Frech wie Oskar - Dietrich Rauch - E-Book

Frech wie Oskar E-Book

Dietrich Rauch

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Beschreibung

»Frech wie Oskar« ist der Bearbeitungsversuch einer fiktionalen Dokumentation über die Begegnung eines Straßenkindes aus extrem prekären Verhältnissen in Kolumbien und einem über dreißigjährigen Mann aus der deutschen Mittelschicht auf seiner Reise durch Südamerika. Der Text versucht, die unterschiedlichen Ausgangssituationen der beiden Protagonisten darzustellen und sich dem schwierigen Prozess ihres Kennenlernens anzunähern. Der erste Teil beschreibt die Situation des Straßenkindes und des Gringos in Bogota und Kolumbien. Der zweite Teil protokolliert über sieben Jahre den Entwicklungs- und Lernprozess des Straßenkindes und seines neuen Vaters in Deutschland bis zum Abitur des Jungen. Nachdem es gelungen war, ihn zwei Jahre nach ihrem Kennenlernen in Bogota, als Sohn des Gringos nach Frankfurt zu holen. Die Handlung entspricht den tatsächlichen Ereignissen. Die Namen sind geändert und die Abläufe gestrafft. Der Text eignet sich bereits für Jugendliche ab 15 Jahren, da er einen Sozialisationsrahmen absteckt, der sie sehr unmittelbar betrifft, und ihnen die Möglichkeit der Empathie eröffnet.

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Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Frech wie Oskar
Über den Autor
Impressum
1. Der Junge
2. Orlando und Ferdinand
3. Die Verwandlung
4. Amaru
5. Chris
6. Benjamin
Ein Jahr später
7. Unterwegs
8. Santa Marta
9. Rückkehr
10. Orlando schafft es
11. Mathilde
12. Die Wohngemeinschaft
13. Henriette und die Folgen
14. Devken
15. Die erste eigene Wohnung
16. Bogota reloaded
17. Die Trauer
18. Leonie
19. Das Haus
20. Reisen bildet
21. Das Abitur

Dietrich Rauch

Frech wie Oskar

Über den Autor

Dietrich Rauch, aufgewachsen in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet seit 20 Jahren als freier Schriftsteller in Berlin. »Frech wie Oskar« ist sein zweiter Roman. Sein Debüt, »Früher wäre ich nackt durch den Regen gelaufen«, ist als Hardcover im Größenwahn Verlag und als Paperback im Main Verlag erschienen.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-147-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-647-9

Copyright (2022) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung eines Bildes, das vom Autor zur Verfügung gestellt wurde.

