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Ein grauer nebliger Herbsttag, nicht lange vor der Bundestagswahl 2021 in Berlin, ein Auto im Wald, ein Schatten und Warten, endloses Warten. Ein arabischer Clan, ein Terrorist und die Staatsmacht, die sich im eigenen Haus mit widerstreitenden Gruppen auseinandersetzen muss, stehen sich im Kampf um die Verhinderung eines gefährlichen Anschlags in Berlin unerbittlich gegenüber. In scharf geschnittenen Szenenwechseln werden Milieu, Arbeitsweisen und die persönlichen Geschichten, Hintergründe und Beweggründe der Protagonistinnen und Protagonisten aufgezeigt. Diese Jagd fördert all ihre Abgründe zu Tage.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Dietrich Rauch
Politthriller
XOXO Verlag
Dietrich Rauch, aufgewachsen in Frankfurt/Main, lebt und arbeitet seit 21 Jahren als Dozent und Schriftsteller in Berlin. »Die Musik, der Delinquent und die Wahrheit« ist sein erster Politthriller. Sein Debüt »Früher wäre ich nackt durch den Regen gelaufen« ist als Hardcover im Größenwahnverlag erschienen. Im letzten Jahr erschienen seine Romane »Frech wie Oskar« und »Samson springt« im XOXO Verlag.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-211-2
E-Book-ISBN: 978-3-96752-709-4
Copyright (2023) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag
unter Verwendung der Bilder:
Stockfoto-Nummer: 1932802550
von www.shutterstock.com
Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Alte Heerstraße 29
27330 Asendorf
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Simon
Weit entfernt, schemenhaft, weichgezeichnet, vielleicht einer Tuschzeichnung ähnlich. Feste Konturen gab es keine. Sich verdichtender Nebel lag auf der Landschaft. Ein Schatten huschte über das abgeerntete Feld.
Der Mann schaute schon länger in dieselbe Richtung, als ein zufällig anwesender Betrachter es getan hätte, selbst wenn der den eindrucksvollen Horizont mit großer Hingabe und Begeisterung dauerhaft betrachtet hätte.
Der Blick des Mannes wirkte anders, eher unruhig. Er war nicht auf Dauer ausgerichtet, hielt an und setzte sich fort.
Plötzlich war die Anspannung da, machte sich breit, wurde verlängert, blieb anwesend. Er hätte als Folge dessen, was er gesehen hatte, von Keinem mehr geleugnet werden können, wenn es denn eine andere Person gegeben, die ihn betrachtet hätte.
In dem Moment, als er den Schatten wahrgenommen hatte, der da nicht hingehörte, wo er glaubte, ihn gesehen zu haben, war unbeabsichtigt und unerwartet sein Zweifel entstanden.
Der Mann war allein. Es gab keinen anderen Menschen, der seiner Entdeckung hätte Aufmerksamkeit schenken, oder eben diesen Vorgang hätte bezeugen können.
Es war seine eigene, bis zu diesem Augenblick unerschütterliche Überzeugung gewesen, dass es hier niemanden gäbe, nirgends. Das schloss den Horizont selbstverständlich mit ein.
Der Mond warf das erste Licht in die Dämmerung und hellte die noch neblige Landschaft allmählich auf.
Der Schatten war da gewesen. Dieser Gedanke befiel die Verzweigungen seiner labyrinthischen Synapsen und nistete sich ein, hartnäckig und unauslöschlich.
Die Erscheinung war nicht seiner Einbildungskraft entsprungen. Der beobachtete Vorgang dauerte zu kurz, als dass er etwas Hand-, besser Augenfestes vorzuweisen gehabt hätte.
Das konnte der Grund sein, warum der Mann immer noch in dieselbe Richtung schaute, obwohl der Schatten längst verschwunden war.
Er machte sich Gedanken darüber, wer zu dieser Stunde in dieser Einöde, fern jeglicher Zivilisation noch unterwegs war. Er hätte sich niemals vorstellen können, einem Menschen an diesem Ort begegnen zu können, und sei es auch nur aus der Ferne. Da er weder an Geister glaubte, noch jemals mit Halluzinationen in Berührung getreten war, stellte er nüchtern fest, dass die bisher feste Vorstellung, alleine zu sein, falsch gewesen sein könnte.
Im Rückschluss entsprach diese Feststellung einer nicht von der Hand zu weisender Wahrscheinlichkeit, dass der Andere, respektive der von ihm beobachtete Schatten, auch ihn in der gleichen Weise hätte beobachten können, und es vielleicht sogar, beabsichtigt oder nicht, getan hatte.
Dieser klare, nicht wegzudiskutierende Umstand, seine eigene, plötzlich auftretende Nervosität, seine vorher gehegte unerschütterliche Gewissheit und seine sich immer wieder an die Oberfläche durchkämpfenden Gedanken an die kalkulierte und notwendig durchzuführende Grausamkeit, mit der er vorgehen musste, ließen ihn von einem auf den anderen Moment in Zweifel geraten, ob er sein Vorhaben fortsetzen und wie geplant vollenden könnte. Seine innere Überzeugung, die Tat hier und jetzt auszuführen, war keinen Moment erschüttert worden.
Von echter Verzweiflung konnte keine Rede sein, da er zwei lange Nächte nachgedacht, jedes kleinste Detail berücksichtigt hatte, und nun kurz vor der endgültigen Krönung seines akribischen Planes stand, den Andere zu verantworten hatten, den er aber mit einer gewissen selbstgefälligen Genugtuung ausführte.
Er war der offiziell bestellte Täter und stand dazu.
Nach einer langen Weile, in der er als Mathematiker, der sich zu wiederholten Malen mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auseinandergesetzt, und zusätzlich viele Statistiken studiert hatte, jetzt ungewöhnlicher Weise ins Schwitzen kam, durchdachte er die aktuellen Möglichkeiten. Er kam zu dem Schluss, dass er weiter nach Plan vorgehen, aber noch viel vorsichtiger zu werkegehen musste, als er es vor wenigen Augenblicken noch im Sinn gehabt hatte.
Er musste Ruhe bewahren, es gab keine Eile. Die heraufziehende Nacht begünstigte seine Unternehmung. Die weitentfernte Zufallserscheinung -von Begegnung wollte er nicht sprechen, dazu gab es keinerlei Anlass -wollte er als unbedeutende Irritation in Kauf nehmen, und nicht weiter darüber nachsinnen, welche Erklärungsmuster dafür hätten bereitstehen können.
Seine lange trainierte, und immer wieder neu überprüfte Konzentrationsfähigkeit wollte er ausschließlich für den reibungslosen Ablauf dieser fast ritualisierten Handlung einsetzen, obwohl sie weit davon entfernt war, ein tatsächlicher Ritus zu sein. Es ging um Professionalität in einem Beruf, der seine Berufung war.
Er hatte in seinem Leben zu keinem Zeitpunkt weder irgendeiner Religion angehört noch hatte er sich jemals von religiösen, exzentrischen oder esoterischen Gefühlen leiten lassen. Gefühlsregungen waren ihm so fremd, wie Mitleid zu empfinden oder erwecken zu wollen. Er hatte es immer vermieden und als schädlich und lächerlich betrachtet, sich auf jede Art dieser gefeierten menschlichen Regungen stärker einzulassen. Er verachtete sie nicht ausdrücklich, aber sie waren ihm wesensfremd.
Er war durch und durch Pragmatiker und die Mathematik war für ihn immer nur Mittel zum Zweck gewesen, und keine theoretische Wissenschaft, die ihn zum Weiterdenken animiert hätte.
Als herzlos würde er sich selbst nicht beschreiben.
Es gab immer eine Ursache und einen daraus resultierenden Grund, warum er etwas tat, wieso er es so tat, und wie er es tat. Diskretion wurde von ihm selbstverständlich erwartet. Komplikationen waren nicht erwünscht. Nachprüfbare Spuren zu hinterlassen, hätte das Aus in seiner beruflichen Karriere bedeutet und ihn gezwungen, das Land zu verlassen.
Langsam entfernte er sich von seinem Standort und bewegte sich weg von der Lichtung.
Die Kälte hatte, ungewöhnlich für den Spätsommer, zugenommen. Obwohl er in einem langen schwarzen Mantel steckte, fror er. Er hatte Stiefel an, die er vielleicht zweimal in seinem Leben getragen hatte, weil sie sich vom ersten Moment an unbequem angefühlt hatten. Er hasste nichts so sehr, wie seine eigene Empfindlichkeit, wenn seine Schuhe nicht passten. Genauso gefiel ihm im selben Moment ihre Passform. Die Stiefel waren von der Art, wie sie früher Gutsherren, oft zu Pferd unterwegs, getragen und nicht selten, ihnen auf Gedeih und Verderb ausgelieferte Untergebene, damit getreten hatten. Er hatte sie mit entschiedener Absicht aufbewahrt, und willentlich wieder von ihrem Staub befreit, mit Wasser gereinigt, schwarze Schuhcreme aufgetragen und sie anschließend blank poliert, so dass sich sogar sein Gesicht darin spiegeln konnte, wenn es die Lichtverhältnisse begünstigten.
