Die Nacht der Fragen und der Morgen danach - Christian Dürnberger - E-Book

Die Nacht der Fragen und der Morgen danach E-Book

Christian Dürnberger

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Beschreibung

Ein Mann in einer tiefen Lebenskrise – eingeladen auf die Party des Jahres. Zwischen Champagner und den Trümmern seiner Existenz wird er in eine gefährliche Verschwörung verwickelt. In dieser Situation muss er sich den großen, philosophischen Fragen des Lebens stellen. Was als rauschendes Fest beginnt, wird zu einer Nacht, die sein Leben für immer verändert. Das Buch ist ein Roman – aber auch mehr: Es ist eine spielerische Einführung in die Philosophie. Jede Figur, die der Ich-Erzähler im Laufe der Nacht kennenlernt, steht für eine berühmte Persönlichkeit der Philosophie. Am Ende folgt die Auflösung: Wer ist die vermögende Frau mit Hund, die davon überzeugt ist, dass das Leben stets Leid bedeutet? Wer ist der Pianist, der nicht mehr singt, weil er am Sinn seiner Texte zweifelt? Wer verbirgt sich hinter dem Teenager, der das Internat so schrecklich findet, dass er nicht mehr an das Gute im Menschen glauben will? Ein spannender Roadtrip und eine fabelhafte Geschichte des Philosophierens zugleich.

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Christian Dürnberger

Die Nacht der Fragen und der Morgen danach

Ein Roadtrip durch die Geschichte der Philosophie

© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2022

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-89-5

eISBN 978-3-947373-96-3

www.dittrich-verlag.de

Satz: Gaja Busch, Berlin

Covergestaltung: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

DER ROMAN

Die Nacht der Fragen und der Morgen danach

DIE AUFLÖSUNG: Who’s who?

Welcher Philosoph bzw. welche Philosophin verbirgt sich hinter welcher Figur?

DAS GLOSSAR

Eine kurze Geschichte des Philosophierens

VORWORT

Oder: die ›Spielregeln‹ dieses Buches

Warum braucht ein Buch ›Spielregeln‹? Das vorliegende Buch ist ein Roman: Während eines rauschenden Festes kommt der Ich-Erzähler einem Verbrechen auf die Schliche. Die Besonderheit: Jede Figur, die der Ich-Erzähler im Laufe dieser Nacht kennenlernt, steht für einen berühmten Philosophen oder eine berühmte Philosophin.

Das Buch ist demnach so etwas wie ein Roman mit doppeltem Boden. Man kann die Geschichte einfach ›nur‹ lesen, oder darüber hinaus die philosophischen ›Spuren‹ verfolgen: Wer ist die vermögende Frau mit Hund, die davon überzeugt ist, dass das Leben stets Leid bedeutet? Wer ist der Gothic-Teenager, der das Internat so schrecklich findet, dass er nicht mehr so recht an das Gute im Menschen glauben will? Wer verbirgt sich hinter dem eloquenten Gastgeber, in dessen prunkvoller Villa die Party stattfindet?

Der Ich-Erzähler trifft 24 markante Charaktere – und jeder von ihnen steht für einen essentiellen Teil der Philosophiegeschichte. Ein philosophischer Krimi also, in dem es vor Philosophinnen und Philosophen nur so wimmelt. Und der Detektiv, die Detektivin – das sind die Lesenden selbst. Sie ermitteln und rätseln, wer sich hinter welcher Figur verbirgt.

Der Roman ist also eine spielerische Einführung in die Philosophie. Und wo ein Spiel gespielt wird, dort braucht es auch Regeln. Keine Sorge, diese sind kurz und knapp und umfassen nur zwei Punkte:

1. Hinweise auf eine Philosophin, auf einen Philosophen sind im Laufe der Geschichte mit erweitertem Abstand gesetzt. Auf diese Hinweise gilt es zu achten, will man entschlüsseln, wer sich hinter einer Figur verbirgt.

2. Da es in der Philosophie um Gedanken und Argumente, nicht aber um Äußerlichkeiten geht, bieten das Alter, das Geschlecht oder die Biographie einer Person in der Regel keinerlei Anhaltspunkte für die Entschlüsselung. Sokrates kann im Roman also beispielsweise als fünfjähriges Mädchen auftauchen.

Auf das Ende der Geschichte folgt die Auflösung und daran anschließend ein Glossar, in dem die Philosophie der ausgewählten Denkerinnen und Denker zusammengefasst wird. Sie – liebe Leserin, lieber Leser – halten also nicht nur ein Buch in Händen, sondern eigentlich zwei. Der zweite Teil des Buches gleicht nämlich einer eigenständigen Einführung in die Philosophiegeschichte. Aber blättern Sie nicht vor! Sie würden sich die Spannung verderben. Aus diesem Grund findet sich auch kein Inhaltsverzeichnis der ausgewählten Philosophinnen und Philosophen am Beginn dieses Buches.

Damit bleibt nur noch über die Auswahl zu sprechen. 24 Denkerinnen und Denker sind es, die im Buch ihren großen Auftritt haben. Diese Zahl ist angesichts der Jahrtausende vielfältiger Philosophiegeschichte in allen Teilen der Erde gering und kann nur subjektiv gerechtfertigt werden. Es sind also nicht die Wichtigsten und Berühmtesten, nein, es sind schlicht die 24, die ich ausgewählt habe. Mal, weil sie mir besonders am Herzen liegen; mal, weil man sie wahrscheinlich in so einer Einführung erwartet. Dabei fehlen nicht nur große Namen, es zeigt sich auch ein Ungleichgewicht. Zum einen fokussiert meine Auswahl auf die abendländische Geschichte, zum anderen überwiegen (zumindest mit Blick auf die früheren Jahrhunderte) Männer. Beides ist meiner Unkenntnis geschuldet, ergibt sich jedoch zumindest zum Teil auch aus der Geschichte selbst. Wir kennen beispielsweise in der Antike kaum Philosophinnen, deren Werk uns überliefert worden wäre. Es bleibt zu hoffen, dass wir gegenwärtig und zukünftig in Zeiten leben, in denen niemand mehr daran gehindert wird, Philosophie zu betreiben, und zwar unabhängig von Geschlecht, Ethnie und Herkunft.

Und nun … kann die Nacht der Fragen beginnen.

1

Am Anfang war das Staunen.

Das Staunen über meine eigene Dummheit.

Warum hatte ich mich bloß auf all das eingelassen?

Am liebsten hätte ich diesen Abend so verbracht wie alle anderen Abende der vergangenen Woche: alleine mit Wein. Stattdessen jedoch saß ich mit zwei wildfremden Menschen in einem Auto, das mich zu einem Fest chauffierte, auf dem ich niemanden kannte. Und auf dem ich nicht sein wollte.

Nun gut, ganz wildfremd war mir der Mann auf dem Rücksitz neben mir nicht, immerhin hatte ich diese Woche mehrmals mit ihm in aller Früh einen Kaffee getrunken – nachdem er mich aufgeweckt hatte.

Hendrik war die Reinigungskraft im Stockwerk unserer Redaktion, die erste männliche Reinigungskraft, die ich in meinem gesamten Arbeitsleben zu Gesicht bekommen hatte, und als solche hatte er mich um fünf Uhr früh auf dem Boden meines Büros schlafend vorgefunden.

»Haben Sie die ganze Nacht hier geschlafen?«, hatte er gefragt.

»Warum zur Hölle sind Sie schon da?«, war meine Antwort gewesen. Ich hatte mit der Putzkolonne gerechnet, aber doch nicht um diese Uhrzeit. Kurz hatte ich mit dem Gedanken einer Notlüge gespielt, ich hätte irgendetwas von einer dringenden Deadline erzählen können und dass ich deswegen im Büro auf einer mitgebrachten Decke geschlafen hatte, aber ich war es müde, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Und so hatten wir in der Küche der Redaktion einen ersten gemeinsamen Kaffee getrunken und ich hatte Hendrik alles erzählt.

Als ersten Menschen überhaupt.

An den folgenden Morgenden waren wir mehr und mehr ins Reden gekommen. Es war schwierig, sein Alter zu schätzen, aber ich tippte auf fünfzig, wenn nicht gar sechzig Jahre. Hatte ich zuerst, wenn ich Hendrik sah, stets an Altersarmut gedacht, so lernte ich bald, dass er sich weder um die Höhe seines Einkommens noch um irgendwelche anderen materiellen Dinge kümmerte. Solange er über die Runden kam, war ihm dies Alles vollkommen egal. Er brannte einzig und allein für sein Lebensprojekt: Interviews. Er wollte mit Menschen reden, ihnen Fragen stellen und ihre Antworten hören.

Ich weiß, wie das klingt: Naiv und kindlich, und ganz kann ich diesen Eindruck nicht von der Hand weisen. Hendrik wirkte in der Tat manchmal wie ein Kind auf mich. Wissbegierig, aber auch nervig mit seiner ständigen Fragerei, die kein Ende zu nehmen schien. Zugleich jedoch erzählte er mir, dass er einen Videoblog unterhielt, der es durchaus zu einiger Reichweite gebracht hatte. Der Putzmann unserer Büros war demnach ein erfolgreicherer Journalist als ich je es sein würde.

Die nächste bittere Erkenntnis in meinem Leben.

