„Hauen Sie sich auf die Flöte und singen Sie!“ - Carolin Sandner - E-Book

„Hauen Sie sich auf die Flöte und singen Sie!“ E-Book

Carolin Sandner

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Beschreibung

In ihrem neuen Sachbuch gewährt Carolin Sandner Einblicke in ihren Alltag als Logopädin. Der Leser erfährt dabei Komisches, Skurriles, Trauriges, Nachdenkliches. Da gibt es unter anderem den Schlaganfallpatienten, der kein Wort mehr spricht, aber „Griechischer Wein“ singt wie ein junger Gott, den polternden Augenprothesenhersteller, den Jugendlichen, der sprachlich durchs „Dichte Fichtendickicht“ wandert oder den gesuchten Verbrecher unter dem Bett der MS-Patientin. Schwierige Störungsbilder werden verständlich erklärt, wobei die Autorin respektvoll, jedoch nicht ohne Ironie und mit einer guten Portion Humor erzählt.

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Seitenzahl: 140

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Carolin Sandner

»Hauen Sie sich auf die Flöte und singen Sie!«

Einblicke in den Alltag einer Logopädin

Sandner, Carolin: »Hauen Sie sich auf die Flöte und singen Sie!« Einblicke in den Alltag einer Logopädin

1. Auflage 2020

ePub-eBook: ISBN 978-3-948486-06-8

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ISBN: 978-3-948486-04-4

Lektorat: Silke StarodubetzKorrektorat: Judith Hanke

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Charles Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG: www.verlags-wg.de

_______________________________

© Charles Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

www.charlesverlag.de

Inhalt

Über dieses Buch

»Du liegst mir am Herzen«

Die Sache mit dem »CH«

Jens

Das böse Wort

»Hauen Sie sich auf die Flöte und singen Sie!«

»Bin ich ein Mädchen?«

Der Albert Winkler-Trick

Neunzig Prozent Seele, zehn Prozent Material

Der gestreifte Pullover

Die Ausländerbeauftragte

Mut zur Lücke

Der »Klopierer«

Kapriziöse Praktikanten

Nicht minder kapriziöse Kollegenund Vorgesetzte

Herr D.

Jenna

Man lebt gefährlich

»Obcht und Gemüche«

Kleine Satansbraten und inkonsequente Eltern

Der familiäre Sprachschwächetypus oder »Du machst jetzt, wat die Frau Sanders dich sacht!«

Der polternde Augenprothesenverkäufer

»Heilandsack«

Man lebt gefährlich Teil zwei oder »In Altendorf wohnen hundert Millionen Jahre Knast«

Manchmal liebe ich meinen Beruf

Manchmal hasse ich meinen Beruf

Man muss hart im Nehmen sein

Frau Sandner und die Jugend

Der dicke Professor

Der Bürgermeister von Kabul

Felix oder im dichten Fichtendickicht

Abgrenzung

Technikgenie

Der gestresste Manager

»Kurze Fuffzehn«

Fazialisparese

Wenn Hottentotten Tüten tragen

»Die Frau kämmt die Suppe«

Die beste Ergotherapeutin, wo ich je war

»Griechischer Wein«

Über die Autorin

Über dieses Buch

Zu meinem Entsetzen muss ich gestehen, dass sie auch vor mir nicht Halt macht, die »Relative Artikellosigkeit«, wie ich sie zu nennen pflege. Kürzlich bin ich mit einer Bekannten aus Essen spazieren gegangen. Da ich lange Zeit in Essen gelebt und gearbeitet habe, kenne ich mich gut aus in der Stadt. Wir haben uns über den goldenen Oktober unterhalten. Sie hat berichtet, dass ihre Tochter auf einem Kindergeburtstag im Hallenbad war, und das bei achtundzwanzig Grad.

»Die Ärmste, hatte Grugabad nicht mehr auf?«, habe ich voller Mitleid gerufen. Noch während ich es ausgesprochen habe, habe ich mich meiner Wortwahl geschämt. Wohin ist der Artikel denn plötzlich verschwunden? Das bekannte Essener Freibad hat leider ohne einen Artikel meinen logopädischen Mund verlassen. Zum Glück hat die Bekannte meinen Fauxpas entweder nicht bemerkt oder gekonnt darüber hinweggesehen. Auf jeden Fall hat sie so getan, als wäre nichts gewesen, und ganz normal weiter gesprochen.

