Die Musik des Jenseits - Carolin Sandner - E-Book

Die Musik des Jenseits E-Book

Carolin Sandner

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Beschreibung

Kann wahre Liebe alle Grenzen überwinden?Stanley ist tot. Der Drummer der Rockband "The Ravens" hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Und zurück bleiben seine Fans, seine Band und allen voran Dana, die Liebe seines Lebens. Mitten in ihrer unfassbaren Trauer nimmt sie auf einmal Zeichen wahr. Zeichen von Stanley. Und ein Funken Hoffnung keimt in ihr auf. Gibt es sie, die einzige, alles überdauernde Liebe? Haben die beiden eine Chance, obwohl Welten sie trennen? "STAKKATO" ist der Auftakt der paranormal Romance Trilogie "Die Musik des Jenseits".

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Seitenzahl: 412

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MYSTIC

VERLAG

Roman Paranormal

Romance

STAKKATO

Die Musik des Jenseits

CAROLIN SANDNER

-

2023

© Mystic Verlag

Text: Carolin Sandner

Titelillustration: Julian Ehrgott

Umschlaggestaltung: Stephanie Ziegler Satz: Stephanie Ziegler

Lektorat: Isabella Kaden

Korrektur: Andreas März

Druck und Bindung: Books on Demand ISBN: 978-3-947721-60-3

Interessierte Leser und Autoren finden weitere Informationen auf unserer Webseite.

www.mysticverlag.de

Mystic Verlag

Karl-Theodor-Str. 28a

66954 Pirmasens

4

Inhalt

Erster Teil

8

Eins – Jetzt – Dana

9

Zwei - Jetzt – Stanley

24

Drei – Jetzt – Dana

35

Vier – Jetzt – Stanley

46

Zweiter Teil

58

Fünf – Damals – Dana

60

Sechs – Jetzt - Stanley

70

Sieben – Jetzt – Dana

78

Acht - Jetzt – Stanley

89

Neun – Jetzt - Stanley

100

Zehn – Damals – Dana

103

Elf - Damals – Dana

114

Zwölf – Jetzt – Stanley

124

Dreizehn – Jetzt – Dana

132

Vierzehn – Damals – Dana

144

Fünfzehn - Jetzt – Dana

153

5

-

Sechzehn – Damals – Stanley

162

Siebzehn - Damals – Stanley

176

Achtzehn – Damals – Dana

188

Dritter Teil

198

Neunzehn – Diesseits – Dana

201

Zwanzig – Jenseits – Stanley

212

Einundzwanzig – Jenseits – Stanley

227

Zweiundzwanzig – Diesseits – Dana

235

Dreiundzwanzig – Jenseits – Stanley

245

Vierundzwanzig – Diesseits – Dana

255

Fünfundzwanzig – Diesseits – Dana

267

Sechsundzwanzig – Jenseits – Stanley

278

Siebenundzwanzig – Diesseits – Dana

289

Achtundzwanzig – Jenseits – Stanley

312

Neunundzwanzig - Jenseits – Stanley

327

Dreißig - Diesseits – Dana

338

Einunddreißig - Jenseits - Dana

343

Epilog

346

6

„Ich sterbe, aber meine Liebe zu euch stirbt nicht.

Ich werde euch vom Himmel herab lieben, wie ich euch auf Erden geliebt habe.“

Hieronymus (347-420)

7

-

8

Erster Teil

9

-

12

Eins – Jetzt – Dana

Horrornachricht

„Himmelherrgott noch mal, können Sie nicht aufpassen?“

Der ältere Herr im feinen grauen Zwirn kam so schnell um die Ecke geradelt, dass mir keine Reaktionszeit blieb. Ich hatte gerade mein Auto in ein winzig kleines Nadelöhr ein-geparkt, war herum gegangen, um mich an der Beifahrerseite mit all meinen Tüten und Taschen zu bepacken und hatte die Autotür schwungvoll mit meinem Hinterteil ins Schloss geworfen, als der graue Blitz direkt in mich herein fuhr. Ich geriet ins Straucheln, die erste Tüte flog in hohem Bogen, die Zweite riss, und Äpfel, Tomaten und Paprika kullerten mir in einem lustigen Reigen auf die Füße. Ich fiel und landete völlig perplex auf dem Hosenboden.

„Sie stehen auf einem Radweg, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte!“, schimpfte der Mann erbost.

Wütend richtete er die Klemmen an seinen Hosenbeinen und fuhr danach einfach weiter. Nach wenigen Metern drehte er sich noch einmal um, um mir einen Vogel zu zeigen. Offenbar war es ihm völlig gleichgültig, ob ich mich verletzt hatte.

Eine Passantin kam herbeigeeilt, half mir beim Aufstehen und sammelte notdürftig meinen Einkauf wieder ein. Langsam erholte ich mich von dem Schock. Ich blies mir eine rote Locke aus der Stirn, eine Angewohnheit, die mir schon seit Kindertagen half, Zeit zu gewinnen und mich zu sammeln.

11

-

„Geht es Ihnen gut?“, wollte die Frau wissen. „Eigentlich müsste man auch Fahrräder mit Kennzeichen ausstatten.

Dann könnten Sie diesen Rowdy wenigstens anzeigen!“

Ich klopfte mir den Dreck von der Kleidung, untersuchte kurz meine Hände und beschloss dann, dass ich noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen war.

„Ich glaube, es wird gehen! Zum Glück wohne ich direkt hier gegenüber. Vielen Dank für Ihre Hilfe!“

Nachdem die fremde Frau mir noch ihre Visitenkarte gegeben hatte, „Man weiß ja nie, vielleicht brauchen Sie mich ja doch noch irgendwann als Zeugin!“, wuchtete ich meine Einkäufe auf meine Arme und überquerte die Straße.

Vor dem alten Haus mit den Efeuranken an der Wand blieb ich stehen, fischte meinen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Das Treppensteigen bis hoch in den dritten Stock war nach meinem Sturz jetzt doch etwas anstrengend. Jeder einzelne Muskel schmerzte wie nach einer Prü-gelei.

Am besten direkt in die heiße Wanne, entschied ich. Während ich mir das Badewasser einlaufen ließ, räumte ich die Lebensmittel, die den Sturz überstanden hatten, in den Kühlschrank, den Rest schmiss ich weg.

Als ich mich im Badezimmer voller Vorfreude auf die heiße Wanne auszog, klingelte mein Handy. An der Melodie erkannte ich, dass meine Mutter dran war. Dadurch, dass sie mich so früh bekommen hatte, war sie mehr eine Schwester als eine Mutter für mich, weswegen ich sie meist bei ihrem Vornamen nannte.

Nein, auf Stella habe ich jetzt gerade überhaupt keine Lust, beschloss ich und stieg in das duftende heiße Wasser. Ach, tat das gut!

Meine Mutter Stella war eine Frau, die immer genauestens wusste, was in mir vorging. Und wenn uns auch ein ganzer 12

Ozean trennte, ihr konnte ich nichts vormachen. Dementsprechend würde sie wahrscheinlich schon an meiner Stimme erkennen, dass etwas nicht stimmte.

Das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte, war ein Ratschlag meiner Mutter, und wenn er noch so gut gemeint war.

Ich streckte mich lang aus und entspannte mich. Ein harter Tag lag hinter mir.

Seit einiger Zeit arbeitete ich als leitende Physiotherapeutin in der Rehaabteilung einer großen Klinik. Ich war die Erste, die kam und die Letzte, die ging. Abend für Abend fiel ich todmüde ins Bett.

Meine Freunde beschwerten sich mittlerweile schon, dass sie mich gar nicht mehr sahen.

Auf der einen Seite hatte ich deshalb ein schlechtes Gewissen, auf der anderen Seite wusste ich aber auch, dass ich die Arbeit brauchte, um nicht nachdenken zu müssen.