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

für Oscar

1. Der Junge

Ferdinand stand auf der Septima und überlegte. Er suchte ein billiges Quartier, verkommen sollte es nicht sein. Mutig lief er Richtung Süden. Auf der Septima war er mit seinem großen Rucksack ein allseits auffälliges Hindernis. Er wurde gestoßen, angerempelt, nicht immer absichtslos, und zu allem Überfluss in seiner ganzen Länge begafft. Indio Frauen kicherten offen und laut über den lang aufgeschossenen Gringo, aber Ferdinand mochte sie. Ihre geheimnisumwitterten, sorgenvollen, aber fröhlichen Gesichter, die ihn nicht aus den Augen ließen und lange mit ihren Blicken verfolgten, liebkosten seine Seele und hatten unfreiwillig Zugang zu seiner Einsamkeit. Es erschien ihm, als seien sie nicht von dieser Welt, obwohl es ihre Welt gewesen war, in der sie jetzt nur noch traurige Randfiguren abgaben. Ferdinand schmeckte dieser Gedanke wie faule Orangen, deren Saft er, in der Erwartung einer besonderen Köstlichkeit, nicht lange her, versehentlich getrunken hatte. Ferdinand wählte eine Seitenstraße, auf der es viele kleine Pensionen gab, die meist unscheinbar, mit kaum erkennbaren Klingelschildern, dadurch auf sich aufmerksam zu machen versuchten, dass sie selbstgefertigte Pappschilder an den Straßenrändern aufgestellt hatten, die im Verlauf der Zeit durch die starke Sonneneinstrahlung und den Straßenstaub längst schäbig und vergilbt aussahen. Er überlegte, ob sie augenscheinlich nicht zu heruntergekommen seien, als er ein unscheinbares Hostal bemerkte. Es hatte eine bunte Eingangstür. Die schmale Tür sah mit ihrer grellgelben Sonne und dem darüber gepinselten weißen Mond auf schwarzgrauem Hintergrund freundlich und einladend aus. Nach seinem ersten Eindruck konnte sie nicht teuer sein. Der Rucksack wurde immer schwerer und Ferdinand wollte sich endlich von der Last des Rucksacks und seiner drückenden Unbehaustheit befreien. An der Rezeption, die mit der Wohnung im Erdgeschoss verbunden und nur leicht abgetrennt war, saß eine ältere, mütterlich wirkende Mestizin, die ihn überschwänglich, ein einträgliches Geschäft witternd, laut und dazu heftig gestikulierend begrüßte. Obwohl Ferdinand der quirlig aufgeregte Empfang nicht sonderlich beeindruckte, wurden sie schnell handelseinig, da der Preis nicht hoch war und er endlich ankommen wollte. Langsam stieg er eine steile, sich immer stärker verengende Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Das Zimmer war schlicht und hatte ein einfaches Bett. In der Ecke stand eine Duschkabine mit einer Faltplastiktür, die Ferdinand abschreckte. Seinen minimalen Anforderungen an Sauberkeit hielt sie stand. Ob er sich hier zuhause und wohlfühlen könnte, würde er erst in den nächsten Tagen und Wochen wissen. Der junge Mann lud sein Gepäck ab und zahlte für die erste Nacht, wie das hier üblich war. Nachdem er seine Sachen in dem kleinen Schränkchen sortiert hatte, verließ er die Pension und atmete erleichtert auf, als er ohne Last wieder auf der Straße stand. Er hatte für heute keine konkreten Pläne. Sein Weg führte ihn, ohne dass er länger darüber nachgedacht hätte, zur Talstation des Monserrate, einem aufgeschütteten und über lange Jahre eingewachsenen Müllberg mitten in der Stadt, von dem Ferdinand sich einen Rundumblick über die Stadt versprach. Eine lange eingeübte und vertraute Gewohnheit, die Stadt als erstes vom höchsten Punkt zu betrachten, wenn er die Absicht verfolgte, in einer ihm bislang unbekannten Stadt zu bleiben und das Verweilen ein erstes Zeichen seiner sich steigernden Zuwendung ausdrückte. Die Wertsachen hatte er im Pensionszimmer zurückgelassen, hatte lange im Zimmer nach einem geeigneten Versteck gesucht und hatte endlich eine den Blicken möglicher Eindringlinge verborgene kleine Nische gefunden. Als Ferdinand das Haus verließ trug er nur ein paar Dollar in der rechten und einige Pesos in der linken Hosentasche. An der Talstation der Seilbahn angekommen, löste er ein Ticket für die Auffahrt. Aus der Kabine der Seilbahn, die zu diesem Zeitpunkt nur spärlich benutzt wurde, hatte er einen ersten fast ungehindert weiten Blick über Bogota. Ferdinands Bedürfnis nach Sicherheit und seine Lust auf Abenteuer ließen sich im fernen Frankfurt fast immer angemessen ausgleichen. Manchmal waren ihm die Gefühle entglitten, dann hatte er hart an der Wiederherstellung seines Gleichgewichts gearbeitet. War er selbst in seinen Gefühlen befangen und kämpfte gegen seine Dämonen, oder haderte mit seinem persönlichen Glück, merkte er, dass er in diesen unruhigen Zeiten nicht gut war, was seine künstlerische Arbeit betraf. Seinen Beruf verstand er als die Verwirklichung seiner selbst und hätte auch ohne Bezahlung gespielt und jeden Abend auf der Bühne gestanden, wenn er nicht auch viele andere schönen Seiten des Lebens so sehr geliebt und dazu das Geld dringend benötigte hätte. Seine Arbeit als Schauspieler hatte ihm viele Jahre einen weitgespannten und immer wieder erneut veränderten Spagat zwischen Last, Lust und Leben ermöglicht. Heute war er vogelfrei. Jeder in Bogota hätte auf ihn schießen oder ihn abstechen können, was fast täglich in dieser Stadt passierte, ohne dass es sonderlich bemerkt worden wäre. Hier gab es jetzt keinen mehr, der auf ihn gewartet oder um ihn getrauert hätte, und umgekehrt hatte er selbst alle Bindungen zu Deutschland abgebrochen und hinter sich gelassen. Beim Verlassen der Seilbahn umzingelten Ferdinand sofort die zahlreichen Verkäufer, gegen die sich niemand wirklich wehren konnte. Sie überhäuften ihn unerbittlich und aufdringlich mit fraglos allgemein nützlichen Gebrauchsgegenständen und dem üblichen Touristenzeug. Für ihn war beides wertlos, da er ein Reisender war, aber sich selbst nicht als Tourist wahrnahm und andere viel weiter gehende Ziele verfolgte, die er selbst noch nicht genau definieren konnte. Ein junger, noch verschlafen wirkender Indio bot Wasser an, das in Plastikflaschen abgefüllt war, bei denen man sich nie sicher war, ob sie mit gewöhnlichem Leitungswasser gefüllt waren, oder aus einer heimischen Fabrik stammten. Aber Ferdinand hatte sich, da er auf sich allein gestellt war, vorgenommen, seine Hygienevorstellungen zu überdenken, langsam zu ändern und sich den kolumbianischen Lebensverhältnissen stärker anzupassen. Sein Körper musste sich umstellen. Also kaufte er nicht nur eine Flasche Wasser, sondern auch ein mit schwarzen Bohnen gefülltes Empanada, das am frühen Morgen schon durch einige Hände gegangen sein musste. So früh gab es wenige ausländische Touristen an diesem entlegenen, aber bekannten Ort. Stattdessen liefen viele Einheimische durch die Gegend, die sich eingefunden hatten, um zu picknicken. Sie verrichteten vorher kurz ihr Gebet in der Kirche, oder kauften und verkauften, wie fast überall in Bogota, auch hier alles, was man sich nur im Entferntesten an Waren wie Dienstleistungen vorstellen konnte. Der persönlich direkte Handel spielte in diesem Teil der Welt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Er wurde regelrecht gefeiert. Obwohl Ferdinand klar war, dass der Straßenhandel den Lebensunterhalt vieler Bewohner Bogotas nur notdürftig sicherte, konnte er jeden Moment die Begeisterung wahrnehmen, mit der er betrieben wurde. Er freute sich darüber, ohne dass er es hätte wirklich nachvollziehen können. Schulklassen, die an ihrer farblich dunkel gehaltenen Schuluniform, die ihnen wesensfremd war, erkennbar waren, strömten an Ferdinand vorbei. Manche kicherten lauthals, andere machten unverständliche Bemerkungen, tuschelten, oder deuteten mit den Fingern auf ihn, der sich vorher gar nicht bewusst gewesen war, welches Aufsehen er erregen würde, und welche Lachsalven zeitversetzt über ihn hereinbrachen. Die Jugendlichen trugen tiefblaue Blazer mit aufwendig ausgeschmückten Schulwappen, die kunstvoll aufgenäht waren und auffällig abstanden, befremdlich in dieser bunten Umgebung. Nachdem Ferdinand noch unentschlossen herumgelaufen war, um einen geeigneten Ort für sein Frühstück zu finden, erstreckte sich vor seinen Augen eine Wiese im Sonnenlicht. Sie war fast menschenleer. Er entschied sich, hier seine Teigtasche zu essen, seine Gedanken zu ordnen und seinem Tagebuch anzuvertrauen, was ihn bewegte. Als er sein Empanada auspackte, beschlich ihn kurzzeitig ein ungewohntes Gefühl in der Magengegend, aber er war hungrig und die Teigtasche schmeckte anders, als er es noch beim Kauf erwartet hatte, aber vielleicht gerade deshalb exotisch und gut. Ferdinand setzte sich ins Gras und fing an zu schreiben. Er versuchte, seinen hin- und hergerissenen Gefühlen und Gedanken Sprache zu verleihen und Worte für das zu finden, was er in bestimmten Situationen nicht ausdrücken konnte. Denn er hatte festgestellt, Dinge und Menschen änderten sich in seiner eigenen Wahrnehmung, wenn er die Begebenheiten und Beobachtungen aufschrieb und festhielt. Die Gedanken entzogen sich dadurch der schnellen Vergänglichkeit.

Während Ferdinand jetzt seine Überlegungen sprachlich zu fassen versuchte, sah er, mehr aus den Augenwinkeln als direkt betrachtend, wie sich ein Kind auf der Wiese in der Sonne räkelte und nachdem es wach geworden schien, seine Blicke unverstellt und direkt in seine jetzt aufmerksamer werdenden Augen schickte. Er bemerkte einen kleinen, auf Füßen stehenden Holzkasten. Das Kind musste als Schuhputzer arbeiten. Im gleichen Moment betrachtete er unwillkürlich seine eigenen Schuhe und stellte fest, dass sie sich für den Schuhputzer als nicht verwendbar erweisen würden. Ferdinand schämte sich einen kurzen Augenblick dafür, dem Kind eine kleine Arbeitsleistung gestohlen zu haben, als er sich vorhin im Hostal für Flipflops entschieden hatte. Das Kind erhob sich langsam, fast träge, zunehmend katzenhaft, sah jetzt zielgerichtet dem jungen Fremden schon von weitem immer trotziger in die Augen und schlurfte, mit seinem Schuhputzkasten unter den Arm geklemmt, barfuß auf ihn zu. Dann schaute es, in der Zwischenzeit bei dem Gringo angekommen, noch aus gebührendem Abstand, neugierig auf ein offenes Tagebuch, das für ungeschulte Augen nur verwirrende Zeichen und Kritzeleien erkennen ließ. Mit verrutschter Lippe, die es merkwürdig zwischen die Zähne geklemmt hatte und die sein Gesicht in Schieflage brachte, sprach es den Gringo in genuscheltem Spanisch an.

»Zeichnest du mich?«

Beim letzten Wort hatte das Kind sich bereits völlig selbstverständlich neben den Fremden auf seinen Schuhputzkasten gesetzt und schien abzuwarten, dass etwas passieren würde. Weil sich Ferdinand noch nicht auf die Situation hatte einstellen können, antwortete er nach einer längeren Pause überaus vorsichtig, fast gehemmt entschuldigend.

»Nein, ich schreibe auf, was ich erlebt habe.«

Nach einer kleineren Pause fügte er hinzu.

