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Erzgezeichneter Arkjen Vargos ist Hauptmann einer Truppe Quellwächter und steht mit eineinhalb Beinen im Grab. Als jedoch die Nacht der Herbstwende bevorsteht und das Land von grausamen Bestien heimgesucht zu werden droht, erhält seine Mannschaft einen Auftrag, der über Leben und Tod entscheidet. Umgehend bricht Arkjen mit seinen Dreißig auf, nicht ahnend, dass die kommende Nacht für ihn alles verändern wird.
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Seitenzahl: 450
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Trübselig betrachtet der hochgewachsene Mann das Schlachtfeld. Ein scharfer Wind zerzaust ihm das aschblonde, kinnlange Haar, treibt ihm einzelne Strähnen vor die hellgrünen Augen. Neugierigen Fingern gleich zerren die Böen an seinem grau gegerbten Ledermantel und seiner schlichten schwarzen Kleidung darunter. Gerinnendes Blut vermischt mit vom Kampf aufgewirbeltem Staub befleckt seine dunklen Stiefel. Es spiegelt sich auf seiner Seele, jagt ihm einen bitterkalten Stich ins Herz. In der Nähe ballen sich schwere Wolken zusammen. Die Luft riecht nach Regen. Er schaut zum Himmel hinauf, teilt ein leises Seufzen mit dem Wind. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Land die erlittenen Verluste mit süßen Tränen beweint. So wie es jedes Mal geschieht, wenn er sein Werk vollendet hat.
Er gibt sich einen Ruck, bewegt sich bedächtig zum Zentrum der erkalteten Schlacht. Inmitten der Toten sinkt er auf ein Knie nieder, drückt die Hand flach auf einen Flecken Erde, der vom Verderben unberührt geblieben ist. Es ist die Linke. Jene, die näher am Herzen liegt. Obwohl der Boden warm und trocken ist, fährt ihm ein frostiger Schauer den Rücken hinunter. Was er hier angerichtet hat, war notwendig. Dennoch schmerzt ihn jedes einzelne Leben, das er nehmen musste. Zu sehr erinnern ihn die Gefallenen daran, warum er heute auf diesem Kampfplatz steht.
Verächtlich lacht er auf.
Reue.
Sie nagt an ihm, aber sie beginnt bereits zu verblassen. Er weiß, dass er daran nichts ändern kann. Genauso, wie er weiß, dass er sich um ihr Verschwinden nicht scheren wird, sobald es geschehen ist. Sie nennen ihn schließlich nicht umsonst ein Monster.
»Mir ist klar, dass ausgerechnet ich der Letzte bin, der zu euch sprechen sollte«, flüstert Arkjen Vargos dem knochenharten Lehm unter ihm zu. »Die Geister wollen mich nicht hören. Niemand im Orâ will das. Lasst mich euch trotzdem sagen, dass kein Krieger des heutigen Tages in Vergessenheit geraten wird. Was ihr mir an verbliebener Lebenskraft hinterlassen habt, dient keiner geringeren Sache als Xârthriens Schutz. Das wisst ihr.« Er zuckt mit den Schultern, kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken, so fehl am Platz es auch sein mag. »Ist ja nicht so, dass das nach fünfhundert Jahren was Neues wäre.«
Mit einem harten Räuspern ermahnt er sich, die Geister der Gefallenen respektvoll zu behandeln. Noch ist er dazu in der Lage. Ein Zustand, den er schätzt, wenngleich er dessen Dahinscheiden ebenso wenig betrauern wird, wie das der Reue. Ein kaltes Herz ist der Preis, den seine besondere Verbindung zum Erdatem ihn kostet. Er zahlt ihn gern, wenn er auf diese Weise dafür sorgen kann, dass sich Xârthriens dunkelste Tage niemals wiederholen.
»Bitte verzeiht, das war unangebracht«, fährt Vargos fort. »Ich danke euch für eure Gabe, Soldaten aus Phan. Wirklich. Auch wenn ihr ziemlich überheblich wart.«
Er spürt, wie eine weitere Schicht Mitgefühl und Anstand von ihm abblättert. Viel ist jetzt nicht mehr übrig. Er beißt sich auf die Zunge, reißt sich zusammen. Es stimmt, dieses Heer war überheblich. Die Männer verspotteten ihn vor und während des Kampfes, ja, sogar noch während sie starben. Sie zeigten ihm ihre blanken, hässlichen Hintern, beleidigten seine Mutter, verhöhnten seinen Vater und noch vieles mehr, wofür er keine Aufmerksamkeit mehr verschwenden will. Nichts anderes taten sie mit seiner Truppe ‒ den Dreißig, wie Arkjen sie nennt. Also verzichtete er auf die Illusion, einige seiner Männer an den Gegner zu verlieren, damit die Gefallenen in der Jenseitswelt behaupten können, einen guten Kampf geschlagen zu haben. Wahrscheinlich werden sie lügen, wenn sie mit ihren Ahnen an der Ewigen Tafel der Herrin des Orâ sitzen. Doch das ist jetzt nicht mehr wichtig. Bedeutsam ist, dass er sich an den Überresten reiner Lebenskraft laben konnte, die die Soldaten ihm hinterlassen haben. Dass er dadurch wieder jung geworden ist. Dass er weitere fünfzig Jahre überdauern kann, ohne vom Erdatem getötet zu werden. Ganz gleich, wie viele Glyphen seine Haut zieren.
Neun. Das ist die Zahl, die ein Gezeichneter an Glyphen tragen kann, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Erscheint das zehnte Zeichen auf seinem Körper, ist er dem Tod geweiht. Es können Jahre vergehen, bis die zehnte Glyphe den Gezeichneten niederringt, oder es dauert nur wenige Monate. Manche zögern den Zeitpunkt ihres Ablebens hinaus. Sie beginnen, wie die Ungezeichneten Eisen zu tragen, um sich vom Erdatem abzuschotten. Andere wiederum vergessen jede Zurückhaltung und heißen ihr Ende mit offenen Armen willkommen. Als Arkjen mit Erlangung seiner zehnten Glyphe zum Erzgezeichneten wurde, gehörte er weder der einen noch der anderen Sorte an. Er hielt an seinen Gewohnheiten fest, wollte das Leben auskosten bis zum Schluss. Er wollte auf nichts verzichten und zufrieden sterben. Diese Tage liegen lange zurück. Sehr, sehr lange.
Er lächelt.
Es schmeckt bittersüß.
