Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
»Samson springt« ist ein Entwicklungsroman, der in der Gegenwart beginnt und 15 Jahre in die Zukunft reicht. Er beschreibt das Erwachsenwerden und die Emanzipation eines kleinwüchsigen Menschen, der von seiner normalwüchsigen Mutter isoliert und als Behinderter wahrgenommen und behandelt wird. Nach seinem Abitur und der Volljährigkeit löst er sich von Zuhause, zieht in seine eigene Wohnung und nimmt sein Leben in die eigenen Hände. Er ist einen Meter groß, intelligent, informiert und belesen, hat einen extremen Geruchssinn, und arbeitet mit großer Energie an den Proportionen seines kleinen Körpers, um sich fit zu machen und sein Selbstwertgefühl zu steigern. Er verdient sich sein Geld mit Nachhilfeunterricht, trainiert in einem Sportstudio und lernt in seinem Alltag skurrile, sehr besondere Menschen kennen, die ihn weiterbringen und ihm neue Ziele eröffnen. Dann macht der Roman einen großen Sprung in die Zukunft und wir begegnen Samson mit 30 Jahren in einer anderen, für ihn neuen Welt, in der er als weltbekannter Artist und Schauspieler ein aufwendiges Leben führt und gefeiert wird. In Rückblenden erleben wir durch welche Umstände er mit seinem Freund Ringo zusammen nach Amerika gekommen ist. Am Ende flieht Samson vor den zunehmenden Zwängen seines reichen Künstlerlebens.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dietrich Rauch
Dietrich Rauch, aufgewachsen in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet seit 20 Jahren als Schriftsteller in Berlin. »Frech wie Oskar« ist sein zweiter Roman. Sein Debüt, »Früher wäre ich nackt durch den Regen gelaufen«, ist als Hardcover im Größenwahn Verlag und als Paperback im Main Verlag erschienen. Sein zweiter Roman, »Frech wie Oskar« erscheint ebenfalls im XOXO Verlag.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-146-7
E-Book-ISBN: 978-3-96752-646-2
Copyright (2022) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag
unter Verwendung eines Bildes, das vom Autor zur Verfügung gestellt wurde.
Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
für Simon
Als ich kurz vor meinem Geburtstag, den ich schon länger bescheiden feierte, auf einer kleinen Insel in der südlichen Hemisphäre, die mir seit fünf Jahren Heimat bot, mit Menschen aus aller Welt zusammensaß, die so verschieden waren, dass mich die Geschichte jedes Einzelnen interessiert hätte, fiel mir ein winziger Mann auf, der mich durch seine Schönheit und seinen offenen Blick dauerhaft beeindruckte. Nachdem ich ihn lange nur für mich betrachtet hatte, und feststellen konnte, dass er schon lange kein Kind mehr war, bewegte ich mich langsam in seine Richtung, bat ihn, mich neben ihn setzen zu dürfen und fragte ihn, wie das üblich war, seitdem viele Menschen ihre angestammte Heimat infolge dramatischer Klimaveränderungen hatten verlassen müssen, nach seiner Herkunft.
Wir konnten unser Gespräch bald in deutsch fortsetzen, da sich schnell herausstellte, dass er in Berlin geboren war.
Meine Neugier wuchs stetig, so dass wir lange zusammensaßen.
Da ich in der Lage war, zuzuhören, und ihm erzählt hatte, dass ich im Alter zu schreiben angefangen hätte, und auf der Suche nach neuen Geschichten wäre, fragte er mich, ohne darüber nachzudenken, ob ich Lust hätte, seine Geschichte, die er als verrückt bezeichnete, aufzuschreiben.
Sie hatte sich zu dem Zeitpunkt ereignet, als ich in seiner Stadt gelebt haben musste, und war kurz nachdem ich in meinem Leben zu schreiben angefangen hatte, auf ihren ersten Höhepunkt, seinen 18. Geburtstag, zugesteuert.
Er selbst hatte Berlin viele Jahre nach seinem Auszug von zu Hause verlassen, und besaß umfängliche Tagebücher, die er manchmal zu seiner eigenen Erinnerung zu Rate zog.
Wir waren hier gestrandet, ich war alt, hatte Zeit zuzuhören, er war selbstbewusst, und begierig zu erzählen, wie sein Leben verlaufen war.
Er hatte eine Mission, die er damit erfüllen wollte.
Es dauerte Wochen, in denen wir viel Zeit miteinander verbrachten und uns näherkamen.
Am Ende war ich erschöpft und glücklich, ihn kennengelernt und ihm geduldig zugehört zu haben.
Hier ist seine Geschichte, die ich versucht habe, in seinen eigenen, von mir nachempfundenen Worten aufzuschreiben, weil Samson und sein wechselvoll aufregendes und ereignisreiches Leben mich in jeder einzelnen Episode berührt haben, und ich überrascht war, wie aufrichtig und direkt er darüber sprechen konnte.
Der Titel ist meine Hinzufügung und Sichtweise für das, was Samson getan hat.
Vor einigen Tagen hat meine Mutter mir das Frühstück zum letzten Mal direkt vor meine Nase auf den Tisch gestellt.
Sie hat es für mich zubereitet, wie sie es seit Jahren getan hat. Etwas ist anders.
Ich bin meiner Mutter dafür nicht dankbar und zeige ihr, dass mich ihre geballte Liebe ankotzt.
Sie hat nicht damit gespart, mich vor den Anfeindungen und den Zumutungen des Lebens zu warnen, die mich draußen erwarten werden, wenn ich gehe.
Ich gehe unwiderruflich. Das habe ich ihr gesagt. Ich habe sie ausgelacht. Meine Stimme klingt laut durch die Wohnung.
So lange ich denken kann, hat meine Mutter für mich gesprochen und für mich gehandelt.
Die Gefahren des Alltags kenne ich besser als mich selbst, ohne ihnen wirklich begegnet zu sein. Meine Realitäten sind lange vertauscht worden, weil das Drinnen kein Draußen sein durfte.
Das Frühstück hat mir geschmeckt. Meine Mutter weiß genau, was ich mag.
Dass ich sie ausgenutzt habe, hat mir nichts genutzt. Der Nutzen war meine sichere Isolation.
Obwohl ich weiß, dass sie mich liebt, ertrage ich es nicht, von ihr über alles Maß hinaus beschützt zu werden. Gewollt habe ich ihre Liebe nie, und sie tagtäglich angenommen.
Ich war hilflos, später bequem, am Ende zynisch. Verletzt haben wir uns beide, jeden Tag.
Ich habe mich daran gewöhnt zu leiden, und wurde dafür geliebt, dass ich mein Leiden ertragen habe.
Mit 18 Jahren steige ich aus. Ich nehme einen Zug in die entgegengesetzte Richtung.
Die Entfernung reicht bis zu einem anderen Viertel.
Ich bin nicht alt genug, um weise zu sein, aber alt genug, um zu wissen, wie die Menschen ticken und sich einem wie mir gegenüber verhalten.
Ich will andere Menschen kennen lernen, denen ich frei begegne, wenn ich gelernt habe, wie das geht.
Obwohl meine Mutter es geschickt verstanden hat, sich aufzuopfern, sich im entscheidenden Augenblick vor mich zu stellen, über mich zu verfügen, wenn ich es am wenigsten nötig gehabt hätte, und mich vor dem Schlimmsten zu bewahren, wenn die Situation sich von selbst zu bereinigen schien, bin ich es leid, bedürftig zu sein.