Würde ich mein Pensum reduzieren, mir mehr Freizeit gönnen, würden zwangsläufig wieder Gedanken an Stanley hochkommen. Und hierfür war ich – und das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers – einfach noch nicht bereit.

Bis zur Erschöpfung arbeiten, funktionieren wie eine Maschine, das war im Moment die einzige Möglichkeit zu überleben.

Im Wohnzimmer klingelte wieder das Handy, und wieder war es Stella. Sie konnte ganz schön penetrant sein.

Ein abschließender Signalton teilte mir mit, dass meine Mutter mir jetzt eine Nachricht hinterlassen hatte. Seltsam, normalerweise war sie ein sehr geduldiger Mensch, der sich anderen nicht aufdrängte.

Also musste es sich um etwas Wichtiges handeln.

13

-

Seufzend erhob ich mich aus der Badewanne, wickelte ein Handtuch um meine langen roten Haare und schlüpfte in meinen Bademantel.

Im Flur fiel mein Blick auf den Anrufbeantworter.

Das rote Lämpchen blinkte auffordernd vor sich hin.

Merkwürdig, im 21. Jahrhundert waren ja Festnetztelefone fast aus der Mode gekommen.

Wenn überhaupt mal jemand auf meinen Anrufbeantworter sprach, dann war es meist eine Behörde oder mein Arzt.

Aber jetzt zeigte die Anzeige sieben neue Nachrichten an.

Stirnrunzelnd drückte ich auf „Play“.

Zweimal hatte meine Mutter innerhalb der letzten zwei Stunden um Rückruf gebeten.

Ihre Stimme klang entsetzt, geschockt. Seltsam, so kannte ich sie gar nicht…

Und fünf Anrufe in Abwesenheit, allerdings schon heute Vormittag. Ich ließ mir die Nummer anzeigen. 856020. Stanleys Nummer! Mir gefror das Blut in den Adern. Seit einem halben Jahr hatte er sich nicht mehr bei mir gemeldet. Was hatte das zu bedeuten?

Mit gemischten Gefühlen griff ich im Wohnzimmer nach meinem Handy. Auf der Mailbox war – wie nicht anders erwartet – meine Mutter.

„Dana, bitte ruf mich an, so schnell du kannst! Es geht um Stanley!“

In mir stieg eine ungute Vorahnung auf.

Seit der schmerzhaften Trennung vor einem halben Jahr war Stanley zwischen meiner Mutter und mir ein absolutes Tabuthema.

Er hatte mich kurz vor unserem geplanten Urlaub an die amerikanische Westküste „geghosted“, hatte auf keine von meinen Nachrichten mehr reagiert, sein Telefon abgestellt und seine Haustür nicht mehr geöffnet.

14

Es war mir nicht mehr möglich gewesen, zu ihm durchzudringen; er war einfach wie ein Geist aus meinem Leben verschwunden, ganz so, als wären wir nie ein Paar gewesen.

Für mich war eine Welt zusammengebrochen. Stanley und ich hatten von der allerersten Begegnung an eine tiefe See-lenverbundenheit gespürt, die wir beide zuvor noch nie erlebt hatten.

„Für immer“ waren immer die letzten beiden Worte am Telefon und in Kurznachrichten gewesen.

Nach der Trennung vor einem halben Jahr fühlte ich mich, als hätte man mir bei lebendigem Leib das Herz herausgeris-sen.

Ich bekam keinen Bissen mehr herunter, konnte weder schlafen noch arbeiten. Kleinste alltägliche Dinge wie putzen oder waschen fielen mir unglaublich schwer.

Nachdem mein Hausarzt mich mehrere Wochen krankge-schrieben hatte, entschied er, mich in eine Kur zu schicken.

Diagnose: „Akutes Burn-out“.

Auf dem Formular hätte auch „Diagnose Marsmännchen-invasion“ stehen können, es wäre mir egal gewesen. Ohne Stanley war ich nichts, ich fühlte mich wie betäubt, mir war alles egal.

Stella hatte damals meine Tasche gepackt und mich zur Kur in die Rehaklinik gefahren, die sich tatsächlich als lebensrettend herausstellen sollte.

In langen Gesprächen, sowohl in der Gruppe als auch einzeln mit einer Psychologin, lernte ich meine Situation anzunehmen und wieder Verantwortung – zumindest für kleine alltägliche Aufgaben – zu übernehmen.

Die Schlafstörungen dauerten mehrere Monate an, und auch mein Appetit kam nur äußerst bedingt zurück. Es war, als sei mir jeglicher Genuss am Leben genommen worden.

Ein Leben ohne Stanley fühlte sich an wie kein Leben.

15

-

Das letzte halbe Jahr war extrem hart für mich gewesen, aber ich hatte überlebt. Irgendwie. Und jetzt sollte ich meine Mutter anrufen, weil irgendwas mit Stanley los war. Tief in meinem Inneren rief eine Stimme:

Mach es nicht. Melde dich nicht. Das willst du doch garnicht!

Aber mir war klar, dass ich diesen Anruf tätigen musste.

Wie ferngesteuert griff ich zum Hörer und wählte Stellas Nummer. Nach dem dritten Klingeln wurde abgehoben.

„Dana? Bist du das?“

„Ja klar, wer denn sonst?“ Schließlich erschien doch meine Nummer auf dem Display.

„Dana, du musst so schnell wie möglich kommen. Wir sind im Krankenhaus. Mike ist auch hier. Wenn du direkt los-fährst, kannst du es in einer Viertelstunde schaffen!“

Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Mike war Stanleys Bruder, sein Bandkollege und gleichzeitig auch sein bester Freund. Und genau aus diesem Grund war Mike im letzten halben Jahr ein ebenso rotes Tuch für mich gewesen wie mein Ex.

Stella wusste das und tolerierte es, wenn auch nicht ganz freiwillig. In ihrer Rolle als „Stammesmutter“ hatte sie sich immer sehr wohl gefühlt.

Unzählige Male hatten die Ravens nach Bandproben noch auf ein Glas Wein oder ein Bier bei ihr vorbeigeschaut. Sie betrieb eine kleine Kneipe und hatte stets ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte all ihrer Gäste.

Die Ravens als Stammgäste zu verlieren, war Stella damals nicht leicht gefallen, aber da das Seelenheil ihrer Tochter für sie immer an erster Stelle stand, hatte sie diesen Umstand kommentarlos akzeptiert.

Die Ravens waren bald darauf international bekannt geworden, tourten durch ganz Europa und ließen sich nicht mehr sonderlich häufig in unserem kleinen verschlafenen 16

Nest blicken, wo sie allerdings alle noch ihre Wohnungen hatten.

Warum in aller Welt waren jetzt also Stella und Mike im Krankenhaus? Das verhieß nichts Gutes.

„Mama, was ist passiert?“

„Komm einfach her, Süße, wir sprechen dann. Fahr erst mal in Ruhe hierher und dann erfährst du es. Aber beeil dich!“

„MAMA! WAS IST PASSIERT? SAG ES MIR BITTE!“

Mein Tonfall ließ kein weiteres Ausweichen mehr zu.

„Stan… er… er hat…“ Stellas Stimme brach. Man konnte deutlich hören, wie sie versuchte, ihr Weinen zu unterdrü-cken. Sie rang um Fassung. „Er hat versucht, sich umzubrin-gen. Die Ärzte kämpfen hier um sein Leben.“

In meinem Kopf begann es zu rauschen. Selbstmord …

Dass Stanley depressiv war, hatte ich seit langer Zeit vermutet. Nein, eigentlich wusste ich es sogar, seit ich ihn kannte, obwohl ich es mir nicht hatte eingestehen wollen.