»Die Wenigsten bekommen das, was sie sich wünschen«, murmelt er. »Tja, wem sag ich das, hm?«
Sanft tätschelt er den Boden, bedankt sich ein letztes Mal bei den neuen wie den alten Geistern, die tief in der Erde unter ihm ein glückliches Jenseitsleben führen. Er ist für zahlreiche von ihnen verantwortlich, doch diese Vorstellung bereitet ihm keine nennenswerten Schmerzen mehr. Vargos merkt, dass sein kaltes Herz allmählich zurückkehrt. Seine volle Macht wird es erst dann erlangen, wenn er den ersten auf die Verjüngung folgenden Gedanken wirkt. Dieser Moment ist unausweichlich. Und er ist viel zu nah.
Langsam richtet er sich auf, lässt abermals den Blick schweifen. Die Dreißig sind auf sein Geheiß hin mit der Suche nach möglichen Überlebenden beschäftigt und haben sich auf dem Schlachtfeld verstreut. Weder sie selbst noch ihre weißen Hemden, scharlachroten Togen und einfachen Sandalen tragen Spuren des gefochtenen Kampfes.
Kein Dreck. Kein Blut. Keine Schramme.
Gar nichts.
Arkjen weiß, dass es an diesem Tag niemanden gibt, dem sie den Übergang in den Orâ erleichtern können. Trotzdem hebt er den Befehl nicht auf. Die Distanz zu seinen Männern macht es ihm leichter, Abschied zu nehmen. Nur mit einem möchte er ein letztes Wort wechseln, ehe er sie fortschickt und sich in die Einsamkeit seiner Heimat zurückzieht.
»Jarran! Komm mal her!«
Er lauscht seiner Stimme, die angenehm rau über die Ebene rollt. Keine Sekunde später ruckt einer der Männer herum und eilt herbei.
»Arkjen«, sagt er, als er den Erzgezeichneten erreicht. »Was gibt es, mein Freund?«
»Fragen«, erklärt Vargos einsilbig.
»Ah. Na, dann immer raus damit.«
Wieder huscht ein Lächeln über Arkjens Gesicht. Jetzt ist es eines der angenehmen Sorte. Jarran Kassios und ihn verbindet vieles. Als junger Bursche, gerade zwölf Jahre alt und noch grün hinter den Ohren, kam Kassios zu den Gezeichneten vom Quelltempel bei Agris, und Vargos erklärte sich bereit, ihn zu unterrichten. Über die Jahre wurden aus Schüler und Lehrer enge Freunde. Nicht zuletzt deshalb blieb Jarran nach dem Ende seiner Ausbildung in Agris und trat der Quellwache bei. Zur selben Zeit erhielt Arkjen die Lizenzierung zum Hauptmann. Mit Kassios als erstem Mitglied begründete er jene Truppe, die Jahre später als die Dreißig bekannt wurde. Niemand ist je aus dem Verbund ausgetreten. Zu fest hat das gemeinsam Erlebte die Männer zusammengeschweißt, denn Xârthrien war noch nie ein friedliches Land. Entsprechend häufig ziehen Gezeichnete der Quellwache an der Seite der Soldaten ihrer Heimat in einen Krieg.
»Wenn ich dich darum bitten würde, mich umzubringen«, sagt Vargos, schiebt die Hände in die Manteltaschen und fixiert einen Punkt in weiter Ferne, »würdest du es tun?«
»Bist du verrückt? Nein!«
»Und wenn ich es dir befehle?«
»Ich werde dich nicht umbringen. Niemals.«
»Natürlich.« Der Erzgezeichnete stößt ein Seufzen aus. Er kann nicht sagen, ob es aus Erleichterung, aus Enttäuschung oder aus der Erfüllung seiner Erwartungen gewachsen ist. Dessen ungeachtet grinst er schelmisch. »Natürlich würdest du das nicht tun. Was hab ich mir nur dabei gedacht?«
Kassios erwidert das Grinsen. »Nicht viel, offensichtlich.«
Das heitere Gefühl, das die Brust des Erzgezeichneten erwärmt, ist nur von kurzer Dauer. Schon einen Wimpernschlag später verhärtet sich seine Miene. In der verzweifelten Hoffnung, dem Untergang zu entkommen, bäumt sich die Reue noch einmal auf.
»Ich bin ein Ungeheuer, Jarran«, sagt er leise. »Ein verdammter Schlächter. Ich bin die Luft nicht wert, die ich atme. Ich bin das Blut nicht wert, das an meinen Händen klebt. Und ich bin die Treue nicht wert, die ihr Dreißig mir entgegenbringt. Ich sollte sterben. Besser gestern als heute. Besser vor hundert Jahren, als vor fünfzig.«
»So viel Schwachsinn hab ich ja schon lange nicht mehr gehört«, erwidert Jarran ärgerlich. »Was du tust, dient einem ehernen Zweck. Es muss sein. Das wissen wir beide. Ach was, das weiß die ganze Mannschaft.«
»Trotzdem solltest du es beenden.« Arkjen entsinnt sich an Worte, die eine Ewigkeit alt sind. Damals erfüllten sie ihn mit Grauen. Heute hingegen erscheinen sie ihm passend. »Einen Dolch ins Herz zu kriegen, ist keine große Sache.« Er lächelt wehmütig. »Ich würde es dir jedenfalls nicht übel nehmen, wenn du zustichst.«
Verständnislos schüttelt Kassios den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, was in dich gefahren ist, aber eins kann ich dir sagen: Ich werde dich nicht erstechen, nicht erschlagen oder sonst wie in den Orâ schicken. Verstanden?«
Der Erzgezeichnete nickt zur Antwort. Selbst wenn er sich wider Erwarten überzeugen ließe, würde Jarran ihn nicht erlösen können. Wie jeder der Dreißig ist er nichts weiter als ein Relikt aus längst erloschenen Tagen. Ein Gespenst. Eine liebgewonnene Erscheinung.
»Weißt du noch, wie dieser ganze Mist angefangen hat?«, fragt er, während seine Gedanken in die Vergangenheit abdriften.
Er hört die Antwort nicht mehr, doch das muss er auch nicht. Jarran kann keinen der Tage von damals vergessen. Immerhin gehört er selbst zu den Erinnerungen, die nun einer Sturmflut gleich über Vargos hereinbrechen und ihn unter sich begraben.