»Ich komme aus Deutschland und bin gerade in Bogota angekommen.«

Das Kind dachte nach, da es sein Gesicht nochmals, jetzt in die andere Richtung verschob, so dass Ferdinand sich nur mühsam ein Lachen verkneifen konnte, da das Kind lustig, fast sogar komisch aussah. Dabei glotzte das Kind den Unbekannten aus seinen großen dunklen Augen an und fragte trocken und offensichtlich interessiert.

»Wie weit ist das?«

Unvermittelt und überzeugt stellte es, ohne eine Antwort abzuwarten, fest.

»Ich will es kennenlernen.«

Das Kind kannte offensichtlich den Namen des Landes, hatte aber keine genaue geographische Vorstellung davon.

Ferdinand war über die Direktheit des Kindes erstaunt, sie gefiel ihm außerordentlich. Er betrachtete das Kind näher.

Der Junge hatte mindestens drei T-Shirts aus verschiedenen Stoffen, Farben und Größen übereinander gezogen. Zwei zu weite Hosen hingen an seinem dünnen Körper. Obwohl seine Kleidungsstücke alt, dreckig und zerrissen waren, wirkte er anmutig verlumpt und stank nicht. Die Haare waren lockig, wuschelig lang und glänzten jetzt blauschwarz in der Sonne. Unter seinen abgekauten Fingernägeln saß der Dreck, ohne dass es Ferdinand sonderlich abschreckte. Er konnte elf, höchstens zwölf Jahre alt sein. Der Junge hatte sich jetzt dem Fremden zugewandt, betrachtete das Gesicht des großen Mannes und da ihre Köpfe sich sehr nah waren, sah er ihn noch unmittelbarer an, so dass Ferdinand, der zusätzlich von der Sonne geblendet wurde, unwillentlich ausweichen musste. Der Junge hatte ein Kindergesicht, das kleine, aber nicht zu verbergende Spuren eines erwachsenen Lebens trug. An winzigen Falten an den Augen und sichtbaren Vertiefungen in den Mundwinkeln entdeckte er mehr Gebrauchsspuren, als er sie bei Kindern dieses Alters gewohnt war. Ferdinand war mittlerweile hellwach. Hatte er vorher noch eine gewisse Trägheit verspürt, war während der Notizen immer wieder gedanklich abgedriftet und manchmal eingenickt, konzentrierte er sich mit allen seinen Sinnen auf die überraschend eingetretene Lage, die ihn herausforderte. Der Junge, dessen Mund sich pfiffig zuspitzte, drängte sich dicht neben ihn, als gehöre er zu dem Gringo dazu. Er schaute ihn einfach weiter an, ohne sich zu bewegen oder zu äußern. Ferdinand wurde verlegen. Erneut beschlich ihn Unsicherheit und im selben Moment entstandene Angst. Augenblicklich mochte er die leicht verschlafene, dennoch offene Art des Kindes. Das Gesicht des Jungen war weich, trotzig und herausfordernd zugleich. Er überlegte fieberhaft, was er sagen oder tun sollte, da der Junge ihn immer aufdringlicher mit seinem Blick zu taxieren schien. Noch schwiegen beide sehr beharrlich. Jeder von ihnen wartete ab, was weiter geschehen würde. Für Ferdinand war es eine fast nicht auszuhaltende Spannung, die ihn mit zunehmender Dauer langsam nervös werden ließ. Dem Jungen hingegen schien das Schweigen nicht unangenehm zu sein. Ein zufriedener, fast triumphierender Blick richtete sich auf sein Gegenüber. Die Erwartung galt dem Deutschen, der immer noch nicht wusste, was er sagen oder tun sollte. Das Kind hatte ihn überrascht, und obwohl Ferdinand es gewohnt war, in jeder Situation schlagfertig zu reagieren, suchte er, innerlich fast panisch, nach Worten und fand kein einziges. Die Sonne begann langsam zu wärmen. Ferdinand spürte sie in seinem Nacken und sie verhalf ihm allmählich zu klarem Denken. Er entspannte sich nur mühsam.

»Deutschland ist über zehntausend Kilometer entfernt und liegt auf einem anderen Kontinent.«

Spanisch war nicht Ferdinands Muttersprache und obwohl er es ausreichend beherrschte, bekam die Antwort einen belehrend steifen Ton, der Spanien zuzuordnen war und nicht Kolumbien. Der Junge mit den T-Shirts übereinander reagierte intelligent.

»Wo hast du Spanisch gelernt?«

Ferdinand konnte nichts mehr verblüffen.

»Ich habe einen sechswöchigen Spanischkurs in Valencia gemacht, um mich auf meine Reise nach Kolumbien vorzubereiten. Es liegt in Spanien. Ich bin froh, es mit dir ausprobieren zu können.«

Der Junge lachte. Er spürte die Zuneigung in Ferdinands Worten. Er wusste nicht, wo Spanien lag, aber dass sie dort dieselbe Sprache benutzten wie in Kolumbien, war ihm bekannt. Die notwendigen Voraussetzungen für ein Gespräch waren geklärt. Der Junge machte eine lange Pause und nahm dann erneut den Faden wieder auf.

»Was machst du hier? Warum bist du hier? Bist du Tourist? Arbeitest du hier? Was arbeitest du?«

Die Fragen kamen unaufgeregt und sicher, als hätte der Junge sie schon oft gestellt und bereits Routine damit. Ferdinand sah sich genötigt zu antworten, obwohl er nicht wirklich bereit dafür war.

»Ich habe viel über dein Land gelesen als ich noch in Deutschland war. Ich war Schauspieler an einem Theater und ich bin hier, um dein Land und seine Menschen kennenzulernen.«

Der Satz entsprach bei weitem nicht der Eloquenz des Gringos, aber Ferdinand war immer noch unentschlossen. Nach einer kleinen Pause fügte der Gringo stockend, mit trockenem Mund, und nachdem er seine eigene Schwelle des sich selbst zugestandenen Mutes überwunden hatte, hinzu.

»Kannst du mir deine Stadt zeigen?«

Ferdinand freute sich, dass er mit der für ihn mutigen Frage, die Aussicht eröffnet hatte, den zufälligen Kontakt nicht abbrechen zu müssen. Er wollte den Jungen für die Führung bezahlen, wenn der ihm schon die Schuhe nicht hatte putzen können. Das Kind ging mit keinem Wort und keiner Geste auf Ferdinands Frage ein, sondern sagte unvermittelt und selbstsicher.

»Ich bin Orlando. Wie heißt du?«

»Ferdinand«

Orlando wiederholte Ferdinands Namen und sprach ihn zunächst spanisch aus.

»Fernando«

Ferdinand bot ihm an, den Namen aufzuschreiben. Der Junge lachte unbefangen.

»Ich kann nicht lesen.«

Ferdinand war nicht erstaunt. Das klare Eingeständnis gefiel ihm.

»Willst du es lernen? Ich könnte dir ein paar Worte beibringen.«

Dem Fremden schien das eine gute Gelegenheit zu sein, sich nützlich zu machen und ihre Bekanntschaft auf solide Füße zu stellen.

»In Spanisch?«

»Ja klar. Was willst du mit Deutsch anfangen?«

»Ich will nach Deutschland.«

Ferdinand war sprachlos. Das Ansinnen schien ihm diesmal unverfroren, doch trug es der Junge mit glänzenden Augen vor. Ferdinand nahm seinen Stift, mit dem er gerade noch versonnen seine Gedanken festgehalten hatte, und schrieb ein erstes Wort auf Spanisch in sein Buch. Hola. Der Junge nahm das Buch in seine Hände, versuchte das geschriebene Wort zu erfassen und sprach es, nachdem er es mit der Hilfe des Deutschen entziffert hatte, leicht und spielerisch aus. Dann versuchte er in krakeliger Schrift die Buchstaben nachzuzeichnen. Es gelang ihm nur schwer. Er schaute den Deutschen fordernd an.