Ich bin nicht selten vor den Kopf gestoßen worden, habe meine Beine – fast immer ohne Erfolg – unter die Arme nehmen müssen, ich bin gescholten und beschimpft worden.
Gewehrt habe ich mich nicht. Wenn es hart auf hart kam, und ich den Tränen nahe war, die ich um alles in der Welt nicht vergießen wollte, habe ich geschrien und wie verrückt mit meinen Händen auf den Tisch getrommelt. Ich sah lächerlich aus, wenn ich das tat. Geholfen hat es nicht. Es sind keine Scheiben und Gläser zersprungen. Akzeptiert wurde ich, wenn ich mich unterworfen habe, wie alle es erwarteten. Meine Mutter hat genau das von mir verlangt. Ich bin anders. Sie wollte mich schützen vor dem Anderssein.
Sonst hast du keine Chance und die anderen Menschen verachten dich. Du brauchst sie.
Ich sage:
»Ich werde dein Frühstück vermissen, aber nicht, dass du es mir jeden Morgen vor die Nase gestellt hast.«
Sie sagt:
»Wie willst du alleine zurechtkommen? Du bist auf Hilfe angewiesen. Die Menschen machen das nicht umsonst. Deine Mutter schon. Es ist mir all die Jahre nicht leichtgefallen, auf alles zu verzichten, was sich eine Frau wünscht, die wegen ihres Kindes verlassen wurde.«
Ich antworte:
»Ich hatte keinen Vater, du hast ihn vergrault. Ich komme alleine zurecht. Ich bin nicht hilflos und schwach, wie du denkst. Ich will mein eigenes Leben und nicht so leben, wie du es für mich eingerichtet hast.«
Meine Mutter räumt die Küche auf. Ihr Gesicht ist sorgenvoll. Sie schnieft unüberhörbar, beugt sich über mich, tief zu mir hinab. Sie fürchtet den Verlust und streichelt meinen Kopf. Ihre Augen, die ich nicht sehen kann, müssen feucht sein.
Ich will ihr nicht weh tun.
Die Situation ist nicht auszuhalten. Meine Mutter schwitzt stark. Als sie sich aufrichtet, und ich sie von unten anschaue, sehe ich ihre großen Schwitzflecken unter den Armen. Sie stinkt, so dass ich Mitleid für sie empfinde. Einen kurzen Moment. Es ist vorbei. Sie hat es mir um die Ohren gehauen, jeden einzelnen Tag. Ich bin froh, nicht direkt vor ihr zu stehen. Der natürliche Abstand schützt mich.
Ich bin klein gewachsen. Meine Nase reicht bis an die Scham anderer Menschen heran.
Ich kann sie alle nach ihrem Geschlecht unterscheiden. Der Geruch ihrer Genitalien ist intensiv bis penetrant. Frauen riechen anders als Männer. Wer besser riecht, ist für mich nicht zu unterscheiden. Bei beiden Geschlechtern halte ich mir häufig die Nase zu.
Selten genieße ich ihren Eigengeruch, nicht die Duftstoffe, mit denen sich Menschen ihre Körper schön sprühen. Ich habe das zu unterscheiden gelernt. Wenn ich Glück habe, schnüffle ich ihren erotischen Duft. Es entsteht eine Gier in mir, die mich tagelang begleitet, ohne dass ich sagen könnte, worin sie gründet. Sie hat in den letzten Jahren zugenommen und ich kann sie schwer kontrollieren. Der Geruch bestimmter Personen macht mich wahnsinnig. Ich stehe direkt vor der Person, mein Gesicht berührt fast ihre Scham. Ich würde meine Nase am liebsten in ihr Geschlecht hineinwühlen, so stark zieht mich ihr Geruch an. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich in der Pubertät bin. Im Sommer, wenn die Menschen leichte Kleidung tragen, oder keine Unterwäsche anhaben, ist es besonders schlimm. Ich wende mich schnell ab, damit kein Unglück passiert. Ich habe gelernt, mich zu beherrschen. Meine Mutter hatte mich im Griff. Sie hat damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte.
Ich kann treffsicher sagen, dass eine Person vor kurzem Sex hatte. Frauen und Männer wissen nicht, wie viele Chancen sie sich in wenigen Minuten ertränken, wenn sie sich gleich nach dem Sex unter die Dusche stellen. Ich selbst hatte noch keinen Sex, ich stelle ihn mir spannend vor. Ich onaniere seit über einem Jahr jeden Tag, manchmal mehrfach. Mit dem Größenunterschied der anderen Personen zu mir komme ich nicht klar, obwohl ich es gewohnt sein müsste. Ich stelle mir jeden Tag vor, den sexuellen Akt mit ihnen zu vollziehen. Es würde schwierig werden. Sie sind groß, unförmig und für meine Verhältnisse nicht handhabbar. Neben der Angst, die mir der Gedanke an das Eine bereitet, bin ich neugierig und wüsste lieber heute als morgen, wie es sich anfühlt, mit einer Person Sex zu haben. Seit geraumer Zeit unterscheide ich genauer, wer, wie und nach was riecht. Es ist eine sportliche Herausforderung für mich geworden, an jedem neuen Tag. Sie hat manische Züge angenommen. Mehr geht nicht. Und obwohl ich traurig darüber bin, dass ich mit dem Gesicht immer gegen eine Wand renne, die für mich alle Körper der Erwachsenen sind, habe ich mein System der Annäherung professionalisiert. Die Begegnung mit ihren Gesichtern kann ich mit Mühe in einem zweiten Anlauf herstellen. Ich stelle Abstand her, um Nähe zu gewinnen. In den Gesichtern, wenn ich mich ihnen nähern kann, gehe ich wie in einer Miniaturlandschaft spazieren. Das gefällt mir und gibt mir Rätsel auf. Die Gesichter sortiere ich nach bestimmten Merkmalen. Mir gelingen Zuordnungen und Klassifizierungen, die ich in eigens dafür entwickelten Tabellen festhalte. Wenn ich die Personen wiedertreffe, und besser kennenlerne, kann ich die Daten mit ihren tatsächlichen Verhaltensweisen abgleichen.
Ich habe keine krummen Beine, keinen Buckel, und keinen Kugelbauch. Mein Schwanz hat in seiner Proportion zu meinem Körper einen stattlichen Umfang. Er ist gerade gewachsen.
Ich rieche gern an ihm. Ob der Geruch auch anderen gefällt, kann ich nicht beurteilen. Dieser Umstand wurde noch nie von irgendjemandem in Betracht gezogen. Meine Mitschüler vergleichen ihre Schwänze heimlich auf der Schultoilette. Ich konnte sie durch ein kleines Loch in der Toilettenwand beobachten, meinen will keiner sehen, nicht einmal aus Neugier. Ich schäme mich, ihn beim Sport unter der Dusche offen zu zeigen. Ich drehe mich weg und halte die Hand davor.
Ich habe ein zartes männliches Gesicht, das sich wegen seiner feinen Gliederung und seinen Schattierungen gut zum Zeichnen eignen würde, wenn es nicht so klein und in seinen Details winzig wäre. Es hat meinen Kunstlehrer bewegt, mich als Modell vor die Klasse zu setzen. Er hat eine gute Absicht verfolgt. Ausgerechnet danach bin ich verspottet worden. Es war eine schwierige Aufgabe, mich von der Ferne aus gesehen zu zeichnen. Es stellte meine Mitschüler, mehr noch als meine Mitschülerinnen, vor große Herausforderungen, mich Winzling, und mein Gesicht zeichnen zu müssen. Ein einziges Bild hat mir gefallen. Es ist von einem pummeligen, pubertierend pickeligen Mädchen gezeichnet worden, das mich mit traurigen Augen betrachtet hat. Ich mag sie nicht, weil sie unförmig ist. Ich schäme mich dafür, dass ich sie nicht mag und dafür, dass ich mich vor die Klasse setzen musste. Ein wunderbares Bild ist entstanden, sie ist eine Künstlerin. Später wird es in ihrer ersten Ausstellung hängen. Ich werde in der Ausstellung hängen. Sie hat allen in der Klasse erzählt, dass sie Kunst studieren wird.