In den nächsten Wochen habe ich angefangen, mein sprachliches Umfeld zu reflektieren. Bin ich etwa Opfer von Spiegelneuronen geworden, sprich, habe ich ganz unbewusst die Ausdrucksweise meines Umfeldes zu meiner eigenen gemacht?

Was sich mir geboten hat, hat mir Angst eingejagt.

Mir ist bewusst geworden, dass meine Kinder nicht nur einander, sondern auch uns Eltern mit »Alter« ansprechen, wobei mein Sohn als »cooler Junge« das Wort »Alter« sogar regelrecht inflationär zu gebrauchen scheint. Selbst anstelle von »Danke« sagt er »Alter«, übrigens ebenso wie seine kleinen Kumpel.

Auf dem Schulhof bin ich auf eine Zehnjährige getroffen, die meinem Sechsjährigen »Alter, geh mal dein Mutter!« befohlen hat.

Kein Wunder, dass da einiges schiefläuft!

Generell stelle ich mir immer häufiger die Frage: Verändert sich die deutsche Sprache gerade so stark oder werde ich bloß alt? Vielleicht ist es im besten Fall eine Mischung aus beidem.

Von meiner Tochter muss ich mir neuerdings erklären lassen, dass ein »Prank« ein Streich ist, und eine Leserin beurteilt eine meiner Kurzgeschichten mit: »Ich feiere dich gerade richtig hart.«

Hart kann für mich vieles werden, aber eine Feier? Außerdem, bedarf das Wort feiern nicht eines Objektes? Den Geburtstag oder das Jubiläum? Seit wann feiert man Personen?

Trotz – oder gerade wegen – aller persönlichen Betroffenheit, schnüre ich weiter täglich tapfer meine Stiefel und kämpfe mich beruflich durch den Dschungel sämtlicher sprachlicher Abwegigkeit.

In nunmehr fünfzehn Jahren habe ich – so habe ich ausgerechnet – inzwischen mehr als elftausend Therapien durchgeführt und tiefe Einblicke in den Sprachgebrauch der Menschen sowie in die Abgründe ihrer Seelen gewinnen können. Als Logopädin ist man nicht nur Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schlucktherapeutin, nein, man ist auch Sozialarbeiterin, Arzthelferin, Alten- und Kinderpflegerin, Erzieherin, Lehrerin, Psychologin, Bürokauffrau, Apothekerin und manchmal sogar Freundin. Von einigen Erlebnissen möchte ich in diesem Buch berichten, in der Hoffnung, dem Leser das Berufsfeld des Logopäden und auch die möglichen sprachlichen Abwege der Menschheit näherzubringen. Manchmal ist das erheiternd, andere Male bestürzend oder traurig – lesen Sie selbst.

»Du liegst mir am Herzen«

An einem verregneten Aprilnachmittag sitze ich in der Musikschule und verhandle gerade mit der Lehrerin, ob mein Kind von Blockflöte zu Keyboard wechseln soll, als ich plötzlich aus dem Nebenzimmer leicht schief gespielte, bekannte Klänge vernehme:

Du, du liegst mir am Herzen, du, du liegst mir im Sinn.Du, du machst mir viel Schmerzen,weißt nicht, wie gut ich dir bin!

Das weckt Erinnerungen, andächtig halte ich inne und lasse meine Gedanken zurück driften ins Jahr 2003 …

Als frisch examinierte Logopädin flattert mir eine Anmeldung für einen Hausbesuch auf den Tisch. Globale Aphasie steht da. Mist, denke ich; denn das bedeutet, dass neben dem Sprechen wahrscheinlich auch noch die drei anderen Modalitäten Schreiben, Lesen und Verstehen bei diesem Patienten betroffen sind. Für eine Berufsanfängerin keine einfache Diagnose.

Ich greife direkt zum Hörer und vereinbare mit der sehr freundlichen alten Dame am Telefon einen Termin für den nächsten Tag.

Die Familie wohnt in einem Einfamilienhaus. Gleich nebenan wohnt die Tochter, die ihre Eltern nun mitversorgt, da die Mutter ebenfalls gesundheitlich beeinträchtigt ist.

Das Wohnzimmer ist zum Krankenzimmer umgebaut worden, alles ist sehr beengt. An den Wänden befinden sich altbackene Zinnteller, kleine Figürchen zieren die Fensterbänke. Altmodisch, ja, aber dennoch liebevoll.

Nach kurzer Zeit stelle ich fest, dass der Fall noch schwerer ist, als ich dachte. Der Patient ist weder wach noch ansprechbar. Er hat einen Blasenkatheter und muss künstlich über eine Sonde ernährt werden.