»Wie heißt das in deiner Sprache?«

Das Ablenkungsmanöver hatte nichts bewirkt. Ferdinand schrieb ‚hallo’ neben ‚hola’ und sprach das Wort extrem deutlich aus, als hätte er Schauspielschüler vor sich, die alle Worte über die berühmte Rampe bringen mussten. Der Junge bemühte sich, diese Zeichen selbstständig auf Papier zu bringen und stellte zu seiner eigenen Verwunderung Übereinstimmungen fest.

»Das ist ja fast gleich.«

Der Junge sprach das Wort ‚hallo‘ als eine Art Verheißung aus und wiederholte es fast angriffslustig und verwegen in unterschiedlichen Varianten, die seiner Mimik entsprechend unterschiedliche Möglichkeiten der Komik eröffneten. Er blickte abwechselnd frech in das Gesicht des Gringos oder neugierig auf dessen Tagebuch, und hielt sich an diesem ersten deutschen Wort fest, übte es und freute sich darüber, wie eben nur ein Kind sich freuen kann. Ferdinand empfand nicht die geringste Peinlichkeit dabei, sich einfach mit zu freuen. ‚hola’ war vergessen. ‚hallo’ wurde strapaziert.

Während Ferdinand jetzt vermehrt Fragen hatte und sie auch gerne ausgesprochen hätte, ließ ihm Orlando dazu keine Zeit mehr. Seinerseits überhäufte er ihn mit Fragen nach Deutschland und wartete ungeduldig auf schnelle Antworten.

Der Gringo war unschlüssig. Was konnte, was wollte er erzählen. Es schien ihm unangebracht, sein Leben vor dem Jungen auszubreiten, wusste er doch nicht, wie Orlando damit umgehen würde. Aber Ferdinand genoss in derselben Zeit, während sein Gehirn unermüdlich arbeitete, die Nähe des Jungen, der erstaunlich schnell einen kindlichen, vielleicht aber auch berechnenden Körperkontakt mit dem Gringo suchte und ihn immer wieder erneut aktiv herzustellen wusste. Ferdinand wurde zunehmend sicherer, drückte sich leichter aus, wurde lebendiger und öffnete sich einen Spalt breit. Er gab nichts Persönliches preis und blieb im Allgemeinen, während die Fragen Orlandos immer persönlicher wurden und ihm fast bedrohlich nahe rückten. Der Junge war nicht auf den Kopf gefallen und verfügte über ein erstaunliches Vokabular. Er zeigte Einfühlungsvermögen in die aktuelle Situation und in die Psyche Ferdinands. Er hatte schnell bemerkt, dass der Deutsche trotz seines sicheren Spanisch, seines offenen Auftretens und seiner zur Schau gestellten Lässigkeit unsicher war. Der Junge spürte instinktiv, dass der Gringo Angst hatte und deshalb verhalten, ja gehemmt reagierte, aber ihn trotzdem in irgendeiner, ihm noch nicht durchsichtigen Weise an sich heranlassen wollte. Der Junge, der kein Kind mehr war, aber es vielleicht gerne wieder gewesen wäre, stellte Anforderungen, die für Ferdinand schwer zu erfüllen waren. Er sprach mit ihm auf einer Ebene der Vertrautheit, die Ferdinand von Frankfurt bekannt war, aber auf dem über dem Slum thronenden Berg in Bogota war sie ungewohnt und irritierend, selbst für jemanden, der schnell Vertrauen fasste und herstellen konnte wie Ferdinand. Die Begegnung war unerwartet entstanden und hatte schnell Fahrt aufgenommen, aber sie machte Ferdinand gleichzeitig hilflos. Orlando schenkte ihm jetzt alle erdenkliche Aufmerksamkeit.

»Hast du eine Familie in Deutschland? Hast du Kinder? «

Dem Deutschen, der unter der leichten Last schwer atmete, ging das alles zu schnell. Er streikte kurzfristig, überlegte länger, als es der einfachen Frage angemessen war und wusste doch, dass er die Fragen sehr schnell ehrlich beantworten musste, wollte er die Begegnung verlängern und seine Haltung behaupten.

»Ich lebe allein. Ich habe keine Kinder.«

Prompt kamen die kindlichen Warum-Fragen, die Ferdinand weder beantworten wollte, noch wirklich konnte, weil er nicht bereit war, sich in so kurzer Zeit noch mehr zu offenbaren. Einem Schuhputzjungen gegenüber konnte er sich das beim besten Willen noch lange nicht vorstellen. Er fühlte sich gefordert, wurde zunehmend neugierig, hatte aber noch immer keine Strategie parat. Es war ihm trotz aller gedanklichen Ungereimtheiten angenehm, mit dem Jungen zu reden. Auch der Junge hatte seinerseits ein sicheres Gespür dafür, dass der Gringo ihn nicht einfach abschütteln und stehen lassen würde. Er empfand eine Anziehungskraft, wollte das Abenteuer, wie immer es aussehen würde, und hatte das noch vage Gefühl einer wirklichen Chance. Er musste seinen kindlichen Charme einsetzen, um sie wahrzunehmen. Ferdinand war nicht der erste Gringo, den Orlando sich ausgespäht hatte. Ferdinand fuhr etwas stockend und unentschieden fort, weil er wusste, dass das nicht die Antwort war, die der Junge erwartete.

»Ich habe viele Freunde, mit denen ich mich treffe und meine Zeit verbringe. Ich bin gerne frei und unabhängig.

Als Schauspieler brauche ich das. Für die nächste Zeit reise ich durch Südamerika.«