Da er über ausreichende Geldmittel verfügte, die vor allem regelmäßig und sicher auf seinem Konto abrufbar waren, entsprach es seiner Gewohnheit, sich schnell von Dingen zu trennen, die ihn nicht überzeugen konnten. Er warf sie nicht weg, verschenkte, oder verkaufte sie nicht. Sie standen fein säuberlich verstaut in einer eigens dafür eingerichteten Abstellkammer herum, die seiner Frau vormals als Speisekammer gedient hatte.
Dort hatte er gezielt nach diesen Schuhen gesucht, und sie für diesen Zweck wieder zum Leben erweckt. Aus Gründen, die nur er kannte, und die er nur unter Androhung von Folter verraten hätte. Schmerzen hasste er und ertrug sie nur äußerst ungern. Bei ihm genügte es, ihm die Instrumente nur zu zeigen. Er hatte diese Erfahrung nur einmal gemacht und konnte auf weitere diesbezügliche Abenteuer leicht und gerne verzichten.
Es hatte bezüglich der Umwidmung der Kammer lange Auseinandersetzungen, gegenseitige Vorwürfe und bösartige Anfeindungen gegeben. Wie immer hatte er sich auch in dieser Angelegenheit durchgesetzt, ohne im Nachhinein den Anschein erwecken zu wollen, oder sich den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, als hätte er etwas falsch gemacht, oder wäre darüber hinaus unfair gewesen. Er empfand es als normal, dass alle anderen das taten, was er für richtig erachtete und für überzeugend hielt. Widerspruch duldete er nicht. Selbst nach scheinheiligen Debatten, von beiden Seiten anfangs hart und erbarmungslos geführt -ein Diskurs war mit ihm schwer vorstellbar- schmeichelte er sich ganz persönlich, dass er die oder den anderen überzeugt hatte, ohne dass es dem wirklichen Sachverhalt oder einer verlässlichen Wahrheit entsprochen hätte. Sie war nicht ausschließlich in der Kategorie der alternativen Fakten zu rubrizieren. Worte, wie nachprüfbare Richtigkeit oder gar Wahrheit, waren ihm genauso fremd wie Verständnis oder Empathie. Sein Wille, stark und erratisch, kannte nur seine eigene gnadenlose Form der unbedingten Durchsetzbarkeit, die Grausamkeiten niemals ausschloss, aber auch nicht unbedingt provozierte. Er selbst hätte sich nicht als Sadist bezeichnet, stand aber dem Sadismus als solchem nicht fremd gegenüber. Er lehnte es aber entschieden ab, grausame und brutale Einlassungen als Selbstzweck zu betrachten. Alles exzesshaft Unkontrollierte lag ihm fern. Einen Serienmörder, der aus ungezügelter innerer Bedrängnis und Leidenschaft gehandelt hatte, verachtete er aufs Tiefste.
Auch bei unvorhergesehenen Ereignissen hatte er nicht den geringsten Selbstzweifel, dass er irgendetwas nicht überlegt oder in Betracht gezogen hätte. Da er von der Vorstellung ausging, dass er prinzipiell immer im Recht war, und wusste, was er tat und alles veranlassen konnte, wenn er selbst, aus welchem Grund auch immer, nicht dazu in der Lage oder willens gewesen wäre, blieb er normalerweise sehr lange gelassen.
Die Option der Veranlassung einer neuen Entscheidung fehlte ihm jetzt. Er war auf sich allein gestellt und es gab keinen Aufschub, der ihm möglicherweise andere Verhaltensmaßnahmen erlaubt hätte.
Insofern hatte es diesmal weniger mit Rechthaberei zu tun, als mit seinen akkuraten Vorbereitungen bei seinen Handlungen, die Fehler a priori ausschlossen.
Bisher war es ihm immer gelungen, sich selbst so zu verhalten, dass jeder ihm persönlich unterstellte Fehler, sich als einer der anderen entpuppte. Erst durch seine eigene Umsicht und Weitsicht hatte er in jedem einzelnen Fall ein Scheitern zum Erfolg zu drehen vermocht, so dass er am Ende als Sieger aus der Angelegenheit hervorgegangen war.
Das war zumindest seine eigene Interpretation.
In der aktuellen Situation war es anders. Es gab diesen Schatten, eine Person, die er nicht wegdiskutieren konnte. Hier draußen gab es niemanden, mit dem er diesen Sachverhalt hätte besprechen oder jemand anderen hätte dafür verantwortlich machen können.
Auch wenn er den Schatten in seinem Kopf nur als irritierend und nicht als entscheidend eingeordnet hatte, beschäftigte ihn allein die Tatsache, dass er hier nie im Leben mit einem anderen Menschen gerechnet hätte. Er war da gewesen und musste sich, wenn er nicht schon über alle Berge verschwunden war, noch irgendwo in der Gegend aufhalten.
Wer war er, wo kam er her, wo wollte er hin, was tat er hier?
Dass jemand seinen Schatten verloren oder verkauft haben könnte, wie der wundersame Schlemihl Chamissos, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen.
Er las nicht, zumindest keine Literatur. Dazu kam, dass der Schatten kein echter Schatten gewesen war.
Der Mann hatte peinlich darauf geachtet, dass er selbst unbeobachtet in seinen Wagen gestiegen war, die Tiefgarage unter den hohen, massiven und langestreckten Gebäuden in Berlin Mitte lautlos verlassen und akribisch beobachtet hatte, dass ihm niemand gefolgt war.
Auf dem zum Ende hin beschwerlichen Weg an diesen Unort hatte er mehrfach die Autobahnen und Landstraßen gewechselt, war hin und zurück gefahren, um auch nur jeden kleinsten Zweifel auszuschließen, dass ihm jemand hätte gefolgt sein können. Nachdem er die letzten Dörfer hinter sich gelassen hatte, war er durch Wälder gefahren, durch weit einsehbare Ebenen, entlang an zwei Flüssen, hatte immer wieder Umwege genommen, bis er hier, hinter einem kleinen Hügel im Wald geparkt hatte. Die Gegend war idyllisch. Vor ein paar Tagen hatte er sich genauestens über die Beschaffenheit der Wege und des Bodens informiert, so dass er wusste, er würde unter keinen Umständen Reifenspuren hinterlassen. Er konnte mit Sicherheit sagen, dass ihm niemand gefolgt war, und er keinen Spaziergänger im Umkreis wahrgenommen hatte.
Sie verirrten sich selten in diese Gegend. Das hatte er vorher genau geprüft und für sich ohne Wenn und Aber als glaubhaft festgestellt.
Die unbekannte Person, deren Alter, Geschlecht, Größe und körperliche Beschaffenheit der Mann in der kurzen Zeitspanne nicht hatte feststellen können, gab ihm Rätsel auf.
Er hasste Rätsel und Unklarheiten. Er fürchtete sie, das konnte und würde er niemandem gegenüber leugnen, es sei denn, es hätte Auswirkungen auf seine Integrität und Reputation gehabt.
Hätte er nicht seinen unter keinen Umständen widerrufbaren Plan im Kopf gehabt, der nach seiner festen Vorstellung genauso und nicht anders ablaufen musste, und keine Verzögerungen und Abänderungen zuließ, wäre er jetzt auf die Suche gegangen, um die Person, die hinter dem Schatten steckte, allererst ausfindig und möglichst dingfest zu machen. Das entsprach exakt seiner allseits bewunderten und hoch gelobten Gründlichkeit, die selbst seine ausgewiesenen Feinde an ihm zu schätzen wussten.
Was das für die Person bedeutet hätte, ließ er für den Moment weitgehend unberücksichtigt, obwohl sich in seinem Kopf nur solche Möglichkeiten angeboten hatten, die ihn selbst beunruhigten. Sie wären seinen allgemeinen Grundsätzen zuwidergelaufen.
Da es zunächst hypothetisch war, dachte er nicht weiter darüber nach. Es hätte zwangsläufig nicht nur die Abänderung seines Plans bedeutet, sondern weitreichendere Konsequenzen in seinem Denken und Handeln nach sich gezogen.
Hätte sich herausgestellt, dass diese Person ihn wirklich beobachtet hatte, wäre der Mann gezwungen gewesen, sich ihrer, auf welche Art auch immer, unaufschiebbar zu entledigen.
Aber wie hätte er den Sachverhalt überprüfen können, ohne mit der Person in Kontakt zu treten? Genau das wollte er in jedem Fall vermeiden.
Handeln ohne Notwendigkeit lehnte er ab, konsequentes Handeln dagegen verlangte sein Beruf, den er mit Leidenschaft seiner ganz persönlich unerbittlichen Art ausübte. Er war kein Barbar, der verletzte oder mordete, ohne dass es der Situation angemessen gewesen wäre, und einem weiterreichenden edlen Zweck gedient hätte, dem er sich unbedingt verpflichtet hatte. Wobei sein Rechtsbegriff nur schwerlich einer rechtsstaatlichen Überprüfung hätte standhalten können. Er hätte nicht zum ersten Mal das Recht gebeugt, aber er tat es von Berufs wegen, und weil es von seiner Behörde als notwendig erachtet wurde. Die Notwendigkeit bestimmte sich aus einer klaren Hierarchie einer Befehlskette, in der er das letzte Glied darstellte, ohne dass es seiner Überzeugung Abbruch getan hätte, das Richtige zu tun.
Legte er jetzt die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu Grunde, ergab sich eine Pattsituation.