Ich weiß nicht, ob mir Herr Knappsack mit dieser Aktion schmeicheln wollte, oder ob er mein Gesicht schön fand. Er wollte sich rächen und dadurch von seinem Namen ablenken, der ihm in schrägen und gemeinen Verdrehungen um die Ohren geflogen ist. Er wird es wissen und ich bin geneigt, ihm trotz dieses Verdachtes die Wertschätzung meines Gesichtes zuzutrauen, weil es mir Freude bereitet, ihm zu glauben. Ich bin eitel geworden, weil ich mich wehren musste. Ich bin kein Zwerg, wie er schon seit Jahrhunderten beschrieben, gemalt, verlacht und verspottet wird. Ich habe mir Kinder-und Bilderbücher darüber angeschaut. Ich habe ernste wissenschaftlich fundierte Abhandlungen dazu gelesen.
Außer, dass ich darin nicht vorkomme, habe ich viel Wissenswertes über Zwerge erfahren.
Ihre übermenschliche Kraft und Macht, die ihre Reputation und ihren Mythos ausmachen, hätte ich gern, ich konnte sie bei mir nicht entdecken. Von den Hobbits auf der indonesischen Insel Flores habe ich gelesen, die vor mindestens 700 Tausend Jahren dort gelebt haben sollen. Ob es sich um entwicklungsgeschichtlich geschrumpfte Menschen gehandelt hat, Fehlbildungen, oder sie gar keine Vorfahren des homo erectus waren, ist so umstritten wie die Thesen, die über mich aufgestellt wurden. Ich erinnere mich an den Tag, als ein betagter Professor, der nicht unsympathisch war, mich, nachdem meine Eltern heulend den Raum verlassen hatten, mit seiner massigen Hand, an deren Altersflecken ich mich erinnere, unsensibel und bemüht, zu tätscheln versuchte, um mir zu sagen:
»Du bist ein naturwissenschaftlich medizinisches Phänomen!«
Bei der Suche nach meiner Identität bin ich im Internet auf die Pygmäen gestoßen. Das sind afrikanische Völkerstämme, die untereinander nichts als ihre geringe Körpergröße gemeinsam haben. Sie sehen anders aus als ich. Bei uns zuhause und in der Schule wurde von Liliputanern geredet, wenn es insgesamt um kleinwüchsige Menschen ging. Ich habe den Begriff bei Erich Kästner gelesen. Ich wusste, dass es in Deutschland Liliputaner gibt. Meine Mutter hielt mich fern.
Du bist keiner dieser Liliputaner
Nach der sogenanntenDiagnose habe ich bewusst wahrgenommen, dass die Menschen gemein sind und mir schroff, verwundert, argwöhnisch, misstrauisch und mitleidsvoll begegnen. Ich fing an, mir meine eigenen Gedanken zu machen, was meine Mutter zu verhindern suchte. Sie schrie mich an und ich verstummte. Ich bin stolz auf meinen schmalen Körper. Er ist nicht übertrieben trainiert, er ist so, wie ich ihn haben möchte. Das hat mich Arbeit, Zeit und Anstrengung gekostet, ich bin muskulös geworden. Ich habe mir nicht nehmen lassen, meinen Körper täglich herauszufordern. Wenn ich das Ergebnis beurteile, stehe ich gut da. Meine Selbstwahrnehmung funktioniert. Dass andere mich so wahrnehmen, wie ich es will, klappt nicht, ich arbeite daran.
Werden Kinder so wenig wahrgenommen, oder ist das bei mir anders, weil ich schon lange kein Kind mehr bin und klein, anders klein.
Ich kann meinen Zustand und meine Befindlichkeit nur situativ beschreiben. Ich erlebe das unterschiedlich und kann mich verschieden und abweichend voneinander darauf einlassen. Nach meinen umfänglichen Recherchen bin ich mit meinen besonderen Besonderheiten einmal vorhanden. Obwohl ich mir das nicht vorstellen kann, und daran denke, wie es wäre, wenn ich mir in einem anderen begegnete, der so wäre wie ich. Das wäre ein Fest, das alle mitfeiern müssten, weil ich es so wollte, oder wir beide, wenn wir uns verstehen würden. Ich würde gerne mehr über Liliputaner wissen, die hier leben. Ich weiß, dass sie auf Jahrmärkten arbeiten und Schausteller sind. Bei Erich Kästner habe ich einen von ihnen entdeckt, einen grünlivrierten Liliputaner. Meine Mutter verhindert hartnäckig und dauerhaft, dass ich mich auf die Suche mache. Sie hält es für gefährlich und abwegig und verbietet mir jeglichen Gedanken daran.
Du bist widerwärtig.
Es bereitet mir Anstrengung, wenn ich etwas oder jemanden näher betrachten will. Wahrzunehmen, was sich um mich herum ereignet, stößt trotz unermüdlicher Übung an seine natürlichen Grenzen. Mit der Zeit habe ich Routine darin entwickelt, meinen Kopf ruckartig nach oben zu drehen. Das kann wehtun, wenn es plötzlich geschieht. Ich erfasse in Sekundenschnelle, wer oder was mich berührt, erregt, irritiert, oder neugierig macht. Ich ändere die Blickrichtung meiner Augen und stelle sie wieder auf meine Höhe ein. Ich erwarte, dass sich der andere Kopf tief nach unten senkt und bin mir darüber im Klaren, dass dieser Vorgang den anderen Rückenprobleme verursacht. So gelenkig sind meine Mitmenschen nicht. Mein Gegenüber hat eine große Entfernung zu überbrücken und die Bewegung ist ungewohnt für normal große Menschen, die nicht ständig mit Kindern in Kontakt stehen. Wenn ich die Person ansprechend finde, fühle ich mich verachtet und ignoriert, wenn diese Anstrengung mir gegenüber unterbleibt. Ob meine Erwartung angemessen, oder unangebracht ist, weiß ich nicht. Mich treibt die Neugier dazu. Ich will entdecken, lernen und wissen, warum sich die Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten. Obwohl ich weiß, warum sie mich ablehnen, möchte ich es in jedem einzelnen Fall wissen. Die zufällige oder aufmerksame Zuwendung geschieht, wenn ich sie erlebe, aus einer merkwürdigen Anspannung mir gegenüber, die ich an ihren augenblicklich von mir erfassten nervösen Blicken beobachte, und verstärkt in ihren unkontrollierten Nervenzuckungen spüre. Es passiert aus einer eigenartigen Form der Sympathie, die bestimmte Menschen mit besonderer Geschichte, dem Kleinen, Zarten und Zerbrechlichen entgegenzubringen in der Lage sind. Sie verfügen über Erfahrungen, die abweichendes Verhalten zulassen, oder suchen. Obwohl mir das nicht normal erscheint, möchte ich sie nicht bemitleiden. Ich bin belustigt, wenn es spontan passiert. Ich habe genügend Zeit, um in dieser kleinen Spanne blitzschnell zu entscheiden, ob ich Kontakt aufnehmen will, oder nicht. Das Mühsame und die Anstrengung haben Vorteile für mich. Ich kann wählerisch sein, ohne verletzen zu müssen, und trage die mögliche Verletzung in mir, ohne dass die anderen sie spüren. Als ich geboren wurde, hat niemand wahrgenommen, wer ich bin. Es passierte in dem Moment, in dem ich plötzlich so blieb, wie ich schon immer gewesen war. Dauerhaft, über Jahre hinweg, so dass es auf keinen Fall eine Verzögerung des Wachstums sein konnte. Allein von der Tatsache, dass ich mich nicht wie andere entwickelte und größer geworden wäre, ging eine Bedrohung für meine Umgebung aus, die mir in demselben Moment nicht bewusst war, für die anderen bedeutete sie eine heraufziehende Katastrophe. Ich fühlte mich gut und hatte keine Schmerzen. Es war anders vorgesehen und erwünscht worden. Plötzlich war ich anormal, und keiner wusste, warum. Es gibt keine Erklärung, keinen medizinischen oder sonst gearteten Befund, bis heute nicht. Ich selbst würde es gerne als eine freche, unverschämte Laune der Natur betrachten wollen. Man kann sich nicht gegen diese Frechheit wehren und sagen:
Geht’s noch! Ich will das nicht!
