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Amy Chua ist Juraprofessorin in Yale und zweifache Mutter. Ihre Kinder will sie zum Erfolg erziehen - mit allen Mitteln. Und gemäß den Regeln ihrer Wurzeln in China ist Erfolg nur mit härtester Arbeit zu erreichen. Sie beschließt, dass ihre Töchter als Musikerinnen Karriere machen sollen. Nun wird deren Kindheit zur Tortur. Wo eine Eins minus als schlechte Note gilt, muss Lernen anders vermittelt werden als in unserer westlichen Pädagogik. In ihrem Erlebnisbericht erzählt die Autorin fesselnd, witzig und mit kluger Offenheit von einem gnadenlosen Kampf, der ihr und ihren Töchtern alles abverlangte: ein packendes und hochkomisches Buch über Familie und Erziehung, über Leistungsdruck und über den Willen, unbedingt zu siegen.
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Zeit:6 Std. 18 min
Sprecher:Doris Wolters
Nagel Kimche ebook
Amy Chua
Die Mutter des Erfolgs
Wie ich meinen Kindern
das Siegen beibrachte
Aus dem Englischen von
Barbara Schaden
Nagel & Kimche
Titel der Originalausgabe:
Battle Hymn of the Tiger Mother
© 2011 by Amy Chua
The Penguin Press, New York
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere jede Art
der Vervielfältigung, als Ganzes oder in Auszügen
eBook ISBN 978-3-312-00477-5
© 2011 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Unser gesamtes lieferbares Programm
und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
Für Sophia und Louisa
Und für Katrin
Diese Geschichte handelt von einer Mutter, zwei Töchtern und zwei Hunden. Und von Mozart und Mendelssohn, vom Klavier und von der Geige und von unserem Weg in die Carnegie Hall.
Sie hätte davon handeln sollen, dass chinesische Eltern bessere Pädagogen sind als westliche.
Stattdessen erzählt sie von einem bitteren Kulturkonflikt, einer kurzen Kostprobe vom Ruhm und von meiner Demütigung durch eine Dreizehnjährige.
Inhalt
Teil 1
1 Die chinesische Mutter 9
2 Sophia 12
3 Louisa 16
4 Die Chuas 20
5 Degeneration 26
6 Circulus virtuosus 31
7 Tigerglück 37
8 Lulus Instrument 42
9 Die Geige 50
10 Bissspuren und Luftblasen 59
11 «Der kleine weiße Esel» 70
12 Die Kadenz 74
Teil 2
13 Coco 87
14 London, Athen, Barcelona, Bombay 95
15 Popo 103
16 Die Geburtstagskarte 113
17 Karawane nach Chautauqua 119
18 Der Weiher 125
19 Wie man es in die Carnegie Hall schafft 132
20 Wie man es in die Carnegie Hall schafft, Teil 2 141
21 Debüt und Vorspiel 148
22 Panne in Budapest 156
Teil 3
23 Pushkin 171
24 Rebellion 183
25 Dunkelheit 193
26 Rebellion, Teil 2 196
27 Katrin 203
28 Der Sack Reis 209
29 Verzweiflung 214
30 «Hebräische Melodie» 218
31 Der Rote Platz 222
32 Das Symbol 227
33 Nach Westen 229
34 Das Ende 235
Koda 243
Dank 250
Anmerkungen 252
Der Tiger, ein Inbegriff von Kraft und Macht,
flößt meist Angst und Respekt ein.
Viele fragen sich, wie es kommt, dass chinesische Eltern derart stereotyp erfolgreiche Kinder aufziehen. Wie sie es anstellen, so viele Mathegenies und Musikwunder hervorzubringen, wie es in solchen Familien wohl zugeht, und ob sie selbst das ebenfalls erreichen könnten. Nun, ihnen kann ich verraten, wie es geht, denn ich habe es getan. Was meine Töchter Sophia und Louisa zum Beispiel niemals durften, war:
– bei Freundinnen übernachten
– Kinderpartys besuchen
– im Schultheater mitspielen
– sich beklagen, dass sie nicht im Schultheater mitspielen dürfen
– fernsehen oder Computerspiele spielen
– sich ihre Freizeitaktivitäten selbst aussuchen
– eine schlechtere als die Bestnote bekommen
– nicht in jedem Fach, außer Turnen und Theater, Klassenbeste sein
– ein anderes Instrument spielen als Klavier oder Geige
– nicht Klavier oder Geige spielen
Ich verwende den Begriff «chinesische Mutter» nicht im engen Sinn. Kürzlich lernte ich einen äußerst erfolgreichen Weißen aus South Dakota kennen (in den USA tritt er im Fernsehen auf), und als wir unsere Kindheitserfahrungen verglichen, kamen wir zu dem Schluss, dass sein Vater, ein Arbeiter, eindeutig eine chinesische Mutter gewesen war. Ich kenne koreanische, indische, jamaikanische, irische und ghanaische Eltern, die den Titel ebenfalls verdienen. Umgekehrt kenne ich etliche Mütter, chinesischer Herkunft zwar, aber fast alle im Westen geboren, die, freiwillig oder aus anderen Gründen, nicht chinesische Mütter sind.