Der Deutsche hatte sich diesen Kompromiss abgerungen und schwankte zwischen Abschottung und Offenlegung. Dieses Kind hatte sich in kurzer Zeit einen Zugang zu ihm verschafft. Der Junge platzte vor Neugierde und war begierig zu hören und zu reden. Ferdinand kämpfte mit seinen Gefühlen und mit seiner Mitteilungsbereitschaft. Er war überrumpelt worden und suchte fieberhaft nach einer Gesprächstaktik. Er wollte nicht ins offene Messer laufen und wusste nicht, ob Orlando auf sein Herz oder auf seine Dollar zielte. Trotz der Höhe war es auf der Wiese in der prallen Sonne heißer geworden. Ferdinand kam ins Schwitzen und streckte sich lang aus und verschaffte sich Abkühlung. Der Junge saß neben ihm, lachte gelöst, fast frech, war ohne Hemmungen und verhielt sich manchmal übergriffig. Der Junge verhielt sich, als wären sie alte Bekannte, oder Freunde, die sich kennen und mögen und bei denen der Körperkontakt selbstverständlich dazugehört. Der Gringo hatte Schwierigkeiten zu reagieren und sich angemessen zu verhalten, obwohl seine Gefühle eindeutig für das Kind sprachen und er nicht ablehnend reagieren konnte, weil es seinen Empfindungen widersprochen hätte. Beide waren angespannt und versuchten zu deuten und zu entdecken, was den anderen umtrieb. Der eine, getrieben von seinem Versuch, auf der Straße zu überleben, sich zu vergnügen und vielleicht die Chance auf ein besseres Leben zu bekommen, und sei es nur für kurze Zeit. Der andere, ein junger, erwachsener Mann, auf der Suche nach sich selbst, nach dem Abenteuer, begierig auf Leben und Erfahrungen in einer ihm fremden Welt. Gab Ferdinand sich der Lächerlichkeit preis, da er das geschickt ausgesuchte Opfer war, oder verhinderte dieses Misstrauen eine wirkliche Begegnung? Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, er war mittendrin und kam nicht mehr unbeschadet heraus. Wenn er nicht Zuschauer bleiben wollte, und dafür waren das Gespräch und die gegenseitige Annäherung viel zu intensiv verlaufen, musste er handeln und dem Jungen zu verstehen geben, dass er an einem weiteren Kennenlernen interessiert war. Orlando zeigte Ferdinand seine Putzutensilien. Der Deutsche war erstaunt, welche Schuhcreme, Läppchen und Bürsten der kleine Kasten in sich barg. Er versuchte den Erklärungen und Erläuterungen zu den Arbeitsutensilien aufmerksam zu folgen, denn er hatte bemerkt, wie wichtig sie für Orlando waren. Der Junge hatte einen Beruf. Es war nicht einfach ein Job, wie Ferdinand es vorher unwissentlich bezeichnet hätte. In dem Besitz des Kastens und der Ausübung seiner Arbeit steckte eine entscheidende Identifikationsmöglichkeit. Orlando hatte sich damit, so klein er war, selbstständig gemacht. Vorher war er ein unbedeutendes Kind in einer Gallada gewesen, in der eine strenge Hierarchie herrschte, die sich an Alter, physischer Kraft, aber auch an Schläue und Intelligenz orientierte. Orlando erzählte Ferdinand in einem sich steigernden Wortschwall, dass er lange Jahre zu den unterschiedlichsten Jungen-Gangs gehört hatte. Der Kauf des Schuhputzkastens und das Erlernen dieses Handwerks bei einem etablierten Schuhputzer auf der Septima, wie Ferdinand erfuhr, hatte Orlando in eine andere Rolle und Position versetzt. Er verdiente auf ehrliche Weise Geld und arbeitete, wenn auch nicht den ganzen Tag. Er war ein kleiner Junge, der nach wie vor durch die Gegend streunte, aber absichtsvoll handelte und Kunden suchte. Er war stolz, eigenes Geld zu verdienen. Ferdinand begriff schnell, was das bedeutete. Orlando hatte begonnen, sich von den Abhängigkeiten in der Gallada zu lösen, musste und wollte nicht mehr teilen und ging einen von ihm selbst gewählten Weg. Er schien entdecken zu wollen, was der Gringo beabsichtigte. Meinte er es ernst, gab es Anzeichen, die einige Tage Zukunft versprachen? Ferdinands väterliche Gefühle für diesen vor ihm sitzenden Jungen vermischten sich mit dem Wissen über die aktuelle Lage der Straßenkinder in Kolumbien. So schnell war seine diffuse Sehnsucht nach Abenteuer und nach Begegnung mit dem Exotischen, auf die Wirklichkeit eines halbwüchsigen Jungen geprallt. Der Zufall, ein Kind, einen Menschen zu treffen, mit dem man redet, Gedanken austauscht und sich dann wieder trennt, hatte an diesem ersten Tag in Bogota, wo die Rollen so klar und oft gnadenlos verteilt waren, eine andere Dimension. Ferdinand war ein groß gewachsener Gringo, der sich mit seiner europäischen Herkunft identifizierte. Er war historisch mitverantwortlich für die Situation, dass es diese Straßenkinder überhaupt gab. Konnte es unter diesen Voraussetzungen eine unkomplizierte und normale Begegnung geben? Der Junge konnte sich Angst nicht leisten. Er hatte nicht die besten Erfahrungen mit Gringos gemacht, aber er war neugierig und er hatte seinen Traum. Seine Gedanken umkreisten die konkrete Situation. Was war drin für ihn? Geld, Essen, Zuneigung? Vorsichtig musste er sein. Er war ein Kind, das sich nach Nähe sehnte, aber nicht wusste, wie die aussehen konnte. Er hatte seinerseits viele Gringos als übergriffig erlebt, manche hatte er eindeutig provoziert. Welche Wahl hatte er? Er musste es versuchen. Orlando schaute vor sich hin, schaute Ferdinand an, nahm sich Zeit, er hatte Zeit. Inzwischen waren Stunden vergangen. Das ungleiche Paar saß im Gras. Das Gespräch war einer Rumalberei gewichen und das zweite und dritte deutsche Wort wurden geübt. Ferdinand dachte plötzlich, dass der Junge Hunger haben müsse. Er machte den Vorschlag essen zu gehen. Orlando ließ sich das nicht zweimal sagen, er kannte sich aus und übernahm die Führung auf dem Weg nach unten. Sie passierten die Seilbahn und verließen den Berg, diesmal zu Fuß. Es war ein beschwerlicher Weg nach unten. Mit Orlando als Begleiter hatte der Deutsche weniger Angst, aber es war anstrengend und er hatte körperliche Probleme bei der Bewältigung des steilen, steinigen Abstiegs. Auf dem Weg begegneten sie immer wieder unüberschaubaren, kleinen Menschenansammlungen junger Männer, die wild gestikulierten, sich lautstark stritten und ihnen dadurch den steilen Weg versperrten, der für den Gringo oft nur mit Hilfe Orlandos, der barfuß über die Steine lief, zu schaffen war. »Dealer«, erklärte ihm der Junge, ohne dass er näher darauf eingegangen wäre. Ferdinand wollte nicht weiter nachfragen, da es ihn genügend Kraft kostete, seinen Füßen das nötige Gleichgewicht zu verleihen, um nicht mit den Flipflops auf dem jetzt lockeren Geröll ständig abzurutschen. Dann hatten sie es endlich geschafft und gelangten auf die Septima. Ferdinand war atemlos, aber auch fasziniert von den durch seinen fachkundigen Begleiter neu gewonnenen Einblicken in das Leben dieser Stadt, in der er eine geraume Zeit bleiben wollte. Der lange Ferdinand in seinen grünen Latzhosen mit dem schwarzen Lockenschopf, daneben winzig, schmächtig, der Schuhputzjunge, der barfuß lief, auch er ein schwarzer Lockenkopf, seine Haare waren noch viel schwarzer als die Ferdinands, da sich dessen Haare schon deutlich zu lichten begonnen hatten. Sie stapften durch das Gewühl der Septima und wurden verfolgt von neugierigen Blicken und erstaunten Gesichtern. Misstrauisch und vorwurfsvoll, so nahm es Ferdinand wahr. Der Junge trug stolz seinen Kasten vor sich her und steuerte ein einfaches Restaurant an, das nicht unbedingt den Geschmack Ferdinands traf, doch er erklärte sich nach einem kurzen Augenkontakt mit der Wahl seines neuen Freundes einverstanden. Die neugierig missgünstigen Blicke nahm Ferdinand direkter wahr. Es war ein Spießrutenlaufen. Zur spontan reaktiven Abwehr setzte Ferdinand eine übertrieben selbstbewusste Miene auf, die fast schon etwas Herablassendes hatte. Er spielte souverän den überlegen unangreifbaren Gentleman. Auf so einer Bühne hatte Ferdinand noch nie gestanden und Applaus für sein Mienenspiel durfte er auch nicht erwarten. Im Lokal zeigte Orlando ihm das Angebot, indem er auf die in der offenen Küche ausgestellten Gerichte deutete. Der Junge wollte eine heiße Suppe, frittierte Kochbananen, Reis und Schweinefleisch. Der Gringo nahm Suppe und Salat. Das Fleisch sah eklig und fettig aus, es reizte ihn nicht. Sie setzten sich an einen dreckigen Tisch. Orlando war der stolze Eroberer. Ferdinand fühlte sich ständig beobachtet. Er hätte glücklich sein können. Hatte er nicht genau eine solche Begegnung gewollt und herbeigewünscht. Der Gringo schaute den Schuhputzjungen an, der während des Essens weitläufig erzählte. Die Anfeindungen von außen schlugen gezielt in seinem Nacken auf. War das nur ein Gefühl, oder behandelte man Gringos so? Ferdinand dachte, vermutlich würde er genauso starren, wenn er einen anderen Gringo mit einem Straßenkind durch diese Stadt spazieren sähe. Dabei war es passiert und setzte sich äußerst organisch fort. Sollte er sich der Macht der Vorurteile beugen? Ferdinand wollte sich und das Kind nicht enttäuschen, war neugierig, und der Junge berührte ihn. Er wusste nicht, wie es weiterging. Er hatte keinen Plan. Er überlegte nicht. Es geschah. Das Leben passierte. Doch wurde von ihm gefordert, dass er sich verhielt. Die Entscheidung lag ganz allein bei ihm. Beide saßen wie alte Freunde im Restaurant und wussten doch nicht, was danach geschehen würde. Ferdinand wusste nicht, ob Orlando etwas plante, das ihn verletzte oder negativ betraf. Orlando wusste das ebenso wenig von dem Deutschen. Es war Ferdinand unklar, wer mehr Angst hatte, oder ob der Junge überhaupt Angst hatte, oder sie sich leisten konnte. Zog der Junge das jeden Tag ab, war das seine Masche, um an das Geld der Touristen zu kommen? Wie hatten die anderen Gringos reagiert, wenn es sie gab? In Ferdinand tobten Gefühle und Überlegungen, die seinem Wissen und seiner Vernunft geschuldet waren. Warum konnte er nicht einfach mit diesem Jungen zusammensitzen und die Situation genießen? Er hatte in diesen wenigen Stunden so viel Neues über das Leben in Bogota erfahren. Soviel unerwartete Nähe war plötzlich zwischen ihnen da gewesen. Er hatte Orlando von seiner Schauspielerei erzählt und war ins Schwärmen geraten. Der Junge hatte leuchtende Augen bekommen. Er konnte zuhören, war interessiert und fragte nach. Theater kannte er. Der Junge hatte einmal bei einem Straßentheater zugeschaut und erzählte, dass er in seiner Gallada vor Publikum Musik gemacht hätte. Dann, wenn die großen Kinohallen nachts schlossen, die Menschen nach Hause strömten, standen sie zu dritt oder zu viert vor den Eingängen der Kinos und machten mit allen Gegenständen, die sie auffinden konnten, Musik. Sie bekamen Geld dafür und hatten das Gefühl, etwas dafür getan zu haben. War es schrecklich, Geld nur aus Mitleid zu bekommen? Stellte sich Orlando solche Fragen? Orlando übernahm wieder die Führung.

