebecher?«, unterbricht sie meinen Gedankengang. »Phil …?«

»Was? Oh, ich weiß nicht –«

»Vanille ist gut für die Seele.«

»Sagt wer?«

»Sage ich.«

»Mir ist schlecht.«

»Du musst dich dazu zwingen. Geht auf meine Rechnung.«

Sie grinst und winkt bereits nach der Bedienung. Wir bringen es an diesem Nachmittag auf jeweils vier Eisbecher. Kat erzählt Einzelheiten des missglückten Urlaubs. Wir lachen viel. Wir ergehen uns in Spekulationen über das kommende Schuljahr und mögliche kommende Lieben. Es ist einer dieser heißen, himmelblauen Tage, die nach Vanilleeis und Sommer und Zukunft schmecken, einer der Tage, an denen das Herz ohne vernünftigen Grund höherschlägt und an denen man jeden Eid schwören würde, dass Freundschaften nie enden.

WEITER BLICK

Als ich nach Visible zurückkomme und die Haustür hinter mir schließe, höre ich ein entferntes Murmeln aus der Küche, gefolgt von einem nervösen Lachen. Fehlanzeige mit der Milch, die ich mir eigentlich holen wollte. Glass hat offensichtlich Kundschaft.

»Das UFO.«

Ich mache einen Satz zur Seite und habe Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Unmittelbar neben mir ist eine hagere Gestalt aus dem Boden gewachsen, die mich aus kühlen Augen mustert.

»Dianne! Du erschreckst mich noch mal zu Tode!«

Sie wirkt nicht, als könne mein plötzliches Ableben sie erschüttern. Wenn ich mich recht erinnere, hat Dianne schon immer alles getan, um überhaupt nicht zu wirken. Ihr glattes braunes Haar ist nachlässig aus dem Gesicht gestrichen. Sie ist blass, und wie immer trägt sie, trotz der Sommerhitze, einen viel zu weiten schwarzen Rollkragenpulli und einen erdfarbenen, bis auf den Boden reichenden Rock.

»Warum lauschst du schon wieder?«, flüstere ich. »Du weißt, dass Glass das nicht mag.«

Dianne zuckt widerwillig die Achseln. Ich habe mich schon mehr als einmal gefragt, was sie davon hat, sich heimlich die Geschichten der Kundinnen anzuhören. Früher haben wir das gemeinsam getan, aus purer kindlicher Neugier heraus. Ich ließ bald wieder davon ab, zum einen, weil mir ein tieferes Verständnis für das fehlte, um was es bei den Unterhaltungen zwischen Glass und ihren Besucherinnen überhaupt ging, zum anderen, weil das Schluchzen und Weinen, das Toben und die geflüsterten oder herausgebrüllten Racheschwüre der Frauen sich irgendwann zu gleichen begannen. Aber vielleicht ist es genau das, was Dianne an den Lauschereien festhalten lässt, um über die Gefühle anderer in Kontakt mit der Welt zu bleiben.

»Lass dich nicht erwischen«, rate ich ihr.

Sie macht eine abfällige Handbewegung, ohne mich dabei anzusehen. »Ich bin nicht blöde, Phil.«

»Ich sag’s ja nur.«

Glass fühlt sich an eine Art Schweigepflicht gebunden. Sie spricht nicht viel über ihre Kundinnen, die sie meist an den Wochenenden oder abends, wenn sie von ihrem Job in Terezas Anwaltskanzlei nach Hause kommt, berät. Eine Bezahlung dafür, dass sie den Frauen zuhört, ist keine Voraussetzung, doch die meisten lassen unaufgefordert Geld da, kleine oder größere dankbare Summen, die Glass eisern für unvorhergesehene Ausgaben spart – for a rainy day, woran sie Dianne und mich ab und zu erinnert. Zu diesem Zweck thront mitten auf dem Küchentisch Rosella, ein gigantisches Sparschwein aus rosafarbenem Porzellan, dem von seinem Schöpfer ein Lächeln ewiger Glückseligkeit unter den dicken Rüssel geritzt wurde. Glass hat Rosella auf einem Flohmarkt erstanden, billig, weil das linke Ohr abgebrochen ist.

»Wie lang ist das UFO schon hier?«, flüstere ich.