»Das Video habe ich gesucht«, sagte Hendrik und hielt mir sein Smartphone entgegen. »Das war eine gute Ausgabe. Erinnerst du dich?«, wandte er sich an den Mann hinter dem Steuer. »Mein Interviewpartner war ein angesehener General«, fuhr Hendrik wieder an mich gerichtet fort. »Ich habe mit ihm über Mut gesprochen. Was bedeutet es eigentlich heutzutage, wenn jemand tapfer ist? Was soll es heißen, wenn…«

»Das Video brachte richtig viele Klicks«, unterbrach ihn unser Fahrer, ein Typ mit breiten Schultern, der wesentlich jünger als Hendrik war. Ich hatte keine Ahnung, wo und wie sich die Beiden kennen gelernt hatten, aber ich wusste mittlerweile, dass der Mann Witali hieß und so etwas wie der Produzent und Regisseur des Videoblogs war, ja, der gesamte Onlineauftritt war seine Idee gewesen.

»Klicks«, sagte Hendrik verächtlich, machte eine wegwerfende Handbewegung und nahm sein Smartphone wieder an sich, noch bevor ich auch nur die ersten zehn Sekunden des Videos hätte sehen können.

Das allerdings störte mich nicht. Mir war der gesamte Videoblog in diesem Augenblick – diplomatisch formuliert – herzlich egal. Witali sprach weiter über ihren Erfolg, Hendrik erzählte über diverse Interviewpartner, die er bereits vor seinem Mikrofon gehabt hatte, ich aber hörte alldem kaum zu, sondern schmiedete fleißig Fluchtpläne. Ja, ich hatte versprochen, auf diese Party mitzugehen, wir hatten allerdings nicht darüber verhandelt, für wie lange. Wenn ich es richtig einschätzte, würden die zwei Männer das Fest nutzen, um möglichst viele Videos für ihre Plattform zu drehen. Dies wiederum bedeutete, dass ich vielleicht früher als gedacht unbemerkt abhauen konnte. Und nichts Anderes hatte ich vor.

Allerdings machte ich mir Sorgen, wie ich in die Stadt zurückkommen sollte. Ein Taxi würde jedenfalls teuer werden. Wir waren bereits seit über vierzig Minuten unterwegs. Die Gegend war zuerst ländlich geworden und wurde nun von Minute zu Minute feiner, Villa reihte sich an Villa, örtliche Segelclubs waren ausgeschildert, am Horizont lagen Weinberge in der frühabendlichen Sonne, der Wert der Autos, die am Straßenrand parkten, überstieg gefühlt mein lebenslanges Einkommen, wobei zu bedenken galt, dass die wirklich teuren Wagen wohl hinter den dicken Hecken und Mauern standen, kurzum: Wir waren dabei, in das Territorium der Reichen und Superreichen einzudringen. Und entsprechend fühlte ich mich auch: Wie ein Fremdkörper, der hier nichts zu suchen hatte.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte Hendrik, und obwohl er von einem sorgenfreien Vermögen noch weiter entfernt war als ich, wirkte er wie ein Fisch im Wasser bei dem Ausblick darauf, gleich bei einem der reichsten Menschen des Landes zu einem großen Fest eingeladen zu sein. Und dies lag nicht nur daran, dass er bei jeder dieser Partys in den vorangegangenen Jahren Gast gewesen war, nein, es passte zu seinem Naturell. Wie es auch zu seinem Naturell passte, dass er mich mitschleppte.

»So geht es nicht weiter«, hatte er beim dritten Kaffee zu mir gemeint. Wir waren längst zum Du übergegangen. »Du kannst hier nicht jede Nacht schlafen, du kannst dich nicht nur in Selbstmitleid suhlen …«

»Ich suhle mich nicht in Selbstmitleid, ich…«

»Du musst unter Leute«, hatte er mich unterbrochen. »Ich weiß, es gibt viele, die stundenlang durch die Natur spazieren, wenn sie Probleme haben und Antworten suchen, aber ich sage Dir: Die Felder und Bäume können dir nichts über das Leben beibringen, das können nur andere Menschen. Also geh raus und unterhalte dich. Du musst wieder unter Leute«, wiederholte er, und noch bevor ich hätte erwidern können, dass ich rein gar nichts über dieses Leben lernen wollte, hatte er mir bereits von dieser Party erzählt, und auch davon, dass er als ›enger Freund des Hauses Landau‹, wie er sich mit Ironie in der Stimme selbst bezeichnet hatte, Gäste mitbringen durfte.

Den Rest konnte man sich denken.

»Wir sind da«, unterbrach Witali meine Gedanken, die noch immer um das Thema ›Flucht‹ kreisten.

»Na, habe ich dir zu viel versprochen?«, fragte Hendrik und nickte in Richtung des Anwesens, das sich als gewaltige Kulisse in der Ferne vor uns aufbaute. Ich hatte gewusst, dass dieser Landau reich war, seinen immensen Reichtum aber mit eigenen Augen zu sehen, verschlug mir dann doch die Sprache. Es war mehr Schloss als Haus, mehr Areal als Garten, mehr spätrömische Dekadenz als Gegenwart.

»Ich weiß«, sagte Hendrik, der meine Gedanken zu lesen schien. »Aber warte erst mal ab, bis du drinnen bist. Ich staune jedes Mal, dass es so viele Dinge gibt, deren ich nicht bedarf.« Er lächelte verschmitzt über seine Formulierung, die ohne Zweifel eine Kritik am Gastgeber und dessen Lebensstil war.

Bedienstete wiesen Witali derweil an, wo genau auf der riesigen Fläche vor der Gartenmauer er das Auto abstellen sollte. Wir stiegen aus und machten uns auf den Weg zum Eingang. Nicht zum Eingang des Hauses wohlgemerkt, der lag noch gut mindestens einen Kilometer von uns entfernt, sondern zum Eingang des Anwesens, an dem kontrolliert wurde, ob die Ankommenden denn auch tatsächlich auf der Gästeliste standen.

Wir stellten uns in der Schlange an, als mein Smartphone seinen Benachrichtigungston hören ließ. Ohne darüber nachzudenken, wie automatisiert, griff ich zu meinem Handy, um die eingegangene Textnachricht zu lesen, da aber spürte ich Hendriks Hand auf meiner Schulter.

»Sie?«, fragte er.

Ich nickte stumm.

»Lies es erst morgen«, sagte er. »Dieser Abend gehört dir. Nicht ihr.«

2

Insgeheim rechnete ich damit, dass die Türsteher – wenn man sie denn Türsteher nennen durfte – uns abwiesen, dass sie so etwas sagten wie ›Nein, niemand von Ihnen steht auf unserer Liste, und so, wie Sie aussehen, wundert uns das auch nicht.‹ Aber offenbar erfüllten wir die Formalien, denn sie ließen uns anstandslos das Anwesen betreten. Hendrik hatte also nicht gelogen: Wir waren in der Tat geladene Gäste auf einem Fest des berühmten Nicolaas Landau. Während ich über diese Tatsache noch erstaunt war, eröffnete sich vor uns die riesige Gartenanlage des Anwesens: Mit englischem Rasen, gepflegten Blumenbeeten, kleinen Wäldchen, Wasser speienden Brunnen, künstlerisch zurecht gestutzten Sträuchern, modernen Skulpturen und antik anmutenden Statuen. Der Anblick von alldem aber wirkte nicht überladen, nein, die Elemente verloren sich vielmehr in der Weite und den Nischen des Parks. Denn nichts anderes war es: ein Park. Die einzige Straße, die auf das Haus zulief und auf der die wirklich wichtigen Besucher mit ihren Wagen bis zur Villa vorfahren durften, wirkte wie ein schmaler, unbedeutender grauer Streifen im Grünen.

Gemeinsam mit anderen Normalsterblichen, deren Monatseinkommen wahrscheinlich jedoch immer noch ein oder zwei Nullen mehr aufwiesen als meines, schlenderten wir die kleinen Wege entlang, die durch den Park führten, und obwohl bereits eine beträchtliche Anzahl an Gästen vor Ort war, hatte ich zu keinem Augenblick das Gefühl, mich in einem Tross zu bewegen, im Gegenteil, wir drei gingen mehr oder weniger alleine und außer Hörweite von anderen auf die Villa zu. Laut Hendrik waren zu dem Fest heute Abend über vierhundert Personen eingeladen, und ich zweifelte nicht daran, dass es den gesamten Abend über trotzdem kaum Gedränge geben würde. Außer vielleicht bei der Rede von Landau um zehn Uhr, die auf der Einladung als einziger Fixpunkt der Party angekündigt war.

Witali begann damit, erste Einstellungen zu drehen: Hendrik, wie er auf die Schlossvilla zuging. Hendrik, wie er kurz innehielt und die Kunstfertigkeit einer Skulptur bewunderte. Hendrik, wie er seine Augen beschattete, um irgendetwas in der Ferne besser erkennen zu können. Ich nahm an, dass Witali diese Impressionen später als eine Art Intro verwendete und achtete darauf, nicht im Bild zu sein. Hendrik selbst schien es nicht zu bemerken, wann die Kamera lief und wann nicht, auch bemühte er sich keineswegs, seinem Produzenten und Regisseur irgendwelche besonderen Gesten anzubieten, er wirkte einfach nur wie ein Kind im Bonbonladen: voller Vorfreude.

Noch mehr freute er sich, als er auf halber Wegstrecke ein erstes, bekanntes Gesicht traf. Eine Frau, offensichtlich eine Mitarbeiterin des Hauses, die gerade in die entgegengesetzte Richtung unterwegs gewesen war, begrüßte Hendrik herzlich mit einer innigen Umarmung. Da Hendrik kurz zuvor – warum auch immer – auf die gegenüberliegende Seite eines Koiteichs gegangen war, konnte ich auf die Entfernung nicht hören, worüber sich die Beiden unterhielten, die Freude aber war ihnen anzusehen.