Auch dass ihn von jeher eine gewisse Todessehnsucht um-trieb, war ein offenes Geheimnis. Wahrscheinlich war das genau die Ausstrahlung, die ihm die meisten weiblichen Fans einbrachte, was die anderen Bandmitglieder der Ravens ein wenig neidisch machte.

Oft hatte er über das Jenseits philosophiert und auch keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich bereits auf sein nächstes Leben freute. Zu viele schreckliche Erfahrungen stahlen ihm immer wieder die Lebensfreude…

Ich war mir dessen bewusst, hätte aber nie im Leben damit gerechnet, dass er seinem Leben selbst ein Ende setzen würde. Unterbewusste Angst um ihn hatte ich jedoch mehr als einmal verspürt.

Wann immer ich ihn nicht erreichen konnte, als wir noch zusammen waren, waren Panikgefühle in mir hochgestiegen.

17

-

Stanley brauchte oft Rückzug, um zu arbeiten, wie er selbst sagte.

„Ich bin kreativer, wenn ich allein bin.“

Was ich nicht bestätigen konnte. Wie oft hatte er in meinem Beisein an einer neuen Melodie, einem neuen Beat ge-feilt… Ich glaubte, dass sein Rückzug nur aus einem einzigen Grund geschah. Er konnte, wenn seine Dämonen in ihm wüteten, keinen Menschen in seiner Nähe ertragen.

Mein Herz raste, mein Magen krampfte und ich hatte extremes Kopfkino, während ich in meine Kleider schlüpfte.

Wie hat er es überhaupt gemacht?

Das hatte ich in der Aufregung gar nicht in Erfahrung bringen können und doch könnte diese Information mir jetzt helfen, seine Chancen besser einzuschätzen.

Instinktiv dachte ich an die Brücke am Fluss. Wir hatten oft gemeinsam am Ufer gehockt, geredet, geraucht, getrunken und philosophiert. Stanley war immer fasziniert von der Brücke gewesen.

„Meinst du, man ist direkt tot, wenn man springt?“

„Keine Ahnung, aber wenn man es überlebt, muss das Leben danach die Hölle sein!“, hatte ich entgegnet.

Oh Gott, wie konnte er nur so verzweifelt sein? Warumhatte er sich denn nicht gemeldet, ich wäre doch für ihn dagewesen! , überlegte ich.

Eilig stopfte ich mein Handy und meine Autoschlüssel in meine Handtasche, zog die Tür ins Schloss und rannte fluchtartig die Treppe hinunter. Als ich den Motor meines Wagens startete, beschlich mich ein böser Verdacht.

Fünf Anrufe ohne Nachricht auf der Mailbox. Das waren verzweifelte Hilferufe gewesen!

Und wie so oft hatte er es dann vorgezogen, wieder aufzu-legen, anstatt mir auf dem Band eine Nachricht zu hinterlassen. Wie viel Überwindung musste es ihn gekostet haben, 18

nach über einem halben Jahr sein Schweigen zu brechen und bei mir anzurufen. Und ausgerechnet dann verpasste er mich!

Ich raste mit zweihundert Stundenkilometern über die Landstraße, missachtete mehrere rote Ampeln und schickte immer wieder Stoßgebete zum Himmel.

Halte durch, kämpfe! Ich bin gleich bei dir!

Stanley durfte nicht sterben. Selbst wenn wir nie wieder zueinander finden würden, ich war nicht bereit, ihn an den Tod zu verlieren!

Unterwegs geriet ich prompt in eine Radarfalle, was mich aber im Moment überhaupt nicht interessierte.

Die Strafe zahle ich gerne, Hauptsache er lebt! , war das Einzige, was ich denken konnte.

Ich parkte vor dem Krankenhaus, schnappte mir meine Tasche und rannte los. An der Krankenhausrezeption blieb ich kurz stehen. “Stanley Hecking, wo finde ich ihn?“, presste ich atemlos hervor. „Er ist schwer verletzt, er wollte sich …“

Ich stockte.

Es war mir nicht möglich, den fürchterlichen Satz vor dem Mann hinter der Scheibe auszusprechen, der nebenbei in einer Zeitung blätterte und mich überhaupt nicht richtig wahr-zunehmen schien. Plötzlich fühlte ich mich wie in einem schlechten Film. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein!

„Sind Sie eine Angehörige? Ansonsten darf ich Ihnen keine Auskunft geben!“

Der untersetzte junge Mann hinter dem Schalter war offenbar äußerst gewissenhaft.

„Ich bin… ich meine, ich war… wir waren zusammen…

sind es nicht mehr…“ Es gelang mir nicht, weiterzuspre-chen. Die Angst stand mir ins Gesicht geschrieben; Tränen begannen meine Wangen hinabzulaufen. Der Mitarbeiter blickte nun von seiner Zeitung auf und musterte mich.

19

-

„Ich kenne dich doch. Du bist auf dem Plattencover der Ravens“, verfiel er in einen persönlicheren Ton. „Eigentlich darf ich nicht … Ach scheiß drauf! Er liegt auf der Intensivstation. Ich drücke beide Daumen, dass er durchkommt. Genialer Musiker!“

Hastig bedankte ich mich und eilte zum Aufzug. Wo blieb der denn bloß? Nach endlosen Sekunden des Wartens entschied ich mich für das Treppenhaus. Die Intensivstation befand sich im dritten Stock. Ich rannte und rannte. Endlich, eine riesige Drei. Ich hielt inne, sammelte mich einen Augenblick lang und stieß dann die Tür auf.

Vor meinen Augen brach Mike Hecking, Sänger der Ravens und für die Teeniewelt vermutlich der coolste Typ auf diesem Planeten, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Er sank auf den Boden, verbarg seinen Kopf in seinen Händen und ließ mit einem Schrei, der durch Mark und Bein ging und sich wie der eines Tieres anhörte, seinem Schmerz freien Lauf.

In diesem Moment wusste ich, dass ich zu spät gekommen war.

Stella stand mit ausdruckslosem Gesicht und hängenden Armen neben Mike, der über die Jahre hinweg so etwas wie ihr Ersatzsohn geworden war. ‚Meine Lieblingsjungs‘ hatte Stella die Hecking-Brüder immer genannt. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder und hielt Mike dann beide Hände hin. „Komm her, komm schon!“

Das ließ sich Mike, der fast zwei Meter groß war, kein zweites Mal sagen. Er erhob sich und umarmte meine kleine zierliche Mutter, als wollte er sie erdrücken. Immer neue Weinkrämpfe durchschüttelten Stanleys baumlangen, tätowierten und gepiercten Bruder.

20

Schockiert ließ ich mich auf den nächsten Stuhl fallen und starrte ins Leere. Alles war umsonst gewesen, die gefährliche Autofahrt, die Stoßgebete – sinnlos. Stanley war tot.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sich Mike und Stella voneinander und kamen auf mich zu. Ich erschrak wieder einmal über die Ähnlichkeit der beiden Brüder. Mike sah aus wie eine ältere kräftigere Ausgabe von Stanley, nur in blond.

Dieser Umstand machte die ganze Situation noch unerträglicher für mich. Am liebsten wäre ich hinausgerannt, irgendwohin gefahren, wo ich allein war und hätte meinen Schmerz hinausgeschrien. Hier traute ich mich nicht. Aufgrund der langen Zeit, die wir uns nicht gesehen hatten, begegnete ich Mike mit mehr Zurückhaltung als meine Mutter das tat.

Ich drückte ihn nur kurz und ließ dann eine längere Umarmung meiner Mutter zu.

„Er hat es nicht geschafft, Dana, er hat es nicht geschafft!“, wiederholte Stella mantrisch. „Er ist jetzt bei Gott!“

Wenn er da überhaupt ist. Kommen Selbstmörder nicht indie Hölle? Ich hatte keine Ahnung, was ich glauben sollte.