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
He, Arkjen! Bist du tot?«
Als das unnachgiebige Hämmern an seiner Zimmertür wieder einsetzte, wünschte sich Arkjen Vargos, er wäre es. Der Stadtvorstand hatte ihm die seltene Ehre von drei Ruhetagen gewährt. Um deren Beginn zu feiern, hatte er am vergangenen Abend in der Kopflosen Ente ziemlich tief in den Weinbecher geschaut. Vielleicht sogar in ein ganzes Fass, wenn er genauer darüber nachdachte. Entsprechend rachsüchtig erwies sich der ihn plagende Kater. Dass Vargos nach der Sperrstunde um Mitternacht eine Dirne mit auf sein Zimmer genommen und sie erst gegen Morgengrauen fortgeschickt hatte, machte die Sache nicht besser. Dasselbe galt für das durch die zugezogenen Vorhänge schimmernde Sonnenlicht. Seiner rotgoldenen Farbe nach zu urteilen, konnte er kaum mehr als vier Stunden geschlafen haben.
»Arkjen? Arkjen!«
Der Erzgezeichnete stöhnte leise auf und langte über die Bettkante. Seine Finger mussten nicht lange suchen, bis sie den Rand eines seiner Stiefel berührten. Verlässliches, altes Schuhwerk. Egal, wie eilig er es hatte, aus den Kleidern zu steigen, die Stiefel standen immer griffbereit neben seiner Schlafstatt. Bereits einen Atemzug später flog der Linke von ihnen durch den Raum und traf krachend die Tür.
»Verschwinde!«
Zwei Herzschläge lang herrschte Ruhe. Aber der Kerl auf dem Flur dachte nicht daran, aufzugeben.
»Mann, ich bin’s. Marik«, ertönte es versöhnlich hinter dem rotbraunen Holz.
»Ich weiß!« Polternd schlug der rechte Stiefel gegen die Pforte. »Verschwinde!«
»Hör mal, ich muss gleich zum Wachdienst an die Quelle. Wenn mein Hauptmann rausfindet, dass ich nicht rechtzeitig da war, kann ich mich auf was gefasst machen.«
»Ich bin dein Hauptmann!«, ächzte Vargos, gab sich geschlagen und stemmte sich in die Höhe. Schwindel wogte hinter seiner Stirn, sobald er die Füße auf den Boden stellte, und sein Magen fühlte sich an, als hätte er Gelbkäfersäure statt Wein getrunken. Trotzdem musste er schmunzeln. Er mochte zwar ihr Hauptmann sein, aber er war dennoch ein stinknormaler Kerl. Also durften seine Dreißig auch so mit ihm umspringen. Vorausgesetzt, sie stellten seine Befehle nicht infrage und wahrten Disziplin im Dienst. Pünktlich zur Quellwacht anzutreten, gehörte freilich dazu. Da lag Marik Kantra vollkommen richtig.
»Wie spät ist es?«, fragte der Erzgezeichnete, wobei er sich behutsam von der Bettkante erhob.
»Das morgendliche Siebenfeuer ist fast runtergebrannt.«
Arkjen seufzte gequält. Erstens war Marik wirklich spät dran. Zweitens plagte ihn ein Kater von der Größenordnung eines ausgewachsenen Graslandrinds. Um den loszuwerden, war das bisschen Schlaf, das er genossen hatte, eindeutig zu wenig. Leise murrend wickelte er sich eines der zerwühlten Laken um die Hüfte, schlurfte zur Tür und öffnete sie.
»Tatsächlich. Nicht tot.«
Grinsend schlug Kantra dem Erzgezeichneten auf die nackte Schulter. Bedachte man sein Alter von neununddreißig Jahren, sah Marik immer noch unverschämt gut aus. Er trug seine Quellwächtertracht bestehend aus einer ärmellosen, weißen Tunika, einer scharlachroten Toga und schlichten Sandalen. Das markante, glattrasierte Gesicht trübte kein einziges Fältchen, und das nussbraune, strubbelig kurze Haar war frei von jeglichem Grau. Eine Woge des Neides suchte Vargos heim. Er kannte diesen Mann seit siebenundzwanzig Jahren. Fünf davon als Lehrling, vier als Quellwächter in einer anderen Truppe, und den Rest als Mitglied der Dreißig. Abgesehen von der wachsenden Zahl der seine Haut zierenden Glyphen, hatte Kantra sich während dieser Zeit kaum verändert. Ganz im Gegensatz zu Arkjen. Ihm sah man seine einundfünfzig Jahre deutlich an.
»Ja, ich lebe noch. Du kannst mich mal«, winkte er missmutig ab. »Ich hab drei Ruhetage, schon vergessen? Was willst du?«
»Erde und Orâ.« Marik zog eine angewiderte Grimasse und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Du stinkst wie die Sümpfe bei den Himmelsklippen. Was hast du gestern Abend gemacht?«
»Nichts, was meinen Geduldsfaden länger werden lässt«, knurrte Arkjen. Er spähte zu beiden Seiten an dem Quellwächter vorbei, der seinen Blick richtig deutete.
»Sim und Tarsin halten den Kutscher für mich auf«, sagte er. »Weißt du, ich hab’s echt eilig. Und denk an meinen Hauptmann.«
»Der ist nicht derjenige, der um den heißen Brei herumtanzt. Also?«
»Der Stadtvorstand will dich sehen.«
»Warum?«
Kantra zuckte mit den Schultern. »Hat man mir nicht gesagt.«
»War ja klar. Und wann?«
»Sofort. Vor dem Haus wartet ein Schwebwagen auf dich.«
Arkjen stöhnte auf. »Geister der Jenseitswelt, was hab ich für eine Wahl. Wenn der Stadtvorstand ruft, muss man ihm folgen. Egal, wie viel man letzte Nacht gesoffen hat.«
»Scheint so«, befand Marik, dessen Schmunzeln eine gewisse Schadenfreude offenbarte.