Klein und zerbrechlich wirkt er in dem riesigen Bett, sein schütteres, graues Haar steht wirr ab. Neben seinem Pflegebett steht ein Rollstuhl. Ob er den wohl noch benutzen kann? Sieht im Moment nicht danach aus. Sämtliche Versuche, den Patienten aufzuwecken, scheitern. Er schläft den Schlaf der Gerechten. Also führe ich die Anamnese, die Besprechung der Vorgeschichte, mit der Ehefrau durch und kläre auch ab, ob eine Mobilisation möglich ist, sprich, ob man den Patienten in den Rollstuhl hieven kann. Glücklicherweise ist dem so.

Ich erbitte, die nächste Therapiestunde mit dem Patienten am Tisch durchführen zu dürfen.

In der Woche darauf staune ich nicht schlecht. Die Familie ist meiner Bitte nachgekommen. Der Patient sitzt wie gewünscht im Rollstuhl am Tisch und harrt der Dinge, die da kommen. Oder auch nicht. Seine Ehefrau, ebenfalls im Rollstuhl, sitzt ihm gegenüber und blickt mich erwartungsfroh an. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der abwesend in die Ferne stiert. Nach eingehender logopädischer Untersuchung kann ich die Diagnose Globale Aphasie untermauern, ziehe zusätzlich auch noch einen dementiellen Prozess in Betracht.

»Der Patient hat Läuse UND Flöhe«, hat unser Professor immer gesagt. Trifft in diesem Falle zu. Was also nun? Getreu meinem Lebensmotto »Singen hilft immer« mache ich mir die sensationelle Fähigkeit des Gehirns zunutze, Sprache mittels Melodie zu produzieren. An dieser Stelle sei kurz erklärt: Sprache ist links-, Musik rechtshemisphärisch – also in der linken bzw. rechten Gehirnhälfte – gespeichert. Das bedeutet, dass wir Logopäden, gleichsam einer Wunderheilung, mit einem Patienten, der spontansprachlich nichts mehr oder nur sehr wenig von sich geben kann, durchaus Lieder singen können, und der Patient die Strophen dann auch mitsingt. Das eine macht die linke, das andere die rechte Hirnhälfte. Zum allerersten Mal durfte ich das im ersten Semester als Hospitantin miterleben. Der Patient, der spontansprachlich nur noch »A-A-A« hervorbrachte, schmetterte voller Begeisterung »Ein Jäger aus Kurpfalz«. Der behandelnde Therapeut war von Stund’ an für mich Seine Majestät. Mittlerweile habe ich dieses Phänomen selbst unzählige Male hervorgerufen.

Ich überlege kurz – der Patient wurde in den Zwanzigern geboren, welches Lied passt? – und entscheide mich für »Du, du liegst mir am Herzen«.

Die Ehefrau und ich beginnen, der Patient stimmt mit ein, und wir singen sämtliche Strophen mehrfach durch. Kurzfristig sucht er sogar Blickkontakt mit seiner Frau. Diese ist völlig ergriffen, ihr laufen die Tränen, als sie die Hand ihres Mannes nimmt.

»Ich habe seine Stimme seit Wochen nicht mehr gehört, er redet ja gar nicht mehr mit mir. Es ist, als ob er gar nicht mehr anwesend ist. Und jetzt dieses schöne Lied. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann!«

Ich bin auch ganz gerührt, verbringe das Wochenende mit diesem warmen Gefühl um mein Herz. Am Montag finde ich eine kurze Notiz auf meinem Schreibtisch. Der Hausbesuch wurde abgesagt, der Patient ist am Wochenende verstorben …

Die Sache mit dem »CH«

Wann immer ich in einer Erstdiagnostik einen »Chitismus« feststelle, also das Unvermögen, den Laut »CH« auszusprechen, bereite ich mich innerlich darauf vor, dass es kein leichter Weg werden wird.

In fünfzehn Jahren Berufserfahrung habe ich gelernt, dass das »CH« mit am schwersten zu behandeln ist, da es am hartnäckigsten falsch ausgesprochen wird. Eine von mir sehr geschätzte, erfahrene Logopädin hat einmal gesagt: »Ein Chitismus ist eine Ich-Störung«. Das Wort »Ich« kann nicht ausgesprochen werden. Dem stimme ich zu. Ich habe auch die Erfahrung gesammelt, dass die Kinder mit Chitismus oft wenig Selbstbewusstsein, vor allem aber wenig Störungsbewusstsein haben, weswegen ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie überhaupt etwas falsch aussprechen. Es gibt diverse Möglichkeiten, das »CH« falsch auszusprechen:

lateral (Luft entweicht über die Zungenseitenränder aus den Wangen; Heilungschance wie bei allen lateralen Problematiken eher nicht so gegeben, aber nicht komplett ausgeschlossen. Ich habe es einige Male erfolgreich korrekt anbahnen können)interdental (in etwa wie das englische TH)als »SS«

Egal, welche Möglichkeit der kleine Patient gewählt hat, es ist ein hartes Stück Arbeit für mich.