Die anderen haben ihre Schubladen aufgezogen und dich verstaut, wo du hineinpasst.
Ich nahm nicht viel Platz ein in den großen Schränken aller möglichen Zuordnungen. Vor der Heranziehung von Gottesurteilen schreckten sie nicht zurück, die einen Diskurs über mich führten, schamlos in meiner Gegenwart.
Ich kenne die Geschichte von Oskar Matzerath. Unser Deutschlehrer hat aus gegebenem Anlass den Roman mit uns in der 13. Klasse behandelt. Im Gegensatz zu sonst haben alle aus dem Leistungskurs das Buch gelesen, weil sie neugierig waren und etwas über mich zu erfahren dachten. Die fiktive Geschichte trifft nicht auf mich zu. Aus dem einzigen Grund, dass ich real bin, und es gibt tausend andere Gründe. Das Buch »Die Blechtrommel« von Grass und der Film mit David Bennent haben mich in Unruhe versetzt. Den Oskar habe ich bewundert und ich hätte ihn gerne aus dem Buch in mein Leben geholt. Den Schauspieler David Bennent würde ich gerne kennen lernen. Er weiß nichts von mir und ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Er ist größer als ich, einen Meter fünfundfünfzig und viel älter. Ich habe ihn mir genau angeschaut, im Netz, im Kino. Wir sind uns über den Weg gelaufen, er hat mich nicht beachtet. Ich konnte trotz zahlreicher Bemühungen keine Ähnlichkeit mit mir entdecken. Es hätte mir gefallen. Er ist ein skurriler Vogel, der auf einer griechischen Insel lebt, habe ich gelesen. Geld hat er genug verdient, denke ich mir, wissen tue ich es nicht. Mir gefällt seine rauchige Stimme. Ich schaue gerne in seine wachen, irren großen Augen. Er könnte mit über fünfzig Jahren mein Vater sein. Die Vorstellung gefällt mir, einen kleinen Schauspieler als Vater zu haben, der schöne Augen hat. Mein leiblicher Vater ist riesig und gefällt mir nicht.
Ich bin vor knapp einer Woche aus der Wohnung meiner Mutter ausgezogen. Ich konnte es nicht mehr aushalten, jeden neuen Tag ihrem mitfühlenden Blick zu begegnen und in ihre Augen zu schauen, die vorwurfsvoll blickten, dass jeder, der sich näherte, Angst vor ihr bekam. Sie hat damit seit Jahren jede meiner spärlichen Freundinnen und erst recht meine Handvoll Freunde vergrault. Mein Vater hat vor vielen Jahren das Weite gesucht und ist aus meinem Leben verschwunden, ohne dass er mir gesagt hätte, wohin und warum. Ich weiß nicht, ob ich es war, der ihm Anlass dazu gegeben hat, weil ich so bin wie ich bin, und bei einem Meter zu wachsen aufgehört habe. War es die Unfähigkeit meiner Mutter, mit mir umzugehen, und meinen Vater hat die unerträglich langweilige Fürsorglichkeit genervt, mit der sie mich vor allen und jedem beschützen wollte. Vermisst habe ich ihn nicht. Er ist ein Arschloch. Ich erinnere mich an die Ablehnung, mit der er mich behandelt hat. Das hat meine tägliche Wut gegen ihn gesteigert. Er war ein Brecher und hat nicht nur gegen die Tür geschlagen und getreten. Da ich das Problem war, wurde darüber vor mir geschwiegen. Ich hatte den Behindertenbonus, obwohl ich nicht behindert bin. Ich war ihm von Anfang an egal, und es hat ihn nicht gefreut, dass ich geboren wurde. Meine Mutter hat es mir erzählt. Ich weiß nicht mit Sicherheit, ob es wahr ist. Sie hat ihn notorisch und gerne vor mir schlecht gemacht. Warum sie ihn überhaupt geheiratet hat, ist mir unerfindlich. Auf meine Fragen danach habe ich nie eine Antwort bekommen. Als ich gefragt habe, ob mein Vater seinen Frust gewalttätig ausgelebt hat, schwieg sie. Ich habe ihn selten gesehen. Ihn drückte sein schlechtes Gewissen, er hat mir irgendetwas geschenkt, mir unauffällig bei einem beliebigen Anlass Geld zugesteckt. Er gehört zur Familie, ich bin sein Sohn. Das Sperma, das mich produziert hat, war beschädigt, oder war es die empfangende Eizelle, die mich ausgetragen hat. Der Himmel weiß, warum ich anders bin. Die Geschenke meines Vaters haben mir nicht gefallen, weil ich sie nicht gebrauchen konnte und er weit davon entfernt war, meinen Geschmack zur Kenntnis zu nehmen. Das Geld war lächerlich wenig, nicht nennenswert. Ich hätte mehr gebraucht, um mithalten zu können. Für andere Männer hatte meine Mutter ab dem Zeitpunkt meines Wachstumsstopps keine Augen mehr. Nach ihrer eigenen Aussage hatte ich ihr den Blick mit meiner Größe verstellt. Ich hielt dagegen, dass das faktisch nicht möglich sei. Meine Ironie hat sie nicht verstanden, es war ihr bitter ernst. Mich hat keiner dieser Männer bemerkt. Wenn ja, war ich ein in Erscheinung tretender Klotz am Bein, ein unüberwindbares Hindernis, das keiner in Kauf nehmen wollte. Das Kind heiratet man mit. Ich habe mich nie so empfunden und wäre gerne ausgezogen. Ich war überbehütet, ich hatte keine Chance. Mein wachsender Intellekt und meine zunehmende Frechheit waren meine Waffen, die vor den Schranken der mir eingeredeten Hilflosigkeit kapitulieren mussten. Kleine Kinder passen ins Bild, ich als ein Meter Mann passe nicht hinein. Ich kann nicht leugnen, dass ich mit zunehmendem Alter darauf gestoßen wurde, dass ich die Norm verfehlt hätte und es zu Mutmaßungen Anlass gäbe.