Nachdem Ferdinand gezahlt hatte, betrachtete er das Gesicht des Kellners, der lächelte. Sie verließen das Lokal. Es war Nachmittag. Der Junge führte den Deutschen stundenlang durch die Stadt. Selbstbewusst spazierten sie gerade an einer Gruppe von Straßenkindern vorbei. Ob Orlando sie kannte? Ferdinand ging davon aus. Er hörte Pfiffe, Feixen und Rufe. Der Junge hielt sich an seinem Kasten fest. Auch für ihn konnte es brenzlig werden. Stunden später erreichten sie einen kleinen Park. Orlando kannte den Park und fühlte sich dort zu Hause. Er hatte dort morgens in der wärmenden Sonne gelegen, um sich die Kälte der Nacht aus dem Körper zu vertreiben. Wenig später saßen sie in einem Café. Ferdinand zusammen mit einem Kind, das ein Junge war, der Schuhe putzte und ihn seit vielen Stunden vollständig in Beschlag genommen hatte, ohne dass er sich dagegen hatte wirklich wehren können und wollen. War das nicht zu viel für diesen Tag, würde es eine Fortsetzung geben oder war es eine Erfahrung wie viele andere auch? War die Begegnung mit Orlando morgen schon wieder vorbei und der Deutsche auf neuer Spurensuche? Im Moment sah es nicht danach aus. Obwohl beide sich erst kurze Zeit kannten, war klar, sie wollten mehr. Wie bei Menschen, die bei der ersten Verabredung feststellten, dass sie sich wiedersehen wollen. Ferdinand kannte das. Doch das Gegenüber war ein Halbwüchsiger. Das Interesse war vollständig anderer Natur. Einordnen konnte Ferdinand es nicht. Der Wunsch nach Nähe, die er immer suchte, das Gefühl, Schutz und Fürsorge geben zu können, drängte sich auf. Orlando trank eine Cola, während Ferdinand erschöpft vom langen Laufen einen Milchkaffee nahm. Der Kuchen war mächtig, mit viel Buttercreme und Zuckerguss. Jeder konnte sehen, dass Orlando ihn begeistert und begierig in sich hineinschlang. Der Gringo beobachtete ihn und freute sich, dass es ihm schmeckte. Auch wenn er dem Kind gern über den Kopf gestreichelt hätte, unterließ er es. Als beide das Café in der Dämmerung verließen, suchte Orlando etwas ungeschickt wegen des Größenunterschieds Ferdinands Nähe. Schroff, aber nicht wirklich gewaltsam, versuchte Ferdinand sich aus der Umarmung zu lösen. Orlando schaute ihm abwartend von unten ins Gesicht. Ihre Gesichter kamen sich nah, ohne dass sie sich berührt hätten.

»Wo schläfst du heute Nacht?«

»Vielleicht im Park am Hochhaus.«

»Ist es nicht kalt in der Nacht?«

Der Gringo hätte ihn gerne mit in sein kleines Hostal genommen, aber er war feige. Vor dem Jungen selbst hatte er keine Angst. Er schämte sich wegen seiner Rührseligkeit und Feigheit und konnte doch nicht aus seiner Haut schlüpfen. Orlando hatte den Tag keine Schuhe geputzt und nichts verdient.

»Wollen wir später am Abend noch zusammen essen? Ich will jetzt in meine Pension.«

Orlando schaute ihn skeptisch an. Ferdinand musste sich ausruhen. Der Tag hatte ihn überrascht und bei aller Freude über das Erlebte auch angestrengt.

»Wo wollen wir uns treffen?«

»Lass uns später am Eingang des Parks treffen. Ich werde davor noch ein paar Pesos verdienen.«

Die Uhrzeit festzulegen, war schwierig. Wenn Ferdinand es richtig verstanden hatte, sollte es spät sein. Er willigte ein, um die Situation nicht noch schwieriger zu machen. Er gab dem Jungen formal die Hand, der überrascht seine kleine Hand in die starke Hand Ferdinands legte.

»Hasta luego.