Wenn ich das »CH« erfolgreich angebahnt habe (»Die Hexe kichert chichichi«, oder über ein geflüstertes »JA«), schlage ich bereits drei Kreuze, denn nicht in jedem Fall kommt es sonderlich schnell hierzu.

Dann schiebt sich mir direkt die nächste Hürde in den Weg, denn außer »Chinese« gibt es im Deutschen kaum ein Wort, das mit »CH« beginnt, und einen neuen Laut übt man eigentlich am besten im Anlaut. Das bedeutet also, dass man das »CH« sofort im Inlaut üben muss, wie zum Beispiel in »Trichter«, »Becher«, »Veilchen« und so weiter.

Dieser Überwindungsprozess ist für den Großteil der Kinder zu schwierig, weswegen nahezu alle meine kleinen Patienten dann von einem »Veilss-chen« oder einem »Bess-cher« sprechen. Man kann Wetten darauf abschließen.

In nicht gerade wenigen Fällen habe ich irgendwann völlig genervt und entmutigt aufgegeben und zunächst einen anderen Laut behandelt, um mir das Sahnehäubchen »CH« für den Schluss aufzusparen. An dieser Stelle möchte ich aber erwähnen, dass mir gerade kein Fall einfällt, den ich als hoffnungslos entlassen hätte. Es dauert nur halt seine Zeit.

Eine Entwicklung in die falsche Richtung, also dass bereits erlernte Laute plötzlich nicht mehr artikuliert werden können, gibt es auch manchmal.

Ich erinnere mich an einen Jungen, mit dem ich zunächst das »K« und dann das »SCH« üben musste. Am Ende konnte er beide Laute. Das »SCH« bereitete ihm so viel Freude, dass er es direkt universal einsetzte und quasi »verlernte«, das »CH« richtig zu bilden und stattdessen ein »SCH« benutzte. Man spricht in diesem Fall von einer Übergeneralisierung, die aber durchaus normal sein kann. Die Mutter rief mich völlig entsetzt an.

»Der Christopher spricht wie Howard Carpen­dale. Isch liebe disch. Ich bin völlig entsetzt, ich hab ihm schon x-mal gesagt, er soll richtig reden, aber er kann es gar nicht.«

In diesem Fall reichten aber ein paar abschließende Einzelstunden zum Thema »CH« und der Laut fluppte wieder. Er war ja immerhin bereits in der Vergangenheit korrekt artikuliert worden.

Besonders brenzlig wird es, wenn die Mutter (die ja in jedem Fall meine Co-Therapeutin ist; neue Laute müssen täglich geübt werden, denn ich ziehe bei keinem Patienten ein und übernehme den Job) selbst in der Realisation ihres »CH« Auffälligkeiten aufweist.

Seitdem ich im Kreis Viersen lebe, also im Rheinischen, habe ich mehr als einmal meinen Ohren nicht getraut, und ich musste tief durchatmen, um Zeit zu gewinnen.

»Kevin, dat iss keine Kirsse, dat is ne Kirsche. Und dat iss auch kein Besser, dat iss en Bescher.«

Oha. Am besten belässt man es in diesem Falle doch beim einmaligen wöchentlichen Üben. Und zwar bei mir.

Jens

Meine Praxischefin kommt mit einer Anmeldung in der Hand in meinen Therapieraum.

»Carolin, ein recht junger Mann hat sich angemeldet, keine vierzig. Die Diagnose lautet Glioblastom. Traust du dir das zu?«

Ein Glioblastom ist ein bösartiger Hirntumor. Der Krankheitsverlauf ist in jedem Fall tödlich. Da ein naher Verwandter von mir daran gestorben ist, weiß ich genau, was auf mich zukommen wird, nicke aber trotzdem. Oder vielleicht genau deswegen.