Auch den Begriff «westliche Eltern» verwende ich frei. Westliche Eltern kommen in allen Spielarten vor. Tatsächlich möchte ich riskieren zu behaupten, dass die Erziehungsmaximen westlicher Eltern in sich wesentlich unterschiedlicher sind als die der Chinesen. Unter westlichen Eltern gibt es strenge und lockere. Es gibt gleichgeschlechtliche Paare, Jüdisch-Orthodoxe, Alleinerziehende, Exhippies, Investmentbanker und Militärangehörige. Unter all diesen «westlichen» Eltern muss durchaus keine Übereinstimmung herrschen, weshalb ich, wenn ich den Begriff «westliche Eltern» verwende, selbstverständlich nicht pauschal alle westlichen Eltern meine – so wenig wie das Etikett «chinesische Mutter» für alle chinesischen Mütter gilt.
Das ändert nichts daran, dass westliche Eltern, auch wenn sie selbst sich für streng halten, mit der chinesischen Mutter nicht vergleichbar sind. Zum Beispiel ließen meine westlichen Freunde, die sich als strenge Eltern bezeichnen, ihre Kinder jeden Tag dreißig Minuten, maximal eine Stunde, auf ihrem jeweiligen Instrument üben. Bei der chinesischen Mutter ist die erste Stunde der leichte Teil. Hart wird es in der zweiten und dritten Stunde.
Auch wenn wir noch so empfindlich gegenüber Kulturklischees sind – in punkto Erziehung gibt es haufenweise Studien, die deutliche und messbare Unterschiede zwischen der chinesischen und der westlichen Einstellung belegen. Zum Beispiel sagten im Rahmen einer Studie, die 50 westliche Amerikanerinnen und 48 chinesische Einwanderinnen zu ihren Erziehungsvorstellungen befragte, knapp 70 Prozent der westlichen Mütter entweder, «die Überbetonung von schulischem Erfolg ist nicht gut für Kinder», oder «Eltern müssen dem Kind vermitteln, dass Lernen Spaß macht». Unter den chinesischen Müttern hingegen vertraten zirka null Prozent diese Ansichten. Stattdessen sagte die überwiegende Mehrheit der Chinesinnen, sie seien überzeugt, dass ihre Kinder «die Klassenbesten» sein könnten, dass «schulischer Erfolg das Ergebnis erfolgreicher Erziehung» sei und dass «ein Problem» bestehe und Eltern «ihre Aufgabe nicht erfüllen», wenn Kinder in der Schule nicht herausragend seien. Andere Untersuchungen zeigen, dass chinesische Eltern im Vergleich zu westlichen Eltern täglich rund zehnmal so lange mit ihrem Nachwuchs für die Schule üben. Demgegenüber sind westliche Kinder häufiger in Sportmannschaften vertreten.
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Manche denken vielleicht, das Äquivalent der chinesischen Mutter sei die amerikanische Soccer mom, die auf ein eigenes Leben verzichtet, nur um ihre Kinder von einer Sportveranstaltung zur nächsten zu kutschieren. Völlig falsch. Im Unterschied zur typisch westlichen Hausfrau-und-Mutter im Dauereinsatz für die Kinder ist die chinesische Mutter überzeugt, dass 1. Hausaufgaben grundsätzlich an erster Stelle stehen, 2. ein A minus eine schlechte Note ist, 3. ihre Kinder in Mathe den Mitschülern immer um zwei Jahre voraus sein müssen, 4. man die Kinder nie öffentlich loben darf, 5. man im Fall einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem eigenen Kind und einem Lehrer oder Trainer immer die Partei des Lehrers oder Trainers ergreifen muss, 6. die einzigen Freizeitbeschäftigungen, die man den Kindern erlauben sollte, solche sind, die ihnen am Ende eine Medaille eintragen, und 7. diese Medaille aus Gold sein muss.
