Die Möwenhochzeit - Barbara Saladin - E-Book

Die Möwenhochzeit E-Book

Barbara Saladin

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Beschreibung

Sieben Inseln, sieben Tiere, sieben Urlaubsgeschichten. Ob Wangerooge, Langeoog oder Norderney: Auf den Ostfriesischen Inseln ist was los! Erst recht, wenn Urlauber auf Einheimische treffen und dann noch Tiere eine Rolle spielen: Vorwitzige Möwen bringen eine Hochzeit am Strand von Borkum durcheinander. Die Seehunde vor Baltrum lassen eine Witwe neuen Lebensmut fassen. Und ein altes Kutschpferd sorgt auf Juist für Trubel im Familienurlaub. Jeder Insel ist eine Geschichte gewidmet. Jeder Geschichte ein Tier. Das liest sich mal ernst, mal heiter, spannend oder lustig – und immer höchst unterhaltsam. Ein Buch, das sofort Lust auf den nächsten Nordseeurlaub macht!

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Seitenzahl: 133

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Barbara Saladin

Die Möwenhochzeit

und andere tierische Inselgeschichten

Mit Illustrationen von Kai Pannen

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

WidmungKarteDie MöwenhochzeitFionaLeinen los!Vom geselligen Leben auf der SandbankLeben im WattDie Fährte oder: Kommissar Katze und der Mord in der Backstube«Land in Sicht!»Dank
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Für Slobodan Biene

den besten Bodyguard vor und hinter dem Deich

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Borkum

Die Möwenhochzeit

Und dann waren sie also verheiratet. So richtig offiziell. Einen Tag nach der standesamtlichen Trauung im Alten Leuchtturm auf Borkum hatten sie den Bund des Lebens auch in der Kirche geschlossen. Der Gottesdienst war zu Ende, die Glocken läuteten, und die Gäste blieben noch ein wenig sitzen, um dem Brautpaar den Vortritt aus der Kirche zu lassen. Einige ältere Damen wischten sich Tränen der Rührung aus dem Augenwinkel.

Franziska fühlte sich wie in Trance. Es schien alles so unwirklich. Hatte sie es wirklich getan? Dem Mann neben ihr versprochen, dass sie ihn lieben und ehren, ihm die Treue halten wolle bis zum Tod? Unsicher hielt sie sich an Gregors Hand fest, als sie durch den Kirchengang schritt, und versuchte mit aller Kraft, die in ihr schwelenden Bedenken zu unterdrücken. Wieso kamen ihr ausgerechnet jetzt Zweifel, ob es richtig gewesen war zu heiraten? Jetzt, wo es doch sowieso zu spät war?

In den hochhackigen weißen Pumps, die vorn spitz zuliefen und ihr die Zehen schmerzhaft zusammenpressten, konnte sie nicht gut gehen. Ihretwegen hätte man auf die klassische Garderobe verzichten können, aber ihr frisch angetrauter Ehemann hatte Wert auf Tradition gelegt. Er in Schwarz, sie in Weiß. Am liebsten wäre ihm ein rauschendes Fest mit weit über hundert Gästen gewesen, vorzugsweise irgendwo auf einem Schloss, das man allein zu diesem Zweck gemietet hätte. Immerhin beim Ort und bei der Größe der Hochzeitsfeier hatte Franziska sich durchsetzen können: Fast schon klein und familiär war sie nun, nicht mehr als fünfzig Gäste, dafür gab es drei Tage Urlaub für alle auf der Nordseeinsel Borkum.

Als sie nebeneinander aus der Kirche traten, begrüßte sie die Sonne. Noch in der vergangenen Nacht war der Wind mit Sturmstärke um die Dächer gepfiffen, und Regen hatte an die Fensterscheiben des Hotelzimmers gepeitscht. Franziska hatte lange wach gelegen. Sie hatte sich hin und her gewälzt und fast keinen Schlaf gefunden. Bei jedem Blick auf die Uhr war es kaum später gewesen als zuvor. Während einer der kurzen unruhigen Schlafphasen hatte sie schlecht geträumt. An den Traum selbst konnte sie sich zwar nicht erinnern, wohl aber an das Gefühl, das daraus entstanden war. Ein höchst unangenehmes Gefühl. Es war ein diffuser Eindruck von Zweifeln, Unsicherheit und Besorgnis geblieben, der sie in Alarmbereitschaft versetzte, als würde von irgendwoher Gefahr drohen.