»Seine Frau?«, fragte ich Witali, der neben mir stehengeblieben war, um aus der Distanz weitere Einstellungen zu drehen. Hendriks Frau war nämlich der Grund, warum Hendrik bei diesen Partys stets auf der Gästeliste stand. Seit über zwanzig Jahren war sie als eine Art Hausmädchen im Dienst von Landau tätig; sie gehörte mittlerweile gewissermaßen zur Familie. Witali sah mich kurz skeptisch an, dann lachte er laut auf – etwas, das er den gesamten bisherigen Abend noch nie getan hatte.

»Du kennst seine Frau nicht, oder?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Wie soll ich es formulieren?«, fragte Witali. »Sagen wir so: Wenn Hendrik heute Abend seine Frau trifft, reagiert sie wohl … anders.« Noch immer schien er amüsiert über meine Frage.

»Eine lieblose Ehe also?«, gab ich zurück.

Witali zuckte mit den Schultern.

»Sie ist immer nur am Schimpfen«, antwortete er, »aber wie sagt Hendrik immer? Egal, ob du heiratest oder nicht, du wirst es bereuen.« Damit war für ihn das Thema erschöpfend behandelt, wie es schien, denn er widmete sich wieder seiner Kameraarbeit. Hinter uns zogen Gäste vorbei zur Villa, die nicht mehr allzu weit entfernt lag. Aus dem wuchtigen Haupttrakt des Gebäudes ragten zwei kleine Türme empor, die ringsum von Scheinwerfern beleuchtet wurden. Erst später am Abend, bei Dunkelheit, würde diese Installation ihre volle Wucht entfalten, nahm ich an. Ließ man den Blick nach links schweifen, waren zwei Tennisplätze zu erahnen. Hinter dem Haus lag ein größerer Wald, noch weiter dahinter, außerhalb der steinernen Gartenmauer, stiegen die Weinberge an, auch sie im Besitz von Landau.

Auf der Herfahrt hatte Hendrik vom Weinanbau des Gastgebers geschwärmt, von den edlen Tropfen, die der Gutsverwalter herstellte, und von den Sorten, die sie hier züchteten und pflegten. Die Reben waren so wertvoll, hatte er gemeint, dass selbst der Weinberg an seinen Außengrenzen von einer vier Meter hohen Mauer umgeben war. Ich schüttelte beim Anblick von alldem erneut ungläubig den Kopf. Während ich jeden Monat mit meiner Kündigung rechnete, lebte unser Gastgeber in Saus und Braus. Und das war eine Untertreibung. Der Name Nicolaas Landau war im gesamten Land bekannt. Er war nicht nur ein enger Vertrauter und Berater des Präsidenten und damit ein mächtiger Mann im Staat, er war auch ein erfolgreicher Autor von Ratgeberliteratur. Ich hatte zwar keinen seiner Bestseller gelesen, weder »Mensch, ärgere Dich nicht! Wie Du Dich vom Zorn befreist« noch »Die Ruhe der Seele«, aber selbst ich kannte sein Gesicht von zahllosen Fotos und Interviews. Wobei es in letzter Zeit deutlich ruhiger um ihn geworden war. Landau kam in ein Alter, in dem man wohl lieber hier auf diesem Anwesen seine Stunden verbrachte als noch im politischen Tagesgeschäft mitzumischen.

»Woher kommt all das Geld, glaubst du?«, fragte ich Witali, als dieser gerade dabei war, seine Kamera wieder zu verstauen. »Aus der Politik, weil Landau mit den Mächtigen per du ist? Oder aus dem Verkauf von Büchern?«

»Politik«, antwortete Witali ohne zu zögern. »Glasklar. Unsere Politik ist samt und sonders verwahrlost, ein einziger Sumpf aus Korruption. Schau dir doch die Gesetze an, die erlassen werden. Die Reichen richten es sich, wie sie es gerade brauchen. Und der Präsident und seine gesamte Sippe sind das beste Beispiel dafür.«

Ich war verwundert über diesen plötzlichen Gefühlsausbruch. Während der Autofahrt war mir dieser Mann noch wortkarg vorgekommen, so, als würde es ihm genügen, Hendrik zuzuhören und ihm Recht zu geben, war man jedoch mit ihm alleine, zeigte sich, dass er eben mehr als nur ein Kameramann war, der bloß aufzeichnete, was vor seiner Linse geschah.

»Der Präsident wäre wohl euer liebster Interviewpartner, habe ich Recht?«, fragte ich. Eigentlich war mir nicht nach einer Unterhaltung zumute, aber ich verstand mich als einen höflichen Menschen und wollte nicht nur stumm neben diesem Mann stehen, der immerhin so nett gewesen war, mich in seinem Wagen hierher mitzunehmen. Auch wenn es gegen meinen eigentlichen Willen geschehen war.

»Absolut«, stimmte Witali mir zu. »Leider ist er heute Abend nicht hier, aber der Präsident wäre der perfekte Gesprächspartner für Hendrik. Ohne Zweifel.« Er klang, als sähe er das Interview bereits vor seinem geistigen Auge. Und als könne er kaum erwarten, bis diese Vision endlich Wirklichkeit werden würde. »Hast du dir ein paar unserer Videos angesehen?«, fragte er plötzlich.

»Zwei oder drei«, log ich. Wiederholend: Ich bemühte mich, höflich zu sein – und zwar manchmal zu sehr.

»Dann weißt du ja«, sagte Witali, »dass unsere Herangehensweise im Grunde immer dieselbe ist.« Seine Stimme klang nun lebendiger als zuvor, weniger kühl. Mehr als das: Sprach er über ihre Videoplattform, erinnerte er an einen Verliebten. »Hendrik sucht sich einen Experten, oder jemanden, der sich für einen Experten hält, und diskutiert mit ihm eine bestimmte Frage. Zum Beispiel: Was bedeutet es, gläubig zu sein? Oder: Woran erkennt man ein gutes, gerechtes Gesetz? Und dann? Dann muss ich eigentlich nur noch die Kamera draufhalten, denn ab dann ist Hendrik voll in seinem Element. Seine große Stärke ist es, dass er sich selbst nicht zu wichtig nimmt.« Je länger Witali sprach, desto mehr klang die Bewunderung durch, die er für seinen Freund empfand. »Hendrik predigt nicht«, fuhr er fort, »sondern hört zu und stellt Fragen. Er selbst versteht sich ja nicht als Experte, der Andere glaubt ein Experte zu sein. Hendrik will nur verstehen, ob sein Gesprächspartner tatsächlich weiß, worüber er redet. Und genau darin liegt das Erfolgsrezept unserer Videos.« Er nickte als würde er jemandem Recht geben. Ich nahm an, sich selbst. »Unsere Seher finden es extrem unterhaltsam und lehrreich, wenn der angebliche Experte immer mehr ins Rudern gerät, wenn er immer weniger weiß, was er auf die nächste Frage von Hendrik noch antworten soll. Wir hatten schon Interviewpartner, die kapituliert haben. Die irgendwann sagten: ›Okay, das Thema ist extrem schwierig. Da gibt es keine eindeutige Antwort.‹ Und genau darauf will Hendrik hinaus. Er will uns zu verstehen geben, dass wir oft wie selbstverständlich über Dinge sprechen, und dabei eigentlich viel weniger Ahnung haben, als wir glauben.«

»Mehr nicht?«, fragte ich und bereute die zwei Worte in derselben Sekunde.

»Was heißt ›mehr nicht‹?«, fragte Witali aufbrausend. Meine unbedachte Rückfrage hatte ihn sichtlich verstimmt. Am liebsten hätte ich es den Koi im Teich gleichgetan, nämlich geschwiegen, Witali jedoch wartete auf eine Erklärung.

»Na ja … ich dachte«, begann ich stammelnd, »ich dachte, dass Hendrik am Ende eine Antwort auf die diskutierte Frage aus dem Hut zaubert.«

»Wie so ein verdammter Magier?«, schmetterte mir Witali entgegen. »Aber das ist doch der Clou! Das Erkennen des eigenen Scheinwissens ist der erste Schritt zum echten Wissen!« Es war offensichtlich, dass er diesen Satz schon oft gesagt oder noch öfter von Hendrik gehört hatte. Und genau dieser, Hendrik, kehrte in diesem Augenblick zu uns zurück – und zwar zu meiner Freude, denn der großgewachsene, muskulöse Witali wurde mir langsam unheimlich.

»Entschuldigt«, sagte Hendrik und strahlte uns freudig an. »Eine alte Freundin, die auch schon seit Jahren für die Familie arbeitet. Sie war gerade unterwegs zu den Pferdeställen. Dort wird das Feuerwerk vorbereitet.«

»Ein Feuerwerk?«, fragte Witali. »Davon steht gar nichts in der Einladung.«

Hendrik zwinkerte uns beiden zu.

»Pst«, sagte er flüsternd. »Ist eine Überraschung. Für Gäste, die lange genug bleiben.«

Ich war dankbar, als wir den Schritt wieder aufnahmen, und noch dankbarer, dass wir es in Schweigen taten. Vor uns lag die Villa, das Epizentrum des Festes. Auf der Seeseite des Anwesens, am Fuße einer Terrasse, wie ich sie nur von Schlössern her kannte, stand über ein Dutzend Zelte, zwischen denen sich der Großteil der bisher eingetroffenen Gäste aufzuhalten schien. Hier nun waren sie endlich, die Kellner mit dem Champagner, die mir dabei helfen würden, das zu tun, was für heute Abend mein eigentlicher Plan gewesen war: mich zu betrinken.