„Wie… wie hat er… es gemacht?“

Unter Tränen stammelte ich die mir so wichtige Frage hervor. Panik schnürte mir die Kehle zu, ich rang um Atem. Ichkriege keine Luft mehr, ich ersticke.

„Was glaubst du denn? Gesprungen ist er. Natürlich. Wie in unserem Video. Nur diesmal ohne Seil. Der Penner!“

Mikes Trauer schien in Zorn umzuschlagen.

„Hey, mach mal halblang.“ Vorsichtig legte Stella ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zu beschwichtigen. „Wir wissen alle, dass Stan am meisten von euch allen zu kämpfen hatte mit seinem Leben. Was er getan hat, ist seine freie Entscheidung gewesen. Wir dürfen ihn dafür nicht verurteilen!“

Mike schüttelte energisch den Kopf. „Ich glaube, er hat keine Minute lang darüber nachgedacht, wie es mir ohne ihn 21

-

geht, wie es der Band ohne ihn geht. Wie sollen wir denn jetzt weitermachen ohne ihn? Er ist das Herz der Band. Verdammt, er war das Herz der Band. Und er war immer in meinem Leben; seitdem ich denken kann, war er da!“ Die letzte Erkenntnis ließ ihn aufschluchzen, er ballte beide Hände zu Fäusten.

Ich ertappte mich dabei, wie ich ganz ähnliche Gedanken hegte.

Ich schaffe es nicht, ihn noch mal zu verlieren, schoss es mir durch den Kopf. Auch wenn wir nicht mehr zusammen waren, so wusste ich doch, dass es genau wie bei mir auch in Stanleys Leben seit unserer Trennung niemand Neues mehr gegeben hatte.

Okay, abgesehen von bedeutungslosen One-Night-Stands vielleicht, aber die zählten nicht, weil sie ohne Seele statt-fanden. Und ein Rockmusiker ohne Groupies wäre wahrscheinlich undenkbar. Stanley hatte zwar immer geschworen, außer mir nie wieder eine andere Frau auch nur anzu-schauen, aber so oft wie nach dem Auftritt getrunken und gekifft wurde, hielt ich es für nicht sonderlich wahrscheinlich, dass er sich ein halbes Jahr lang daran gehalten hatte.

Ich selbst war vor einigen Monaten mit einem flüchtigen Bekannten nach der Disco mitgegangen. Der Sex war grot-tenschlecht: ich musste mich zusammenreißen, um die Nummer nicht abzubrechen und nach Hause zu fahren. Währenddessen musste ich die ganze Zeit an Stanley denken, die Bewegungen des Anderen mit seinen vergleichen, genau wie seinen Geruch, die Beschaffenheit seiner Haut. Alles, aber auch wirklich alles daran fühlte sich falsch an.

Ich war heilfroh gewesen, als der Morgen gegraut und ich mich auf leisen Sohlen hatte davonstehlen können. Am nächsten Tag bestellte ich mir einen Vibrator und verzichtete ab sofort auf Ersatzmänner. Stanley war durch nichts zu ersetzen.

22

Von nun an beließ ich es bei harmlosen Flirts. Mein Herz jemand anderem als Stanley zu öffnen hätte ich nicht geschafft. Über gemeinsame Bekannte erhielt ich manchmal Informationen über ihn; so erfuhr ich beispielsweise von seinem Entzug im letzten Jahr. Auch im Internet in den sozialen Medien waren regelmäßig Neuigkeiten über die Ravens nachzulesen. Auf diese Weise war er zwar nicht physisch bei mir, aber ich konnte mir sicher sein, dass es ihn gab und dass er, wenn auch ohne mich, irgendwie zurechtkam. Dieses Wissen hatte mir im vergangenen halben Jahr zumindest ein klein wenig Trost gespendet. Dass er jetzt für immer weg sein sollte, konnte und wollte ich einfach nicht glauben.

„Was passiert denn jetzt mit ihm?“, fragte ich Mike.

„Ich hab keinen Plan, ich kann auch grad gar nicht denken!“, antwortete er.

Stella schlug vor, das Krankenhaus zu verlassen. Sie bot an, ihre Kneipe, das „Dornröschen“, aufzuschließen, die restlichen Ravensmitglieder anzurufen und gemeinsam zu überlegen, was nun geschehen sollte.

23

-

Zwei - Jetzt – Stanley

Rien ne va plus

Heute war ein guter Tag. Der erste Tag, an dem ich seit meinem Ausstieg bei den Ravens, und der war immerhin jetzt schon drei Monate her, vor zwölf Uhr mittags wach war.

Der erste Tag, an dem ich freiwillig aufstand, ohne dass der Paketbote, irgendein nervtötender Nachbar oder mein Bruder Mike mich aus dem Bett klingelte. Seit meinem Zusam-menbruch vor drei Monaten hatte ich mein Bett eigentlich kaum noch verlassen.

Die Panikattacken, die mich seit Jahren verfolgten, waren kurz vor dem rabenschwarzen Tag meines letzten Konzertes immer schlimmer geworden und hatten mich irgendwann auch auf der Bühne befallen.

An manchen Tagen war es so schlimm gewesen, dass ich meine Sticks kaum hatte halten können. Sie waren mir immer wieder aus den Händen gerutscht, so sehr hatte ich geschwitzt.

Vor drei Monaten war es dann zum endgültigen Zusam-menbruch gekommen. In meinen Gedanken lief dieser fürchterliche Tag noch einmal wie ein Film vor mir ab: Obwohl ich mich vorher ausreichend mit Joints und Whiskey betäubt hatte, was ich eigentlich sonst ungern vor einem Konzert tat, musste die Band das zweite Stück mehrmals neu spielen, weil ich immer wieder patzte. Mike hatte den Ernst der Lage als Erster erkannt und bat die Fans um eine kurze Pause. Er begleitete mich hinter die Bühne, fasste mich bei 24

den Schultern und suchte Blickkontakt.„Alter, was machst du denn für ’ne Scheiße? Was ist denn mit dir los?“

Mein Körper versteifte sich unter der Berührung meines Bruders. Wie so oft in der letzten Zeit empfand ich nichts als Leere, Körperkontakt war für mich extrem unangenehm.

„Sorry, Bruder, ich wollte dich nicht enttäuschen, ich kann nur einfach nicht. Geht nicht. Mike, ich bin durch, ihr müsst euch ’nen anderen suchen oder die Tour abblasen, keine Ahnung… Ich komm nicht klar!“

Ich ließ mich auf die Couch fallen, die backstage neben mehreren Sesseln an einem Tisch stand. Mike stieß die Luft aus.

„Das kannst du uns doch nicht antun, hast du zu viel geraucht oder was? Vielleicht solltest du das mal sein lassen für ein paar Tage!“

„Nein, das ist es nicht. Ohne die Joints wäre ich heute gar nicht da raus gegangen. Ich hab auch keinen Bock, heute im Tourbus zu übernachten. Ich muss irgendwo sein, wo keiner ist, keine Bühne, kein Publikum, keine scheiß Ravens … Ich will meine Ruhe, kapierst du das nicht?!“

„Okay, okay, habe verstanden. Wir müssen auf Plan B zu-rückgreifen. Ich kann Pete fragen, ob er für dich einspringen kann“, versuchte mein großer Bruder mich zu besänftigen.

„Nur kann der nicht vor morgen hier sein. Was machen wir dann mit heute? Mensch, Stanley, die Leute haben bezahlt.

Wir haben gerade mal zwei Lieder gespielt. Die reißen uns den Kopf ab, wenn wir das jetzt hier abbrechen!“

Draußen auf der Bühne versuchten die zwei verbleibenden Ravens, Dennis und Andy, die überwiegend weiblichen Fans bei Laune zu halten, was zunehmend schwieriger wurde.