»Seit einer halben Stunde.« Dianne sieht mich noch immer nicht an. »Sie will sich scheiden lassen.«

»Tut sie nicht.« Ich ziehe meine Turnschuhe aus und stelle sie auf den untersten Treppenabsatz. »Das hatte sie schon ewig vor und es dann doch bleibenlassen.«

»Sie hätte es besser getan. Ihr Mann ist ein Dreckschwein. Er treibt es mit einer anderen Frau, und das UFO ist so blöd und wäscht danach die Laken aus.«

»Jedem, was er braucht. Ich war übrigens in der Stadt. Hab Kat getroffen.«

Dianne dreht sich um und gleitet, lautlos wie Rauch, in Richtung Küche, um besser lauschen zu können. Ich weiß nicht, warum ich immer wieder den Versuch mache, sie für mich zu interessieren. Falls Glass und ich ihr nicht völlig gleichgültig sind, lässt meine Schwester sich das nicht anmerken. Dianne ist schon immer in sich zurückgezogen gewesen, doch seit ein paar Jahren gleicht ihre Existenz der eines in Bernstein gegossenen Insekts. Die Gelegenheiten, zu denen wir uns miteinander unterhalten, werden immer seltener. Früher sind wir täglich unterwegs gewesen, haben gemeinsam die Gegend erkundet, die Wälder durchstreift, den Lauf des Flusses abgeschritten, bis unsere Füße müde wurden. Wenn Dianne heute das Haus verlässt, dann allein; stundenlang bleibt sie fort, und wenn ich sie frage, wohin ihre einsamen Spaziergänge sie führen, erhalte ich keine Antwort. Unsere Gespräche erschöpfen sich im Austausch von Belanglosigkeiten.

Ich gehe die Treppe hinauf, verfolgt vom Lachen des UFOs.

Das Ufo heisst Irene. Vor zwei Jahren, als ihr Mann sie schon längst betrog und Einsamkeit und Verzweiflung wie Motten an ihr fraßen, verkündete sie, in einer lauen Sommernacht Fotos von unidentifizierten Flugobjekten aufgenommen zu haben. Die grobkörnigen, leicht verwaschen wirkenden Schwarz-Weiß-Bilder, die ihre Behauptung stützen sollten, zeigten tatsächlich einige geheimnisvolle helle Flecken vor einem dunklen Hintergrund. Sie sorgten in der Stadt schon bald für beträchtliche Aufregung, denn nachdem die Fotos durch die Hände aller Nachbarn und Bekannten gegangen waren, hatte die erfolgstrunkene Irene sich dazu überreden lassen, sie an die lokale Presse weiterzugeben. Unter der Überschrift UFOS über uns? wurden sie in der überregionalen Wochenendausgabe veröffentlicht. Eine Woche darauf behauptete in einem Leserbrief an derselben Stelle Dr. Hoffmann, der einzige Gynäkologe der Stadt, bei den Fotos handele es sich um Ultraschallbilder eines weiblichen Uterus. In Stammtischgesprächen ließ er bierselig verlauten, genauer gesagt handele es sich um den Uterus der armen Irene, die Gott weiß wie in den Besitz von Kopien der Aufnahmen gekommen war und diese abfotografiert haben musste. Ich muss nicht erwähnen, dass sich von den Nasenflügeln Dr. Hoffmanns beidseits tiefe Falten zu seinen Mundwinkeln herabziehen, womit mein uralter, an Dr. Eisbert, den Schlächter ungezählter armer Löffelchen, geknüpfter Verdacht, solche Falten kennzeichneten Lügner, eine späte Bestätigung erfuhr.

Als Glass von der ganzen Sache hörte, regte sie sich über die Indiskretion des Frauenarztes mindestens ebenso auf wie über die Formulierung weiblicher Uterus. In einem unbeantwortet gebliebenen Brief schrieb sie dem Gynäkologen, man solle ihm wegen grober biologischer Unkenntnis in seine männlichen Eier treten und ihm die Approbation entziehen. Irgendjemand fühlte sich zu noch drastischeren Maßnahmen berufen, denn wenige Tage später schmückte ein krakeliger Schriftzug in giftgrüner Sprühfarbe die Front der hoffmannschen Arztpraxis, der unmissverständlich dazu aufforderte, dem verdammten Weiberfeind den Schwanz abzuschneiden. Was wiederum dazu führte, dass Visible eines frühen Abends Besuch von einem Polizeibeamten erhielt, einem uniformierten, leicht verpickelten jungen Mann, der unglaublich nervös war, was sich in einem hochroten Kopf, ständigem Herumgezerre an seinem engen Hemdkragen, vor allem aber in einer vermehrten Speichelsekretion äußerte. Der Speichelfluss zwang ihn dazu, beim Sprechen kleine Pausen einzulegen, weil er immer wieder schlucken musste.