Im besten Fall konnte die Wahrnehmung der Person, wie die Person selbst, rein zufällig geschehen, und ohne jegliche Bedeutung gewesen sein.
Alles andere hätte seine Planung, und seine Fähigkeit, sie durchzuführen, in Frage gestellt.
Das erschien ihm unmöglich, und ohne tiefe Einschnitte in seinem Selbstverständnis zu hinterlassen, nicht wirklich vorstellbar.
Die Verdrängung dessen, was geschehen war, gelang ihm nur unzureichend. Trotz seines Versuchs, das eine gegen das andere abzuwägen, und die augenscheinliche Tatsache dadurch abzuschwächen, dass die Kategorie des Zufalls hätte im Spiel gewesen sein können, blieb eine nicht leicht zu quantifizierende Unsicherheit bei ihm zurück.
Es entstand eine leichte Unpässlichkeit bei dem Versuch, die weiteren Schritte seines Handelns, die er lange vorher bis ins Detail festgelegt hatte, erneut abzuwägen.
Er, der normaler Weise nichts dem Zufall überließ, sollte sich jetzt dem kruden Zufall beugen, ohne wirklich zu wissen, ob der tatsächlich zugeschlagen, und darüber hinaus gerade ihn getroffen hatte. In einer Weise, die ihn mit allen daraus entstehenden Konsequenzen bis ins Innere seiner Existenz getroffen und betroffen gemacht hätte.
Er wollte sich sowohl die unmittelbaren, als auch die späteren Auswirkungen nicht ernsthaft vor Augen halten.
Der Mann war inzwischen wieder bei seinem Auto angelangt, entriegelte die Tür, setzte sich ans Steuer, legte die Kopfhörer an, betätigte den Einschaltknopf einer besonders leistungsstarken Tonanlage und hörte sich, wie in vergleichbaren Momenten, bevor es zu einer endgültigen und finalen Durchführung eines Auftrages kam, ein Klavierkonzert von Bach an, von dem er als guter Laien-Klavierspieler jede Note auswendig kannte und die Partitur mit einer schlafwandlerischen Sicherheit beherrschte. Darüber hinaus verfügte er über ein absolutes Gehör. Es war durchaus selten und hätte ihn befähigt, Musiker zu werden, wenn die Fantasie nicht vollständig ausgeblieben wäre, die weder er sich selbst noch ein anderer ihm zugetraut oder hätte beibringen können.
Mit dem Klavierspielen hatte er schon als Kind in seinem großbürgerlichen Elternhaus begonnen und hatte seinen Eltern im Laufe der Jahre zunehmend mehr Freude damit bereitet, wenn er, bestärkt durch seinen hervorragenden Lehrer, einem bekannten Organisten, auf den zahlreichen Familienfeiern etwas zum Besten gegeben hatte, wofür er mit viel Lob und Applaus belohnt worden war. Er hatte nicht unerheblich zum Ansehen der Familie im Freundes-und Bekanntenkreis beigetragen.
Er war ein braves Kind gewesen, dessen Schulkarriere keine großen Besonderheiten aufzuweisen hatte, außer dass er erstens in der Mathematik durch außergewöhnliche Begabung hervorstach, die allerdings seine Grenzen dort fand, wo er über den Tellerrand hinaus, selbstständig und mit neuen Ideen hätte weiterdenken müssen, als es ihm das vorliegende und eingeübte System vorgab. Sein Musikverständnis ordnete sich unter, denn üben konnte er stundenlang, ohne dass die Zahlen darunter verloren gingen.
Er führte ein auffällig stilles und zurückgezogenes Dasein, das seine Eltern beunruhigt, aber nicht wirklich nachhaltig beschäftigt hatte. Sie waren ausschließlich um die Vermehrung ihres Vermögens besorgt, obwohl sich ihre großen diesbezüglichen Anstrengungen nicht als wirklicher Reichtum ausgezahlt hatten. Darin lag eine nicht unerhebliche Tragik, die der Junge zu spüren bekam, wenn er sich manchmal anschickte, aus seinem vorgezeichneten Alltag auszubrechen.
Die Leistungen ihres Sohnes gaben keinen Anlass zur Beschwerde, so dass seine Lehrer und Lehrerinnen kein besonders gewichtiges Augenmerk auf ihn hatten, auch wenn er zuweilen dadurch auffiel, dass er unerbittlich streng gegen sich selbst vorging, und auch von seinen Mitschülern und Mitschülerinnen erwartete, dass sie getroffene Absprachen und Verpflichtungen ausnahmslos und konsequent einhielten. Es entsprach seinem Selbstverständnis, dass sie ihm immer dann den alleinigen Vorrang gewährten, wenn es um die Planung von schulischen Veranstaltungen und Ereignissen ging, die er als sein genuines Recht beanspruchte, weil er sich darin unschlagbar wusste. Das entsprach in keiner Weise seinem sonstigen Verhalten und Wesen und wurde deshalb mit einigem Unverständnis betrachtet, da er sich für gewöhnlich nicht für die Belange oder Probleme seiner Mitschüler interessierte. Sie waren ihm egal.
Die Organisation von Veranstaltungen liebte er, setzte sich durch, wurde akzeptiert und gefeiert, weil es für die meisten bequem war, sich auf eine perfekte Planung diesbezüglich verlassen zu können. So nahm man hin, dass er keinen Widerspruch duldete und soweit möglich, die anderen für seine manchmal weitreichenden Vorhaben instrumentalisierte. Es brachte ihm Achtung von vielen und Missachtung von denen ein, die selbst gerne mehr Eigeninitiative eingebracht hätten und deshalb gegen ihn aufbegehrten.
In einem waren sich alle einig, dass er zu diesem Zeitpunkt weder mit der Fantasie noch mit einer Frau oder einem Mann irgendeine nähere Beziehung eingegangen wäre.
In der Mathematik dagegen blieb er auf schulischem Niveau unschlagbar und überzeugte seine Lehrer mit antrainierten Lösungen, die sie selbst niemals im Sinn gehabt hätten, weil sie selbst sehr begrenzte Geister waren und es auch ihnen größtenteils für weitere Ambitionen an Begabung fehlte. Seine kongenialen Leistungen entsprachen nicht unbedingt seiner Genialität, sondern waren nicht selten der Mittelmäßigkeit seiner ihn unterrichtenden Lehrer geschuldet.
Keiner machte ihm diese Position streitig, weil jeder wusste, dass er verloren hätte, wenn nicht sogar dafür abgestraft worden wäre. Seine Fähigkeit, die eine gewisse Flexibilität des Denkens erforderte, ging aber nie so weit, dass sie der Fantasie Raum geboten hätte, sondern bewegte sich in den Grenzen mathematisch logischen Denkens, das seine Begrenzung in sich selbst fand, und immer systemimmanent verlief.
Die philosophische Dimension der Mathematik erreichte er nicht. Neuerungs-und Erfindungsgeist lagen ihm fern.
Man konnte sein Verhalten nicht wirklich ehrgeizig nennen, da es so selbstverständlich daherkam und alternativlos Achtung einforderte, dass so etwas wie Konkurrenz gar nicht erst entstehen konnte und insofern auch nicht abgewehrt werden musste.
Er hatte Recht, ohne rechthaberisch sein zu müssen.
Der Mann nahm in diesem Moment nichts anderes wahr als seine Musik. Er brauchte diese Absolutheit des Hörens der reinen Töne, um sich auf das vorzubereiten, was kam.
Der Klaviersatz dauerte exakt 17 Minuten. Der Mann lag gut in der Zeit, obwohl er dem vermeintlichen Schatten mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als ihm normalerweise für Eventualitäten zur Verfügung stand. Puffer waren selbstverständlich immer mit einkalkuliert. Eine völlig reibungslose Abfolge seiner Aufträge blieb die Ausnahme. Eine Situation wie heute hatte er noch nie erlebt. Sie überstieg das Maß der zulässigen minimalen Toleranzen, um die es üblicherweise ging. Sie setzte ihm mental mehr als gewöhnlich zu und ihn gehörig unter Druck.
In zwei Stunden sollte er in der Stadt zurück sein, in der er lebte, und wo seine Frau schon damit beschäftigt war, das heute später als üblich stattfindende Abendessen vorzubereiten, um sich unter keinen Umständen seinen Vorwürfen aussetzen zu müssen, wenn es nicht zur verabredeten Zeit auf dem Tisch gestanden hätte.
Sie kannte seine Maßlosigkeit in dieser Beziehung, und hatte im Laufe der Jahre die Lust und die Geduld verloren, sich ständig seinen Vorwürfen auszusetzen, mit denen er sie überhäufte, wenn er nach Hause kam, und sie mit den Vorbereitungen noch nicht fertig gewesen war. Er konnte ausfallend und beleidigend sein, indem er ihr vorwarf, den lieben langen Tag mit Nichtigkeiten und Nichtstun zu verplempern, während er seiner harten und verantwortungsvollen Arbeit, er nannte sie Aufgabe, nachging, um selbstverständlich ihnen beiden ein angemessen gutes, keinesfalls üppiges Leben zu ermöglichen.
So sah er es und so hatte es auch seine Frau zu sehen, seine Eltern hatten es ihm vorgelebt. Die Debatten darüber, die eher Monologen ähnelten, gehörten schon lange der Vergangenheit an.