Gut, dass ich erwachsen bin und entscheiden kann, wohin ich gehe und was ich tue. Lange genug habe ich mich den Ansprüchen und Erwartungshaltungen derjenigen unterworfen, die meinen, dass ich anders bin als sie es sind. Sie finden mich komisch, obwohl ich ihnen außer meines Kleinwuchses nicht den geringsten Anlass dazu gegeben habe. Daraus haben sie abgeleitet, dass ich unselbstständig sei. Ich habe früh gelernt, dass die meisten Menschen sich in ihren Zuordnungen dauerhaft einrichten und ihre penetrante Sesshaftigkeit und Standfestigkeit mich ausgrenzt. Ich habe es gewagt, älter zu werden und plötzlich erwachsen zu sein. Es fällt ihnen schwer, sich vorzustellen, dass es Abweichungen gibt, die keine krankhaften Ursachen aufweisen, und nicht behebbar sind. Die Tatsache der Verschiedenheit und Andersartigkeit, der Abweichung von einer gesetzten Norm, wie einer durchschnittlich erwachsenen Körpergröße, ist für die überwiegende Zahl der Menschen, denen ich bisher begegnet bin, oder die mich ausdrücklich und bewusst in Augenschein genommen haben, schwer vorstellbar, geschweige denn akzeptabel. Mir gegenüber wurde es nie direkt formuliert. Es wäre unschicklich gewesen. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Es ist ein unbestimmtes Gefühl, das mich heimsucht, sobald ich unter fremden Leuten bin. Ich muss mich korrigieren. Selbst unter meinen Freundinnen bin ich dieses Gefühl nie losgeworden, obwohl sie alles Verständnis aufgebracht haben, für mich und für meine Situation, so, wie sie sich ihnen dargestellt hat.
Ich wohne direkt unterm Dach, kein Loft, eine kleine Dachgeschosswohnung.
Die Räume sind schmal, eng und niedrig, die anderthalb Zimmer sind wie geschaffen für mich. Früher war es der Boden und der Abstellraum für die Mieter des Hauses. Im Zuge des Wohnraummangels wurde eine kleine Wohnung daraus gemacht. Der Aufstieg in den 6.Stock ist mühsam für mich. Ich bin flink, gelenkig, ich nehme die Stufen leicht und freihändig. Ich tanze die Treppen hinauf, da ich täglich trainiere, beweglich bin und Kondition habe. Wenn mir Nachbarn begegnen, lachen sie entweder lauthals und schamlos, oder verschämt hinter vorgehaltener Hand. Ob sie sich über mich freuen, oder befremdet sind, kann ich nicht beurteilen. Ich wohne kurz hier und kenne noch keinen persönlich.
Heute morgen bin ich von oben das Treppengeländer heruntergerutscht. Das geht schnell und ich nehme rasante Fahrt auf, so dass ich mich an den Biegungen abbremsen muss, damit ich mich nicht an den Querstreben verletze. Es tut weh, Schmerzen mag ich nicht. Meine Haut ist leicht gebräunt, es wird Sommer. Ich bin dünnhäutig, meine Haut ist verletzlich.
Wenn ich zu Fuß gehe, brauche ich länger. Wenn ich versuche, über die Stufen hinweg zu hüpfen, dann wirkt sich das auf meine Knie aus. Der Druck ist groß. Für mich gibt es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Knieprothese. Das wäre in höchstem Maße unwirtschaftlich. Ich muss vorsichtiger mit meinem Körper umgehen als andere Leute.
Seine Leichtigkeit macht ihn zerbrechlicher als die Körper anderer gleichaltriger Zeitgenossen. Ich habe es schmerzlich erfahren, als ich einem Auto ausgewichen bin, dessen Fahrer mich übersehen und mich angefahren hat.
Wenn es nach den Ärzten ginge, würden mich die radikalen unter ihnen in einen Rollstuhl setzen. Es passte in ihr Konzept meiner Behinderung. Ich wehre mich, indem ich trainiere, damit sie keinen Vorwand haben, oder ihn finden, wenn sie lange genug danach suchen.
Ich habe Gewohnheiten, die in einer Mischung aus Lust und Notwendigkeit entstanden sind. Wenn ich es eilig habe, ist das Treppengeländer die beste Variante, wobei ich aufpassen muss, dass ich mich mit der Kleidung dem Tempo anpasse. Die Gefahr, irgendwo hängenzubleiben, besteht immer. Ich gehe das Risiko ein. Es funktioniert jeden Tag besser und ich bin sicher, dass mir die Höhenlage meiner Wohnung bald nichts mehr ausmachen wird. Alle Freundinnen haben sich amüsiert und meine Hartnäckigkeit in den Dreck gezogen.
Sie haben mich nicht zum ersten Malbeleidigt.
Psycho.
Nur weil ich wollte, was sie nicht wollten, bestenfalls sich nicht vorstellen konnten. Meine Mutter hatten sie auf ihrer Seite. Zwangsläufig und aus selbstloser Verantwortung mussten sie mir selbstverständlich wegen meiner kurzen Beine abraten. Mir persönlich hat die Wohnung sofort gut gefallen, dass ich auf alle ihre bigotten Ratschläge ein schrilles Lachen als Antwort hatte. Ich wehre mich. Einen freien Blick in den Himmel zu haben, ist der Himmel selbst für mich. Ich wollte diese eine Wohnung. Jeder in meiner Umgebung musste sich damit konfrontieren, ich kann stur und unleidlich sein. Alle Argumente sind an mir abgeprallt, wie an Waschbeton. Zusätzlich profitiere ich davon, dass eine ältere, früh verarmte, kranke Freundin meiner Mutter die Treppen nicht mehr steigen konnte.
Ihr Unglück ist mein Glück. Ich konnte in ihren günstigen Mietvertrag als Untermieter einsteigen, und stellte fest, dass ich ihr gegenüber mitleidlos war. Ich dachte an meinen eigenen Vorteil, wir haben beide etwas davon. Wo ich hier wohne, dürfte es schwer sein, mich rauszuschmeißen. Ich muss meine Vorteile nutzen, wenn ich nicht vor die Hunde gehen will. Ich fühle mich dem Himmel nah, wenn ich hier oben auf einem großen Barhocker sitze, den ich gelernt habe, mit einem Satz zu erklimmen, um einfach nur über die Dächer zu schauen. Mein Blick schweift weit umher. Stundenlang kann ich hier sitzen, schauen, nachdenken, chillen und mich von der Luft, den Wolken, dem Himmel und den unterschiedlichen Vogelstimmen inspirieren lassen.
Die giftigen Gerüche der Stadt sind ausgedünnt, ich rieche die Kohlrouladen der Nachbarn, oder die Spaghetti Soße von unter mir. Nicht alle Gerüche sind mir angenehm. Ich werde lernen, sie auszublenden und nur die an mich heranzulassen, die michanturnen.
Ich habe einen starken Willen.
Diese Zeit nehme ich mir jeden Tag, ohne dass ich das Gefühl habe, es sei verlorene Zeit, wie das früher regelmäßig der Fall war. Den Barhocker hat mir mein Kunstlehrer zum Einzug geschenkt, als Entschädigung für die missglückte Zeichenaktion.
Das ist meine Interpretation.
Ich brauche immer einen Grund für die Dinge, die geschehen, ohne dass ich sie selbst direkt beeinflusst hätte. Die Schule habe ich ertragen und gelangweilt, regelrecht durchgestanden.
Nicht immer habe ich den Vormittag durchgehalten. Wenn ich mich nicht im Griff hatte, und ich meine Peiniger, die das subtil und heimlich bewerkstelligten, zu beleidigen anfing und ausgerastet bin, musste ich schleunigst den Abgang machen und die Flucht ergreifen. Ich war ein Grenzgänger der besonderen Art und wie man mehr raunte, als aussprach, hochbegabt, in ihren Augen definitiv sozial eingeschränkt. Ich weiß nicht, warum mir das Begreifen leichtfällt. Es ist da und ich habe es schnellstmöglich aufgeschrieben, vor allen anderen ausgespuckt, zum falschen Zeitpunkt, im Hinblick auf die allgemeine Fairness.