2. Orlando und Ferdinand

Orlando tauchte ins Getümmel ein und verlor sich im frühabendlichen Straßenalltag der Hauptstadt. In Gedanken an seine heutige Begegnung mit dem Gringo setzte er sich müde vor den geschlossenen Supermarkt an seinen angestammten Platz und bot seine Künste an. In Bogota ließen sich vor allem Männer die Schuhe putzen, Frauen waren zurückhaltender. Sie waren es nicht gewohnt, sich bedienen zu lassen. Die Kinder, die sich auf das Schuhputzgeschäft spezialisiert hatten, bekamen ein sehr geringes Entgelt von den Machos, die sie großenteils darüber hinaus noch beleidigten, manchmal schlugen und mit den frisch geputzten Schuhen traten, weil sie mit ihrer Arbeit nicht zufrieden waren, oder schlechte Laune hatten. Ein kleiner zurückgebliebener Fleck konnte der Auslöser sein. Touristen zahlten deutlich mehr und waren begehrt, sie verhielten sich freundlich, und reagierten ängstlich auf aggressive Forderungen, die Gesetze der Straße waren ihnen unbekannt. Die älteren, etablierten Schuhputzer besaßen Stühle, die schon Generationen überdauert hatten, sie übten ihren Beruf ein halbes Leben lang aus und hatten genauso klein angefangen, wie einzelne Straßenkinder. Nach langer Berufstätigkeit genossen sie Achtung und man vertraute ihnen nicht selten Geheimnisse an, wie in Deutschland dem Friseur an der Ecke. Dass sie keine Geheimisse blieben, war entweder Absicht der Mitteilenden oder es wurde billigend in Kauf genommen. Die kolumbianischen Männer waren da, wie überall in der Welt, nicht verschwiegener als Frauen. Der Junge hatte diese Geschäftsidee kürzlich umgesetzt und hatte sich durch Stehlen und Organisieren das nötige Zubehör beschafft. Er hatte es geschafft, verfügte über wenig professionelle Erfahrung, aber hatte Kunden, wenn auch wenige, die speziell zu ihm kamen. Gedanken darüber hatte er sich nicht gemacht. Mit rasender Geschwindigkeit säuberte er die Schuhe, packte Schuhcreme drauf und polierte nach. Er hatte Charme. Das gefiel den Machos, so dass er dann, und nur, wenn er fehlerlos geputzt hatte, mehr Pesos bekam. Der Schuhputzjob war einsamer als die Gallada. Orlando hatte sich von ihr entfernt. Es hatte Streitigkeiten gegeben, was ihm nicht gefiel. Eigenbrötlerisch und störrisch konnte er sein, dieser kleine Mann mit den auftrumpfenden Lippen und dem Schmollmund. Stur und abwehrend reagierte er, wenn er in irgendeiner Weise angegriffen oder auch nur ansatzweise beleidigt wurde. Die Gallada bot eine gewisse Macht, und wenn man dazugehörte, verschaffte sie ausreichend Schutz, um auf der Straße nicht ausgeliefert zu sein. Die Älteren beherrschten die Kleinen und kommandierten sie herum, wie sie es von klein auf gewohnt waren. Die Gamines schliefen nachts eng aneinandergedrückt, mit räudigen Hunden zwischen ihnen, bewusst abgegrenzt in ihren jeweiligen Galladas. Sie waren schmutzig, unmoralisch, wild, verwegen, verlaust und verlassen. Desperados in einer brutalen Erwachsenenwelt, der sie sich entzogen hatten und an die sie sich anpassen mussten, um in dieser Gesellschaft zu überleben. Wo in diesem Land die Kindheit endete, und wo das Erwachsenwerden anfing, hätte niemand sagen können. Die Kinder wurden in ihren Familien von klein auf als Teil des Ganzen angesehen. Alle mussten für die Familie da sein, auf die jüngeren Geschwister aufpassen, einkaufen, im Haus helfen, aber auch wichtige, verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen, in einem Alter, in dem die Kinder in Europa in ihrer eigenen Spielwelt lebten. Unter den Straßenkindern waren viele aus den untersten Schichten, deren Familien zu Hause überfordert waren und fast täglich mit Tritten und Schlägen auf die Kinder reagierten. Die Kinder wurden mit Diensten konfrontiert, die sie verabscheuten. Sie wurden von ihren Vätern und Onkeln vergewaltigt und nicht selten auf den Strich geschickt, Mädchen wie Jungen. Der Markt in Bogota nahm sie problemlos und mit offenen Armen auf, egal welches Alter sie hatten. Das Geschäft der Chulos blühte ungehindert. Keinen kümmerte das, wenn es entweder in der Familie geschah oder die Väter es veranlasst hatten. Wo es keinen Kläger gab, konnte der nach außen martialisch auftretende, aber in Wirklichkeit schwache Staat diese Delikte unzureichend verfolgen und viele hoch dekorierte Polizisten steckten tief in dem System der Unterwelt mit drin. In solchen Fällen war alles besser, als zu Hause zu sein, viele Jungen hauten ab.

Für die Mädchen war das schwieriger, da sie enger im Haushalt eingebunden waren und ihre Möglichkeiten auf der Straße längere Zeit in der Männergesellschaft zu überleben, sehr gering ausfielen. Die Jungen hatten es in dieser Beziehung leichter, da sie die Straße durch ihre Botengänge und ihre kleinen Raubzüge mit oder ohne Väter besser kannten. Ihre Familien suchten selten nach ihnen. Fast nie zeigten die Eltern das Verschwinden ihrer Kinder bei der Polizei an. Im häuslichen Elend waren die Verschwundenen ein Esser weniger, auch wenn ihre Arbeitskraft wegfiel. Entschieden wurde nach dem Nutzen des Kindes für den Familienclan. Für Verantwortlichkeiten und Zuneigung war die Not zu groß und das Leben unerbittlich fordernd.

Orlando war lange Jahre Teil des Systems der Gallada gewesen. Dann war er herausgefallen, hatte sich selbst von seiner Gallada entfernt und sich seine Selbstständigkeit erkämpft. Er schlich sich in einer Nacht davon und er wusste genau, was das bedeutete. Er verzichtete auf Schutz, er war ab jetzt ein Einzelkämpfer, und ab diesem Zeitpunkt allein. Er hatte die selbstverständliche Obhut der Gruppe aufgegeben und ein anderes Leben gewählt. Doch tun und lassen zu können, was er wollte, war reizvoll. Der Junge hatte anarchische Züge, gleichzeitig war er mittellos. Alles, was er besaß, klebte an seinem Körper, hing übereinander wie an einem Kleiderständer. Sein Arbeitswerkzeug musste ihn ernähren.

Als Ferdinand spät abends den Park erreichte, war es dunkel. Er war noch in Gedanken, als ihm jemand recht unsanft seine kleinen Hände von hinten um die Hüften schlang. Es war Orlando, der schon gewartet, ihn kommen gesehen, und sich eine kleine Überraschung ausgedacht hatte. Ferdinand stockte kurz der Atem, er war ahnungslos. Der Junge empfing ihn wie einen alten Bekannten.

»Ich habe nicht gedacht, dass du kommst. Die Gringos versprechen viel und dann verschwinden sie. Hast du keine Angst, so spät im Park?«

»Ich denke, du beschützt mich. So mutig bin ich nicht. Gehen wir?«

Orlando grinste. Zweifel äußerte Ferdinand nicht, weil er spielerisch genoss, sich auf eine unbekannte Zukunft einzulassen. Der Junge war auch in der Nacht barfuß, hatte dieselben T-Shirts übereinander gezogen, den Schuhputzkasten in der rechten Hand und schaute entschlossen und übermütig in die Gegend.