„Stanley, Stanley!“, wurden die Chöre immer lauter.

Mike sah mich bittend an.

„Einmal noch, ja?“

25

-

Es war schon immer so gewesen, dass ich meinem älteren Bruder kaum eine Bitte abschlagen konnte, zu sehr stand ich seit Kindertagen in seiner Schuld. Ich durchdachte meine Möglichkeiten und lenkte dann ein.

„Okay, heute Abend noch. Eine Zugabe, nicht mehr. Und ihr organisiert jemanden für morgen. Ich reise heute noch ab.“ Mike nickte eifrig, ihm war alles recht. Unter keinen Umständen wollte er den Gig platzen lassen.

Ich nahm einen großen Schluck aus der Whiskeyflasche, schloss die Augen, atmete tief ein und rannte dann raus auf die Bühne zu meinem Schlagzeug, wo ich mit frenetischem Jubel begrüßt wurde. Als ich auf meinem Schlagzeughocker Platz nahm, überkam mich die Übelkeit in Wellen.

Außer Mike ahnte keiner der Anwesenden, unter welchen Qualen ich den Abend durchstand. Immer wieder schloss ich beim Trommeln die Augen.

Könnte Dana doch hier sein, dann würde ich es schaffen! , wünschte ich sie mir in Gedanken herbei. Doch wann immer ich meine Augen öffnete, sah ich zwar Tausende von Mädchen, jedoch war keine von ihnen Dana.

Ich zwang mich, sitzen zu bleiben und zu spielen. Wie ferngesteuert gab mein Fuß mit der Bass Drum den Takt vor, während meine Hände die Sticks mit tausendfach eingeübten Bewegungen auf der Hi Hat, der Snare Drum und den Toms ein wahres Feuerwerk entfachen ließen.

Durchhalten, sitzen bleiben. Spielen. Spielen.

Die Panik lief wie kleine Elektroschocks durch mich hindurch.

Ich kann hier nicht bleiben, ich steh den Auftritt nichtdurch. Ich muss hier weg.

Ich versuchte mein Empfinden abzustellen, spielte wie eine Marionette, was meiner Virtuosität jedoch zum Glück keinen Abbruch tat. Die Menge tobte. Irgendwann war es vorbei. Ich hatte es überstanden.

26

Stolz riss mich Mike nach den letzten Akkorden der Zugabe an sich und küsste mich auf die Wange. Danach ver-beugten wir uns vor den kreischenden Fans und verschwanden hinter die Bühne, wo ich auf der Couch sofort in mich zusammensackte und weinte wie ein Baby.

Geschafft. Endlich.

Die ganze Anspannung fiel von mir ab. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mir tatsächlich einmal wünschen würde, nicht Schlagzeug spielen zu müssen.

Andy und Dennis starrten mich halb belustigt, halb verwirrt an. So kannten sie ihren Bandkollegen nicht.

„Ey, kleiner Hecking, was ist los? Kriegst du deine Tage oder was?“, frotzelte Dennis und Andy grinste fies.

Nachdem beide einen messerscharfen Blick von Mike ge-erntet hatten, beschlossen sie, mich in Ruhe zu lassen und nach Drogen und Mädels Ausschau zu halten.

Dass ich schräg war, hatten Dennis und Andy ja schon immer gewusst. Aber sie waren auch noch nie so erfolgreich wie seit dem Tag, an dem sie mit mir bei den Ravens spielten. Schräg hin oder her, ich hatte Musik im Blut und genau das war es, was zählte.

All diese Erinnerungen kamen in mir hoch, als ich an meinem letzten Tag, der zunächst so gut begonnen hatte, unter der Dusche stand. Gleich wollte ich mich mit Mike treffen.

Er hatte ein Treffen im Café vorgeschlagen, die Ravens hatten ein paar Tage Tourpause und Mike war nach Hause gekommen, um neben vielen anderen lästigen Pflichten auch seinen kleinen Bruder zu sehen.

Vorher musste ich aber zum Arbeitsamt, und das war auch der Grund, warum ich heute schon um halb zwölf aufgestan-den war. Wenn Musik nicht mehr funktionierte, vielleicht konnte ich irgendwo als Altenpfleger oder Betreuer anfangen? Das hatte Dana mir immer geraten.

27

-

„Du hast eine soziale Ader, die Omis stehen bestimmt alle auf dich. Mach da doch was draus.“

Ich wusste selbst, dass ich mir durch meinen momentanen Lebenswandel mein eigenes Grab schaufelte.

Heute trinke ich nichts. Und kiffe erst heute Abend, nahm ich mir fest vor.

Ich zog meine grellgelben Chucks an, die meine Laune immer direkt hoben. Da ich ja nicht mehr bei den Ravens war, brauchte ich offiziell jetzt auch nicht mehr in Schwarz her-umzurennen. Das war immer eine unausgesprochene Klei-derregel unter uns gewesen, an die sich die anderen natürlich immer noch hielten.

So stand auch wenige Minuten später ein komplett in schwarz gekleideter Mike vor meiner Tür. „Bruderherz, was geht, vor dem Frühstück noch ein Joint?“ Er grinste mich an.

„Nee, lass mal stecken, ich will zum Arbeitsamt. Wir sind doch erst in zwei Stunden verabredet!“

„Zum Arbeitsamt? Hast du sie noch alle? Was willst du denn da? Wir verdienen mit den Ravens mittlerweile so viel Kohle, dass du das überhaupt nicht mehr nötig hast. Und wenn du erst mal dein Tief überwunden hast, bist du doch wohl auch wieder mit dabei, oder nicht? Arbeitsamt, pffff!“

Mike nahm am Küchentisch Platz und packte OCB-Blätt-chen aus, um sich einen Joint zu drehen.

„Mann, jetzt schlag hier keine Wurzeln, ich muss los!“, versuchte ich ihn zu verscheuchen.

„Dir ist das ernst, oder? Als was willst du dich denn ver-dingen, als Krankenschwester?“

Mike machte sich über mich lustig, während er am Joint zog. Durch den süßlichen Geruch geriet ich bereits wieder in Verlockung.

„Wenn du es genau wissen willst, dachte ich an Betreuer im Altenheim oder im Pflegedienst oder so. Dana meinte auch immer, so etwas würde mir liegen. Und ich kann ja jetzt 28

nicht für den Rest meines Lebens nichts machen!“, entgegnete ich trotzig.

„Dana, Dana, wenn ich den Namen schon höre. Vergiss die Frau endlich. Die war sowieso Gift für die Band. Zum Arbeitsamt kannst du doch auch morgen noch gehen, oder übermorgen. Ich hingegen bin nur noch heute im Lande!“

Und mit diesen Worten reichte er den Joint an mich weiter und legte eine alte Platte von The Cure auf.

Ich seufzte, zog dann an dem Joint und pfefferte meine gelben Chucks in die Ecke. Eigentlich hatte mein Bruder recht.

Morgen war auch noch ein Tag.

Irgendwann, nachdem wir alles Essbare aus meinem Kühlschrank vernichtet hatten, öffneten wir die vorhandenen Bierdosen. Mike grinste.

„Alter, eigentlich gilt ja: Kein Bier vor vier, aber was soll’s wir spielen ja heute nicht! Hab dich lieb, kleiner Bruder.

Prost!“

Wir redeten noch längere Zeit über Gott und die Welt, und als Mike endlich gegangen war, um vor seiner Abreise noch ein paar Stunden zu schlafen, merkte ich, dass ich trotz der frühen Tageszeit schon wieder betrunken war. Mein Vorhaben, heute ein neues Leben anzufangen, war grandios ge-scheitert.

Ich krieg die Kurve nie. Ein verdammter scheiß Loser binich. Die Einzige, die immer an mich geglaubt hat, ist Dana.