Die Lehrer waren mit wenigen Ausnahmen nicht begeistert, mich in ihrer Klasse zu haben. Ich war nicht nur winzig, ich war schrill und habe provoziert, wo ich konnte.
Was konnten sie tun?
Ich wollte nicht klüger sein als sie, aber sie haben sich dumm und ungeschickt angestellt, so dass es negative Auswirkungen auf mich hatte. Das ertrug ich nicht. Hätten sie sich mir gegenüber ablehnend und ungerecht verhalten, aufgebracht auf meine Aggressionen reagiert, wäre das für ihr eigenes Image nicht von Vorteil gewesen. Ich spürte eine Sonderstellung und habe sie ausgenutzt, wenn es ging. Der unwiderstehliche Hang zur Anpassung tat mir weh und kotzte mich an. Ich habe nie gewusst, ob die Lehrer mich sympathisch und interessant fanden, widerlich, aufmüpfig oder ebenanormal. Die Diagnose war in jede Richtung zu dünn, als dass sich mein Umfeld daran hätte orientieren und festhalten können.
Bei meinen Mitschülern war das anders. Ich konnte es förmlich riechen, wenn sie sich einschleimen wollten, um nach allen Seiten gut dazustehen, sich für mich interessierten, mich gernhatten, mich anfassen konnten, ohne Angst zu haben, dass sie sich infizierten.
Ihr Körpergeruch hat mir das überdeutlich verraten. In der Pubertät schwitzt man früher, wenn die Situation und das Gegenüber unbehaglich wird. Das rieche ich. Meine Intelligenz war der Mehrzahl meiner Mitschüler unheimlich, sie verbreitete Angst, profitieren wollte jeder davon. Ich kenne das Wort Liebe, aber ich glaube, mich hat keiner geliebt. Ich habe geglaubt, dass ich liebe, ich konnte nicht deuten, ob die Liebe vorhanden war, und ob sie erwidert wurde, erkannte ich nicht. Ein Außenseiter bin ich, weil es nicht einfach ist, mit mir befreundet zu sein. Ich stelle Ansprüche und sehne mich nach Nähe, ohne mithalten zu können, in dem, was ich zurückgeben kann, schon physisch ist das kompliziert.
Grundsätzlich liegt das weniger an meinen Hemmungen, mit denen ich besser umgehe, als an meinen unterentwickelten emotionalen Fähigkeiten, die durch meine unerträgliche Familiensituation soweit gestört sind, dass sie zuweilen seltsame Formen annehmen. Es ist eine Gratwanderung zwischen einem unstillbaren Bedürfnis zu nehmen, alles das, was ich bekommen kann, und der Unfähigkeit zu geben, was ich in frühen Jahren nie bekommen habe.
Ich bin kein Psychologe, obwohl ich schon des Öfteren bei Psychotherapeuten herumgesessen habe, die mich phänomenal fanden, weil ich ein Phänomen bin, das ihnen ihr Alltag nicht präsentiert hat und sie interessieren muss. Mir fehlen alle physischen Möglichkeiten. Wie soll ich jemanden in den Arm nehmen, ohne dass ich mich lächerlich mache. Und mein Geruchssinn, der mich vor große Herausforderungen stellt, steht mir mehr im Weg, als dass er zielführend ist. Ich werde häufiger dadurch abgeschreckt als angezogen.
Wenn mich der Geruch anmacht, ist es nicht zum Aushalten, weil ich die Grenzen kenne, die ich dringend überschreiten will. Wo ich mir das alles bewusst mache, fange ich an, mich nicht mit den Augen der anderen zu beobachten, mich nicht ihren Urteilen und Schlussfolgerungen zu unterwerfen. Ich werde so tun, als wenn ich derjenige wäre, der in eine andere Welt verschlagen wurde, und die Anderen mich erstaunen und nicht ich sie.
Ich will sehen, was passiert, wenn ich den Spieß umdrehe und mich als den Normalen erkläre und alle anderen als zu groß und aus dem Rahmen gefallen bezichtige.
Der Himmel hat sich entwölkt, das Blau ist härter geworden. Ein Iv Klein Blau würde meine einzige schlaue Freundin Helene sagen. Sie ist nicht zu verwechseln mit der begnadeten Zeichnerin. Dass gerade Helene riesengroß ist, habe ich nie verstanden. Es macht keinen Sinn für mich, sie anzuhimmeln. Ich will und darf nicht verlieren. Die Bäume, die ihre Kronen bis hier hinauf gestreckt haben, sind stolz auf ihr helles Grün, ich bin stolz auf mich und stolz darauf, hier zu sein, in meiner eigenen Wohnung. Die kleineren Bäume direkt unter meinem Fenster sind üppig. Die Sträucher, die unten wachsen, sind undurchdringlich. Mein Blick vom Hocker aus hält die Szene fest. Sie gräbt sich in mein Gedächtnis ein. Es hält mich nicht mehr in der Wohnung. Ich muss raus auf die Straße. Meine Gedankengebäude lauern mir auf, sie wollen gebaut werden. In den letzten Tagen habe ich nachgedacht, allein, hier oben. Der Alltag der Straße reizt mich und meine Stadt fordert mich heraus. Die Schule habe ich mit dem besten Abitur beendet. Die Erwartungen meiner Mutter sind bis zum Anschlag erfüllt.
Und sie ist besorgt, weil ich ausgezogen bin. Ich fühle mich frei. Verpflichtungen und Abhängigkeiten habe ich den Kampf angesagt.
Übermütig, fast übertrieben ausgelassen in meiner Vorfreude, rutsche ich das Geländer hinunter. Die Gefahr hängenzubleiben, besteht heute nicht. Ich habe kurze Hosen an und ein Muskelshirt darüber. Es ist warm draußen und ich will meine Muskeln zeigen. Ich trage ausgefallene Farben. Viele meiner schrägen Klamotten hat meine Mutter unter Protest genäht. Sie wollte mich glücklich sehen, und das will sie immer noch. Sie hat es für mich und gegen ihre Überzeugung getan, hat dabei an Puppenkleider gedacht und ihre Seele auf diese Weise besänftigt.
Mit einer Selbstverständlichkeit ohne Gleichen laufe ich den Bürgersteig entlang, gehe so entschieden und sicher, dass die Anderen das Gefühl haben, über mich fallen zu müssen, wenn sie mir nicht ausweichen. Wenn sie mich anrempeln, umrennen, weil sie davon ausgehen, dass ich Platz mache, mich einfach übersehen, reagiere ich selbstbewusst und unausweichlich. Sie seien wohl fremd hier und hätten die Gesetze der Straße und die Besonderheit der hiesigen Bewohner noch nicht zur Kenntnis genommen. Mit der Zeit würden sie sich schon daran gewöhnen. Klein sein sei normal, und wenn sie hier akzeptiert werden wollten, sollten sie aufpassen. Ich singe vor mich hin. Es ist mein akustisches Signal.