Seine Frau war zu der Ansicht und Einsicht gelangt, dass sich dagegen zu wehren, zwecklos gewesen wäre und folgenlos blieb. Sie hatte sich arrangiert und klein beigegeben. Ihre vormaligen Erwartungen an diese Ehe hatten sich allesamt nicht erfüllt. Sie waren kinderlos geblieben und da ihr Mann ihre Berufstätigkeit von Anfang an torpediert hatte, war sie schließlich zuhause geblieben. Sie hatte sich unterworfen, nicht ohne ihre Lust und Freiheit anderweitig zu befriedigen.
Ihr Mann wusste nichts davon, war vollständig ahnungslos, vielleicht weil es außerhalb seiner Vorstellungskraft lag, dass seine Frau ihn, den perfekten Mann, betrügen und hintergehen könnte. Ihre Fähigkeit zur Konspiration und absoluten Verschwiegenheit entsprachen seinem Gehör. Sie war fantasievoller und konnte ihm diesbezüglich mehr als das Wasser reichen, ohne dass er auch nur einen Tropfen davon hätte kosten können, wie sie es, ohne ihn, mehrmals und ausschweifend in der Woche tat. Bezogen auf seinen häuslichen Frieden und seine Selbstgefälligkeit war er mit vollkommener Blindheit geschlagen und von bedenkenloser Dummheit beseelt.
Heute hatte sie ihre lustvolle Verabredung deutlich verlängern können und war doch zum Schluss in gehörige Zeitnot geraten, da sie das physische Potenzial ihres heimlichen Liebhabers, wie das nur manchmal vorkam, bei weitem unterschätzt hatte.
Sie hatte sich daran gewöhnt, Genuss und Alltag fein säuberlich voneinander zu trennen.
Sie gefiel sich durchgängig in der Rolle der braven Ehefrau, die ständig skandalträchtige Affären hatte, ohne dass sie bisher jemals publik geworden wären.
Zu allem Überfluss beschäftigte sie sich in dieser Periode mit einem subalternen Handlanger ihres eigenen Mannes, der über bescheidenere geistige Fähigkeiten verfügte, ohne dass man ihn der Dummheit hätte bezichtigen können, aber mit den intimen Gaben der Natur reichlich gesegnet war, die sie sich gerne und bei jeder passenden, sich anbietenden Gelegenheit selbstverständlich einverleibte. Skrupel kannte sie nicht und betrachtete es als Herausforderung, ihre Schlinge direkt im Büro ihres Mannes auszulegen, und den Triumpf zu genießen, trotzdem unentdeckt zu bleiben.
Der Mann beendete sein exorbitantes Hörerlebnis, legte die Kopfhörer zur Seite und stieg wieder aus dem Auto. Es war dunkel geworden. Aufgrund des Schattens, der noch immer seine entsprechenden Hirnareale in Alarmbereitschaft hielt, verzichtete er auf die stark leuchtende Stablampe, vertraute dem Mond und zusätzlich seinen Augen, zog zum wiederholten Mal frische Plastikhandschuhe an, überzeugte sich davon, dass die ihn umgebende Waldkulisse lautlos war, und wandte sich dem Kofferraum des Wagens zu.
Der SUV war ausladend geräumig, so dass ein Mensch mühelos darin Platz finden konnte.
Als er behutsam und vorsichtig die Hecktür mit der Sicherheit eines Blinden, der weiß, was er tut, und was ihn erwartet, auch wenn er sein Augenlicht nicht benutzen kann, öffnete, war da im selben Moment nichts als gähnende Leere, die seine weit geöffneten Augen nicht fassen konnten. Sie auf die Suche zu schicken, wäre sinnlos gewesen.
Er konnte sehen, es gab keinerlei Zweifel, obwohl er ihm hier sehr zu Pass gekommen wäre. Das, was er dort mit zufriedener Sicherheit im Blick vorzufinden gedacht hatte, verweigerte sich hartnäckig seinen Augen. Die Person, die er dort gefesselt und ausreichend sediert anzutreffen vermutet hatte, war verschwunden. Sie hatte sich förmlich in Luft aufgelöst, ohne das geringste Zeichen ihrer vormaligen Anwesenheit hinterlassen zu haben. Obwohl er wusste, dass das physikalisch nicht möglich war, fehlte ihm jegliche andere Option. Aus einem Raum, der verschlossen gewesen war, die Person war gefesselt worden, konnte niemand so einfach verschwinden. Er selbst hatte den Vorgang veranlasst und genauestens überwacht. Die Spritze hatte ein verbeamteter Arzt vor seinen eigenen Augen verabreicht. Die Person war betäubt worden und hatte nicht mehr auf Ansprache reagiert. Er hatte es mit seinen eigenen Augen begutachtet. Er und der Arzt hatten die notwendigen Papiere unterschrieben, die von Amts wegen vorgeschrieben waren, obwohl beide wussten, dass ihr Vorhaben die Legalität außenvorließ.
Der Mann hatte gewusst, was er tat. Andere ihm bekannte und vertraute Männer hatten die Person in sein Auto verfrachtet. Erst dann war er losgefahren.
Alle Geheimhaltungsvorschriften waren vorher in genauer Abfolge und in der Folgerichtigkeit akribisch befolgt worden. Es hatte alles dem Sicherheitskodex der Firma entsprochen, der, wie in solchen Fällen üblich, als Maßstab angelegt worden war.
Lärm erfüllte seinen Kopf, draußen drehte sich ein sichtbarer Mond weiter um die Sonne. Die Erde drehte sich immer mit, so hatte er es gelernt. Es hämmerte und grollte, als wäre ein unheimliches und starkes Gewitter über ihn hinweggezogen und hätte ihn durchnässt und aufgewühlt zurückgelassen. Er zitterte, ohne sich einzugestehen, dass ihn ein kurzzeitiges Angstgefühl fast unaufhaltsam bedrängte. Die Erinnerung, wann er das letzte Mal einen ähnlichen Zustand durchlitten hatte, war ihm abhandengekommen. Er suchte nach Bildern, Vergleichen, die ihm hätten eine winzige Idee vermitteln können, wie er sich schon einmal, irgendwann früher gefühlt hatte. Es gab keine einzige Blaupause in seinem Gehirn. Es war leer wie der Kofferraum, vor dem er noch immer stand. Er fühlte sich der Situation vollständig ausgeliefert und nicht gewachsen.
Die Welt, in der er zuhause war, beruflich wie privat, hatte ihn tagtäglich mehr abgestumpft und ihn dauerhaft empfindungslos gemacht, so dass er standhielt und sich im Griff hatte, obwohl er unvorhergesehene Ereignisse schwer aushielt und hasste. Er litt darunter.
Sprachlos, blicklos, für einen Augenblick bewegungslos stand er da und schaute auf dieselbe Art und Weise, wie er den Schatten am Horizont betrachtet hatte, ohne zu verstehen, was geschehen war. Gleichzeitig entstand eine gewisse Genugtuung darüber, dass ihm tatsächlich niemand gefolgt sein könnte. Er erkannte den »missing link«, stellte blitzartig die Verbindung her und war sich sicher, zu wissen, wer der Schatten gewesen sein musste.
Für einen kurzen Augenblick gab er sich dieser Illusion hin.
Das Problem hatte er weder gelöst noch es entschärft. Eines der Rätsel hatte sich nur für einen kurzen Vogelflügelschlag vermeintlich von selbst gelöst. Ein größeres tat sich auf, von dem er nicht wusste, wie er damit hätte umgehen können, ohne nicht die Gewissheit seines eigenen Verstandes einzubüßen und in Frage stellen zu müssen.
Der leere Kofferraum deutete darauf hin, dass hier ihm unbekannte Kräfte am Werk gewesen sein mussten, die ihm unheimlich waren, weil nicht erkennbar und somit nicht fassbar. Sie hätten ihm gefährlich werden können, da er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie die betroffene Person die Betäubung unterlaufen, die Fesseln gelöst, oder den Kofferraum eines qualitativ hochwertigen SUV hätte öffnen können, ohne dass es durch den inneren Kreis der zahlreichen Handlanger, von denen nur einer seine Frau beschlief, was er nicht wusste, Hilfe von außen gegeben hätte, die ihn und andere auf höchster Ebene Verantwortliche, auf übelste Weise hintergangen haben mussten, ohne dass es jemandem bewusst geworden oder aufgefallen war. War die Führungsebene selbst involviert und es gab ein Leck, eine undichte Stelle, vielleicht sogar eine weitreichende Verschwörung, deren Logik er auch selbst zum Opfer fallen konnte, obwohl er der beste Mann für die Drecksarbeit war.
Die konservativen Kräfte wussten doch, dass er einer der ihren war, obwohl er sich grundsätzlich aus Verschwörungen heraushielt. Hatten sie ihn hintergangen? Was bedeutete heute schon Integrität und Verlässlichkeit?
Es bestand Anlass zu der nicht unwahrscheinlichen Vermutung, aber dennoch nur eine Vermutung, dass er mit einem leeren Wagen durch die Gegend gefahren war, und alle Manöver, die er durchgeführt hatte, ihn der Lächerlichkeit hätten preisgeben können. Ihm wurde immer klarer, dass er den Vorgang der Verladung des personellen Gegenstandes nicht in jedem einzelnen Moment augenscheinlich hätte bezeugen können. Wer hatte ihn abgelenkt? Er besaß keine Erinnerung an diese Sekunde. Er ärgerte sich, dass die allseits beschworene Routine ihn nachlässig gemacht haben musste.