»Sonst noch was?«
»Nein, das war alles.«
Der Erzgezeichnete nickte resignierend. »Tja, dann sag dem Fahrer, er soll noch ein bisschen Geduld aufbringen, bis ich runterkomme.«
»Mach ich.« Kantra grinste frech. »Unter einer Bedingung. Du legst bei meinem Hauptmann ein gutes Wort für mich ein.«
In einer scherzhaften Drohgebärde hob Arkjen die Hand. »Hau bloß ab, du verdammter Drecksack.«
Marik salutierte mit zwei Fingern, machte kehrt und eilte davon. Gähnend warf Vargos die Tür ins Schloss und tappte zur Zimmermitte. Die Entscheidung zwischen dem Waschtisch zu seiner Linken und dem Bett zu seiner Rechten fiel ihm schwer. Schlussendlich begab er sich jedoch zu der Keramikschale, die auf einem mit Handtüchern bestückten Holzgestell thronte. Vargos schaute in den darüber an der Wand befestigten Spiegel. Was er sah, gefiel ihm nicht besonders. Das Gesicht, das ihm entgegenstarrte, wirkte faltig und verhärmt. Die hellgrünen Augen lagen tief aber immerhin wachsam in ihren Höhlen. Zahllose hellgraue Bartstoppeln machten sich bemerkbar. Das kurze, ehemals aschblonde und mittlerweile von schmutziggrauen Strähnen durchzogene Haar stand wirr in alle Richtungen ab. Neun Glyphen auf seiner Haut ‒ vier auf dem rechten Arm, drei auf dem linken, zwei auf der Brust ‒ glommen in gedämpftem dunklem Rot. Die zehnte, auf seiner rechten Schläfe sitzende Glyphe leuchtete einige Nuancen heller als die anderen. Er trug das von vielen auch als ›Todesmal‹ betitelte Zeichen, das ihn zum Erzgezeichneten gemacht hatte, seit nunmehr sechs Jahren und damit länger als die meisten seiner Zunft vor ihm. Den überwiegenden Teil der Erzgezeichneten raffte der Erdatem zwischen dem ersten und dem vierten Jahr dahin; je nachdem, wie zurückhaltend sie nach dem Erscheinen der zehnten Glyphe mit ihren magischen Fähigkeiten umgingen. Vargos hatte in besagten sechs Jahren nichts an seinem Verhalten geändert. Er nutzte den Erdatem, wenn ihm der Sinn danach stand oder die Umstände es erforderlich machten. Über die Konsequenzen dachte er dabei nicht lange nach. Trotzdem war er immer noch hier.
»Wenigstens siehst du nur halb so beschissen aus, wenn du am Abend vorher nüchtern geblieben bist«, brummte er seinem Spiegelbild zu.
Arkjen glitt ein unwilliges Seufzen über die Lippen. Dann warf er das Laken aufs Bett, öffnete Vorhang und Fenster und machte sich an die Arbeit. Ein zielgerichteter Gedanke reichte aus, um die einst von ihm gewirkte Schale durch das Fenster verschwinden zu lassen. Mit frischem Wasser gefüllt kehrte sie wieder zurück, worauf er unter Einsatz von Rasierzeug den Bartstoppeln an den Kragen ging. Anschließend setzte er seinem müden Leib mit einer ordentlichen Portion kaltem Nass und Seife zu und rubbelte sich mit einem seiner selbst erschaffenen Handtücher trocken. Die entstandene Sauerei auf dem Boden beseitigte er, indem er das benutzte Handtuch hinwarf, den Fuß darauf stellte und damit über die Dielen wischte. Ein weiterer Gedanke sorgte dafür, dass sich das schmutzige Tuch in Luft auflöste, während er mit den Fingern sein feuchtes Haar in Form strich. Zuletzt benutzte Arkjen eine aus Minzwasser und Nelkenöl hergestellte Mundspülung, die seine Zähne pflegte. Dem schalen Geschmack auf der Zunge hatte die Flüssigkeit wenig entgegenzusetzen. Dennoch entlockte ihm der neuerliche Blick in den Spiegel ein schiefes Grinsen. Obwohl er weiterhin verkatert wirkte, konnte er sich an ähnliche Tage erinnern, an denen er wesentlich schlechter ausgesehen hatte.
Ein Frösteln durchfuhr den Erzgezeichneten und rief ihm ins Gedächtnis, dass er wohl kaum nackt vor die Tür gehen wollte. Die auf den einzigen im Raum vorhandenen Stuhl geworfene Quellwächtertracht ließ er unbeachtet. Vielmehr erleichterte er den linker Hand des Waschtischs aufragenden Kleiderschrank um saubere Unterkleidung, ein kurzärmeliges, sandfarbenes Hemd sowie eine schwarze Lederhose und schlüpfte hinein. Danach folgten die Stiefel und ein dünner Mantel aus kastanienfarbenem Glattleder, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbeugen aufkrempelte. Vargos mochte weiß die Herrin kein Angeber sein. Aber die Gelegenheit, einige seiner Glyphen zur Schau zu stellen, hatte er noch nie ausgelassen.
In dem Junggesellenhaus, in dem Arkjen ein Zimmer bewohnte, lebten vorwiegend junge Gezeichnete, die zur Quellwache gehörten. Viele von ihnen waren noch damit beschäftigt, sich den Nachtdienst aus den Knochen zu schütteln, und auf den Fluren der sieben Etagen brummte es vor angeregten Gesprächen. Die Unterhaltungen wurden regelmäßig für einen freundlichen Gruß an Vargos unterbrochen, den er mit einem knappen Wort und einem gezwungenen Lächeln erwiderte. Derweil konnte er es kaum erwarten, an die frische Luft zu kommen. Normalerweise war er für ein Schwätzchen unter Gleichgesinnten jederzeit zu haben. Doch solange ihm dieser vermaledeite Kater Hirn und Magen auf links drehte, stand Arkjen eher der Sinn danach, sich ausgiebig zu erbrechen.
Während er Korridor für Korridor entlang und Treppe für Treppe nach unten schlurfte, schalt er sich einen ausgewachsenen Idioten. Wie so oft in letzter Zeit. Als er vor achtundzwanzig Jahren in dieses Haus eingezogen war, hatte Arkjen es für eine großartige Idee gehalten, eines der acht Zimmer im obersten Stockwerk zu wählen. Dort war die Aussicht auf seine geliebte Heimatstadt Agris atemberaubend. Gleiches traf auf die fantastischen Sonnenuntergänge zu, die sich von seinem Fenster aus beobachten ließen. Nicht nur Arkjen beeindruckte dieses Schauspiel immer wieder aufs Neue. Auch viele seiner vergangenen Liebschaften hatten ihre ersten ›Ahs‹ und ›Ohs‹ des Abends vor dem Fenster stehend, statt zwischen den Laken ausgestoßen. Mit dem Wissen des alten Mannes, der Vargos heute war, entpuppte sich seine damalige Wahl jedoch als ausgesprochen dumm. Niemand jenseits der fünfzig begeisterte sich dafür, mindestens zweimal täglich zwölf Treppen steigen zu müssen. Besonders dann nicht, wenn man nach oben wollte. Allerdings lebten auch die wenigsten Männer mehr als ein Vierteljahrhundert in ein und demselben Zimmer.