In einem der Zelte wurden Kinder geschminkt, vor einem anderen standen vier Hostessen in engem Rock, die jedem Gast, wenn gewünscht, ein Gratisexemplar des Buches in die Hand drückten, das der Anlass für das heutige Fest war: ›Das Leben ist kurz. Wenn wir es falsch leben.‹ So lautete der Titel des jüngsten Werks von Landau, in dessen Zeichen der gesamte Abend stand. Jedes Mal, so hatte mir Hendrik erzählt, wenn Landau ein neues Buch auf den Markt brachte, gab er – oder sein Verlag – ein großes Fest, zu dem bewusst nicht nur die High Society eingeladen wurde.

»Landau will sich volksnah geben«, hatte Hendrik mir erklärt. »An solch einem Abend schmückt er sich mit Menschen, wie wir es sind. Mit einfachen Gästen. Aus dem Prekariat. Ohne guten Job.«

»Na herzlichen Dank auch«, hatte ich zynisch geantwortet, obwohl ich ihm Recht geben musste: Journalist mit Schwerpunkt ›Chronik‹ für ein kleines Boulevardblatt, das die besten Tage längst hinter sich hatte, war nun wahrlich kein Traumjob. Vor allem nicht, wenn man auf den Gehaltszettel blickte.

»Du weißt, wie ich es meine«, hatte Hendrik gesagt. »Landau ist davon überzeugt, dass er Bücher für alle Menschen schreibt. Und deswegen gibt er auch ein Fest für alle sozialen Schichten.«

Als wir endgültig an der Villa angekommen waren, wirkte es, als würde Hendrik jemanden in der Menge suchen.

»Arbeitet deine Frau heute Abend auf der Party?«, fragte ich ihn.

»Warum?«, fragte er erschrocken. »Siehst du sie?«

»Was? Nein. Ich weiß doch gar nicht, wie sie aussieht.«

Er schien erleichtert über meine Antwort und nahm seine Suchbewegung von neuem auf.

»Landau«, erklärte mir Witali. »Er ist heute Abend unser primäres Ziel. Wir wollen endlich mit dem alten Landau ein Interview führen.«

»Ja«, stimmte Hendrik zu. »Aber nicht jetzt. Den Alten fragen wir erst nach seiner Rede. Dann ist er aufgewärmt. Und entspannt. Im besten Fall fangen wir ihn später irgendwo Abseits des Trubels ab.« Noch immer suchte er jemanden, plötzlich aber schien er fündig geworden zu sein. »Schau«, sagte er aufgeregt zu Witali und deutete auf eine Frau, die einen Pudel an der Leine führte. Sie wirkte verloren und missmutig. Kurz: Sie sah aus wie ich mich fühlte. »Ist das nicht Landaus Tochter?«, fragte Hendrik. »Ich meine nicht die Richterin, sondern die Schriftstellerin. Die kaum jemand liest. Wie heißt sie nochmal?«

»Donna«, antwortete Witali. »Donna Raman. Sie hat den Namen Landau irgendwann abgelegt und ihren Künstlernamen offiziell eintragen lassen. Ja, das ist sie. Aber wie du sagst: Kaum jemand kennt sie.«

»Ist doch egal, ob sie berühmt ist oder nicht«, erwiderte Hendrik. »Sie hat ein völlig anderes Menschenbild als der alte Landau. Das ist ein perfekter Start in unseren Abend, oder?« Er gluckste fast vor Freude und Witali verstand, dass er sich eine Antwort sparen konnte und stattdessen die Kamera auspacken sollte. Die beiden gingen schnurstracks auf die Frau zu, ohne mich weiter zu beachten, was für mich bedeutete: Ich war frei. Zumindest frei genug, um mich alleine irgendwo hinzusetzen und ein Glas nach dem anderen in mich hinein zu kippen.

Wie gestern Abend also.

Ich brauchte hierzu nicht einmal darauf zu warten, bis einer der Kellner meinen Weg kreuzte, sondern sah den perfekten Ort für meine Abendgestaltung auf einem Schild an der großen steinernen Treppe zur Villa hinauf angeschrieben:

Bar im Erdgeschoss. Zur linken Seite der Festhalle.

Als ich die Stufen hinaufstieg, klingelte erneut mein Handy.

Eine weitere Nachricht.

3

»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte der Barkeeper.

Ich wählte einen Whisky. Nicht, dass ich ein großer Kenner gewesen wäre, genauer gesagt musste ich jedes Mal aufs Neue überlegen, was noch einmal der Unterschied zwischen einem Whiskey und einem Whisky war, aber das Getränk schien mir sowohl zu meiner Stimmung wie zu meiner Umgebung zu passen.

Ich saß auf dem Hocker einer Bar, die nicht etwa extra für diesen Abend aufgebaut worden war, nein, alles sah aus wie in einer echten Cocktailbar in der Innenstadt: Eine lange Theke aus dunklem Mahagoniholz, Fenster aus mattem Glas, Zapfhähne mit verschiedenen Biersorten, schwach leuchtende Deckenlampen und kleine Sitznischen, in die sich jene Gäste zurückziehen konnten, die nicht am Tresen sitzen wollten. Gäste allerdings waren um diese Uhrzeit noch kaum anwesend, kein Wunder: Während draußen die Abendsonne die Parkanlage in ein freundliches, mildes Licht tauchte, hatte man hier den Eindruck, sich in einer Spelunke zu verkriechen.

Also genau richtig für mich.

Wenngleich es eine 5-Sterne-Spelunke war.

Ich legte mein Handy auf die Theke und nahm einen ersten Schluck. Die Barkeeper, die wohl zu einer Cateringfirma gehörten, waren gerade dabei, sich für diesen Abend einzurichten. Sie schlichteten letzte Flaschen in Fächer, bereiteten Zutaten für Cocktails vor und schütteten Eiswürfel in kleine Gefrierbecken. Auf der Bühne der Festhalle neben der Bar begann in diesem Augenblick eine Band zu spielen: Unaufdringlich und ohne Gesang, aber beschwingt. Von da, wo ich saß, konnte ich von Schlagzeug, Kontrabass und Klavier nur den Pianisten sehen. Erst nach dem zweiten Schluck nahm ich mein Handy wieder zur Hand.

Natürlich hatte Hendrik Recht: Ich sollte ihre Nachrichten erst morgen lesen, oder vielleicht noch besser: überhaupt nicht. Zugleich aber wollte ich nichts so unbedingt im Leben, wie zu erfahren, was sie tat und was sie dachte. Eben darin bestand ja die Crux des Liebeskummers. Er glich einem Entzug. Ich wollte ihr nahe sein, konnte und durfte es aber nicht. Am liebsten hätte ich sie auf der Stelle angerufen, aber mein Stolz und mein Trotz gewannen: Warum zur Hölle rief sie nicht an? Wenigstens bekam ich Textnachrichten von ihr, und zwar durchaus lange – und dafür war ich dankbar. Jedes Wort, das sie mir schrieb, bedeutete immerhin noch so etwas Ähnliches wie Nähe. Und damit so etwas wie Hoffnung. Zumindest im Streit gab es demnach immer noch so etwas wie ein ›Wir‹.

Nach dem dritten Schluck war ich bereit, zu lesen, was meine Frau mir schrieb. Oder wahrscheinlich sollte ich endgültig damit beginnen, sie ›Ex-Frau‹ zu nennen.

»Ich will nicht in unseren Streit einsteigen. Wer was falsch gemacht hat. Die alte Leier, die wir seit Monaten diskutieren. Was du nicht verstehst, ist, dass es bei alldem gar nicht um dich geht. Meine Krise hat nichts mit dir zu tun. Ich zweifle an vielem. An meinem Job, meiner Rolle als Mutter, meinen bisherigen Entscheidungen. Bei alldem geht es nicht um dich.«

»Jede Handlung, die wir setzen, jede Entscheidung, die wir treffen… immer wollen wir damit etwas erreichen. Ich habe das alles nie hinterfragt, weil mir immer klar zu sein schien, was ich wollte: Karriere machen, in einer Altbauwohnung leben, heiraten, eine Familie gründen, eine eigene Agentur leiten, aber irgendwann wurde mir klar, dass all diese Ziele keine wirklichen Ziele sind, sie sind eher so etwas wie Mittel zum Zweck. Was aber wollen wir denn wirklich erreichen, wenn wir all diesen vermeintlichen Zielen hinterherhecheln? Welches Ziel streben wir immer um seiner selbst willen an? Ich sage es dir: Es geht darum, Glückseligkeit zu finden, und ich weiß, dass du jetzt die Augen verdrehst. Ich sehe es regelrecht vor mir. ›Glückseligkeit. Was für ein verstaubter Begriff. Was soll denn das bedeuten?‹ Richtig? Aber darum geht es doch letztlich allen Menschen. Mit jeder Entscheidung. Wir wollen glücklich sein. Wollen ein gutes Leben führen, das uns fordert, aber auch zufriedenstellt. Das zu uns passt. Dieses Ziel ist kein Mittel zum Zweck, sondern ein wirkliches Ziel. Und als ich eben dies verstanden hatte, fragte ich mich, was mich glücklich macht. Und ja, ich hätte schon damals offen mit dir darüber reden sollen. Das habe ich nicht getan. Das tut mir leid. Stattdessen habe ich gewisse Entscheidungen getroffen, die dir weh taten.«

Bis zur letzten Zeile hatte ich die Worte gefestigt gelesen, interessiert, aber ohne von meinem Kummer fortgespült zu werden, jedoch nur bis zur letzten Zeile, dann nämlich waren mir Tränen in die Augen geschossen. Aus Trauer, Eifersucht und Wut. Wie konnte sie sich das alles bloß so schönreden? Ich erkannte meine Frau kaum wieder. Sie klang wie eine Fremde. Wie konnte sie von ›Mittel zum Zweck‹ oder ›Glückseligkeit‹ faseln, oder auch davon, ›gewisse Entscheidungen getroffen‹ zu haben, ohne das Offensichtliche beim Namen zu nennen: Sie hatte unser Leben als Familie weggeworfen. Es war ihr sichtlich nichts wert – oder zumindest weit weniger als dieser andere Mann, den sie seit längerem hinter meinem Rücken traf. Sei es, um gemeinsam essen zu gehen, oder sich während der Mittagspause in einem Hotelzimmer zu vergnügen.