Wenn sich das so und nicht anders ereignet hätte, würde der Schatten wieder ins Spiel kommen, von dem er fälschlicher Weise angenommen hatte, das Verbindungsglied zu sein. Er hatte zwischenzeitlich und fast zwangsläufig an Bedeutung verloren, da es keine Tat zu verheimlichen galt, weil sie ohne Subjekt nicht stattfinden würde.
Das Subjekt, oder wäre Objekt der Verrichtung vielleicht der zutreffendere Ausdruck gewesen, war nicht anwesend. Wo es war, entzog sich seiner Kenntnis. Sein Gehirn, das nun schon des längeren pausenlos auf Hochtouren arbeitete, fand keine plausible Erklärung für das, was geschehen sein musste. Seine Vermutungen waren spekulativ und insofern nicht verlässlich und zielführend.
Er hatte bewusst auf die Mitnahme eines Handys verzichtet, auch dies eine durchdachte Vorsichtsmaßnahme, und war jetzt, wie nur wenige Male vorher in seinem Leben, orientierungslos, und was die weitere Abfolge seiner konkreten Handlungen betraf, handlungsunfähig. Falsches, weil zu schnelles Handeln, könnte tödlich sein, während Besonnenheit sich längerfristig auszahlen könnte. Da er immer nach Plan handelte, wurde sein Fehlen zur Zerreißprobe. Obwohl er Nerven aus Drahtseilen hatte, wie der Jargon es ihm nahelegte, kam er zusehends in Verhaltensnot, die so gar nicht zu ihm passen wollte.
Die erste Frage, die er sich stellte, war, wusste jemand, wo er sich gegenwärtig aufhielt?
In der vorausschauenden Planung dürfte nur er und ein sehr kleiner Kreis von dem genauen Ort Kenntnis gehabt haben. Es gab begründete Zweifel, ob diese Annahme immer noch stimmte, oder längst obsolet geworden war.
Die Vorgänge hatten ihre Durchschaubarkeit eingebüßt, obwohl der Mann sich immer noch hingebungsvoll an die Fakten klammerte und sie einzeln wieder und wieder durchdeklinierte. Sie waren außer Kontrolle geraten, weil zumindest die äußere Logik fehlte. Eine innere mochte es geben, aber die erschien ihm nicht transparent und sie erschloss sich ihm nicht. Hier in der Dunkelheit, ohne Zugang zu der Welt der Informationen, die ihm bisher zweifelsfrei zu seiner Verfügung gestanden hatten, stand er allein und wusste nicht weiter.
Alle digitalen Unterlagen gab es nur auf seinem persönlichen Computer zuhause. Wenn der Schatten nicht das Objekt der Handlung gewesen sein konnte, weil es sich vorher mit Hilfe von Verrätern der Hinrichtung entzogen hätte, die der gesamte Stab, der in diesem speziellen Fall allerdings nur aus wenigen Personen bestand, als einzigen und ausschließlichen Ausweg aus einer vertrackten Situation angesehen hatten, dann gab es hier am Ort noch eine dritte Person, deren Identität er nicht kannte. Wenn der Schatten die Person selbst gewesen wäre, dann blieb die ihm unmöglich erscheinende Befreiung aus dem SUV als unverrückbare Tatsache. Unvorhergesehen, aber mit einer erschreckenden Betroffenheit rückte ein weiterer Gedanke ganz nach vorne seiner fieberhaften Gehirntätigkeit, obwohl er körperlich fror.
Musste er davon ausgehen, dass der Schatten eigens ihm gegolten hätte, nicht als Beobachter, sondern als Täter einer Tat, die unausweichlich gegen ihn gerichtet sein konnte, weil das vermeintliche Opfer verschwunden war, und irgendwo saß und über ihn hätte lachen können. Ein unerträglicher Gedanke für einen Mann, der seine Wichtigkeit aus dem Ernst der Lage ableitete. Er hätte es nicht ertragen können, nicht Herr der Lage zu sein. Er drohte in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, wenn er sich der Lächerlichkeit preisgegeben sah. Alle würden grinsend seinen tiefen Fall betrachten.
Er kannte die Neider aus den eigenen Reihen und dazu kamen die Progressiven, die ihm ans Leder, wenn nicht sogar an seine Wäsche wollten, dass er entblößt und splitternackt dastünde, ohne sich mit Ruhm bedecken zu können. Wie die Situation gegenwärtig aussah, war die Aktion misslungen und krachend, wenn auch lautlos gescheitert.
Widerspruch hatte er noch nie aushalten können.
Der Mann wusste aus Erfahrungen, dass es Dinge gab, mit denen man nie und nimmer gerechnet hätte und nie fertigwerden würde. Das bedeutete nicht, dass er an wundersame Begebnisse glaubte. Genau das hätte die Befreiung aus dem SUV, zumindest unter vorstellbaren und vernünftiger Weise angenommenen Umständen, bedeutet. Die letztere Eingebung hätte allerdings Sinn gemacht, wenn es, fernab von hier, eine in irgendeiner Weise für ihn bedeutsame Intrige oder Verschwörung gegeben hätte, und er mit seinem internen Wissen im Wege gestanden hatte, so dass man ihn auf diese allerdings sehr verschlungene Weise aus dem Weg hätte schaffen wollen.
Der Mann fühlte sich der Unfähigkeit überführt.
Je länger er darüber nachdachte, um so größer wurde seine Angst. Am liebsten wäre er ins Auto zurückgekehrt, hätte sich erneut die Kopfhörer aufgesetzt und wäre in seine andere Welt, die der Musik, entschwunden. Die Konfrontation mit der aktuellen Realität schien ihm nicht ausreichend gesichert zu sein, da entscheidende Glieder in der Kette fehlten, nicht zusammenpassten, und ihn, der am wenigsten mit Fantasie gesegnet war, in einem Zustand der innerlichen Verwirrung zurückließen, die er so extrem noch nie erlebt hatte. Mit Logik und der Fähigkeit seines mathematischen Denkens, sowie seiner eng begrenzten systemischen Kombinationsgabe, für die er selten angemessen bewundert, aber ausgebildet worden war, hatte die Situation, in der er sich gerade befand, nichts zu tun.
Eine Lösung ließ sich nicht erkennen.
Zur gleichen Zeit hatte sich seine Frau gründlich geduscht und sich mit Hilfe ihrer reichhaltigen Kosmetika aus unzähligen Ländern, die ihr ihr Mann von Reisen und den Zeiten seiner längeren Abwesenheit mitgebracht hatte, den Geruch der gerade durchlebten Verruchtheit, gründlich mit ausschweifenden Duftstoffen zu überlagern versucht. Eine feine und geübte Nase hätte den anderen Mann trotzdem riechen können, weil er zu der Sorte Mann gehörte, die ihren Geruch vor sich hertrugen, wie ein Fleischer seine Blutschürze, obwohl der heutige Gefährte ihrer Einsamkeit nicht ihr Fleischer gewesen war.
Die Frau lebte in diesen Zeiten der räumlich physischen Ferne ihres angeheirateten Mannes ein frivoles selbstbestimmtes Leben und empfand nicht im entferntesten Winkel ihrer Gefühle irgendwelche Gewissensbisse, dass sie es mit seinem Haushaltsgeld tat, das er ihr streng bemessen aber ausreichend für diese Zeiten zur Verfügung stellte. Sie sah es als gerechte und eher als zu geringe Entschädigung an, die sie allein schon dadurch verdient hatte, dass sie an der Seite ihres Mannes geblieben war, obwohl er sie schon zu wiederholten Malen geschlagen, gezüchtigt und gedemütigt hatte. Natürlich nur, weil er der Meinung gewesen war, sie hätte Schuld auf sich geladen, die er nur auf diese ihm anerzogene Weise zu sühnen verstand. Er tat nichts ohne Grund, und ohne reifliche Prüfung der Angemessenheit jedweder Angelegenheit.
Sie würde in wenigen Minuten mit dem Kochen beginnen, um ihrem Mann pünktlich das Essen zu servieren, wenn er von seinem schwierigen Auftrag, wie er ihn heute Morgen beiläufig genannt hatte, zurücksein würde. Was es genau mit diesen Aufträgen auf sich hatte, welche Risiken sie bargen, darüber hatte sie ihr Mann niemals informiert. Sie hatte nur manchmal ganz am Anfang, sehr bescheiden, gezielte Fragen gestellt, die er entweder völlig teilnahmslos übergangen und ignoriert hatte, oder er war so wütend geworden, dass sie das Weite suchen musste, um sich seinen Schlägen zu entziehen. Danach war sie verstummt, hatte zwangsläufig geschwiegen und keinerlei Fragen mehr gestellt.
Es war besser für sie, sich zu fügen, als misshandelt zu werden. So sah sie es und fand ihren zunehmend dreisteren Weg, damit umzugehen. Ihn zu verlassen, hätte sie nicht gewagt. Sie wusste durch immer wieder aufgeschnappte Bemerkungen, dass sein Arm und sein Einfluss sehr weit reichten. Diese Beleidigung hätte er nicht ertragen und geduldet.