Was gäbe ich nur für zehn Stunden mehr Schlaf, stöhnte Arkjen im Geiste, während er gähnend auf die Haustür zusteuerte. Im selben Moment kamen von hinten ausgreifende Schritte heran, und ehe Vargos sich versah, stießen ihn zwei junge Gezeichnete aus dem Weg.
»Pass doch auf, wo du hintrittst«, beschwerte sich einer der Burschen. »Seniler, alter Sack.«
Eine Sekunde lang stand Vargos ebenso stumm wie überrumpelt da und traute seinen Sinnen nicht. Einen Wimpernschlag später kochte die Wut in ihm hoch.
»He!«, schrie er den beiden hinterher. »He, verdammt!«
Ein Lichtstrahl streifte den Erzgezeichneten, als die Haustür auf- und wieder zuflog, und Stille brach über ihn herein. ›Seniler, alter Sack‹ hatte der Junge ihn genannt. Seinen Ruf hatte er ignoriert. Beide hatten ihn ignoriert. Miese kleine Ratten. Aber Fehler wie diese beging man in Arkjen Vargos’ Gegenwart nur einmal.
Für den Augenblick waren das Dröhnen im Schädel und das Rumoren im Magen vergessen. Wie von einem Gebirgsbock in den Hintern gebissen, stürmte Vargos aus dem Haus. Er blieb auf der Veranda stehen und sah die zwei Burschen einer heranfahrenden Kutsche entgegeneilen. Rasch erfasste er die Lage. Beide trugen Sandalen, eine weiße Tunika und eine tintenblaue Toga, die sie als Gezeichnete in Ausbildung auswies ‒ und zwar als solche, die längst ihren wöchentlichen Waffenlehrdienst bei der Quelle hätten antreten sollen. Arkjen grinste gehässig. Welch ein Jammer, dass sich ihre Abfahrt jetzt noch mehr verzögern würde.
»HE!«, brüllte er laut genug, dass sich zahlreiche der auf der Straße befindlichen Agrier zu ihm herumdrehten. Die Junggezeichneten hielten derweil hektisch winkend die Kutsche an und fühlten sich nicht angesprochen.
Vargos spannte die Muskeln, fokussierte seinen Geist. Die Glyphen auf seiner Haut begannen blutrot zu leuchten. Er spürte, wie der Erdatem durch sie hindurchströmte, wie er sich pulsierend mit seinem Blut vermischte. Das Todesmal brannte kalt. Stechend meldeten sich seine Kopfschmerzen zurück. Sein Magen erinnerte ihn daran, dass es ihm nicht gut ging, und Arkjens Zorn wuchs. Dann wirkte er seinen Gedanken.
Zwischen der Kutsche und den zwei Junggezeichneten schoss eine Ziegelwand in die Höhe. Schmal genug, um Unbeteiligten keinen Schaden zuzufügen. Massiv genug, um die Burschen abrupt auszubremsen. Das vor den Wagen gespannte Pferd scheute. Der Kutscher schrak zusammen, bevor er die Zügel anzog und das Tier bändigte. Aus vollem Lauf prallten die beiden Junggezeichneten gegen die Wand, taumelten zurück und drehten sich um. Zufrieden löste Arkjen den Gedanken wieder auf. Die Mauer verschwand so schnell, wie sie entstanden war. Der Kutscher wechselte einen flüchtigen Blick mit Vargos, erübrigte für die jungen Männer noch ein mitleidiges Kopfschütteln und zog von dannen.
»Herrin des Orâ!«, schimpfte der Bursche, der den Erzgezeichneten beiseite gestoßen hatte. Sein glattes, sonnengebräuntes Gesicht wies eine frische Schürfwunde auf, die leicht blutete. Er berührte die Stelle und betrachtete das auf seinen Fingerspitzen glänzende Ergebnis mit unverhohlenem Ärger. An seinem Hals glomm eine einsame Glyphe auf. »Wer auch immer das war, der wird das …«
»Jora, nicht«, fuhr ihm sein Freund ins Wort. Er deutete in Arkjens Richtung. »Ganz blöde Idee.«
Jetzt hob auch Jora den Kopf. Als wäre der Junge ein Wasserschlauch, in den jemand ein Loch gestoßen hatte, floss sein Zorn aus ihm heraus. Das Licht seiner Glyphe verkümmerte zu einem unscheinbaren Schimmern, und er wurde blass. Der Erzgezeichnete erwiderte die Reaktion mit einem kalten Lächeln.
»Erzgezeichneter Vargos«, hauchte der Junge.
»Verblüffend«, gab Arkjen zurück. Er schob die Hände in die Manteltaschen und zog eine spöttische Grimasse. »Du weißt das Paar Augen in deinem Kopf also tatsächlich zu gebrauchen. Meinen Glückwunsch.«
»Herr, ich … Ich wollte nicht …«
»Was? Nicht respektlos erscheinen? Nah.«
Vargos winkte ab und ließ die Hand wieder in der Tasche verschwinden. Ein Hoffnungsschimmer schlich sich in die Mienen der Junggezeichneten. Offenbar glaubten die beiden, glimpflich aus dieser Sache herauszukommen. Doch da kannten sie den Erzgezeichneten schlecht. Gemächlich trat er von der Veranda herunter und schritt auf die Burschen zu. Die Hände behielt er locker in den Taschen. Um die ihm bereits vorschwebenden Gedanken zu wirken, brauchte er sie nicht. Zu seiner Genugtuung erahnten die Junggezeichneten seine Absichten dank der zänkisch glimmenden Glyphen und wichen vor ihm zurück. Dasselbe taten einige Agrier, die in der Hoffnung stehen geblieben waren, etwas geboten zu bekommen. Jeder in der Stadt wusste, dass ein wütender Gezeichneter keine spaßige Angelegenheit darstellte. Im Besonderen, wenn es sich dabei um Arkjen handelte. Aber solange ein anderer das Ziel war, konnte man wenigstens ein bisschen gaffen.
Wie sich herausstellte, durften weder neugierige Bürger noch der Erzgezeichnete einen Glückstag verbuchen. Vielmehr waren es die Junggezeichneten, denen das Schicksal in Gestalt eines Schwebwagens zu Hilfe eilte. Gemächlich schob er sich zwischen Vargos und die Burschen. Arkjen maß den dicklichen, glatzköpfigen Fahrer mit zornesbrodelndem Blick, doch der zeigte sich unbeeindruckt.