Einzig an ein Detail des Albtraums, ebenso bizarr wie furchtbar, erinnerte Franziska sich glasklar. Eine Möwe hatte ihr unentwegt zugekreischt: «Heirate nicht!»

Diese Stimme hatte sie nun schon den ganzen Morgen verfolgt, während des Frühstücks, beim Schminken und bei allen anderen letzten Vorbereitungen: «Heirate nicht!»

Die Möwe im Traum hatte ein menschliches Gesicht gehabt, und zwar ausgerechnet jenes von Lukas, dem heimlichen Schwarm ihrer Jugend. Gerade gestern hatte Sylvia einen Spruch über ihn gemacht und ihn ihr somit schmerzlich in Erinnerung gerufen. Sylvia war Franziskas Freundin und Gregors Schwester – durch sie hatte sie ihren Ehemann überhaupt kennengelernt. Damals im Gymnasium hatten sie wie Pech und Schwefel zusammengehalten und sich natürlich auch gegenseitig ihre geheimsten Sehnsüchte offenbart – eben zum Beispiel die ebenso unsterbliche wie unerfüllte Liebe von Franziska zu ihrem Mitschüler Lukas. Allerdings hatte sich die anfangs so enge Freundschaft im Laufe der Jahre merklich abgekühlt, und vermutlich wäre der Kontakt längst im Sand verlaufen, wenn sie durch Gregor nicht weiterhin verbunden gewesen wären.

 

Vor der Kirche wurden Gregor und Franziska von einem Blumen- und Reisregen empfangen, den ein paar Freundinnen, die sich vorzeitig aus der Kirche geschlichen hatten, inszenierten. Nach dem Brautpaar verließen auch die Hochzeitsgäste das Gotteshaus und überhäuften die Frischvermählten mit Küssen und Glückwünschen. Franziska lächelte, ließ sich umarmen und bedankte sich bei jedem einzelnen Gratulanten. Doch ihre Unsicherheit blieb. Die Möwe mit dem Lukas-Gesicht flatterte ihr immer noch im Kopf herum. Oder im Bauch? So fühlte es sich jedenfalls an. Ein zweifelnder Seitenblick auf Gregor half ihr auch nicht weiter und zerstreute vor allem ihre Skepsis nicht.

«Die herzlichsten Glückwünsche, meine Süße!» Aus dem Nichts kam plötzlich Tante Berta mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und gluckste vergnügt. Mit Tante Bertas Auftauchen hatte Franziska nicht gerechnet, denn sie war die einzige ihrer vier Tanten, die sie wirklich nicht ausstehen konnte. Wieso war sie überhaupt eingeladen worden? Hatte Sylvia, die als Trauzeugin einen wesentlichen Teil der Organisation übernommen hatte, sich da über ihre Wünsche hinweggesetzt? Oder hatte Franziska in einem Anflug von Milde sogar erlaubt, Tante Berta einzuladen, und erinnerte sich nun einfach nicht mehr daran?

Franziska war mit Sylvia als Trauzeugin sowieso nicht einverstanden gewesen. Aber Gregor hatte darauf bestanden, und seinem Wunsch hatte sie nicht widersprechen mögen. Blut war eben dicker als Wasser, und sie selbst wäre wohl sehr beleidigt gewesen, hätte er ihre Schwester Monika als Trauzeugin abgelehnt, wenn sie diese vorgeschlagen hätte.

Während verschiedene Pannen in der Hochzeitsvorbereitung vor dem inneren Auge der Braut aufblitzten, klebten Tante Bertas Lippen bereits an ihrer Wange. Pro Gratulant blieb aber glücklicherweise nicht viel Zeit, denn es waren ja noch neunundvierzig weitere da, die dem Brautpaar ebenfalls Glück wünschen wollten. Familienmitglieder, Freunde, Arbeitskollegen.

 

Der Wind griff in Franziskas Brautkleid, als sie am Arm ihres frischgebackenen Ehemannes den Vorplatz der Kirche verließ und die Strandstraße hinunter zur Strandpromenade ging. Zwar schien die Sonne immer noch und ließ den Neuen Leuchtturm in ihrem Rücken erglänzen, aber bei diesen maritimen Windverhältnissen fühlte sich die Luft doch sehr kühl an. Gänsehaut machte sich auf Franziskas Armen breit und multiplizierte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen, als eine Möwe kreischend über ihren Kopf hinwegflog.