Ihr Mann liebte deftiges Essen. Da es draußen schon kalt war, hatte sie für heute Eisbein und Sauerkraut eingekauft. Sie trotzte allem Klimaschutz und feierte das Fleisch genauso wie den Fleischer um die Ecke, der ihr gewogen war, da sie auch ihn schon des Öfteren mit ihrer Freizügigkeit zu verwöhnen im Stande war, was den Vorteil hatte, dass er leicht und unkompliziert zu erreichen und schnell zu haben war. Ein verbindlicher Anruf und er überließ seiner nach außen treuen Ehefrau anstandslos die Fleischtheke und wechselte kurzfristig und kurzzeitig seine Passion, ohne dass sie argwöhnisch geworden wäre.
Ihre gegenseitige Kommunikation war auf ein Minimum beschränkt, so dass jede Form einer substantiellen Kontaktaufnahme sich erübrigte. Jegliche zärtliche Nähe wurde im Keim erstickt. Es blieb bei einer Kopulation mit und gegen die Zeit. Das Fleisch aus dem Laden, das ihr sowohl von ihm als auch von ihr angeboten und ausgehändigt wurde, hielt den Geschmacksnerven ihres Ehemannes genauso selbstverständlich stand, wie der Fleischer ihren eigenen Vorlieben.
Die Frau des Mannes hatte sich mit den Jahren immer häufiger nur noch den Männern hingegeben, die ihre Lust zunehmend durch rauere Praktiken hervorrufen und beleben konnten.
Das Essen war schnell und leicht zuzubereiten und gehörte zu den wenigen Lieblingsessen ihres kulinarisch nicht sonderlich verwöhnten Mannes. Fleisch musste immer auf dem Tisch stehen, sonst wäre ihr Mann augenblicklich verstummt und hätte sein Schweigen von einem auf den anderen Moment in Wut verwandeln können. Das gut abgehangene Fleisch des gierigen Fleischers um die Ecke war ihr Mann sich und sie ihm schuldig.
Die beiderseitigen Wünsche entsprachen sich in jeglicher Richtung, so dass diesbezügliche Absprachen reibungslos klappten. So einfach funktionierte ihre Ehe, wenn sie ruhig vonstatten gehen sollte. Handelte sie nicht nach diesem Gesetz, war klar, dass es ihr wenige Zeit später leidgetan, weil sie unter seinen An-und Zuwendungen gelitten hätte.
Ihre sogenannten Freundinnen, zum großen Teil die Ehefrauen der zahlreichen Kollegen ihres Mannes, vorwiegend rechtskonservativ und spießig bis ins Mark, die ihr außer Kindersorgen und endloser Berichte über meistens verschobene Urlaube und Einkäufe im mittleren Segment nichts weiter vermitteln konnten als Langeweile, und die sie in einer Mischung aus Pflichterfüllung und Voyeurismus ertrug, empfand sie als künstlich überdreht. Sie selbst hätte sehr gerne über ihre eroberten Männer schwadroniert, hätte damit alle toppen und zur Empörung treiben können, auch wenn sie nicht wirklich wusste, was die anderen taten, und ob sie nicht ebenfalls ein Doppelleben führten. Aus naheliegenden Gründen war es ihr nicht möglich, so dass sie fast immer frustriert aus diesen öden Begegnungen nach Hause zurückkehrte. Die einzige Genugtuung, die sie hatte, entstand dann, wenn sie zuweilen mit deren Männern an meistens geheimen Orten, oder manchmal und ausnahmsweise auch bei sich zuhause kopulierte. Das machte sie froh und sie fühlte sich dabei als Siegerin, selbst wenn die Männer dieser Frauen für gewöhnlich beruflich höhere Positionen als ihr Mann bekleideten. Ganz im Verborgenen ihrer Gefühlswelt hoffte sie auf den großen Skandal, den sie andererseits im wahren Leben mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Ihre Existenz hing an ihrem Ehemann, wie an einem seidenen Faden, der dennoch nicht zu reißen vermochte, weil sie zwar mutig genug war, heimlich fremdzugehen, aber nicht die Kraft aufbrachte, sich der Allgewalt ihres Mannes zu entziehen und ihm stattdessen zu Willen war, wann immer er es wollte. Sie hatte nie gelernt, sich selbst wirklich ernst zu nehmen und ehrlich zu sich selbst und anderen zu sein.
Sie spielte mit sich und anderen. Seine Verachtung ihr gegenüber war zur unaufhörlichen Selbstverachtung geworden, ohne dass sie aus diesem Teufelskreis jemals hätte ausbrechen können.
Der Mann im Auto wusste, dass er handeln musste. Gleichzeitig gab es so viele unbekannte und mögliche Fakten, dass er nicht wirklich umgehend handeln konnte. Wie hätte er vorgehen können, wo alles sich im Verlauf der letzten Stunde gegen ihn gewendet hatte und es ganz anders geplant gewesen war.
Schon zu Schulzeiten hatte ihm jede Form der Spontaneität gefehlt und er empfand jede plötzliche Freiheit des Handelns als grausame Folter. Die Lähmung seiner Gedanken ging so weit, dass er sich am liebsten an den nächsten Baum gesetzt, bitterlich zu weinen angefangen und gewartet hätte, bis etwas geschehen wäre, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte, was es sein würde. Er wusste sehr genau, dass die Uhr tickte, und jede Verzögerung auf allen Ebenen Panik auslösen würde.
Zur gleichen Zeit wartete sein oberster Chef in der Firma auf den verabredeten Anruf, den der Mann, wenn er nach getaner Arbeit wieder zuhause angekommen wäre, hätte absetzen sollen. Es handelte sich nicht um eine Routineoperation, die deshalb bei der Gefährlichkeit der Person und der Reichweite des Clans, der sie unterstützte, als delikat eingeschätzt worden war. Seine Behörde bewegte sich im rechtsfreien Raum, da es weder einen Haftbefehl noch eine offene oder geheime richterliche Absprache gegeben hatte. Das kam selten vor. Die Person, die es betraf, war in diesem Sinne rechtlich nicht existent. Wenige Beamte waren auf unterschiedlichen Ebenen teilinformiert worden, noch weniger Personen wussten von der besonderen Art der Durchführung der Operation.
Internationale Geheimdienste hatten lange Vorarbeit geleistet, bis die Firma der Person hatte habhaft werden können. Das Risiko schien zu hoch, sie rechtsstaatlicher Obhut zu überlassen, sich in Prozessen zu verausgaben, die sich endlos hingezogen und diplomatische Verwicklungen zur Folge gehabt hätten. Nach Einschätzung von Experten hätte es vielen Menschen das Leben kosten können, hätte Unsummen an Geld verschlungen, um letztendlich nicht genügend Beweise zur Verfügung zu haben, um sowohl die Hintermänner, als auch die betroffene Person rechtskräftig zu verurteilen.
Die Firma handelte selten nach der Devise, sich lieber einmal die Hände zu beschmutzen, als sich wegen rechtsstaatlicher Prozeduren jahrelange Ermittlungsarbeit und die Einbindung eines erheblichen Potenzials an Ressourcen, durch einen nur dem Gesetz und seinem Gewissen verantwortlichen Richter mit seiner Unterschrift kaputtmachen zu lassen. Es war ein Einzelfall, den es auch in einem Rechtsstaat gab. Keinem der Beteiligten war diese Entscheidung leichtgefallen.
Die Judikative hatte in den Augen der praktischen Ermittler zu oft versagt, als dass man sie in diesen Kreisen immer ernst genommen, oder ihr bedingungslos zugearbeitet hätte. Man betrachtete die Zunahme der Clankriminalität, die Hilflosigkeit des Staates und der Gerichte als schwer hinnehmbar und der Öffentlichkeit gegenüber für nicht vertretbar. Man wollte raus aus der Rolle des verantwortlich gemachten Sündenbocks und des Images des zahnlosen Tigers. Die für die Operation Verantwortlichen fühlten sich im Recht, legitimiert durch die Dringlichkeit und die Möglichkeit, größeres Unheil zu verhindern und unzählige Opfer zu vermeiden. Die Operation musste hundertprozentig erfolgreich sein, weil sonst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Köpfe rollen würden. Nicht nur ganz oben auf der Karriereleiter, sondern auch im einfachen alltäglichen Leben. Nicht symbolisch, nicht im übertragenen Sinne, sondern gewaltsam und real.
Die Ironie der Geschichte bestand darin, dass sich im vorliegenden Fall die Kräfte in der Firma, die sich üblicher Weise bekämpften, in der aktuellen Vorgehensweise einig gewesen wären, ohne dass die eine Gruppe das konkret zur Kenntnis hätte nehmen können.
Die Ausnahme bildete der Mann, der mit der Durchführung betraut worden und jetzt überfällig war.
Noch war die Zeit nur um wenige Minuten überschritten, aber sein Chef kannte den Mann seit Jahren und wusste, wie penibel er war. Ihm eilte der Ruf eines Korinthenkackers voraus, so das gemeine Gerede im Haus, der ihn genau für diese besondere Aufgabe als einen Auserwählten erschienen lassen hatte. In diesem Fall hatte der Mann sich nicht, wie sonst häufig, persönlich um den Auftrag bemüht. Er war nach langen Überlegungen in der obersten Chefetage plötzlich und kurzerhand, da alles schnell gehen musste, dafür bestimmt worden.