Einige Tage später betrete ich zum ersten Mal die Wohnung der Familie T. und fühle mich auf Anhieb wohl. Helle, freundliche Räume, viele Menschen um das Pflegebett, welches mitten im Wohnzimmer steht, versammelt. Ein hübscher, noch junger Mann mit Glatze winkt mir lachend entgegen. Seine braunen Augen wirken ohne die Haare noch viel größer, als sie ohnehin schon sind. Eine riesige Narbe, wahrscheinlich von seiner Operation, verläuft quer über den Kopf.

Nach und nach lerne ich: Die quirlige rothaarige Frau mit den Locken ist seine Frau, die Teenager-Tochter hat sie mit in die Ehe gebracht und der redselige ältere Herr, der Jens’ Hand immer wieder hält und ihn von vorne bis hinten umsorgt, ist sein Vater.

Alle drei erweisen sich in den nächsten Wochen als super Co-Therapeuten, die extrem viel mit Jens üben.

Jens selbst ist ein kerniger, lebhafter Dachdecker. Er erzählt mir in knappen Worten und mit dem unverkennbaren Ruhrpottslang, was passiert ist.

»Mitten beim Arbeiten wurde mir auf einmal schwindelig, und dann bin ich vom Dach gefallen, einfach so. Ich bin noch nie vom Dach gefallen.«

Zwischendurch sucht er immer mal wieder nach einem Wort, pausiert, redet dann aber flüssig weiter.

Seine Frau kommt ihm zu Hilfe.

»Wir haben ja alle am Anfang gar nicht verstanden, was da los ist. Wir dachten, ein Arbeitsunfall, okay. Aber Jens ist wirklich der Letzte, der vom Dach fällt. Er muss das Bewusstsein verloren haben. Die haben den im Krankenhaus in die Röhre geschoben und dann kam diese Scheißdiagnose!«

Ich nicke stumm. Welch ein Schicksal.

Zweimal in der Woche soll ich nun mit Jens eine Sprachtherapie durchführen, obwohl er keine klassische logopädische Diagnose hat. Der Tumor, der inoperabel ist, wächst rasend schnell und drückt mit ganzer Kraft auf das Sprachzentrum. Alle Hoffnung wird in mich gesetzt, und zwar nicht, weil die Familie damit rechnet, dass sein Sprachvermögen zurückkehren wird, sondern – und das habe ich schon unglaublich oft als Logopädin erlebt – weil ich der Anker zurück ins Leben, in die »alte Welt«, bin. Solange ich komme, ist der Tod nicht greifbar. Stattdessen wird das Sprechen geübt, etwas völlig praktisches und alltagskompatibles.

Ich gebe Woche für Woche mein Bestes. Mein Ex-Freund ist Dachdecker, das erweist sich als glückliche Fügung. Wenn ich mit Jens über Doppelendorte an geschieferten Dächern rede, geht ein Strahlen über sein Gesicht. Doch auch die geballte Ladung Optimismus, die ich mitbringe, die seine Frau, die übrigens Krankenschwester ist, an den Tag legt, die der Vater versucht, aufzubringen, können das Schicksal nicht abwenden. Jens wird von Tag zu Tag schwächer, sein gewinnendes Lächeln erscheint zunehmend seltener auf seinem Gesicht und die Wortfindungsstörungen nehmen von Mal zu Mal zu. Jens nimmt es nicht leicht, seine Frustration und auch seine Trauer sind ihm deutlich anzusehen, wenn er wieder einmal höchstens eine Automarke nennen konnte oder nur ein Getränk und nicht, wie ganz am Anfang noch, fünf oder wenigstens drei.

Wortabruf kann man über semantische Kategorien trainieren, wie eben gerade genannte oder auch Tiere, Obst, Gemüse, usw.

Automatisierte Reihen klappen bei ihm zunächst noch, so kann er mit ein bisschen Starthilfe die Wochentage aufzählen, die Monate und auch noch zählen. Doch auch diese Fähigkeit wird ihm genommen. Der Vater, der wirklich an jeder Logo-Stunde voller Begeisterung teilnimmt, ist den Tränen nahe: »Jung, du wirst doch noch bis drei zählen können!«

Ich weiß, dass die Zeit des Abschiednehmens begonnen hat, heule fast nach jeder Stunde in meinem Auto.

Die Ehefrau startet einen letzten, verzweifelten Versuch und lässt Jens zu Dietrich Grönemeyer nach Bochum zur Untersuchung transportieren. Sie setzt alle Hoffnung in diesen Termin – und wird enttäuscht. Wenige Tage später stirbt Jens.

Sie ruft in der Praxis an, um mir davon zu berichten und fragt, ob sie sich irgendwann noch einmal melden dürfte.

Natürlich stimme ich sofort zu.