Sophia ist meine Erstgeborene. Mein Mann Jed ist Jude, ich bin Chinesin, unsere Töchter sind also chinesisch-jüdische Amerikanerinnen, eine ethnische Gruppe, die vielleicht exotisch klingt, in manchen Kreisen aber, und besonders in Hochschulstädten, sogar eine Mehrheit ausmacht.
Sophias Name bedeutet «Weisheit», genauso wie Si Hui, der chinesische Name, den sie von meiner Mutter bekam. Vom Augenblick ihrer Geburt an zeigte Sophia ein rationales Temperament und eine außerordentliche Konzentrationsfähigkeit. Diese Eigenschaften hat sie von ihrem Vater. Als Säugling schlief sie nachts sehr schnell durch und schrie nur, wenn sie dadurch etwas erreichte. Ich quälte mich zu der Zeit mit einer juristischen Abhandlung – ich war auf Mutterschaftsurlaub und strebte eine Stelle an der Uni an, damit ich nicht in die Anwaltskanzlei an der Wall Street zurückmusste, in der ich gearbeitet hatte –, und die zwei Monate alte Sophia hatte dafür volles Verständnis. Bis sie ein Jahr alt war, lebte sie ruhig und beschaulich dahin und tat im Wesentlichen nichts anderes als zu schlafen, zu essen und mich bei meiner Schreibblockade zu beobachten.
Sophia war geistig frühreif und beherrschte mit achtzehn Monaten das Alphabet. Unser Kinderarzt war der Meinung, das sei neurologisch unmöglich, und behauptete steif und fest, sie ahme lediglich Laute nach. Zum Beweis zog er eine große Tafel mit einem komplizierten Schaubild hervor, auf dem die Buchstaben in Form von Schlangen und Einhörnern dargestellt waren. Der Arzt blickte auf die Tafel, dann auf Sophia, dann wieder auf die Tafel. Listig deutete er auf eine Kröte mit Nachthemd und Mütze.
«Q», piepste Sophia.
Der Arzt knurrte und drehte sich zu mir um. «Nicht einsagen», befahl er.
Ich war erleichtert, als wir beim letzten Buchstaben angelangt waren: einer von zahlreichen roten Zungen umflatterten Hydra, die Sophia korrekt als «I» identifizierte.
In der Vorschule war Sophia mit Abstand die Beste ihrer Gruppe, vor allem in Mathematik. Während die anderen Kinder auf die kreative amerikanische Art mit Stäben, Kugeln und Kegeln bis zehn zählen lernten, brachte ich ihr Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Bruchrechnen und Dezimalzahlen nach der auf Auswendiglernen und Einüben beruhenden chinesischen Art bei. Schwierig war dann nur, die korrekten Antworten anhand der Stäbe, Kugeln und Kegel darzustellen.
Als wir heirateten, trafen Jed und ich die Vereinbarung, dass unsere Kinder Mandarin-, also Hochchinesisch sprechen und jüdisch aufwachsen sollten. (Ich bin katholisch aufgewachsen, aber ich hänge nicht daran: Der Katholizismus ist in meiner Familie nicht sehr verwurzelt; doch davon später.) Im Nachhinein betrachtet, kommt mir unsere Abmachung komisch vor, denn ich selbst spreche gar nicht Mandarin – meine Muttersprache ist der Hokkien-Dialekt –, und Jed ist kein bisschen religiös. Aber irgendwie klappte es. Ich stellte eine chinesische Kinderfrau ein, die mit Sophia ausschließlich Mandarin sprach, und wir feierten unser erstes Chanukka, als Sophia zwei Monate alt war.
Als sie älter wurde, sah es so aus, als bekäme sie das Beste von beiden Kulturen. Von der jüdischen Seite hatte sie ihren unerschöpflichen Wissensdrang. Und von meiner, der chinesischen Seite, bekam sie Fertigkeiten mit – jede Menge Fertigkeiten. Damit meine ich keine angeborenen Talente, sondern die auf fleißige, disziplinierte, das Selbstvertrauen stärkende chinesische Art erworbene Leistungsfähigkeit. Mit drei Jahren las Sophia Sartre in englischer Übersetzung, löste einfache Aufgaben der Mengenlehre und konnte einhundert chinesische Schriftzeichen. (Was Jed so übersetzt: Sie erkannte die Wörter «No exit», konnte zwei einander überschneidende Kreise zeichnen und – okay, hundert chinesische Schriftzeichen mag stimmen.) Als ich sah, wie amerikanische Eltern ihre Kinder für die geringste Leistung –für einen hingekritzelten Schnörkel, ein Wedeln mit einem Stock – mit Lob überschütteten, wurde mir klar, dass chinesische den westlichen Eltern zweierlei voraushaben: 1. höherfliegende Träume für ihre Kinder und 2. mehr Achtung vor ihren Kindern insofern, als sie wissen, wie viel sie ihnen zutrauen können.