Clangrößen ließen nicht mit sich spaßen und verfügten über ein Verbindungsnetz, das schnell mit erheblichem Gewaltpotenzial hätte handeln können. Das war der Grund, dass seit dem Moment der Festnahme dieser Person, die völlig unerwartet geschehen war, als einmaliger Glücksfall angesehen wurde und überraschend schnell erfolgt war, alle weiteren Abläufe unter erheblichem Zeitdruck gestanden hatten und reibungslos ineinandergreifen mussten.
Der Mann war nur das letzte Glied in der Kette, der in diesem Fall Betroffenen. Als ausführendes Organ der wichtigste Mann in der Abfolge.
Der ihm weisungsbefugte Chef, ein Choleriker ersten Ranges, wenn auch der Klügste und ein umsichtiger Modernisierer auf seiner Ebene, wurde schlagartig nervös. Sein Blutdruck war gestiegen, und da er seine Diät, aus in seinen Augen verständlichen Stressbewältigungsgründen, immer wieder verschoben hatte, trug er ein ständig wachsendes Übergewicht, das ihn für Diabetes prädisponiert erscheinen ließ, als kleine Kugel vor sich her. Es machte ihm in solchen und ähnlich relevanten Situationen insoweit zu schaffen, dass er überventilierte und mit hochrotem Kopf und sichtbarer Atemnot durch die Gänge lief, jeden der ihm im Wege stand, von der Seite anranzte und seine Unangreifbarkeit in überbordenden Unverschämtheiten, selbst und gerade den Reinigungskräften gegenüber, von denen jede einzelne aus naheliegenden Sicherheitsgründen auf Herz und Nieren, sprich auf ihre Herkunft durchleuchtet worden war, missbrauchte, ohne dass er sie wirklich hätte beleidigen wollen. Er tat es und nachher tat es ihm immer leid. Es entsprach nicht seinem Charakter, wurde aber zwangsläufig so aufgenommen und gegen ihn verwendet.
Der Personalrat, der in dieser Behörde nicht mit Kampfesmut gesegnet war, hatte schon mehrfach daran Anstoß genommen, ohne dabei jemals erfolgreich gewesen zu sein. Der Chef verhielt sich anschließend gesittet, protestierte verhalten und in zurückhaltend höflichem Ton. Er war tatsächlich ein zahnloser Tiger, vergleichbar einer fauchenden Katze auf Samtpfoten. Es änderte sich nichts, obwohl ihm die reaktionären Kräfte gerne eins ausgewischt hätten.
Da hier niemand eingeweiht war, erregte der Chef unverhohlenes Aufsehen und erntete Kopfschütteln. Jeder machte sich seine Gedanken dazu, die nicht unbedingt sorgenvoll ausfielen. Männer in seiner Position, Frauen gab es wenige, hatten für gewöhnlich keine Freunde, verfügten aber über ein seismographisches Sensorium, ihre Feinde schon von Weitem zu erkennen. Loyalität war ein häufig benutzter Begriff im täglichen Umgang miteinander. Darunter verstand man allerdings im besten Falle, dass man sich nicht öffentlich und coram publico beschmutzte, sondern sich die Bosheiten und Gemeinheiten für Intrigen reservierte, die in der Hierarchie der Dienstgrade lediglich in der Form variierte. Hier hielt der Chef sich auffällig zurück, um seiner Autorität keinen Schaden zuzufügen. Hinter allem verbarg sich bei allen die Sorge um die eigene Existenz, bestenfalls noch der Familie. Man musste im täglichen Kampf bestehen, um die geringen Chancen des beruflichen Aufstiegs wahrnehmen zu können. Seilschaften gab es für bestimmte Vorhaben. Sie zerbrachen, wenn sich die Interessenlage verschoben hatte. Kooperation und der Versuch, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, wurde durch die Tatsache torpediert, dass die Lust sich gegenseitig zu strangulieren, an der Erfolglosigkeit wuchs, seine Aufstiegsinteressen nach Sachdienlichkeit durchzusetzen. Daran krankte diese Behörde stärker als andere, da sie in ihrer Systemrelevanz und vermeintlichen Sicherheit den normalen Behörden den Rang ablief. Sie ragte heraus, wie der Fels in der Brandung, obwohl ihre Mitarbeiter wussten, welch maroder Verein sie war. Es konnte Jahre dauern, bis dieser Trugschluss an die Öffentlichkeit dringen würde. Vorstellen konnte sich das hier keiner. Es sei denn, dass etwas Unvorhersehbares passiert wäre, das die undurchsichtigen Machenschaften entlarven würde. Die Angst davor hatten alle, denn alle hingen drin, und keiner hätte sagen können, dass er unbeteiligt geblieben wäre, selbst wenn er nur ein Handlanger war.
In den letzten Jahren war immer stärker eine Polarisierung entstanden. Die progressiven Kräfte hatten wichtige Leitungsstellen erobern können, während Altgediente sich hinter schwer durchschaubaren und oft reaktionären, rechtsnationalen Seilschaften verschanzten.
Die Größenordnung des sorgfältig abgeschirmten inneren Chaos und die Reichweite der dienstlichen Verfehlungen und Gratwanderungen waren nur wenigen bekannt, die sich gehütet hätten, auch nur den kleinsten Verdacht nach außen dringen zu lassen.
Omertá, das große Schweigen, existierte. Hier hieß es diplomatisch ausgedrückt Stillschweigen.
Mittlerweile war die Frau des Mannes unruhig geworden. Nicht dass sie ihren Mann in irgendeiner bedeutsamen Weise vermisst hätte, schon gar nicht, was ihre unsteten Gefühle anbetraf, aber er war und blieb trotzdem ihr Mann. Ihr alltäglich geordnetes Leben hing an ihm und noch mehr an seiner Existenz. Er war der Grund und die beste Entschuldigung für ihr Doppelleben, das seinen Reiz vollständig verloren, wenn sie seine Züchtigungen nicht durchlebt hätte, die sie daran erinnerten, dass sie sein Eigentum war, zumindest nach seiner Lesart. Ihre persönliche Lust wäre augenblicklich geschrumpft, wenn sie nichts Verbotenes mehr hätte tun können, sich nicht mehr hätte hingeben können, wem sie wollte, wenn sie es denn wollte. Sie hätte die Spannung und das für sie befriedigende Bewusstsein vermisst, dass all ihre Liebschaften der Ausdruck ihres Freiheitskampfes waren. Ihr Mann hatte manchmal geblöfft und den Anschein erweckt, dass ihm etwas zu Ohren gekommen wäre, dass sie in ein schlechtes Licht hätte rücken können. Diese Momente genoss sie über jedes Maß hinaus, und schnurrte mit Unschuldsmine, dass sie Gedanken daran immer wieder gehegt hätte, weil er sie so lange alleine ließe. Es wären Fantasien der Einsamkeit, die nie das Licht der Welt erblickt hätten. Sie war ein Ass und ein Aas, und sie wusste es.
So war es verständlich, dass sie sich ernsthaft Sorgen machte, wo ihr Mann blieb, der vielleicht zwei-, dreimal in ihrem gemeinsamen Leben unpünktlich gewesen war. Die Sorge war rein instrumentell und unterschied sich von jeder Form der Nähe und Empfindung der Fürsorglichkeit. Sie wusste nicht, dass er sein Handy zuhause gelassen hatte, und war erstaunt, dass er sie nicht über seine Verspätung informiert hatte, was er für gewöhnlich in solchen Fällen sogar tat. Da er ihr verboten hatte, ihn von sich aus anzurufen, und sie bei zwei Gelegenheiten, in denen sie sich dazu hatte hinreißen lassen, später dafür geohrfeigt worden war, hielt sie sich auch noch nach über einer Stunde seiner vorausgesagten Ankunftszeit im Zaum. Sie lief ihrerseits zunehmend orientierungslos durch alle Zimmer, da sie es nicht gewohnt war, ihre Zeit nur für sich zu nutzen, wenn sie ihren Mann erwartete. Sie langweilte sich, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass sie ihr Leben lang geklagt hatte, dass ihr persönlich zu wenig freie Zeit zur Verfügung gestanden hätte.
Sie lebte in einem dauerhaften Widerspruch und erhielt sich am Leben, indem sie sich schadlos und schamlos an dieser Tatsache festhielt, ohne über ihren eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Sie wäre ins Bodenlose gestürzt. So lebte sie mit dem zweifelhaften Glück, das für sie ihr Leben bedeutsam machte. Den Stillstand konnte sie nicht bedauern, da ihre abwechslungsreichen Abenteuer sie selbst ständig in Atem und bei Laune hielten. Was den Stillstand nicht aufhob, aber Aufschub für ihre Erkenntnis daraus bedeutete.
Das Eisbein und das Sauerkraut waren längst kalt geworden, so dass sie befürchtete, ihn zu verärgern, wenn er jetzt die Wohnung betreten, weil es noch Zeit in Anspruch genommen hätte, das Essen wieder neu aufzuwärmen.
Zwei Stunden waren verstrichen. Ihr Mann war nicht aufgetaucht.