Ich spreche ihre Sprache, ich drücke mich für meine Verhältnisse gewählt aus. Ich will verstanden werden, nicht belehren, überzeugen von dem, was ich bin. Verstanden werde ich nicht, obwohl ich eine geübte laute Stimme habe. Unverständliches Kopfschütteln, irritierte Blicke und klare Kampfansagen begegnen mir. Manche fluchen bösartig, andere lächeln mich weg, viele halten mich für verrückt. Ich bin verrückt, mir ihre eigene Sichtweise zu eigen zu machen. Was mir zu Gute kommt, ist meine Winzigkeit, meine antrainierte Schnelligkeit und die Reaktionsfähigkeit, die ich früher brauchte, um den gleichen Menschen bescheiden und ängstlich auszuweichen, denen ich mich jetzt in den Weg stelle, während sie stolpern.
Ich komme mir vor wie eine Comicfigur und ich mache die anderen in meinem Kopf zu Aliens.
Gerade habe ich mir einen Sonnenplatz in der ersten Reihe meines neu entdeckten Cafés in meinem Kiez erobert. Vor zwei Tagen habe ich es entdeckt. Ich habe mir vier Sitzkissen von den anderen Stühlen organisiert, sie blitzschnell übereinandergeschichtet, mich balancierend hochgehangelt, so dass ich auf einem provisorisch errichteten Thron sitze und Ausschau halten kann. Der Anblick reizt zum Lachen, ich habe alles unter Kontrolle. Die Tage vorher war das nicht der Fall. Ich musste durch die Tür kommen, wenn ich mich strecke und kräftig drücke, bekomme ich sie auf. Die letzten zwei Tage ist mir das nicht auf Anhieb gelungen, die Tür ist schwer. Das nächste Hindernis stellt die hohe Theke dar, an der ich bestellen muss. Die große Kaffeetasse kann ich nicht umfassen, sie ist heiß und ich muss sie nach draußen befördern. Gestern hat mir ein älterer Mann geholfen, der selbst erhebliche Gleichgewichtsprobleme hatte. Gemeinsam haben wir die Situation bewältigt.
Ich rufe laut von meinem Platz:
»Hallo Leute, ich wehre mich gegen das, was mir das Leben schwer macht. Das habe ich so beschlossen.Ihr habt eine schwere Tür, hohe Tische und große Tassen, ich habe nicht den Hauch einer Chance. Seid so lieb und bringt mir den Eiskaffee an meinen Platz. Ich zahle draußen.«
Es ist Eiskaffeewetter, ich bin in Eiskaffeestimmung, die Tür steht offen. Betretenes Schweigen, erstaunte Blicke von allen Seiten, die Gäste tuscheln. Sie halten mich für frech und für unverschämt. Einige lachen.
Einer sagt:
»Er hat Recht. Wir sollten den Behinderten mehr Raum geben.«
Ich zische hörbar böse: »Ich bin nicht behindert.«
Eine Frau zeigt auf mich und flüstert ihrer Freundin zu: »Der ist richtig süß.«
Ein älterer Mann schaut mich lange an. Meine Farben stechen ihm in die Augen.
Er sagt: »Krass, das Outfit. Muss ich meinem Enkel kaufen.«
Ich freue mich, lebendig zu sein.
Mittlerweile hat sich mein Wunsch bis nach drinnen durchgesprochen. Im Café gibt es einen kleinen Aufruhr. Alles ist anders, es ist ungewohnt, für alle, auf beiden Seiten fehlen die geliebten Gewohnheiten. Gestern hatte ich bescheiden am Tresen von unten nach oben geblickt und mit Mühe mein Geld darauflegen können, bevor die weiteren Unannehmlichkeiten ihren Lauf nahmen. Der Chef wittert seine Chance, sich für mich freundlich und aufgeschlossen zu zeigen. Das könnte gut fürs Geschäft sein. Das Image wird heute immer wichtiger, die Konkurrenz schläft selten. Er persönlich bringt mir, nach einer angemessenen Wartezeit freundlich grinsend den Eiskaffee. Ein Lächeln ist es nicht, es ist geschäftsmäßig und in meinen Augen aalglatt.
Er sagt jovial und so, dass alle es hören können: »Geht auf´s Haus.«
Lächeln überall, von dem ich nicht weiß, wie es gemeint ist. Das Verständnis gefällt mir nicht. Ich bin um Nüchternheit bemüht.
Ich sage: »Vielen Dank, ich möchte bezahlen, was ich bestelle.
Es ist schön, dass ich es an den Platz bekommen habe, diese Hilfe nehme ich gerne an.«
Die Situation ist alles andere als normal, ich spüre die Anspannung. Ich will nicht im Mittelpunkt stehen. Wie soll es gehen, wenn ich nicht wahrgenommen werde und die Barrieren unüberwindlich sind. Es ist Mittag und viel los auf der Straße. Meine Blicke lassen sich treiben, starren, fokussieren, streifen, legen sich fest, quer, sind verächtlich, belustigt, erstaunt, zustimmend und zuweilen entzückt. Ich habe meine Demut verloren. Sie soll angebracht sein. Das wurde mir erzählt.
Wenn du beachtet und ernst genommen werden möchtest, solltest du demütig und dankbar sein.
Ich will und kann mich nicht dafür schämen, dass ich nicht so bin wie alle, die an mir vorbeilaufen und wenn sie mich sehen, darüber nachdenken, was ich hier mache, in der ersten Reihe. Wenige werden es als Zumutung und Frechheit interpretieren, die anderen als irritierend und verstörend auffassen. Ich sitze hier, weil ich gern hier sitze, weil ich mir die anderen Menschen anschaue, weil ich meinen neuen Standpunkt setzen will. Ich möchte meine Selbstbehauptung an den Pranger stellen. Mich als Opfer auszustellen, passt nicht zu mir. Ich bin keine Leidensfigur. Ich will Täter sein, hier sitzen und das einfordern, was mir vorenthalten wurde. Ich will Anerkennung und Aufmerksamkeit, ich will dazugehören, mitspielen und nicht geduldet, oder mitleidig belächelt werden, weil ich nichts dafürkann, wie ich bin. Selbst diesen überflüssigen Gedanken will ich nicht mehr denken. Ich versuche mich von Unterstellungen den anderen gegenüber zu lösen, die ich selbst entwickelt habe, um mit der Missachtung klarzukommen, die mich täglich tief und unbarmherzig treffen, weil ich sie in mich hineingenommen habe. Ich spucke aus, was mir im Rachen steckt, was mir die Luft zum Atmen nimmt, mich hinterhältig vor mir selbst und den anderen schützen will.
Sie können nichts dafür, dass ich nicht so wie sie bin, sie sind viele.
Ich will kein schweres Schicksal haben, weder tapfer damit umgehen, noch es annehmen müssen, noch verantwortlich sein für die Abgründe in ihrem Denken und Handeln.
Die Autos hupen, ein identifizierbarer Macho parkt in der zweiten Reihe. Der Gegenverkehr lässt kein Überholmanöver zu. Ich hasse das Hupen, die Autos, die Ungeduld, und weiß, dass ich selbst ungeduldig bin, nicht laut sein will, laut sein muss, als käme es über mich, wie eine überbordende Lust, wie eine Erosion zurückgehaltener Gefühle. Mein Hass auf die Ignoranz der Menschen geht viel weiter, als sich das jemand anderes vorstellen kann. Ich kann meine Situation nicht durch einfaches Ausweichen, eine Einsicht, oder durch anderes Verhalten verändern.