Mit ihr wäre es viel leichter gewesen, Mike abzuwimmeln.

Mit ihr wäre alles so viel leichter gewesen. Was war ich fürein Idiot, sie gehen zu lassen.

Als ich einige Zeit später meine Schranktür öffnete, um eine Whiskeyflasche hervorzuholen, liefen mir Tränen die Wangen herunter. Ich zerfleischte mich zwar innerlich vor Selbsthass, konnte aber doch nicht anders. Angewidert von 29

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meiner eigenen Unfähigkeit zu widerstehen, trank ich Schluck für Schluck. Meine Dämonen, die heute Morgen noch verschwunden waren, kehrten zurück und hatten mich so fest im Griff, dass es kaum auszuhalten war. Nicht mehrda sein. Das ist die einzige Lösung für die ganze Scheißehier. Ich will nicht mehr. Wo war Dana jetzt wohl gerade?

Sie hatte mich nicht vergessen, das konnte ich spüren. Und mein Vater, zu dem ich überwiegend keinen Kontakt pflegte, hatte mir bei unserer letzten Begegnung Grüße von ihr aus-gerichtet. Er hatte sie beim Einkaufen getroffen.

Das war doch ein gutes Zeichen. Vielleicht hegte sie immer noch die gleichen Gefühle für mich wie ich für sie?

Trotz der Trennung war meine Liebe nie verschwunden. Im Gegenteil, manchmal hatte ich so intensive Träume von Dana, dass es mich fast zerriss. Und trotzdem wusste ich, dass meine Ent scheidung, sie gehen zu lassen, die einzig richtige gewesen war. Ich hätte ihr nie das geben können, was sie verdiente.

Ob ihre Handynummer wohl noch die alte ist? Ich kannte sie auswendig. Ich selbst mochte Handys nicht besonders, sie machten mich nur noch erreichbarer, als ich es ohnehin schon war. Dana hatte mir ganz am Anfang eins geschenkt, damit sie mich, so empfand ich es, besser kontrollieren konnte. Direkt nach der Trennung hatte ich das Teil in die Tonne geschmissen und mir nie Ersatz besorgt.

Ich steckte das Telefon, welches ich vor einiger Zeit aus der Wand gerissen hatte, in die Dose, trank mir Mut an und griff dann zum Hörer. Wann immer ich wählte, bekam ich im nächsten Moment Panik und legte wieder auf. Endlich traute ich mich dann doch und horchte.

„Die Nummer ist nicht vergeben!“, teilte mir eine mecha-nische Stimme mit.

Okay, dann Festnetz. Wahrscheinlich arbeitet sie, aberwenn es das Schicksal so will, geht sie ran.

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„Hi, hier ist Dana. Leider nur auf Band. Hinterlasst eine Nachricht, ich ruf zurück. Ciao!“

Mein Puls beschleunigte sich, meine Ohren begannen zu rauschen. Der Klang ihrer Stimme löste eine Lawine von Gefühlen in mir aus. Seit einem halben Jahr hatte ich sie nicht mehr gehört und fast vergessen, wie schön sie war. Ihre Stimme war mindestens genauso schön wie sie selbst.

Als wir gerade zusammengekommen waren, hatten wir manchmal stundenlang telefoniert, und mit jedem Gespräch hatte ich mich mehr in sie verliebt. All diese Empfindungen kamen jetzt wieder in mir hoch.

Warum bist du bloß nicht da? , dachte ich traurig.

Ich könnte drauf sprechen, dann rufst du vielleicht heuteAbend zurück!

Ich trank weiter, wählte, hörte das Band erneut an, legte wieder auf. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Dana, Dana, Dana. Mein Kopf war voll von ihr. Tausend Feuer brannten in mir. Sie ziehen zu lassen war der Fehler meines Lebens gewesen! Schwankend erhob ich mich, um mir einen Stift und Papier zu holen.

Dann schrieb ich meine Gedanken und Gefühle für sie auf.

Ob ich ihr das Gedicht schicken sollte? Die Idee verwarf ich sofort wieder. Frustriert rollte ich mir einen Joint.

Nach einer Weile drehte sich alles um mich herum, auch meine Gedanken.

Nix krieg ich hin, ich bin ein Versager!, war das perma-nente Ergebnis meines Grübelns.

Mein Vater hatte recht, es wäre besser gewesen, mich ab-treiben zu lassen, das hatte ich mir einmal im Streit von ihm anhören müssen.

Auf ein fünftes Kind waren meine Eltern damals gar nicht gefasst gewesen. Selbst Mike als viertes Kind war schon 31

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nicht mehr geplant und ich stellte ein Jahr später für meine Eltern den Supergau dar.

Ich überlegte, ob ich warten sollte, bis Dana von der Arbeit kam. Und dann? Dann geht womöglich ihr Neuer ran, oder sie sagt:

„Verpiss dich, du bist betrunken!“

Ich wusste, dass Dana es hasste, wenn ich sie betrunken anrief.

Alles in mir schrie: Versager! Versager! Versager! Ich war selbst zu blöd für ein einfaches Telefonat. Zitternd atmete ich ein und versuchte krampfhaft, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken.

Schlussmachen, durchzuckte es mich wie ein Blitz.

Endlich aufhören. Von der Brücke springen, tot sein. Dannhab ich es geschafft. Dann muss ich nicht mehr leiden. Ichwerde Dana nie das Wasser reichen können. Für sie bin ichdoch nur eine Belastung, bin es immer gewesen. Und Mike?

Der wäre auch besser dran ohne seinen verkorksten kleinenBruder, der ihn nur an seinem kometenhaften Aufstieg hindert. Wenn ich nicht mehr da wäre, würde ich niemandemmehr im Weg stehen.

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr krampfte zwar mein Herz, aber desto einleuchtender erschien mir meine Idee.

Taumelnd erhob ich mich, schlüpfte wieder in meine gelben Chucks, steckte die Whiskeyflasche in meine Lederjacke, zog diese ebenfalls an, schnappte mir die Motorrad-schlüssel und verließ meine Wohnung.

„Der feine Herr Rockmusiker. Wieder mal am helllichten Tag schon blau, das lobe ich mir!“

Mein erzkonservativer Nachbar, der mir regelmäßig die Polizei wegen Lärmbelästigung auf den Hals hetzte, ging kopfschüttelnd an mir vorbei.

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Ich überlegte kurz, ob ich etwas entgegnen sollte, erhob dann jedoch nur die Faust, wobei ich lediglich den Zeige-und kleinen Finger abspreizte.

Mit dieser „Rockerfaust“ grüßten sich die Ravens und ihre Fans untereinander. In diesem Fall sollte sie meinem Nachbarn jedoch bedeuten, sich zu verdünnisieren.

Dieser ergoss sich in einer Schimpftirade, die ich aber nicht mehr mitbekam, weil hinter mir die Haustür ins Schloss fiel. Laut ließ ich den Motor meiner Harley aufheu-len und brauste los.

Und auch noch besoffen ohne Helm fahren! , ergänzte ich in Gedanken, was mich fast noch grinsen ließ.

Mein Ziel war klar. Die Brücke.

Hier hatten wir das Video zu „One More Try“ gedreht, dem ersten Ravenssong, der es in die Charts geschafft hatte.

Ich hatte einen Mann gespielt, der vor lauter Liebeskum-mer in den Tod springt. Mike hätte den Part auch gern über-nommen, aber Dennis und Andy hatten entschieden, dass das Video die meisten Klicks bringen würde, wenn ich der Hauptdarsteller wäre. Natürlich war ich damals an einem Bungeeseil befestigt gewesen, welches später wegretou-chiert wurde. Aber den Kick, den der Sprung mit sich brachte, hatte ich damals schon gespürt.