 

Erschreckt blickte Franziska hoch: Glaubte sie es nur, oder hatte der Vogel ihr tatsächlich «Heirate nicht!» zugerufen? Jetzt beginne ich schon zu phantasieren, stellte sie beunruhigt fest. Ihr wäre lieb gewesen, wenn sie am heutigen Tag keine einzige Möwe mehr gesehen hätte, aber dies war ein frommer Wunsch, der auf Borkum nicht in Erfüllung gehen konnte. Da hätte sie wohl auf dem Festland bleiben müssen.

 

Am Badestrand fand man sich zum Aperitif ein. Auf der Inselseite leuchtete die helle Fassadenfront der Hotels und Kurkliniken hinter der Strandpromenade, über die zur Nordsee offene Seite spannte sich der blaue Himmel. Ein riesiger Frachter, der von Emden aus Ware in die weite Welt transportierte, nahm Kurs auf den Horizont.

Auf langen, von weißen Tischtüchern bedeckten Tischen standen Platten mit belegten Brötchen, Salzgebäck und weiteren Knabbereien für die Hochzeitsgesellschaft bereit. Angestellte des benachbarten Hotels, in dem später das Festessen eingenommen werden würde, schenkten Champagner und Orangensaft in schlanke Gläser ein. Mit Blumengirlanden geschmückte Strandkörbe waren als Sitzgelegenheit aufgestellt worden, und als stimmungsvolle Dekoration stand ein hölzerner historischer Strandwagen mit großen Kutschenrädern daneben, wie er früher als Umkleidekabine gedient hatte.

«Herzlich willkommen zur Hochzeit meiner lieben Franziska und meines lieben Gregor», ließ Franziskas Vater Alfred seine sonore Stimme über den Sandstrand tönen, als alle Gäste am Zielort eingetroffen waren. Er hielt eine kurze Ansprache und erklärte das Programm, das vor allem aus drei Punkten bestehe: «Feiern und essen, essen und feiern sowie feiern und essen» – er lachte schallend, und viele der Gäste stimmten mit ein.

Franziska war nicht nach Lachen zumute. Gebannt beobachtete sie die Möwen, die über der Gesellschaft kreisten und sie an Aasgeier erinnerten. Glücklicherweise wies keine von ihnen auch nur die leiseste Ähnlichkeit mit Lukas auf.

«Und jetzt haben wir noch eine ganz besondere Überraschung für das Brautpaar. Einen musikalischen Leckerbissen. Bitte sehr!», kündigte ihr Vater an und machte eine ausladende Handbewegung. Die Tür des Strandwagens öffnete sich, und wie der Teufel aus der Kiste erschien ein junger Mann in schwarzem Frack und einer Violine in der Hand.

Unter Franziskas Füßen schien der Boden nachzugeben. Sie taumelte, aber kurz bevor sie vollends das Gleichgewicht verlor, fing sie sich wieder. Das durfte einfach nicht wahr sein! Ihre Augen klebten ungläubig an dem Musiker, als er sein Instrument ans Kinn hob und zu spielen begann. Lukas. Dort stand tatsächlich Lukas, ihre Jugendliebe. Den sie glaubte, vergessen zu haben, bis Sylvia ihn gestern in ihr Bewusstsein zurückkatapultierte und er sie in Möwengestalt heimsuchte, um ihr zu sagen, sie solle nicht heiraten. In der Nacht zwischen standesamtlicher und kirchlicher Trauung! Einen ungeschickteren Zeitpunkt für so was gab es wohl nicht.

Schweiß trat Franziska auf die Stirn. Sie ließ Gregors Hand los, was dieser mit einem zweifelnden Seitenblick quittierte. Was war nur los mit seiner Frau? Schon den ganzen Morgen hatte sie sich so eigenartig verhalten. Fast so als würde sich – obwohl sie vorhin «Ja» gesagt hatte – etwas in ihrem Inneren gegen die Ehe mit ihm sträuben.

Lukas spielte den «Frühling» aus Vivaldis Vier Jahreszeiten und den berühmten Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Gesellschaft hörte begeistert zu, aber für Franziska klang es, als spiele er ihr das Lied vom Tod. Die Möwen, mit denen die Hochzeitsgäste den Strand teilten, untermalten die Geigenmusik mit ihrem Gekreisch und steuerten damit eine eher kakophonische Note zu den lieblichen Klängen bei.