Natürlich wollte ich Sophia auch von den besten Aspekten der amerikanischen Gesellschaft profitieren lassen. Natürlich sollte sie nicht als einer dieser verschrobenen asiatischen Roboter enden, die derart unter elterlichem Druck stehen, dass sie Selbstmord begehen, wenn sie in der staatlichen Beamtenprüfung als Zweite abschneiden. Sie sollte eine abgerundete Persönlichkeit werden und Hobbys und Freizeitaktivitäten pflegen. Nicht irgendein Hobby, das nirgendwohin führt, wie «Handarbeit» oder, noch schlimmer, Schlagzeug, das automatisch in Drogen mündet –, sondern eine sinnvolle und hochkomplexe Tätigkeit, die das Potential zu Perfektion und Meisterschaft birgt.
So kamen wir auf das Klavier.
1996, als sie drei war, traten zwei Neuerungen in Sophias Leben: Sie bekam ihre erste Klavierstunde und eine kleine Schwester.
Es gibt einen Country-Song, in dem es heißt: «She’s a wild one with an angel’s face». Eine treffende Charakterisierung meiner jüngeren Tochter Lulu: Das ist sie wirklich, ein Wildfang mit Engelsgesicht. Bei ihr habe ich oft das Gefühl, ich müsste ein wildes Pferd zähmen. Schon vor ihrer Geburt trat sie mich so fest, dass Abdrücke in der Bauchdecke zu sehen waren. Lulu heißt eigentlich Louisa, was «berühmte Kriegerin» bedeutet. Woher wir das wohl so früh wussten …
Lulus chinesischer Name lautet Si Shan, «Koralle»; darin schwingt die Vorstellung von Empfindsamkeit mit. Auch das passt zu Lulu. Heikel war sie vom Tag ihrer Geburt an. Die Formula-Milch, mit der ich sie fütterte, schmeckte ihr nicht, und die Sojamilch, die der Kinderarzt als Alternative vorschlug, empörte sie derart, dass sie in Hungerstreik trat. Aber anders als Mahatma Gandhi, der selbstlos und meditierend hungerte, hatte Lulu Koliken und schrie wild um sich schlagend mehrere Stunden pro Nacht. Jed und ich stopften uns die Ohren zu und rauften uns die Haare, bis zu unser aller Glück und Rettung unsere chinesische Kinderfrau Grace einschritt. Sie bereitete einen in leichtem Abalone und Shiitake-Soße geschmorten Seidentofu mit Koriandergarnierung zu, was Lulu schließlich recht gut schmeckte.
Wie soll ich meine Beziehung zu Lulu beschreiben? «Totale atomare Kriegführung» trifft es nicht ganz. Die Ironie ist, dass Lulu und ich einander sehr ähnlich sind: Sie hat mein hitziges, scharfzüngiges, rasch verzeihendes Temperament geerbt.
Apropos Temperament: Ich glaube nicht an die Astrologie – und ich denke, dass jemand, der daran glaubt, ein echtes Problem hat –, aber der chinesische Tierkreis beschreibt Sophia und Lulu perfekt. Sophia kam im Jahr des Affen zur Welt, und Affenmenschen sind neugierig, intellektuell und können «im Allgemeinen jede gestellte Aufgabe lösen. Sie schätzen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die sie als anregend empfinden.» Demgegenüber sind Menschen, die im Jahr des Schweins geboren sind, «eigensinnig» und «hartnäckig» und häufig «aufbrausend», aber «hegen niemals Groll», denn sie sind grundsätzlich aufrichtig und warmherzig. Genau so ist Lulu.
Ich bin im Jahr des Tigers geboren. Ich will jetzt nicht prahlen, aber Tigermenschen sind großzügig, furchtlos, selbstsicher, zuverlässig und anziehend. Außerdem sind sie angeblich Glückspilze. Beethoven und Sun Yat-Sen waren Tiger.