Zuvor hatte ich mit Dana am Ufer gesessen und überlegt, ob es eine mögliche Suizidmethode sein könnte. Sie hatte den Kopf geschüttelt und das Thema schnell beendet. Ihre Angst um mich konnte sie jedoch nur schwer verbergen.

Seitdem hatte ich gut aufgepasst, ihr nicht zu viel von meinen Selbstmordfantasien mitzuteilen.

Ich bog von der Landstraße auf den Deich ab, wo ich mein Motorrad stehen ließ. Zu Fuß machte ich mich auf den Weg zur Brücke.

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Oben angekommen lief ich bis zur Brückenmitte, wobei ich immer wieder tiefe Schlucke aus meiner Flasche nahm.

Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen. Der Regen peitschte mir ins Gesicht und durchnässte mich bis auf die Haut.

Nach einigen Minuten war ich an der Stelle angekommen, wo wir damals den Dreh hatten. Ich kletterte über das Geländer und stellte mich auf den schmalen Rand davor. Mit einer Hand hielt ich mich fest, mit der anderen schleuderte ich die leere Flasche in den Fluss und schaute ihr hinterher.

Sie prallte auf und trieb davon.

Als ich sie nicht mehr sehen konnte, schloss ich die Augen und spürte den prasselnden Regen an meinen Wangen abper-len. Meine Entscheidung war gefallen, die grübelnden Gedanken hatten sich verzogen und waren einer großen inneren Ruhe gewichen. Ich atmete tief ein, ließ das Geländer los und sprang.

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Drei – Jetzt – Dana

Schockstarre

Ich taumelte aus dem Krankenhaus. Meine Umwelt nahm ich nur noch wie durch dicke Watte wahr. Meine Kehle war zugeschnürt, der Mund trocken, ich zitterte am ganzen Körper. Das darf einfach nicht wahr sein! Wie oft hatte ich mir vorgestellt, dass Stanley und ich wieder zusammenkämen –

mir unsere Versöhnung in den schönsten Farben ausgemalt.

Wenn er nur erst sein Tief überwunden und sich Hilfe gesucht hätte, dann könnte er mich auch wieder in sein Leben lassen. So tröstete ich mich in meiner Zeit ohne ihn. Diese Chance hatte er uns jetzt ein für allemal genommen.

Wie paralysiert saß ich auf dem Beifahrersitz in Stellas Auto. Selbst zu fahren wäre mir nicht möglich gewesen.

Mein Atem ging stockend, immer wieder von Schluchzern unterbrochen. Ich schaukelte vor und zurück wie ein kleines Kind, das gewiegt wird, um sich zu beruhigen. Meine Finger glitten hierbei unablässig über Stanleys Lederjacke. Seine Kleidung war ihm im Krankenhaus ausgezogen und Mike ausgehändigt worden. Ohne Worte hatte er mir die triefnasse Jacke hingehalten und mich fragend angeblickt. Ich hatte stumm genickt und die Jacke entgegengenommen; in glücklichen Zeiten hatte ich quasi in Stanleys Jacke gewohnt.

Stella parkte ihren Mini Cooper vor dem Dornröschen, wo bereits Dennis und Andy warteten. Das Entsetzen stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Schweigend umarmten sich 35

die drei verbliebenen Ravens und folgten Stella und mir in die Kneipe.

„Schnaps?“, erkundigte sich Stella, was reihum mit ent-schiedenem Nicken bestätigt wurde.

„Ich hatte ja keine Ahnung…“, setzte Andy an.

„Spar dir deine Kommentare!“, unterbrach Mike ihn barsch.

„Nein, Alter, jetzt ehrlich, wenn ich gewusst hätte, wie beschissen es ihm wirklich geht, hätte ich doch nie im Leben mein Maul so weit aufgerissen auf dem Gig letztens!“

„Das macht ihn auch nicht mehr lebendig!“

„Natürlich nicht, aber vielleicht hätten wir irgendwas für ihn tun können, wenn wir ihm nur besser zugehört hätten.

Wobei, so verschlossen wie Stanley immer war… Selbst über die Sache mit Dana hat er nie ein Wort verloren!“

„Wenn, hätte, das sind doch nur Spekulationen, Jungs. Es ist müßig zu überlegen, ob er eine Chance gehabt hätte. Ich schlage vor, ihr hört auf, euch gegenseitig anzuklagen, das hätte Stan nicht gewollt. Wir erstellen besser einen Plan, wie es jetzt weitergeht.“ Stellas mütterliche Art sorgte rasch für eine angenehmere Atmosphäre im Raum.

Dennis und Andy wollten Jörn, den Manager der Band, kontaktieren und mit ihm ausloten, wie man am besten an die Presse herantrat, was mit der Tour geschehen sollte und dergleichen mehr.

Stella kannte einen freien Prediger, den sie am nächsten Morgen anrufen wollte. Sonderlich gläubig war keiner der Ravens, weshalb ein Pfarrer und ein kirchliches Begräbnis von vornherein ausschieden.

Auf Mike entfiel der schwerste Part. Er musste seinen Vater informieren, mit dem er seit Jahren nicht mehr sprach, und er musste als engster Anverwandter auch einen Bestatter 36

beauftragen sowie die Einäscherung und das Begräbnis in die Wege leiten. Ich saß still und verweint mit am Tisch.

„Ich möchte gern noch einmal in seine Wohnung!“, bat ich Mike leise.

Ein letztes Mal in seine Höhle, seinen Zufluchtsort, undgleichzeitig auch der Ort, an dem wir so viele glückliche Momente erlebt haben, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Eigentlich eine gute Idee!“, stimmten mir die Bandmitglieder zu.

„Okay, dann lass uns doch alle morgen, sagen wir um zwölf, in Stans Wohnung treffen. Vielleicht können Jörn und der Prediger ja auch dorthin kommen und dann sehen wir weiter. Ich geh jetzt pennen, dieser beschissene Tag muss endlich ein Ende nehmen!“ Mit diesen Worten erhob sich Mike ein wenig wankend, zögerte kurz, hob dann aber doch die Hand, grüßte mit der Rockerfaust und verließ das Dornröschen.

Die Nacht war ein Albtraum. Immer neue Weinkrämpfe hinderten mich am Einschlafen. Der Schmerz durchbohrte jede einzelne Faser meines Körpers. Es tut so höllisch weh,Stanley! Ich schlief in Stellas Wohnung auf der Couch –

meine Mutter zählte nicht zu der Sorte Mütter, die ein Leben lang das Kinderzimmer behielten und in alten Erinnerungen schwelgten. Aufgrund dieser Tatsache hatte sie mein ehemaliges Zimmer schon längst in ein Atelier umgewandelt, wo sie, wenn sie nicht hinter dem Tresen stand, ihrer Fantasie freien Lauf lassen konnte und malte, was das Zeug hielt. Entsprechender Farbgeruch drang auch immer daraus, weswegen ich die Couch bevorzugte, wenn ich bei meiner Mutter war.

In der Zeit vor der Trennung hatte ich mich natürlich überwiegend in Stanleys Wohnung aufgehalten.

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Wie sie wohl jetzt aussah? Hatte er viel verändert? Ich glaubte nicht daran. Stanley mochte keine Veränderungen, sie machten ihn noch nervöser, als er ohnehin schon war. Gewesen war, wie ich traurig feststellte.

Einerseits wollte ich unbedingt noch ein letztes Mal in sein Reich, ihm ein letztes Mal nahe sein, andererseits hatte ich auch große Angst, dass es mir den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Unruhig wälzte ich mich hin und her. An Schlaf war nicht zu denken.

„Brauchst du eine Schlaftablette?“ Als hätte sie meine Gedanken gelesen, stand Stella plötzlich vor mir. Normalerweise lehnte ich jegliche Art von Medikamenten oder Drogen ab. Aber irgendwie musste ich diese furchtbaren Tage schließlich überleben, also willigte ich ein.