»Der Stadtvorstand wartet«, sagte er in einem Tonfall, der vor Langeweile nur so troff. »Ich warte. Seit über einer halben Stunde, wenn Ihr es genau wissen wollt. Ich darf sicher davon ausgehen, dass Ihr Euer Treffen jetzt wahrnehmen werdet.«
»Ich bin mit den beiden Kröten noch nicht fertig, Osta«, knurrte Arkjen.
Osta Loht musterte die Burschen mit noch größerer Langeweile, als er sie für den Erzgezeichneten aufgewendet hatte. Vargos’ bescheidener Meinung nach gab es niemanden in ganz Xârthrien, der über mehr Gleichgültigkeit verfügte als der persönliche Diener des Stadtvorstandes von Agris.
»Mir ist nicht bekannt, was Ihr ihnen zur Last legt, Erzgezeichneter Vargos«, sagte Loht gedehnt. »Aber man sollte doch meinen, dass es an ihren Ausbildern sei, ihnen Anstand einzubläuen. Soweit ich informiert bin, fällt diese Aufgabe demnach nicht Euch zu.«
»Soweit ich informiert bin, hat es bislang noch keinem geschadet, zwischendurch auch mal von einem fremden Stiefel in den Arsch getreten zu werden.«
»Herrje, Vargos.« Osta stieß ein Seufzen aus und schüttelte den Kopf. Danach wandte er sich an die Junggezeichneten. »Nehmt die nächste Kutsche, die ihr finden könnt, und dann ab an die Quelle.«
»Danke, Herr«, erwiderte Jora kleinlaut.
»Dankt mir nicht zu früh. Eure Ausbilder werden hierüber einen offiziellen Bericht erhalten.« Der Diener des Stadtvorstandes wackelte mit der Hand, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen. Vargos hätte schwören können, dass sich der weite Ärmel seiner himmelblauen Tunika dabei genauso lustlos bewegte wie Osta. »Was steht ihr noch da wie die Statuen? Fort mit euch. Husch, husch.«
»Husch, husch, ja?«, echote Arkjen. Er verspürte eine Mischung aus verrauchendem Ärger und Belustigung, während er den davonlaufenden Junggezeichneten nachsah. »Ist das Euer Ernst?«
»Was immer sie anspornt. Und nun hinein mit Euch in den Wagen, Vargos.« Osta zwinkerte ihm amüsiert zu. Ein Anblick, der dem Erzgezeichneten nicht allzu oft vergönnt war. »Husch, husch.«
Zu Beginn der Fahrt saß Arkjen im hinteren Teil des Schwebwagens und brütete mürrisch vor sich hin. Die Begegnung mit den beiden Junggezeichneten nagte an ihm. Sie hatten recht. Er war alt. Nicht senil, aber alt. Seine besten Jahre hatte er längst hinter sich, und alles, was noch auf ihn wartete, war die Jenseitswelt. Im Grunde konnte es jeden Tag soweit sein, dass seine zehnte Glyphe ihn umbrachte und sein Geist zu den tief unter der Erde befindlichen Toren des Orâ entschwand.
Allerdings war es nicht der Tod, den Arkjen fürchtete, sondern der Weg dorthin. Kurz bevor ein Erzgezeichneter starb, suchte ihn ein heftiger Anfall heim, der alle Ängste des Betroffenen in sich vereinte. Augenzeugen wussten in dieser Hinsicht eine Menge unschöner Dinge zu berichten, da dieser finale Wahn dem Leiden eines schutzlosen Ungezeichneten in nichts nachstand. Wer unkontrolliert mit dem Erdatem in Kontakt geriet und nicht rechtzeitig durch Eisen von ihm getrennt wurde, der verfiel binnen Minuten in einen tödlichen Irrsinn. Bevor ein angehender Gezeichneter mit dem Wirken von Gedanken beginnen konnte, musste er also lernen, sich gegen die negativen Eigenschaften des Atems abzuschotten. Hierzu wurde er in einer zweijährigen Gewöhnungsphase behutsam an den bei jeder Quelle rot sichtbaren Nebel herangeführt. Gelang die Gewöhnung, lebte der Gezeichnete fortan unter dessen ständigem Einfluss. Doch den Schutz seines Geistes aufrecht zu erhalten, kostete wertvolle Lebenskraft. Im Ergebnis tötete der Erdatem einen Gezeichneten genauso wie jeden Ungezeichneten, der kein Eisen trug. Nur eben wesentlich langsamer.
Ein plötzlicher Krampf in der Körpermitte zerstreute Arkjens trübe Gedanken, denn sein Magen hatte von den Qualen des vorabendlichen Besäufnisses endgültig genug. Ächzend stöhnte er auf. »Osta.«
»Ja, bitte?«
»Haltet an. Schnell.«
Der Diener des Stadtvorstandes warf einen verwunderten Blick über die Schulter und schluckte den auf seinen Lippen liegenden Protest herunter. Keine weiteren Fragen stellend, lenkte er den Schwebwagen an den Rand der mit Kutschen, Reitern und Fußgängern übersäten Hauptstraße. Noch bevor er das Gefährt für einen bequemeren Ausstieg zu Boden sinken lassen konnte, war Arkjen über die Seitenwand gesprungen. Eine Hand vor den Mund gepresst und begleitet von den fragenden Blicken seiner Mitbürger hastete er ans Ende der nächstbesten Gasse, wo er sich geräuschvoll übergab. Verdammte Sauferei. Das war das letzte Mal, dass er es dermaßen übertrieben hatte.
»Herr?«
Keuchend entsagte Vargos seiner gekrümmten Haltung und sah sich um. An der zur Hauptstraße gewandten Seite der Gasse entdeckte er eine junge Frau in einem schlichten, blassroten Leinenkleid, die ihn sorgenvoll betrachtete.
»Herr, geht es euch gut?«
Arkjen nahm sich einen Augenblick Zeit für seine Antwort. Der saure Geschmack von Erbrochenem brannte ihm in Mund und Hals, und zu seinen Füßen hatte er eine ziemliche Schweinerei veranstaltet. Im Großen und Ganzen fühlte er sich aber besser.
»Ja, jetzt schon«, erklärte er mit einem Lächeln.
Die junge Frau erwiderte es gezwungen, wobei ihr Blick zur Hauswand glitt. Vargos tat es ihr nach und spürte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Der helle Sandstein sah nicht mehr besonders gut aus.