Meine erste Konfrontation mit Lulu hatte ich, als sie drei war. Es war ein eiskalter Winternachmittag in New Haven, Connecticut, einer der kältesten Tage im Jahr. Jed war in der Uni – er ist Professor an der juristischen Fakultät der Yale University – und Sophia in der Vorschule. Der Zeitpunkt erschien mir günstig, um Lulu mit dem Klavier bekannt zu machen. Voller Vorfreude auf die gemeinsame Arbeit – mit ihren braunen Locken, ihren runden Augen, ihrem Porzellanpuppengesicht war Lulu trügerisch niedlich – setzte ich sie mit ein paar bequemen Kissen auf den Klavierhocker. Dann zeigte ich ihr, wie man mit einem einzelnen Finger einen einzelnen Ton spielt, gleichmäßig, drei Mal, und forderte sie auf, es nachzumachen. Eine kleine Bitte, aber Lulu wollte nicht. Stattdessen hämmerte sie mit beiden Handflächen viele Töne gleichzeitig in die Tasten. Als ich sie aufforderte, das sein zu lassen, hämmerte sie noch schneller und fester. Als ich sie vom Klavierhocker fortzuziehen versuchte, begann sie zu brüllen, zu weinen und wild um sich zu treten.
Eine Viertelstunde später brüllte, weinte und trat sie immer noch, und mir reichte es. Den strampelnden Füßen ausweichend, zerrte ich den kreischenden Dämon zur hinteren Verandatür und riss sie auf.
Draußen herrschten sechs Grad unter null, und mir brannte in der eiskalten Luft schon nach ein paar Sekunden das Gesicht. Aber ich war entschlossen, ein gehorsames chinesisches Kind zu erziehen, und sollte es mich umbringen. Im Westen wird Gehorsam oft mit Hunden und dem Kastensystem in Verbindung gebracht, in der chinesischen Kultur jedoch gilt er als eine der höchsten Tugenden. «Du kannst nicht im Haus bleiben, wenn du nicht auf die Mama hörst», sagte ich streng. «Wirst du jetzt ein braves Mädchen sein? Oder willst du raus?»
Lulu trat hinaus. Trotzig sah sie mich an.
Eine dumpfe Furcht breitete sich in mir aus. Lulu trug nur einen Pullover, einen Faltenrock, eine Strumpfhose. Sie weinte nicht mehr. Im Gegenteil, sie war unheimlich still.
«Okay, gut, du willst dich also anständig aufführen», sagte ich rasch. «Dann kannst du jetzt wieder reinkommen.»
Lulu schüttelte den Kopf.
«Sei nicht dumm, Lulu.» Ich fühle Panik in mir aufsteigen. «Es ist eiskalt. Du wirst doch nur krank. Komm jetzt rein!»
Lulus Zähne klapperten, aber sie schüttelte wieder den Kopf. Und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich hatte Lulu unterschätzt, hatte nicht begriffen, aus welchem Holz sie ist. Sie würde lieber erfrieren als nachgeben.
Ich musste auf der Stelle die Taktik wechseln; auf diese Weise konnte ich nicht gewinnen. Außerdem konnte mich das Jugendamt in die Pflicht nehmen. Fieberhaft nachdenkend, vollführte ich eine Kehrtwende: Jetzt bat ich, flehte, verhätschelte, bestach sie, nur damit sie ins Haus zurückkam. Als Jed und Sophia heimkamen, fanden sie Lulu zufrieden in der Badewanne, wo sie Schokokuchen mit Marshmallows in heißen Kakao tunkte.
Aber Lulu hatte auch mich unterschätzt. Ich rüstete neu auf. Die Fronten waren abgesteckt, nur wusste sie das noch nicht.
Mein Nachname lautet Chua – Cài auf Mandarin –, und ich bin sehr stolz auf ihn. Meine Familie stammt aus der südchinesischen Provinz Fujian, die für ihre vielen Geistes- und Naturwissenschaftler berühmt ist. Einer meiner direkten Vorfahren auf väterlicher Seite, Chua Wu Neng, war Philosoph und Dichter, außerdem Hofastronom des Ming-Kaisers Shen Zong. Wu Neng, der offenbar über ein weites Spektrum an Fähigkeiten verfügte, wurde 1644 angesichts des drohenden Einmarsches der Mandschuren vom Kaiser zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannt. Das kostbarste – eigentlich unser einziges – Familienerbstück ist eine zweitausend Seiten starke handschriftliche Abhandlung von Wu Neng über das I Ging, das Buch der Wandlungen, einen der ältesten chinesischen Klassiker. Auf meinem Couchtisch liegt heute, würdig zur Schau gestellt, ein ledergebundenes Exemplar von Wu Nengs Traktat, auf dem Buchdeckel das Schriftzeichen für «Chua».
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