Mir war alles egal, Hauptsache, mir gelang es, einzuschlafen und für ein paar wenige Stunden nicht mehr an Stanley zu denken.

Leichter gesagt als getan, kaum war ich eingeschlafen, begann ich unruhig zu träumen. Der Anruf meiner Mutter, meine überstürzte Fahrt ins Krankenhaus…

Diesmal allerdings kam ich rechtzeitig im Krankenhaus an. Die Ärzte hatten Stanleys Leben gerettet, und ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand. Als er die Augen aufschlug, grinste er mich schief an. „Ich hab nur Spaß gemacht.

Du weißt doch: für immer!“ Genau in dem Moment, als ich ihn überglücklich umarmen wollte, fiel ich unsanft vom Sofa und wachte benommen auf. Wo bin ich? Was ist passiert, undwo ist Stanley?

Stück für Stück kehrte meine Erinnerung zurück und gleichzeitig ergriff auch der Schmerz wieder Besitz von mir.

Ich setzte mich auf die Couch und ließ meinen Tränen freien 38

Lauf, bis das Micky Maus T-Shirt, das Stella mir geliehen hatte, komplett durchtränkt war.

Stella stellte mir wortlos einen Tee auf den Tisch – Kaffee war mir schon immer verhasst – und strich mir liebevoll die widerspenstigen roten Locken aus dem Gesicht. Sie hatte mir nie verraten, wer mein Vater war, aber eins war klar: Die roten Haare musste ich von ihm geerbt haben, denn meine Mutter besaß schwarzes Haar.

Stella liefen ebenfalls die Tränen herunter, als sie ihren Kopf auf meine Schulter legte und aus ihrer Erfahrung sprach: „Es wird besser, Dana. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann. So blöd, wie es sich anhört: Die Zeit heilt alle Wunden. Behalte eure guten Momente in Erinnerung, bewahre dir sein Bild, wenn er glücklich war.“ Ich schluchzte auf.

„Ich will mir aber nicht irgendwas bewahren, Mama, ich will ihn. Ich hab ihn schon einmal verloren, vor einem halben Jahr. Ich halte es nicht aus, ihn schon wieder zu verlieren. Und dieses Mal ist es ohne jede Hoffnung auf einen Neubeginn!“

Und dann erzählte ich ihr von den verpassten Anrufen und wie sehr ich mich deswegen jetzt grämte. Stella nickte mitfühlend und umarmte mich fest. „ Gib dir nicht die Schuld.

Du kannst nichts dafür! Er muss sehr verzweifelt gewesen sein, um einen solch folgenschweren Entschluss zu fassen!“

Sie stand auf und griff nach ihrer Jacke. „Bitte versuche ein bisschen was zu essen, und dann lass uns losfahren. Die Jungs warten sicher schon!“

Ich zog mich an und fuhr dann mit ihr zu Stanleys Wohnung, wo Mike, Dennis, Andy und auch Jörn, der Manager, bereits auf uns warteten. Betreten begrüßten wir uns und gingen gemeinsam die Treppe nach oben.

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„Na endlich kommt mal jemand und stellt die Glotze von diesem Rocker ab!“, hallte es uns im Treppenhaus entgegen.

„Ich hab die halbe Nacht mit dem Besen gegen die Decke geklopft, aber der hört und sieht ja nix. Wahrscheinlich wieder sturzbesoffen, dieser Halbirre!“

Die Augen des Nachbarn weiteten sich, als immer mehr von „diesen Halbirren“ an ihm vorbei die Treppe hinaufgin-gen.

„Da kann ich Sie beruhigen. Das Problem hat sich erledigt.

Mein Bruder wird Sie nie wieder nerven. Er hat sich umgebracht, spätestens morgen können Sie es wahrscheinlich in der Zeitung lesen!“ Verbissen kniff Mike die Lippen zusammen und stieg weiter die Treppe hoch.

Ich erschrak über die Härte in Mikes Worten, aber ich konnte auch verstehen, dass besonders er im Moment eine dicke Schutzschicht brauchte. Die Brüder waren sich so nahe wie Zwillinge gewesen, vielleicht weil nur ein Jahr Alters-unterschied zwischen ihnen gelegen hatte. Mike musste sich wie amputiert fühlen.

Der Nachbar blieb sprachlos auf dem Treppenabsatz stehen. Mit einer derartigen Nachricht hatte er offenbar nicht gerechnet.

Mike schloss die Wohnungstür auf und fing wieder an zu weinen. „Verfluchter Mist, gestern war ich noch hier und hab ihn zum Kiffen überredet, und trotz seiner Entgiftung letztens habe ich ihm noch ein Bier hingestellt. Er wollte zum Arbeitsamt, und ich Idiot hab ihn ausgelacht und mich lustig gemacht über ihn. Wie konnte ich nur?“

Jetzt machte er sich dieselben Vorwürfe wie es am Vor-abend Dennis und Andy getan hatten, was diesen ebenfalls auffiel.

„Mike, hast du deinen Alten angerufen? Und wann kommt dieser Prediger?“, lenkte Andy ihn ab.

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Jörn, ganz der Manager, zog mehrere Stühle an den Couch-tisch heran und bedeutete den Jungs mit einem Kopfnicken Platz zu nehmen. „Okay Leute, viel Zeit habe ich nicht. Ich will jetzt auch nicht völlig herzlos rüberkommen, aber mein Flieger geht in zwei Stunden, und ich brauche ein kurzes Up-date von euch, was ich heute Abend der Presse mitteilen soll.

Dennis und Andy haben eine Mitteilung verfasst, die ich okay finde. Mike, vielleicht hörst du es dir kurz an, ich erstelle einen möglichen Ausblick auf die nahe Zukunft und fahre dann! Beerdigungsmodalitäten könnt ihr ja auch ohne mich klären!“

Mike nickte kurz und Jörn las dann vor, was Andy und Dennis zu Papier gebracht hatten.

„Der Schlagzeuger der Rockband „The Ravens“, Stanley Hecking, bekannt aus dem Video zu „One More Try“, hat sich in den frühen Abendstunden des Vortages überraschend das Leben genommen. Da seine Familie, seine Freunde und die Band noch völlig fassungslos sind, wird um Rücksicht-nahme gebeten. Die Beisetzung wird fernab der Öffentlichkeit in aller Stille stattfinden. Die Tournee wird vorerst unterbrochen, jedoch zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen. Karten hierfür behalten ihre Gültigkeit.“ Stille erfüllte den Raum.

„In Ordnung für dich?“, wollte Jörn von Mike wissen.

Dieser nickte wieder kurz und murmelte dann: „Das ist es jetzt also, was von ihm übrigbleibt? Eine Randnotiz in der Zeitung? Ey, das kann es echt nicht sein. Stanley ist durch nichts und niemanden zu ersetzen. Ohne ihn will ich auch nicht mehr auftreten! Ich hab meinen Bruder in den letzten Monaten nie ganz aufgegeben, hab immer heimlich die Hoffnung gehegt, dass er zur Band zurückkehrt. Pete ist als Drummer okay, spielt aber bei Weitem nicht mit so viel 41

Herzblut wie Stanley. Und die Chemie zwischen uns Brüdern war einfach unüberbietbar!“ Mike zuckte resigniert mit den Schultern. „Wirf den Aasgeiern ruhig ihr Fressen vor, Jörn. Die Pressefuzzis werden sich die Finger lecken. Wir kontaktieren dich, sobald wir absehen können, wie es weitergeht. Keine Ahnung, wann das sein wird!“

Er hatte Stanleys Autoschlüssel in der Hand und spielte gedankenverloren damit. „Was ist überhaupt mit seiner ganzen Kohle? Wer erbt die? Etwa unser Alter?“