Die Bilder dieser Treffen, wann immer ich sie mir vorstellte, waren wie Faustschläge in meinen Magen. Wahrscheinlich trug sie an diesen Tagen stets die Reizwäsche, deren Rechnung ich zufällig gefunden hatte. Wahrscheinlich kam sie an diesen Abenden später nach Hause, um mir irgendetwas von verschobenen Meetings und anstrengenden Kunden zu erzählen, während sie in Wahrheit erst hatte duschen müssen, um seinen Schweiß von sich abzuwaschen.

Ich weiß, dass Liebeskummer für Außenstehende peinlich wirkt. Er ist schlicht kein origineller Schmerz, der tiefgehende Analysen bräuchte. Die Erkenntnis, ein Klischee zu sein, half mir jedoch nicht weiter: Jeder Atemzug, bei dem ich an sie dachte, tat weh. Mir war, als hätte ich seit Tagen keinen Boden unter meinen Füßen gespürt. Und entsprechend wankte ich durchs Leben.

»Alles in Ordnung?«, fragte mich der Barkeeper.

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und wollte gerade lügen, als mir einfiel, dass dazu kein Anlass bestand. Also sagte ich die Wahrheit.

»Nein. Mir geht es hundeelend. Seit Tagen.«

Der Barkeeper, der gerade dabei gewesen war, mit einem übergroßen, langen Messer Zitronen in Scheiben zu schneiden, trat auf seiner Seite der Theke näher an mich heran.

»Ich weiß, wie Sie sich fühlen«, sagte er und legte das Messer behutsam auf das Brett ab. Ohne es zu wollen, schnaubte ich verächtlich.

»Sie wissen, wie ich mich fühle, ohne gefragt zu haben, was genau in meinem Leben passiert ist?«

Meine forsche Replik, so dachte ich, würde eine Nachfrage zeitigen, vielleicht sogar eine Entschuldigung, stattdessen jedoch ließ der Mann nur ein simples ›Ja‹ hören. Auch wenn ich kraftlos war und mir die Tränen noch immer in den Augen standen, fühlte ich mich durch seine Antwort provoziert – vielleicht auch neugierig gemacht. Ich deutete ihm, dass er mir erneut einschenken möge.

»Sie können also erraten, was Menschen traurig macht?«, fragte ich während sich der Whisky mit einem gurgelnden Geräusch ins Glas ergoss. »Ist das so ein klischeehaftes Barkeeper-Talent, das man nach Jahrzehnten hinter der Theke perfektioniert hat?«

Er schüttelte milde lächelnd den Kopf, der bereits von grauem Haar überzogen war.

»Nein, mit meinem Job hat das nichts zu tun.«

»Sondern?«

Er zuckte mit den Schultern und lächelte mich an. Ich verstand nicht und war zu müde, um nachzufragen. Außerdem hatte ich seit Tagen kaum etwas gegessen. Der Alkohol fuhr mir direkt ins Blut.

»Wollen Sie lieber alleine sein?«, fragte er mich. Und obwohl ich genau deswegen den Garten verlassen hatte, bemerkte ich, dass ich den Kopf schüttelte. Wahrscheinlich hatte ich in Wahrheit Angst davor, hier alleine zu sitzen, und ihre Nachrichten – auch die vorangegangenen – immer und immer wieder zu lesen.

Wie gestern Abend.

Und den Abend zuvor.

»Es gibt so viele Gründe, warum Sie traurig sein könnten«, sagte der Mann, nahm ein Weinglas aus dem Regal und begann es zu polieren. »Sie können todkrank sein, Ihr Vater kann gestorben sein, oder Ihr Kind. Vielleicht hat Sie Ihre Frau verlassen, oder Sie haben Ihren Job verloren, oder Sie fühlen sich einsam im Leben, vielleicht ist Ihr Hund weggelaufen…«

»Nicht gerade motivierend, was Sie da sagen«, unterbrach ich ihn. »Ich dachte, Barkeeper sollen ihre Gäste trösten und aufbauen?«

Er lächelte.

»Als ich jung war«, begann er und hielt das Weinglas kontrollierend gegen das Licht, »und ja, ich war mal jung, auch wenn man es mir nicht mehr ansieht, also, als ich jung war, wollte ich raus aus meinem Elternhaus, ich wollte die Welt sehen. Also habe ich eine Lehre in der Gastronomie begonnen und bin ins Ausland gegangen, quasi in alle vier Himmelsrichtungen. Ich war noch nicht zwanzig, da hatte ich schon auf vier verschiedenen Kontinenten in Hotels und Restaurants gearbeitet. Und in all der Zeit habe ich viel gelernt.«

»Und zwar, warum Menschen traurig sind?«, fragte ich.

»Irgendwie ja«, war seine Antwort. »Ich habe verstanden, dass Leben Leid bedeutet. Die Wahrheit ist doch: Vom Moment der Geburt an leiden wir, oder etwa nicht? Und es wird im Alter nicht weniger. Die Reichen mögen es besser haben als die Armen, aber grundsätzlich ergeht es uns allen gleich.«

»Wie gesagt, Sie sind nicht gerade ein Motivationscoach«, antwortete ich und nahm einen Schluck.

»Wieso?«, fragte er zurück. »Die Lösung liegt doch auf der Hand.«

Beinahe hätte ich mich an meinem Whisky verschluckt.

4

»Wenn Sie eine Erleuchtung hatten«, kommentierte ich die dramaturgische Pause des Barkeepers patzig, »dann lassen Sie sich die tiefgründige Wahrheit nicht aus der Nase ziehen. Immer her damit!«

Meine Unfreundlichkeit schien seiner inneren Ruhe nichts anhaben zu können. Ein Grund mehr, warum ich meinen Tonfall sogleich bereute. Er nahm ein neues Weinglas in die Hand und begann auch dieses achtsam zu polieren.

»Warum leide ich denn als Mensch?«, fragte er ohne mich dabei anzusehen. »Weil ich etwas will. Weil ich etwas begehre und verlange. Weil ich mein Ich zu wichtig nehme. Wer aber nichts begehrt, nichts will und an nichts hängt, wer sein Ich also überwindet, es auslöscht… der leidet auch nicht. So einfach ist das.«

In meinem Gesicht zeigte sich wohl so etwas wie Fassungslosigkeit.

»Aber das hilft mir doch nicht weiter«, sagte ich. »Wenn ich nichts mehr will, bin ich tot!«

»Oder glücklich«, war seine gelassene Antwort. »Oder eigentlich noch besser als glücklich«, setzte er milde lächelnd hinzu.

»Noch besser als glücklich?«, gab ich zurück. »Was soll das bedeuten?«

»Sie würden gar nicht mehr versuchen, glücklich zu werden«, antwortete er.

Ich brauchte einen Moment, um zu überlegen.

»Ich glaube, das ist mir zu hoch«, sagte ich dann. »Ich steige aus. Aber ich sollte Ihnen die Nummer meiner Frau … oder Ex-Frau … geben. Sie denkt auch viel über das Glück nach.«

Er sah mich mitfühlend an.

»Die Liebe also«, sagte er leise. »Sollen wir das Thema wechseln?«

Ich senkte meinen Blick und nickte.

Auf dem Brett mit den Zitronenschreiben lag immer noch das große Messer. Ohne es zu wollen, wurde meine Fantasie von einem Gedankenspiel fortgerissen: Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie ich mit diesem Messer bewaffnet meinen Widersacher zur Rede stellte – aber nur eine Sekunde darauf platzte dieser Traum bereits wieder: Nein, dieses Messer mochte Zitronen schneiden. Probleme löste es jedoch nicht.

Auf der Bühne der Festhalle begann derweil ein neuer Song. Schlagzeug und Kontrabass machten den Beginn, der Pianist setzte nach einigen Takten ein. Er trug ein weißes, hochgeschlossenes Hemd, dessen Kragen an einen Priester erinnerte, und er blickte weder auf sein Instrument noch ins Publikum, sondern starrte in die Ferne.

Der Barkeeper folgte meinem Blick.

»Er hat eine wunderschöne Stimme«, sagte er.

»Aber er singt doch gar nicht«, gab ich zurück.

»Nein, schon lange nicht mehr. Ich weiß nicht, warum, aber ich kenne ihn noch von früheren Auftritten.« Er stellte ein weiteres Weinglas ins Regal zurück. »Was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf?«

»Jetzt versuchen Sie, mich abzulenken«, sagte ich.

»Nein, ich will mich nur mit Ihnen unterhalten.« Sein Lächeln zeigte mir, dass ich Recht hatte.