»Ist das Euer Haus?«
Langsam nickte sie.
»Oh. Also, das … Bitte entschuldigt. Ich bring das wieder in Ordnung.«
Abermals reagierte sie mit einem vorsichtigen Nicken, in dessen Folge der Erzgezeichnete einen schnellen Gedanken wirkte. Sekunden darauf war der Schandfleck verschwunden. Etwas, das er von dem Geschmack auf seiner Zunge nicht behaupten konnte. Flüchtig dachte Vargos darüber nach, die Frau um einen Becher Wasser zu bitten, entschied sich jedoch dagegen. Immerhin hatte er eine beträchtliche Portion seines Mageninhalts gegen ihr Haus gespuckt. Sich dafür auch noch bedienen zu lassen, wäre unverschämt.
»Tja, dann …« Arkjen lächelte abermals und vollführte eine leichte Verbeugung. »Möge die Herrin Euch einen angenehmen Tag bescheren, meine Dame.«
»Möge sie Euch nicht vergessen, Erzgezeichneter Vargos«, gab sie zur Antwort, während sie schüchtern schmunzelnd zur Seite trat.
Arkjen nahm das als Zeichen, sich aus dem Staub zu machen, und setzte sich in Bewegung. Als er bei der Frau angekommen war, blieb er noch einmal stehen und verlieh seiner Stimme einen verschwörerischen Tonfall.
»Seid so gut, und bewahrt hierüber Stillschweigen. Einverstanden?«
»Meine Lippen sind versiegelt.« Die junge Frau deutete auf die Straße hinaus. »Aber ich fürchte, ich bin nicht die Einzige, der Ihr dieses Versprechen abnehmen müsst.«
Irritiert schaute der Erzgezeichnete in die gewiesene Richtung. Von hier aus hatte er eine hervorragende Sicht auf die umherlaufenden Menschen, von denen die meisten jedoch gar nicht mehr liefen, sondern bloß standen und glotzten.
Ihr miesen, tratschsüchtigen Mistkäfer, schoss es Arkjen durch den Kopf.
Ehe er die Stimme erheben und seinem Unmut Luft machen konnte, wandte sich die Menge ruckartig ab, ging ihrer Wege und tat, als wäre nichts gewesen. Natürlich würden sie diesen Anblick nicht vergessen. Und natürlich würde Vargos in den nächsten Tagen dank seiner kleinen Einlage zum heimlichen Stadtgespräch werden. Das war so klar wie der Sternenhimmel in einer wolkenlosen Winternacht. Resignierend ließ Arkjen die Schultern hängen, eilte zum Schwebwagen zurück und stieg ein.
Aller Unannehmlichkeiten zum Trotz hatte der unplanmäßige Zwischenstopp etwas Gutes. Mitsamt dem stechenden Magendrücken hatten sich Arkjens schlechte Laune und sogar seine Kopfschmerzen verflüchtigt, sodass er die Fahrt endlich genießen konnte. Schon seit Kindheitstagen besaß er eine Schwäche für Schwebwagen. Zum einen wirkten besagte Gefährte überaus elegant, wenn sie einen halben Meter über dem Boden dahinglitten. Sie waren leise und sobald es darauf ankam schneller als ein Pferd. Zum anderen entsprang jeder Wagen den gewirkten Gedanken eines Gezeichneten, was ihre Individualität, aber auch ihre Seltenheit begründete. Nur wenigen Gezeichneten gelang das Kunststück, ein solch beeindruckendes und zugleich funktionstüchtiges Gefährt zu erschaffen. Vor einigen Jahren hatte Vargos mehrere Monate an einem Gedankenkonstrukt für einen eigenen Schwebwagen gearbeitet und war gründlich gescheitert. Er wusste also, wovon er sprach. Mittlerweile vertrat er die Auffassung, dass die Herstellung dieser Gefährte nur denjenigen Gezeichneten glückte, die vom Leben so gelangweilt waren wie Osta Loht.
Dessen Schwebwagen hatte es dem Erzgezeichneten besonders angetan. Von der Grundform her erinnerte er an eine Birne. Die gewölbten, im Sitzen schulterhohen Seitenwände neigten sich leicht nach innen und wechselten je nach Lichteinfall ihre schimmernde Farbe von Dunkelblau nach Silber. Am oberen Rand zog sich ein breiter Streifen aus feinen, weißen Ornamenten entlang, während sich das dunkle Blau in den dicken Samtpolstern auf der Innenseite wiederholte. Ostas Sitzplatz befand sich separiert im schmalen Vorderteil des Wagens. Der für die Fahrgäste bestimmte Bereich im Bauch der Birne war in Form einer durchgängigen Sitzbank rund angelegt. Bei schlechtem Wetter oder zum Schutz vor sengender Mittagssonne im Sommer entfaltete sich ein perlmuttfarbenes Segeldach über dem Gefährt, und für den bequemen Ein- und Ausstieg wirkte Osta einen Gedanken, der ein Stück der Seitenwand durchlässig machte.
In der Vergangenheit hatte Arkjen eine Menge erfolglose Versuche unternommen, dem Diener des Stadtvorstandes den Schwebwagen abzukaufen. Nach einem besonders feuchtfröhlichen Abend in der Kopflosen Ente hatte er einmal sogar darüber nachgedacht, das verfluchte Ding einfach zu stehlen ‒ wohl wissend, dass so was in moralischer Hinsicht unmöglich war. Jeder Gegenstand, den ein Gezeichneter mit Hilfe des Erdatems erschuf, entsprang seinen Gedanken. Demnach gehörte er allein ihm. Das bedeutete, dass ein Fremder unfähig war, ein solches Objekt an sich zu nehmen, geschweige denn, es zu benutzen. So vermochte beispielsweise niemand mit einer von einem Gezeichneten geschaffenen Feder zu schreiben, mit dessen Schwert zu kämpfen oder dessen Schwebwagen zu fahren, solange der Gezeichnete es nicht erlaubte. Im Gegenzug war der Hersteller des Gegenstandes in der Lage, damit zu machen, was er wollte. Er konnte ihn für einen Fremden zugänglich oder unantastbar machen, so oft es ihm gefiel. Er konnte Kleinigkeiten daran verändern, ihn von Grund auf neu gestalten oder einfach verschwinden lassen, wenn er ihn nicht länger brauchte. Manipulationen an der eigenen Kreation waren hier die leichteste aller Übungen und lediglich beschränkt durch die persönliche Kreativität.