Der Mann befand sich noch immer am gleichen Ort in der Einöde, in einem nächtlichen Nirgendwo, an einem ungewöhnlichen Tag. In der Zwischenzeit war es so dunkel geworden, dass er die Hand nicht mehr vor seinen Augen sah. Die nasse Kälte kroch ihm langsam von unten die Hosenbeine der Anzughose hinauf. Sie setzte sich fest, haftete sich an seine haarigen Beine und blieb. Wie oft hatte er überlegt, seine Beine zu rasieren, oder eines der hochgelobten Haarentfernungsmittel anzuwenden, um seine Körperbehaarung ein für alle Mal zu besiegen. Immer war sein Vorhaben im letzten Moment vereitelt worden, da ihn andere Erwägungen davon abgehalten hatten. Die Haare an seinen Beinen waren schon seit seiner frühen Jugend ein Störfaktor für ihn gewesen, weil die Mädchen, die sie beim Schwimmen beäugen konnten, sich spöttisch darüber geäußert und ihn gnadenlos gehänselt hatten. Sie blieben es auch im Erwachsenenalter und hatten manchmal sogar empfindliche Entzündungen hervorgerufen oder zumindest deren Ausbruch begünstigt. Seiner Männlichkeit hätte es Abbruch getan, dachte er immer dann, wenn er fast so weit war, ihnen den Garaus zu machen. Der Mensch stammte schließlich vom Affen ab, blieb sein bestes Argument, obwohl die Affenähnlichkeit ihn andererseits als homo sapiens beleidigte. Sollte er sich der auffallenden Zeichen dieser Kraft schämen, oder sich ihrer gar entledigen?
Heute war er froh, dass sie ihn wild erscheinen ließen, wenn sie einen Blickfang bei entsprechenden Trainingseinheiten boten, bei denen man sich ausnahmsweise ungeniert in kurzen Hosen zeigte. Da er über wenig Muskelmasse verfügte, fielen sie in seinem auf Konkurrenz basierten, fast feindlich zu nennendem Umfeld besonders ins Auge. Sie verdeckten die spindeldürren Beine und erregten Aufmerksamkeit, die ihm gefiel, auch wenn der Preis dafür sehr hoch war.
Auch bei diesem Auftrag war er wie üblich korrekt gekleidet und weder vom Schuhwerk noch von der Beschaffenheit seines Anzugs und seines Mantels wirklich auf kühle Nachttemperaturen eingestellt. Die heute morgen sorgsam gewählten Stiefel waren nicht aus Gründen der Warmhaltung seiner Füße in sein Blickfeld geraten. Jetzt fürchtete er, dass ihm in den nächsten Stunden eine lange Wartezeit bevorstehen könnte. Das war nicht geplant gewesen, sich länger hier aufhalten zu müssen. Längst hätte er bei seiner Frau zurück sein sollen. Obwohl auch er keinerlei emotionale Sehnsucht seiner Frau gegenüber verspürte, und sie die langen Jahre vorher niemals verspürt hatte, war seine Frau trotz allem seine Frau. Das Essen, von dem er nicht wusste, dass es gerade heute sein Lieblingsessen sein würde, und das seine Frau in einer Anwandlung schlechten Gewissens und sich bietender Gelegenheit vorbereitet hatte, stand auf dem Tisch und wartete auf ihn. Diese Sicherheit gab ihm ein Gefühl der Normalität, die in seinem Beruf einen wichtigen Haltepunkt zur Stressbewältigung darstellte. Wenn nicht fürs Überleben, so doch für die Fähigkeit der Verdrängung, in der er ein Meister seines Faches war, ohne dass er es sich selbst eingestanden hätte.
Ratlosigkeit breitete sich in verheerender Weise erneut in ihm aus. Sie verschlang gierig seine kurzzeitig schnell gewachsene Zuversicht, die er, sobald er an das Essen dachte, in sich aufsteigen spürte. Langsam war er hungrig geworden. Auf solche zeitlich genau terminierten Einsätze hätte er niemals Proviant mitgenommen. Das passte nicht zu ihm, weil es ihn im Vorhinein schon im Innersten damit konfrontiert hätte, dass etwas schieflaufen könnte. Nahrungsmitnahme wäre Ausdruck und Zeichen für eine mögliche und als wahrscheinlich in Betracht gezogene Verzögerung bei der Durchführung seines Auftrags gewesen. Das hatte außerhalb seiner Vorstellungskraft gelegen, die auf gelungene und handfeste Ergebnisse geschult worden war.
Wie in einer der vielen Schulungskonferenzen führte er sich, zum wievielten Mal eigentlich, die Fakten vor Augen, um erneut zu überprüfen, ob er nicht irgendein winziges Detail übersehen hätte.
Bei Abwägung aller Umstände, Möglichkeiten und Beobachtungen wurde ihm plötzlich bewusst, dass er von einer ihm bisher unbekannten Person getäuscht, und damit meinte er nicht die Person im Kofferraum, die verschwunden war, hinters Licht geführt, oder, wenn er es nüchtern und selbstkritisch betrachtete, regelrecht verarscht worden war. Er selbst hätte diesen Sachverhalt niemals so beschrieben, schon gar nicht gegenüber Anderen, aber in seinem Zwang, darüber permanent nachdenken zu müssen, tauchte das Wort hartnäckig auf. Es gelang ihm nicht, es wieder aus seinem Gedächtnis zu löschen. Es klang quälend und enttäuschend, wenn er darüber nachdachte, was er für die Firma, so der übliche Wortgebraucht, alles getan und aufgegeben hatte. Es verschwand nicht. Alle zunehmend an Verzweiflung grenzenden Versuche, es zu bannen und unschädlich zu machen, wie ihm das mit vielen Menschen in seinem Leben aus reiner beruflicher Pflichterfüllung und mit dem nötigen Arbeitsethos gelungen war, führten zu keinem spürbaren Erfolg.
Es dauerte nicht lange, bis es unerträglich zu klopfen und dann zu hämmern begann. Sein Kopf wurde zur Achterbahn, und er raste, ohne dass er hätte Halt rufen oder eine Bremse hätte betätigen können, auf den Abgrund zu, der sich merkwürdiger Weise in dem Bild der unaufhörlichen Weiterfahrt, die eine Höllenfahrt wurde, erschöpfte.
Er wurde von dieser Wahrheit, von der er nicht wusste, wie sie sich zusammensetzte und erklären ließ, in seinem Kopf hin und her geschüttelt, weil eine plausible Erklärung ihn endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte katapultiert hätte. Noch war es nicht so weit. Er zitterte und fror jämmerlich. Wer oder was rächte sich hier?
Aberglauben lag ihm fern, aber so ganz schaffte er es diesmal nicht, keine bösen Geister im Spiel zu sehen, die ihn zum Narren hielten. Er hätte sich unter keinen Umständen selbst so von außen betrachten wollen. Er schämte sich und zweifelte an seiner Unfehlbarkeit, die er noch bis vor Kurzem für unangreifbar gehalten hatte. Gleich darauf wich die Scham der Wut, die er verspürte. Sie gab ihm zurück, was er glaubte, vollständig eingebüßt zu haben, seinen gerade stark beschädigten Optimismus, dass sich die Dinge irgendwie regeln ließen, selbst wenn es augenblicklich keinen Ausweg zu geben schien.
Eigentlich war es kein wirklicher Optimismus, dazu waren sie alle im Team zu abgebrüht, man hätte es besser Zuversicht in die Großartigkeit und Allmacht der Firma nennen können, die im gegenwärtigen Fall deshalb versagt hatte, weil es eine undichte Stelle, oder einen unentdeckten Verräter geben musste, der Interessen verfolgte, die im höchsten Grade amoralisch genannt werden konnten, da es sich bei der Zielperson um einen durch und mit Hilfe der Clankreise eingeschleusten Terroristen handelte, der weit davon entfernt war, nur ein einfacher Mörder zu sein, mit dem vielleicht ein subjektives Verständnis hätte angebracht gewesen sein können.
Einen potentiellen Massenmörder aus dem Verkehr zu ziehen, auch ohne formale Anklage und ohne ordentliches Gerichtsverfahren, sollte seiner Meinung nach von jedem als vernünftig und angemessen beurteilt werden. Er musste sich nicht rechtfertigen, er tat immer das Richtige. Die augenblickliche Erfahrung zeigte ihm, dass weder auf die Gesellschaft noch auf die von ihm weit höher eingeschätzte Firma Verlass war. Wenn er hier unbeschadet herauskommen sollte, würde er viele Mitarbeiter gründlich überprüfen müssen. Er konnte nicht einmal dem Schicksal seinen Lauf lassen, weil das nichts tun beinhaltet hätte. Er verabscheute es. Es passte nicht zu ihm, er hätte nichts mit der Zeit anfangen können. Feiglinge warteten ab, aus Angst, sich noch stärker in Gefahr zu begeben. Tatmenschen handelten, selbst wenn sie weder von den Möglichkeiten noch von ihren Resultaten überzeugt waren. Er fühlte sich zum Handeln verdammt, ohne dass er handeln konnte.
Dass er nicht die leiseste Ahnung davon hatte, was in der Stadt los war, wie die Karten in der Firma gerade neu gemischt wurden, und welchen Part er in der unter Umständen neuen beruflichen Partnerwahl spielen würde, brachte ihn fast um den Verstand.