»Ich arbeite für eine Zeitung«, antwortete ich. Seit Jahren vermied ich es bewusst, mich selbst als Journalisten zu bezeichnen. Bei dem, was ich in Wahrheit tat, empfand ich diese Aussage als eine Lüge.

»Das bedeutet?«, fragte der Barkeeper.

»Ich schreibe für den Chronikteil. Autounfälle, Wetterkatastrophen, Amokläufe …«

Man wollte Journalist werden, um die Welt zu beschreiben und zu verstehen. Vielleicht sogar, um sie zu verbessern. Während meiner ersten Praktika hatte ich noch von politischen Reportagen, tiefgehenden Interviews und investigativen Aufdeckergeschichten geträumt – wenn ich mir nun die Frage stellte, was aus diesen studentischen Visionen geworden war, musste ich mir jedoch eingestehen: Nichts. Ich hatte keine Berufung, sondern einen reinen Brotberuf. Und als solcher war er mies bezahlt, gerade wenn ich mein Gehalt mit dem Einkommen meiner Frau – oder Ex-Frau – verglich.

»Der Flugzeugabsturz der Präsidentenmutter?«, fragte der Barkeeper.

»Ja, auch über den habe ich geschrieben«, antwortete ich seufzend. Den Unfallbericht des Flugzeugabsturzes hatte ich sogar sechsmal in voller Länge gelesen, da mein Chef noch eine siebte Story daraus hatte machen wollen. Das Kleinflugzeug, mit dem die Mutter des Präsidenten zu einer Ferieninsel unterwegs gewesen war, war kurz nach dem Start abgestürzt. Der Pilot war bei dem Unglück gestorben, die Mutter des Präsidenten hatte überlebt.

Das Drama in der Luft – das Wunder am Boden.

So (un)sicher sind Kleinflugzeuge.

Gedächtnisverlust? Woran erinnert sich die Mutter des Präsidenten?

»Auch ein schlechtes Thema«, sagte ich erschöpft und bemühte mich um ein Lächeln. »Entschuldigen Sie, ich weiß… ich bin ein ganz furchtbarer Gast«, setzte ich hinzu, »aber mir hängt dieser Absturz zum Hals heraus.«

»Dann sind Sie eventuell auf der falschen Party«, sagte der Barkeeper.

»Warum?«

»Das Buch«, antwortete er, als würde jeder darum wissen, was damit gemeint war, ich aber sah ihn nur fragend an. »Ach, nicht so wichtig. Ich muss Sie nun jedenfalls kurz alleine lassen. Meine Chefin braucht mich im Lager. Wenn Sie noch einen Wunsch haben, sind meine Kolleginnen und Kollegen in der Zwischenzeit gerne für Sie da.«

Aber Wünsche waren doch der Beginn des Leidens, dachte ich, sagte aber nichts, sondern nickte ihm nur stumm, und wie ich hoffte, freundlich, zu.

Als er gegangen war, tat ich, was ich die ganze Zeit hatte tun wollen. Ich nahm mein Handy wieder zur Hand und las die letzten beiden Nachrichten noch einmal.

Und noch einmal.

War sie gerade bei ihm? Nein, das wohl eher nicht. Dann hätte sie mir keine so langen Nachrichten geschickt, nahm ich an. Wahrscheinlich saß sie zu Hause und arbeitete. So hatte ich sie damals kennen gelernt: Als Workaholic, die den Begriff ›Wochenende‹ im Lexikon nachschlagen musste. Zu Beginn unserer Beziehung war sie gerade hierher gezogen und hatte sich darüber beschwert, dass sie in unserem Land zwar arbeiten und leben durfte, aber dennoch nicht wie eine Einheimische behandelt wurde. ›Ich werde nie ganz dazugehören‹, hatte sie gesagt. Dabei war sie keineswegs ein armer Flüchtling, im Gegenteil, in ihrer Heimat war ihr Vater ein angesehener Arzt mit besten Beziehungen. Finanziell hatte sie daher keine größeren Sorgen. Ich gebe zu, dass ich gerade zu Beginn oft gedacht hatte, sie würde sich diese angeblichen Vorurteile bloß einreden. Dann aber war die Geschäftsführungsstelle ihrer Agentur neu ausgeschrieben worden, und obwohl alle davon überzeugt gewesen waren, dass sie die neue Chefin werden würde – immerhin hatte sie sich über Jahre für das Unternehmen aufgeopfert und sich als ebenso klug, eloquent und erfolgreich erwiesen wie der Gründer – war sie übergangen worden.

Hatte damit die Misere begonnen? Ihre Lebenskrise, von der sie sprach oder die sie als Entschuldigung vorschob? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn danach hatte sie mit ihrer großen Karriere eigentlich erst so richtig losgelegt: Sie hatte ihre eigene Agentur gegründet und sich in den Jahren danach einen Namen gemacht.

»Diese Akademiker«, so hatte sie oft über ihre alte Agentur geschimpft, »glauben, dass man alles vom Schreibtisch aus erledigen kann. Durch simples Nachdenken und Diskutieren.« Genau damit aber brach sie. Als sie beispielsweise den Auftrag bekam, die Kommunikation einer veterinärmedizinischen Universität neu auszurichten, samt Logo, Webauftritt und Slogan, verbrachte sie Tage, ja Wochen an dieser Institution, um hautnah mitzuerleben, was die Tierärztinnen und Tierärzte tatsächlich taten. Sie sezierte Organe oder machte sich Notizen über Harnblasen und Darmkanäle von Tieren. Alles, um diese Welt besser zu verstehen.

»Wir müssen hemdsärmelig am Boden der Tatsachen beginnen«, sagte sie dazu. »Nicht mit irgendeinem abstrusen Brainstorming, wie es diese Akademiker tun. Wir müssen erst mal verstehen, was in der Empirie vor sich geht.«

Bald hatte sie einen beträchtlichen Kundenstamm gewonnen, der ihre Unkonventionalität schätzte. Ihre alte Agentur traf sich beispielsweise zu Meetings in großen Sitzungsräumen – wie man das eben so machte. Was aber tat sie? Sie sagte: »Im Sitzen kann man schlecht nachdenken. Unsere Meetings halten wir daher im Gehen ab.« In der Branche nannte man ihre Agentur bald nur noch The walking heads.

Hatte sie ihn so kennen gelernt? Als einen Kunden? War es gar ihr berühmtester Klient, einer der mächtigsten Männer ihrer alten Heimat, dessen Beraterin sie bald wurde? Manchmal kam mir dieser Gedanke absurd vor, völlig aus der Luft gegriffen, dann wieder war ich mir sicher: Meine Frau traf sich eben genau mit diesem Mann, den sie ›den Großen‹ nannten. Mit einem Mann, der wahrscheinlich auch eine eigene Bar im Erdgeschoss seines Anwesens hatte, zumindest in seiner Heimat, denn hier, in unserem Land, in unserer Stadt, zog er ja anscheinend das Hotel vor.

Ich sah mich um und begann den Reichtum, der mich umgab, zu verabscheuen. Verbittert stimmte ich Witali zu: Die Reichen richteten es sich. Und nicht nur das: Sie vögelten auch meine Frau.

Wie aufs Stichwort sah ich Bilder des Hotelzimmers vor mir.

Der alte Barkeeper hatte zumindest in einem Recht: Diese Bilder taten weh, weil ich ich war. Genau das nämlich war der Unterschied zwischen einem Porno, der mich erregte, und einem Szenario, das mir die Brust vor Schmerzen zerbersten ließ. Nur verstand ich nach wie vor nicht, wie ich mich selbst zum Verschwinden hätte bringen können: Ich saß hier, trank meinen Whisky und was auch immer ich tat – ich konnte mich nicht selbst auslöschen.

In diesem Augenblick verschlug es einen neuen Gast in die Bar. Der glatzköpfige Mann blieb am anderen Ende der Theke stehen und bestellte ein Glas stilles Wasser. Während er wartete, verstand ich, dass er eben kein normaler Gast war. Der kleine Knopf in seinem Ohr wies ihn als Security aus. Er sah in meine Richtung und lächelte mir zu. Ich bemühte mich, seine Geste zu erwidern. Weder er noch ich wussten, dass er mich im weiteren Verlauf dieser Nacht noch niederschlagen, fesseln und knebeln würde.

5

»Das darf doch nicht wahr sein«, hörte ich eine Stimme. Ich blickte auf und sah Hendrik gut gelaunt auf mich zukommen. »Willst du unbedingt ein lebendiges Klischee sein: Mann mit Liebeskummer betrinkt sich an der Theke und klagt sein Leid dem Barkeeper?«

Der Barkeeper, der mittlerweile aus dem Lager zurückgekehrt war, lächelte mich schulterzuckend an, als wollte er sagen: So unrecht hat dein Freund nicht.

»Komm«, sagte Hendrik. »Statt hier im Dunkeln zu sitzen, wollen wir lieber die letzten Sonnenstrahlen genießen. Raus aus der Höhle mit dir! Ans Licht!«

Hendrik führte mich zurück ins Freie. Gemeinsam mit Witali spazierten wir durch die Menge der Gäste bei den Buffetzelten rund um die Terrasse. Erneut fühlte ich mich wie ein Fremdkörper. Zwar mochte es sein, dass Landau ›alle sozialen Schichten‹, wie Hendrik sich ausgedrückt hatte, zu solch einem Fest einlud, das aber änderte nichts daran, dass alle Gäste sich herausgeputzt hatten. Auch die Mittelschicht machte an solch einem Abend einen auf vornehm. Als Resultat fühlte ich mich underdressed. Und zwar unabhängig von meiner Kleidung.