Franziska merkte zunächst gar nicht, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Doch plötzlich verschwamm alles um sie herum.

«Alles okay?», fragte eine Stimme hinter ihr. Es war ihre Schwester Monika, die sie besorgt ansah und ihr die Hand auf die Schulter legte.

«M-hm», nickte Franziska, doch es klang wenig überzeugend. Die Tatsache, dass ihre Jugendliebe – buchstäblich der Mann ihrer Träume – unverhofft zu ihrer Hochzeit auftauchte und ihr ein Ständchen spielte, ließ sie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren.

«Du stehst immer noch auf ihn, nicht?», flüsterte Monika. Schwestern hatten eben ein unfehlbares Gespür für gewisse Dinge.

 

Als Lukas sein kleines Konzert beendet hatte, war Franziska erleichtert. Unter dem begeisterten Applaus der Hochzeitsgesellschaft verbeugte er sich zweimal und schritt dann auf das Brautpaar zu, um zu gratulieren. Gregor bedankte sich artig, wenn auch ein wenig steif. Franziska sah Lukas kaum in die Augen, als sie die Glückwünsche für ihre Zukunft entgegennahm.

«Bleibst du zum Fest?», fragte sie. Nicht weil sie dies gewollt hätte, sondern einzig und allein, weil es die Höflichkeit gebot zu fragen.

«Nein danke, ich habe keine Zeit. Weißt du, ich bin mit meiner Frau und dem Kleinen hier, und morgen in aller Frühe müssen wir auch schon wieder aufbrechen, ich stecke mit dem Philharmonieorchester gerade in intensiven Proben. Aber den Auftrag für so ein spontanes Geschenk konnte ich auf keinen Fall ausschlagen. Was tut man nicht alles für eine alte Klassenkameradin.» Er lächelte freundlich. Sie versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber es missglückte.

«Alles Gute noch mal!», sagte er. Und dann war er wieder weg. Als wäre er gar nicht da gewesen – nur eine Fata Morgana, die in Franziska einen wilden Gefühlscocktail zurückließ, den sie erst nach zwei Gläsern Champagner wieder einigermaßen neutralisiert hatte.

Lukas war verheiratet. Welch schreckliche Nachricht. Aber sie war es mittlerweile ja auch … Ob das besser war?

«Na, der hat dich aber ziemlich aus der Bahn geworfen, was?» Plötzlich stand Sylvia neben ihr und lächelte süffisant.

«War das deine Idee?», zischte Franziska, «bist du von allen guten Geistern verlassen, ihn einzuladen?»

«Wieso nicht? Hey, einen so guten Musiker kriegst du selten zu Ohren, er ist auf dem Weg nach ganz oben. Stell dir vor: Traummann spielt bei Traumhochzeit! Ich wollte dir doch nur eine Überraschung bereiten.»

«Miststück, das ist dir gelungen», hätte Franziska gerne gesagt. Aber sie schwieg. Um einer Eskalation aus dem Weg zu gehen, wandte sie sich wortlos ab und stapfte davon – so gut sie in ihren unbequemen Schuhen mit den hohen Absätzen im Sand eben stapfen konnte. Also eigentlich gar nicht.

Zudem musste sie sich eingestehen, dass Sylvia genau ins Schwarze getroffen hatte: Sie war völlig von der Rolle. Sie bereute offenbar noch immer, dass nicht Lukas der Mann an ihrer Seite war. Und nun hatte sie einen anderen geheiratet. Wieso hatte ihre Freundin ihr das angetan? Unter größten Anstrengungen schluckte sie ihre Tränen hinunter.

«He! Abhauen!», rief plötzlich Tante Berta am Buffettisch und ruderte wild mit den Armen. Eine Möwe erhob sich kreischend von der Tafel. Im Schnabel hatte sie ein Lachsbrötchen. Eine zweite ließ sich durch die Drohgebärden und die durch die Luft schwingende Handtasche Bertas vorerst gar nicht beeindrucken und würgte schnell noch ein paar Häppchen in sich hinein. Thunfischbrötchen mit Kapern. Schinkenschnecken. Miniatur-Pizzastückchen. Mozzarellakügelchen mit Cherrytomaten – samt Zahnstocher. Erst als Tante Berta näher kam, breitete der Vogel die Flügel aus und flog davon, nicht ohne Berta noch demonstrativ einen Klecks Möwendreck auf die Schulter zu verpassen.