»Diesmal schlage ich etwas vor.«

Sie gingen dicht nebeneinander auf der Septima. Dasselbe Bild wie am Nachmittag. Der Verkehr war immer noch angespannt, die Leute und die Lichtreklamen überwältigend schrill und höllisch laut. Die Menschen auf der Straße schenkten ihnen wegen der späten Stunde keine Beachtung mehr. Der Gringo hatte sich überlegt, in ein bescheidenes, aber besseres Mittelklasserestaurant zu gehen, weil er neben dem Hunger auf besseres Essen auch daran interessiert war, wie die Leute hier auf sie reagieren würden. Orlando war es recht. Er war nicht mehr allein und mit dem Gringo würde er nicht rausgeschmissen werden, da war er sich sicher. Ihr Größenunterschied war beträchtlich. Ferdinand schaute immer wieder zu ihm hinunter. Er sprach mit ihm über den frühen Abend. Der Junge hatte viel zu erzählen. Endlich entdeckte Ferdinand ein mäßig besetztes Restaurant. Mit der Selbstsicherheit eines Frankfurter Linken nahm er Orlando an die Hand und sie spazierten ins Restaurant. Anfangs empfing sie ein tönender Redeschwall. Er ebbte ab, erst langsam, dann verdächtig schnell. Alle Blicke waren plötzlich auf sie gerichtet. Orlando strebte zu einem freien Tisch in der Nähe des Eingangs und zog Ferdinand nach sich. Der Junge kümmerte sich nicht um die Meinung der Leute, denn er kannte Ablehnung und Ausgrenzung zur Genüge. Der Deutsche zeigte sein sympathischstes Lächeln, verhielt sich abwartend, aber ließ keine Angst vor den Gästen erkennen. Sie setzten sich auf ihre Plätze. Als Schauspieler konnte Ferdinand spielend alles behaupten und in jeder Situation angemessen improvisieren. Die Gespräche im Lokal wurden nur zögerlich fortgeführt. Von allen Seiten trafen sie vorsichtige Blicke. Der Gringo richtete sich ein und sah sich um. Konnte es sein, dass sich die Gäste bei ihren Vorurteilen ertappten? Konnte es sein, dass sie mit Schuldgefühlen belastet waren? Ein Kellner näherte sich dienstbeflissen. Ferdinand schaute kurz auf und vertröstete ihn dann. So schnell wie er gekommen war, entfernte sich der Kellner wieder, und war erstaunt über den spanischen Redefluss, aber mehr noch über den Anblick des dreckigen Jungen. Es passte nicht. Während der Deutsche die übrigen Gäste weiter genau betrachtete und in ihren Mienen zu lesen versuchte, wurde der Junge ungeduldig. Er konnte die vor ihm ausgebreitete Speisekarte nicht lesen, hatte aber durch die ringsum üppig verteilten Speisen Appetit bekommen. Die Küche selbst war hier nicht offen und die Gerichte deshalb auch für den Jungen nicht sichtbar. Das gefiel Orlando gar nicht. Ferdinand warf einen Blick auf die Karte.

»Was möchtest du essen? Magst du Fleisch, Fisch, Reis, Gemüse oder eine Suppe?«

Orlando war überfordert. Er wollte eine warme Suppe mit Kutteln. Ferdinand rief den Kellner, bestellte das Gewünschte für seinen Begleiter und für sich eine Suppe mit Hühnchen. Orlando wollte eine Cola trinken, Ferdinand entschied sich für einen Mango Saft.

»Ich habe heute viel fotografiert.«

Orlando musste lachen als er sich daran erinnerte, dass ihn der Gringo in vielen witzigen und ungewöhnlichen Posen fotografiert hatte, immer schnell, viele Fotos hintereinander weg. Er mochte die Kamera und genoss es, fotografiert zu werden. Normalerweise wurde er schamvoll von weitem, oder in provokativ aufgesetzten Foto Shoots aus der Nähe abgelichtet, für ein paar Pesos, die ihm die Fotografen manchmal ausgehändigt hatten. Gesehen hätte er die Bilder nie, erzählte Orlando, obwohl er es sich sehr gewünscht hatte.

»Wann kann ich deine Bilder sehen?«

»Sie müssen erst entwickelt werden. Ich lasse das bald machen.«

»Und wieso hast du mich fotografiert?«

»Ich will unsere Begegnung festhalten, damit ich meinen Freunden in Deutschland von dir erzählen kann.«

»Du hast sicher viele Freunde in Deutschland. Aber die kennen mich doch gar nicht. Kann ich sie kennenlernen?

Ich will nach Deutschland. Nimmst du mich mit?«

Der Junge setzte einen Mitleidsblick auf, den Ferdinand gleichzeitig abstoßend, bedrängend und erschütternd fand. Er stutzte, war erneut erschrocken, fasziniert und verwirrt, und wusste nicht, wie er mit dem nun schon zum wiederholten Mal an ihn herangetragenen und nach so kurzer Zeit für ihn unangemessenen Wunsch umgehen konnte. Er hielt Orlando für naiv, verloren, neugierig, und offen für alles, was ihm Abwechslung und Veränderung bringen könnte. Er dachte, der Junge wolle zu jemandem gehören und wusste genau, wie er sich verkauft.

»Naja, das ist sehr weit, wie ich dir heute Morgen erzählt habe, und es könnte schwierig werden. Ich kann dich doch nicht einfach mitnehmen. Außerdem reise ich von hier aus irgendwann weiter.«

Der Gringo wurde ärgerlich. Die Situation rückte zu nah an ihn heran und machte ihm diesmal regelrecht Angst.

Orlando dachte nach und spürte, dass der Gringo nicht völlig ablehnend reagiert hatte.

»Warum nicht? Ich kann mit dir reisen. Du kannst mich mitnehmen. Keiner vermisst mich. Ich habe hier Niemanden.«

Das Essen kam. Ferdinand war froh, dass es einen Themenwechsel gab. Die Suppe war heiß, so dass sich Ferdinand beim ersten Löffel die Zunge verbrannte. Orlando schaufelte die heiße Suppe schnell in sich hinein, als könne sie ihm weggenommen werden. Er schlürfte laut und vernehmlich und erregte erneut große Aufmerksamkeit im Lokal. Einen kurzen Moment war es Ferdinand peinlich. Dann grinste er auf verschwörerische Art und begann ebenfalls seine Suppe lautstark zu schlürfen. Es machte beiden Spaß. Im Restaurant ebbten die Gespräche erneut ab, es entstand kurzzeitiges Schweigen und man hörte nur Ferdinand und Orlando laut schlürfen. Der Deutsche befürchtete, es könnte etwas passieren, aber es geschah nichts. Gesprächsstoff waren sie. Der Gringo aus Frankfurt (niemand wusste das) mit dem Straßenkind aus Bogota (das sah jeder). Ferdinand und Orlando redeten nicht. Das Suppenschlürfen beschäftigte sie eine lange Weile. Bald hatten sie die Aufmerksamkeit der Gäste wieder verloren. Man hatte sich daran gewöhnt. Die Menschen dieser Stadt waren mit allen Wassern gewaschen. Eine Acht-Millionen-Stadt kannte keine Ruhe und es gab nichts, was hier nicht schon einmal erlebt worden war.

»Ich will noch Schweinefleisch mit Kochbananen.«