Ein weiterer Grund, um mich zu betäuben.

Wann immer uns ein Kellner begegnete, nahm ich mir ein Glas Champagner vom Tablett, und während ich weiter daran arbeitete, mich zu betrinken, erklärte mir Hendrik unaufhörlich das Who-is-Who der Party. Bei den Namen musste Witali ihm manchmal aushelfen, die Lebensgeschichten der Menschen aber schien Hendrik in- und auswendig zu kennen. So erfuhr ich, dass Nicolaas Landau drei erwachsene Kinder hatte: Luis Landau, ein Anwalt, der eine politische Karriere eingeschlagen hatte, Ada Landau, eine Richterin, und eben jene Donna Raman, die Frau mit dem Pudel, die wie der Vater schriftstellerisch tätig war. Auf dem Fest, so erzählte mir Hendrik als wir einen Schotterweg zum Seeufer hinab einschlugen, war außerdem eine Enkelin des alten Landaus anwesend, und zwar die Tochter von Raman, eine gewisse Marie, eine Frau in den Mittzwanzigern, bei der sich die Familie ernsthafte Sorgen um ihre psychische Gesundheit machte: Eine kränkliche Einzelgängerin, der nicht nur Migräne, Magenschmerzen und Augenleiden zusetzten, sondern die sich auch grundsätzlich von allen und jedem missverstanden fühlte. Ähnlich wie ihre Mutter und ihr Großvater versuchte auch Marie Raman sich als Schriftstellerin. Mal schrieb sie irgendwo in den Bergen, mal am Meer, ständig auf der Suche nach dem besten Klima für ihre Gebrechen – was man eben so machte, dachte ich, wenn einem das Familienerbe ein finanziell sorgenfreies Leben bereitete. Da sie nach ihren ersten Schriften, so Hendrik, keinen Verlag mehr gefunden hatte, druckte sie ihre Werke mittlerweile auf eigene Kosten und war dabei immer noch voll und ganz der Überzeugung, ein genialisches Werk zu erschaffen. Die Welt wäre eben noch nicht bereit für ihre Gedanken.

Klang nach einer hochsympathischen Person, dachte ich.

Während Hendrik mir alles über die Familie Landau, aber auch über diverse andere Gäste erzählte, im Besonderen hatte er viel über das Leben von Landaus Agentin zu berichten, mit der er bereits einmal ein Interview geführt hatte, ›eine hochspannende Biographie‹, wie er meinte, versuchte ich die Bilder aus dem Hotelzimmer zu verdrängen, die stets in meinem Kopf auftauchten, wenn ich an reiche Menschen dachte. Oder an Männer. Oder an Frauen. Oder an Beziehungen. Oder an Zelte.

Na gut, das war übertrieben: Bei Zelten nicht. Vielmehr freute ich mich, dass auf halber Strecke zwischen Villa und Seeufer zwei kleine Zelte aufgebaut waren, gewissermaßen eine Raststation mit Champagner und Hors d’œuvre. Ich stellte mein mittlerweile schon wieder leer getrunkenes Glas ab und tauschte es gegen ein volles.

»Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas gegessen?«, fragte mich Hendrik mit väterlicher Sorge. Ich zuckte mit den Schultern. »Du musst etwas essen«, sagte er eindringlich, nahm vier kleine Häppchen von einem der Tische und drückte sie mir ohne weiteres Wort in die Hand.

Und auch ohne Teller, nur mit Serviette.

Als wir weiter gingen, schien Hendrik mit seiner Aufzählung interessanter Gäste an ein Ende gekommen zu sein. Stattdessen unterhielt er sich mit Witali nun wieder darüber, wen sie als nächstes interviewen wollten und wie sie es am besten anstellten, den alten Landau in einer passenden Situation abzufangen. Ich hörte nicht weiter zu, sondern ließ mich ein, zwei Schritte zurückfallen.

Am Weg zum See hinab war es deutlich ruhiger als rund um die Terrasse. Nur wenige Gäste flanierten zwischen Ufer und Villa. Links befanden sich die Ausläufer des Waldes, der sich auf der Rückseite des Hauses erstreckte. Dahinter die gut drei Meter hohe Gartenmauer, die den gesamten Park umgab und ihn von den Weinbergen trennte.

Augenblicklich verstand ich, dass mich keiner sah, weder meine Gefährten noch andere Gäste oder Bedienstete, also folgte ich einer spontanen Eingebung und warf die üppig belegten Canapés mit einer schnellen Bewegung in Richtung der Bäume. Angeblich gab es ja Leute, die sich bei Kummer vollstopften, bei mir aber war es genau andersherum: Wenn es mir schlecht ging, kriegte ich nichts hinunter. Seit Tagen war meine Kehle wie zugeschnürt. Alleine bei dem Gedanken an Essen wurde mir unwohl. Plötzlich war ein Gackern und ein Grunzen zu hören. Erschrocken fuhr ich zusammen. Noch während Hendrik und Witali sich umdrehten, hatte ich aber bereits verstanden, was vor sich ging.

Oder auch nicht.

Zwei fette Hängebauchschweine, ein rosa Hausschwein und drei Hühner jagten zu jenen Stellen am Rande des Waldes, wo meine Canapés aufgeschlagen sein mussten. Ich wusste demnach, was die Tiere dort suchten, Hendrik wiederum schien zu wissen, was es mit den Tieren auf sich hatte.

»Landau ist ein Tierfreund«, erklärte er. »Oder eigentlich sein Sohn Luis. Seit Jahren setzt er sich im Parlament vehement für mehr Tierschutz ein. Die Schweine und Hühner dürfen hier überall frei herumlaufen. Die Mutigen kommen sogar bis zur Terrasse. Sind sie dir vorhin gar nicht aufgefallen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Und sie stürzen sich auf alles, was ein Gast fallen lässt«, sagte Witali ohne mich anzusehen.

»Ja.« Hendrik lachte laut auf. »Ich habe die beiden Tierwärter… oder wie nennen sie sich nochmal? Tierpfleger? Wie auch immer, ich habe die beiden, die sich auf dem Anwesen um die Tiere kümmern, mal darauf angesprochen und gefragt, ob denn die Tiere so dermaßen ausgehungert seien. Das fanden sie allerdings gar nicht lustig.« Hendrik hingegen offensichtlich schon. Erneut lächelte er verschmitzt.

Ich war froh, dass niemand danach fragte, was genau die Tiere dort gerade wohl suchen mochten, und nippte bloß stumm an meinem Champagner.

Den hatte ich nämlich nicht geworfen.

Wir kamen am Seeufer an.

Hier war die steinerne Gartenmauer von dichtem Efeu überwachsen. Auf einer kleinen, unscheinbaren Tür inmitten dieses dunklen Grüns war das Bildnis irgendeines antiken Gottes gemalt. Solche Kleinigkeiten passten zu meinem ersten Eindruck vom Anwesen: spätrömische Dekadenz. Nicht weit davon entfernt führte ein breiter Steg, an dem Ruderboote festgemacht waren, in das Wasser hinaus, und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass irgendwo weiter draußen das Segelschiff des Gastgebers im schwachen Wind schaukelte. Die andere Seeseite, ich schätzte sie auf sechs oder sieben Kilometer entfernt, zeigte keine hässlichen, übergroßen Hotelklötze, wie man sie so oft sah, sondern kleine Dörfer und versprenkelte Häuser auf steil ansteigenden Hügeln.

Wir schlenderten den Steg hinaus. Ein Paar kam uns entgegen. Wir nickten uns freundlich zu.

»Wir haben noch Zeit«, sagte die Frau zum Mann, als die beiden an uns vorbei waren. »Die Rede ist erst um zehn.«

Mir ging diese Rede jetzt schon auf die Nerven.

Wir blieben stehen und blickten stumm auf den See, der im Licht der späten Sonne glitzernd vor uns lag. Es war ungewohnt, so viel Wasser zu sehen, ohne Salz zu riechen. Ich trank den letzten Schluck Champagner, als ich bemerkte, dass Hendrik in die andere Richtung schaute, nicht zum See hinaus, sondern zur Party zurück. Er hatte demnach nicht gelogen: Er interessierte sich wirklich mehr für Menschen als für Natur.

»Seht ihr, was ich sehe?«, fragte er.

Es war klar, worauf er anspielte. Auch wenn wir weit weg standen, erkannten wir doch, was am Haus vor sich ging. Ein Beamer hatte damit begonnen, Bilder des Anwesens auf eine kahle, große, weiße Stelle der Außenmauer zu projizieren.

»Wozu denn das?«, fragte ich.

»Ich nehme an, dass sie später die Rede ins Freie übertragen werden«, war Hendriks Antwort – und sie leuchtete mir ein. Landau würde in der Festhalle sprechen, nahm ich an, warum aber sollten sich alle Gäste nach drinnen begeben müssen, wenn es doch ein so lauer Abend war? Das Vorprogramm dieser Show wirkte jedoch absurd. Die Gäste sahen den Weinberg, die Pferdeställe, Luftaufnahmen der Villa, vor allem aber und immer wieder: den See.

Witali schnaubte lachend.

»Was für eine Metapher«, sagte er. »Die Menschen lassen sich lieber von Illusionen ablenken als sich umzudrehen, loszumarschieren und die Wirklichkeit zu erkunden. Kaum sehen sie so etwas Ähnliches wie einen Bildschirm, können sie ihre Augen nicht mehr von ihm lösen.«

Hendrik, mit Witalis Gedanken offensichtlich bestens vertraut, grinste mich an.