Ich schreie so laut ich kann: »Rücksichtslose Arschlöcher. Das ist hochgradige Körperverletzung.«
Um mich herum Blicke, die gerne und leidenschaftlich töten wollen. Wenn sie es könnten, würden sie mir etwas antun. Die aufgeblähten und hochroten Köpfe der Autofahrer, mit blitzenden stumpfen Augen, die mich sekundenschnell auf meinem Thron geortet und erkannt haben, was für ein Kretin ich bin, und deren Gesichter zunehmend verächtlicher verrutschen. Der Verursacher sitzt behäbig, fett und breit grinsend in seinem SUV. Die gesellschaftliche Kontrolle schützt mich, ich bin nicht mutig. Es ist meine Bedeutungslosigkeit, die mich vor Angriffen bewahrt. Ich kann niemanden verletzen, obwohl ich es dringlich will. Ich schaue gelassen und schlürfe meinen Eiskaffee unanständig laut, dass ich ins Bild passe.
Mein verdammtes Selbstmitleid, werde ich es niemals los.
Inzwischen fließt der Verkehr, die Gemüter haben sich beruhigt. Die Mordmaschinen sind längst an anderen Kreuzungen angelangt. Ich stelle mir vor, dass die Fahrer noch immer empört darüber sind, dass ich sie beleidigt habe.
Wenn das so wäre, hätte ich nicht spontane und missliebige Aufmerksamkeit erlangt, ich hätte nachhaltige Bedeutung.
Mehr als ein Gedanke fliegen durch meinen Kopf, ohne dass ich es kontrollieren kann, woher sie alle kommen und wohin sie wollen. Es ist der erste Tag meiner neuen Identität. Ich will sie und sie will mich. Das Geld für den Eiskaffee lasse ich inklusive Trinkgeld auf dem Tellerrand liegen, versuche möglichst geschickt und sportlich den Außenbereich des Cafés zu verlassen, nicht ohne vorher die Kissen wieder auf ihre Plätze zu befördern. Ich laufe zielsicher auf die nächste Bäckerei zu, um mir ein Stück Kuchen zu kaufen. Ich hätte es gerne zum Eiskaffee gegessen, es war mir zu umständlich, mir die Süßigkeit zusätzlich bringen zu lassen. Ich bin feige, ich brauche Zeit. Meine neue Rolle ist für mich ungewohnt, als dass ich sie souverän ausfüllen könnte.
In der Bäckerei steht eine Muslima hinter der Theke. Ich schaue ihr direkt aufs Geschlecht. Diesmal durch die Kuchenvitrine, die durchsichtig ist. Dazwischen sind Torten, die kühl stehen. Ich rieche nichts. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen und sie nicht meins. Ich deute auf ein Stück Käsekuchen und spreche laut gegen die Scheibe, dass ich es kaufen möchte. Niemand sonst ist im Laden. Es dauert eine lange Weile. So beweglich ist sie nicht. Als sie nach vorne kommt, kann ich sie riechen. Sie riecht nach Lidl Deodorant, das für Männer, ich kenne den Geruch. Der Kontrolleur in der U- Bahn hat genauso gerochen. Er hat mich gar nicht wahrgenommen, obwohl ich einen ewigen Freifahrtschein habe. Unsere Stadt ist human, sie tut etwas für die, die nicht normal sind. Die Verkäuferin beugt sich langsam zu mir hinunter, sie trägt ein Kopftuch und ein mit Mehl beflecktes, unappetitlich schwarzes Kleid. Alt ist sie nicht, durch ihr Kopftuch ist es schwer einzuschätzen. Als sie mich anschaut, wirkt sie erstaunt. Sie kennt das nicht. Sie lacht unverhohlen laut und obszön, und zögert, sie hat eine gebrochene Zunge, und lässt erkennen, dass sie hier schon lange zuhause ist.
Sie sagt: »Woher kommst du? Verstehst du mich?«
Ich antworte: »Ich wohne seit kurzem in diesem Viertel. Ihr Laden gefällt mir.«
Sie weiß nicht, ob ich die Wahrheit sage. Ich kann das Gesicht nicht sehen, aber ich spüre ihre zunehmende Entspannung. Sie wirkt locker und interessiert an mir.
Sie fragt: »Kommst du jetzt öfter? Wir haben gute Sachen für dich und backen jeden Morgen frisch.«
Es klingt wie ein Werbespruch. Sie duzt mich und sagt es mit Nachdruck. Ihre Gesten sind fordernd. Sie geht zurück hinter die Auslagen, nimmt das Stück Käsekuchen aus der Vitrine, wickelt es sorgfältig in Stanniolpapier ein, und kommt zu mir zurück.
Sie sagt: »Das kostet 2 Euro 50.«
Ich gebe ihr das abgezählte Geld. Sie gibt mir den Kuchen. Ich verlasse den Laden, nicht ohne ihr ein herzliches Dankeschön zuzurufen. Sie schaut wieder unsicher zu mir herab und ich spüre eine spontan entstandene Ratlosigkeit, die sich bis zu mir nach unten fortsetzt. Ich vermute, dass sie mir hinterher guckt, länger als bei ihren sonstigen Kunden. Sie weiß nicht, wen sie darüber um Auskunft bitten kann, wer ich bin und was gerade passiert ist. Ich beschließe wieder herzukommen und die Muslima an mich zu gewöhnen. Ich brauche Begegnungen und Freunde, die ich mir alleine aussuche. Ich überlege, ob ich das Stück Kuchen mit in meine neue Wohnung nehme, oder es in meinem neuen Viertel draußen auf der Wiese, oder auf einer Bank zu mir nehme. Ich bin unternehmungslustig. Das gegenwärtige Erlebnis hat mich bestärkt. Ich laufe los.
Es gibt schöne alte Häuser in diesem Viertel, überall Cafés, kleine Geschäfte und mehr Menschen auf den Straßen, als in dem Viertel, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe soviel zu bestaunen, dass ich aufpassen muss, mich bemerkbar zu machen, dass ich nicht übersehen und umgerannt werde.
Die meisten Leute sind mit sich selbst beschäftigt und nehmen mich nicht wahr, das kenne ich. Die Gegend ist neu, ich bin nicht gewöhnt an die Straßen und Wege und es dringt Neues in mich ein. Als ich um die nächste Ecke komme, sehe ich einen kreisrunden Platz.
Mir fällt eine kleine Ausbuchtung auf, die wie ein Buckel aussieht, der nicht ins geometrische Bild passt. In der Mitte steht aufrecht ein Springbrunnen, der übermütig seine große Fontäne ausstößt. Sie spritzt hoch in die Luft hinein. Das Wasser sprudelt nach allen Seiten.
Alle Bänke, die in der Sonne stehen, und ich will mich in die Sonne setzen, sind besetzt. Ein älteres Ehepaar steht umständlich auf. Es kann dauern. Die Sonne wird ihnen zu stark. Ich sehe die Frau blinzeln und sich die Augen reiben. Der Mann wirkt erschöpft und wischt sich mit einem alten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Ich stehe in einiger Entfernung von ihnen, warte geduldig und renne in dem Augenblick los, in dem der Mann als letzter die Bank verlässt. Ich habe mir die freie Bank erobert. Ich hangele mich schnell hoch und sitze mit baumelnden Beinen am äußersten Rand der Bank. Ich balanciere mein sorgfältig eingewickeltes Stück Käsekuchen und lege das Paket neben mir auf der Bank ab. Ich habe es geschafft und schaue mich in Ruhe um, was es hier gibt. Der Kuchen kommt an die Reihe.
Ich nehme das Paket wieder auf meinen Schoß, löse die Klebstreifen sorgfältig ab und entfalte das wenig geschmeidige, sperrige Einwickelpapier. Die Verkäuferin hat bei ihrer Sorgfalt übertrieben, sie macht mir das Auspacken schwer. Es ist ein sahnig käsiges, großes Stück.
Was hat sich die Verkäuferin nur dabei gedacht.