«Oh, Gott!», rief diese und fuchtelte dem Übeltäter wild hinterher, «du Stinktier hast mein Kleid ruiniert!»

Das war der Moment, in dem sich trotz allem wieder ein Lächeln auf Franziskas Gesicht stahl und sie ihre eigenen Probleme für einen kurzen Augenblick vergaß.

 

Als nächste Darbietung sangen vier von Gregors Freunden im Quartett. Auch ihre musikalische Leistung war beeindruckend, und die Gäste unterbrachen ihre Gespräche, um den Liedern zu lauschen.

Allerdings hielt der Frieden nicht lange, denn durch die Ablenkung beachtete niemand mehr den Buffettisch – ein Moment, auf den die Möwen nur gewartet zu haben schienen. So gezielt, wie sie angeflogen kamen, hätte fast der Verdacht aufkommen können, die Sänger steckten mit den weißgrauen Räubern unter einer Decke. Diesmal waren es nicht nur zwei, sondern beinahe ein Dutzend, die sich über das Essen hermachten. Und sie schlangen so schnell alles in sich hinein, dessen sie habhaft werden konnten, dass sie bereits eine beträchtliche Verwüstung auf der Tafel angerichtet hatten, bevor ihr Diebeszug unterbunden wurde. Es entstand ein kleinerer Tumult, als Berta wutschnaubend die Aperitif-Verteidigungsarmee anführte. Ihre Handtasche zischte beängstigend knapp an den vordersten Champagnergläsern vorbei und hätte der Mutter des Bräutigams um ein Haar ihren Orangensaft aus der Hand gepfeffert.

Die Möwen traten den Rückzug an, doch nun war es Gregor, der vor Wut kochte. Wortreich beschwerte er sich beim Oberkellner, der hinter der Tafel stand und nur hilflos mit den Schultern zuckte: «So frech waren sie bisher noch nie», meinte er entschuldigend.

«Das ist ja wohl die Höhe! Frechheit, so was, wieso tun Sie nichts dagegen?»

Es schien, als mache Gregor das Hotelpersonal für den Raubzug der Möwen verantwortlich. Er war nicht zu bremsen, und Franziska, die neben ihrem Frischangetrauten stand, fühlte sich, als wolle sie vor Scham im Boden versinken.

Nein, das konnte nicht sein. Das war nicht ihr Mann.

«Solange sie später nicht das Miniatur-Brautpaar von der Hochzeitstorte klauen …», versuchte Alfred, der Brautvater, die Stimmung aufzuheitern und lachte laut. Er nahm das Piraten-Intermezzo auf die leichte Schulter und forderte auch seinen frischgebackenen Schwiegersohn dazu auf, die Sache von der humorvollen Seite zu betrachten: «Schließlich gibt es nachher noch mehr als genug zu essen. Da muss man auch etwas für ein paar ungeladene Gäste in petto haben.»

Doch Gregor hatte kein Gehör dafür und schlug weiterhin verbal auf die Angestellten des Hotels ein. Franziska hielt es nicht mehr aus. Sie entledigte sich ihrer unbequemen Schuhe, warf sie ihm vor die Füße und rannte weg. Die Hochzeitsgesellschaft blickte ihr bestürzt nach. Nur auf Sylvias Gesicht zeigte sich ein bitteres Lächeln.

 

Monika war die Erste, die reagierte und ihrer Schwester nacheilte.

«Was ist in dich gefahren? Du kannst doch nicht von deinem eigenen Hochzeitsfest fliehen!», sagte sie.

Franziska weinte. Doch, das konnte sie. Das wollte sie sogar.

«Es kommt schon wieder in Ordnung. Es sind einfach alle angespannt, das ist doch verständlich», sagte Monika. Sie umarmte ihre Schwester so lange, bis sie spürte, dass sich deren Schultern allmählich etwas entspannten. Dann redete sie ihr ins Gewissen zurückzukehren.

«Lukas als Überraschungsgast aufzutreiben, das war sicher keine gute Idee», sagte sie. «Ich werde mit Sylvia reden. Aber davonlaufen kannst du nicht. Du hast ihn nie gehabt, und du wirst ihn nie kriegen. Mach dich und Gregor jetzt nicht unglücklich.»

«Aber wenn Gregor gar nicht der Richtige ist?»