»Nicht falsch verstehen«, sagte er zu mir. »Das ist keine Medienkritik. Immerhin haben wir zwei einen Videoblog, richtig?« Er boxte Witali freundschaftlich auf die Schulter.

»Nein, das ist keine Medienkritik«, stimmte Witali ihm zu, er aber sprach im Unterschied zu Hendrik mit fast feierlichem Ernst. »Das ist so viel mehr. Die Menschen lieben Illusionen. Sie glauben, was sie sehen und was man ihnen erzählt. Sie hinterfragen es nicht«, fuhr er fort und starrte bei alldem noch immer wie gebannt zur Villa zurück. »Sie nehmen das als wahr an, was sie gerade sehen. Es ist, als würden sie nicht den Mut haben, sich umzudrehen und in die andere Richtung zu schauen.«

Ich war mir unsicher, ob ich die Metapher tatsächlich verstand.

»Was würden sie sehen?«, fragte ich zögerlich. Den See? Das aber wollte ich nicht laut fragen, immerhin hatte ich Witali heute Abend schon einmal durch eine unbedachte Nachfrage verärgert.

»Sie würden erkennen, dass da so viel mehr ist«, sagte Witali. »Das, worauf es ankommt, kann man nämlich nicht mit den Sinnen erfassen.«

»Ah«, sagte ich, da ich glaubte, zu verstehen. »So wie in dem berühmten Zitat: ›Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.‹«

Erst jetzt, so wurde mir klar, hatte ich Witali wirklich verärgert. Alles andere zuvor war nur Spielerei gewesen. Er stierte mich an, als würde er jeden Augenblick auf mich losgehen.

»Nein, nein«, sagte Hendrik beschwichtigend, bevor der Breitschultrige endgültig explodierte. »Ich glaube, Witali meint etwas Anderes. Hast du zum Beispiel schon einmal ›die Gerechtigkeit‹ gesehen?«

»Die Gerechtigkeit?« Da ich den abrupten Themenwechsel nicht verstand, klang ich wie ein plumpes Echo. »Nein, sicherlich nicht die Gerechtigkeit, jedoch vielleicht gerechte Menschen…«

»Ganz genau«, unterbrach mich Hendrik. »Und dasselbe gilt beispielsweise für ›die Schönheit‹, richtig? Wir haben Ideen von diesen Dingen im Kopf, obwohl wir sie selbst nie irgendwo antreffen. Und obwohl gerechte oder schöne Dinge, die uns in unserem Alltag begegnen, höchst unterschiedlich sind. Mal sehen wir ein schönes Bild, dann eine schöne Frau, dennoch nennen wir beides schön. Mal ist es gerecht, wenn alle dasselbe bekommen, mal wäre es höchst unfair, wenn alle genau das Gleiche erhalten. Oder denk an die Fische.« Dieses Mal war ich so verwirrt, dass mein Echo nur in Gedanken hallte.

Die Fische?

»Schau dort unten«, sagte Hendrik, noch immer darum bemüht, mir zu erklären, was Witali meinte. »Was siehst du im Wasser? Fische. Und zwar verschiedene Arten, richtig? Aber selbst wenn es zwei Fische derselben Gattung sind, gleicht kein Fisch dem anderen. Trotzdem gelingt es dir, zu erkennen, dass dies alles Fische sind. Warum? Weil du die Idee eines Fisches kennst. Die Form eines Fisches. Quasi wie der Fisch schlechthin aussieht. Und mit diesem Original gleichst du alles ab, was du im Alltag antriffst. Daher weißt du: Das ist ein Fisch, das ist auch ein Fisch, das da hinten aber… das ist ein Huhn.«

Ich war mir gar nicht mehr so sicher, ob ich noch wusste, was einen Fisch von einem Huhn unterschied. Und wie zur Hölle waren wir überhaupt von den Bildern an der Außenmauer der Villa zu Fischen und Hühnern gekommen?

»Exakt«, kommentierte Witali, der sich allem Anschein nach wieder beruhigt hatte. »Darum sollte es uns gehen: Um die Ideen schlechthin. Um das Original. Was aber machen die Menschen? Sie geben sich mit dem schwachen Abklatsch zufrieden. Mit den Kopien. Sie lassen sich von Illusionen und sinnlichen Eindrücken ablenken und verwirren.«

Er nickte zurück zur Villa. Ich folgte seinem Blick und versuchte einen Konnex zwischen dem, was ich sah, und Witalis Theorie herzustellen, es fiel mir jedoch immer noch schwer. Menschen, die auf digitale Bilder eines Sees starrten, während hinter ihren Rücken genau dieser See lag, wirkten in der Tat bizarr. Zugleich wäre mir eine andere, simplere Interpretation dieses Anblicks einleuchtender erschienen: Man hätte dieses Szenario nämlich ebenso gut schlicht als ein Phänomen der Masse deuten können. Der Einzelne tat eben das, was alle taten. Warum? Weil wir Menschen bequeme Herdentiere waren. Diese Interpretation, so glaubte ich zu verstehen, hätte Witali nicht einmal falsch gefunden – nur banal.

»Moment«, dachte ich – aber im selben Augenblick bemerkte ich, dass ich das Wort laut ausgesprochen hatte. Witali und Hendrik blickten mich fragend an. »Äh, nichts, vergesst es«, sagte ich, um nicht erneut Witalis Unmut zu erregen.

»Komm«, sagte Hendrik. »Was wolltest du sagen?«

»Na gut«, antwortete ich unwillig. »Ich wollte fragen, woher ich das Original denn kenne?«

Hendrik nickte anerkennend. ›Kluge Frage‹, schien seine Mimik zu sagen. Witali hingegen zuckte mit den Schultern.

»Was weiß ich«, antwortete er. »Wir tragen diese Ideen eben in uns. Es ist, als würden wir uns an sie erinnern.« Er machte eine unwirsche Handbewegung. »Das Problem ist jedenfalls seit Jahrhunderten dasselbe«, fuhr er fort. »Wer sich weigert, die Illusionen für wahr zu halten, der wirkt wie ein Freak auf die Anderen.«

»Wie ein Freak?«

Zu meiner Überraschung war es Hendrik, der nachfragte. Nicht ich.

»Ja, ein Freak«, bekräftigte Witali. Er überlegte einen Moment lang, dann schien er eine passende Erläuterung gefunden zu haben. »Stellt euch vor, die Menschen dort drüben hätten ihr gesamtes Leben vor dieser Leinwand verbracht und sich noch nie umgedreht. Was würden sie sagen, wenn wir ihnen erzählten, dass hinter ihren Rücken ein Loch von 130 Metern Tiefe, 60 km2 groß und mit Milliarden Liter Wasser gefüllt liegt?« Während ich noch überlegte, ob Witali reine Phantasiezahlen genannt hatte oder ob er tatsächlich die Größe des Sees schätzte, fuhr er bereits fort. »Korrekt«, sagte er, als wüsste er um unsere Gedanken. Das tat er aber nicht. »Wenn wir Glück haben, würden sie uns auslachen. Wahrscheinlich aber würden sie uns einsperren. Oder Schlimmeres. Die Menschen tun nämlich alles, um nichts Neues lernen zu müssen. Sie wollen über keine großen Fragen nachdenken. Verstehst du, was ich damit sagen möchte?«

Obwohl Hendrik die Rückfrage gestellt hatte, nicht ich, wandte sich Witali nun wieder an mich. Ich nickte, langsam, aber doch, fühlte mich dabei jedoch wie ein schlecht vorbereiteter Prüfling.

»Die Menschen lieben die Illusion und möchten nicht von ihr befreit werden?«, sagte ich vorsichtig und wiederholte damit fast wortgleich, was Witali gesagt hatte, das aber schien ihm nicht negativ aufzufallen.

»Genau!«, rief er freudig und schlug mir auf die Schulter. Freundschaftlich, aber fest. Ich fragte mich, ob seine muskulösen Arme von einem Kampfsport herrührten, als wir lautes Lachen hinter uns hörten.

Von dort, wo eigentlich nur ein Loch mit Milliarden Liter Wasser hätte sein sollen.

6

Wir sahen zwei Frauen in einem Ruderboot. Die eine hielt Champagnergläser in der Hand, die andere versuchte den Steg anzusteuern. Und beide lachten.

»Helfen Sie uns mal«, rief die eine mit den Paddeln. Sie trug ein sommerliches Kleid, schwarz mit weißen Punkten, und eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern. »Wie waren unartige Mädchen und haben ohne zu fragen ein Boot ausgeliehen. Wir wissen jedoch nur, wie man Dinge stiehlt, nicht, wie man sie zurückbringt.« Wieder lachten beide laut auf. Im Bug des kleinen Boots standen zwei Eiskübel mit jeweils einer Champagnerflasche.

»Wir haben hier so ein Seil oder wie das heißt«, sagte die andere, die deutlich älter war. »Wissen Sie, wie man das Ding festmacht?« Noch bevor einer von uns geantwortet hatte, warf sie uns das schmale Tau bereits zu. Nach mehreren, ungeschickten Versuchen hielt Witali das andere Ende schließlich in Händen. Nachdem das Boot am Steg angedockt war, halfen Hendrik und ich den beiden Frauen dabei, auszusteigen – wobei nicht nur das Boot schwankte. Nach der älteren Frau kam einer der beiden Eiskübel an Land, dann erst betrat die jüngere den Steg.