Was der Kodex der Gezeichneten hingegen bei schwerster Strafe verbot, war das Aufbrechen der vor fremdem Zugriff geschützten Gedankenwerke anderer Gezeichneter. Natürlich hatte es in der Vergangenheit immer wieder gierige Langfinger gegeben, die es mittels ausgeklügelter Ideen trotzdem getan hatten. Aber jeder von ihnen war irgendwann aufgeflogen. In der Folge brauchte sich ein solcher Kodexbrecher kein langes Leben mehr erhoffen, denn mit Nestbeschmutzern jeglicher Art machte die Zunft der Gezeichneten kurzen Prozess. Nicht umsonst stellten Kriminelle aus den Reihen der Gedankenmagier eine wahre Seltenheit dar. Dummerweise hieß das für Arkjen, dass er niemals Ostas Schwebwagen bekommen würde. Egal, wie sehr er sich darum bemühte.
Wahrscheinlich nimmt der dämliche Gockel das Ding sogar mit ins Grab.
Von dieser Vorstellung amüsiert, verschränkte Vargos die Arme vor der Brust, sank tiefer in die weichen Polster und verdonnerte seine Grübeleien zu einer Ruhepause. Wenigstens den Rest des Weges wollte er noch mit allen Sinnen auskosten.
So holprig der Morgen begonnen hatte, so entspannt erreichte Arkjen den Sitz des Stadtvorstandes. Das achteckige, als ›Weißer Turm‹ bekannte Gebäude thronte auf einer im Zentrum von Agris befindlichen, üppig begrünten Anhöhe. Rechter wie linker Hand des neungeschossigen Turms erhob sich je ein weiteres über drei Etagen verfügendes Haus. Eines davon beherbergte Quartiere für die Bediensteten, das andere großzügige Zimmer für Gäste des Stadtvorstandes. Um die Anhöhe herum scharten sich in unterschiedlich engen Gruppen die zumeist quadratisch angelegten Häuser der Agrier, zwischen denen sich ein riesiges Netz aus Haupt- und Nebenstraßen spannte. Behütet wurde die Stadt von einer zehn Meter breiten und zweimal so hohen Mauer, auf deren Nordseite die zwölf doppelt mannshohen Stundenfackeln standen. Vor Wind und Wetter durch eine speziell gewirkte Glaskuppel geschützt, waren die Fackeln so angebracht, dass sie von jedem Punkt der Stadt aus gesehen werden konnten; sei es nun, dass man sich gerade in den ärmeren Bezirken in Mauernähe, in den wohlhabenden Bereichen im direkten Umkreis des Turmes oder irgendwo dazwischen herumtrieb. Von links nach rechts gezählt verriet die jeweils brennende Fackel die aktuelle Tageszeit, und nach Ablauf der zwölften Stunde begann der diensthabende Fackelmeister mit dem Anzünden wieder von vorn. Momentan stand das morgendliche Achtfeuer kurz vor dem Verlöschen. Anders gesagt, Arkjen hatte sich eine Menge Zeit gelassen, dem Ruf der Obersten von Agris zu folgen, und die wartete gar nicht gern. Wäre Stadtvorstand Mirjen Vargos nicht seine vier Jahre jüngere Schwester gewesen, hätte er sich auf gewaltigen Ärger gefasst machen können.
»He, Osta«, hob der Erzgezeichnete an, während der Schwebwagen gemächlich die Anhöhe hinauf glitt. »Was muss ich Euch bezahlen, damit Ihr diesen Hügel mal mit ordentlich Geschwindigkeit hinter Euch bringt, statt immer so zu schleichen?«
»Nichts, Vargos.«
»Heißt das, Ihr macht es umsonst?«
»Das heißt, ich bringe Euch zum Turm. Nicht mehr, nicht weniger.«
»Wenn Ihr Schiss habt, können wir gerne die Plätze tauschen.«
»Nein.«
»Ich bin auch ganz vorsichtig.«
»Nein.«
»Ihr seid verdammt empfindlich, wisst Ihr das? Wir kennen uns doch nicht erst seit gestern.«
»Gerade das ist das Problem.«
Gekränkt legte Arkjen die Stirn in Falten, doch dann musste er schmunzeln. Dieser Mann hatte Mumm. Neben seiner Schwester und den Dreißig wagten es nur wenige Bürger von Agris, ihm zu widersprechen. Dem Großteil machte er dieses Verhalten nicht zum Vorwurf. Er wusste, dass er zum Jähzorn neigte, und Leute wie ihn versuchte man lieber nicht zu reizen. Zur Weißglut brachten Vargos dagegen die Feiglinge und Arschkriecher, die ihn vorne mit Honig beschmierten und ihn teerten und federten, sobald er sich umdrehte. Osta Loht gehörte zu keiner dieser Gruppen, was einer der Gründe war, warum Arkjen den Kerl gut leiden konnte. Ein weiterer Grund lag darin zu finden, dass er stets ein wachsames Auge auf seine Schwester hatte. Das Leben als Vorstand einer xârthrischen Stadt war nicht immer ungefährlich.
»Osta?«
»Bitte, Erzgezeichneter?«
»Ihr seid ein mieser Verhandlungspartner.«
Loht lachte leise. »Mag sein. Aber immerhin habe ich damit Erfolg.«
Vargos grinste und hielt den Mund. Gegen unschlagbare Argumente kämpfte selbst er nicht an.
Wenig später betrat Arkjen das Besprechungszimmer im neunten Stockwerk des Weißen Turmes. Jedes Mal, wenn er herkam, dankte er der Herrin dafür, dass das Gebäude im Inneren über einen mechanischen Aufzug verfügte.
»Das Zimmer gehört Euch«, sagte Osta, der ihn nach oben begleitet hatte und sich nun verbeugte. »Die Dame Vargos wird sich Euch in Kürze anschließen. Ich empfehle mich.«
Der Erzgezeichnete dankte ihm mit einem Nicken. Osta zog sich aus dem Raum zurück und drückte die Tür ins Schloss. Rasch verhallten seine Schritte auf dem Flur, und Arkjen blieb sich selbst überlassen.
Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er schon hier oben gewesen war, seit er den Posten des Hauptmanns einer Truppe Quellwächter bekleidete. Doch in all den Jahren hatte sich das Zimmer keinen Deut verändert. Die im Achteck angeordneten, mit dunklem Holz vertäfelten Wände trugen eine hohe, weiß getünchte Decke, von deren Mitte ein ausladender Kerzenleuchter herab hing. Drei nach Süden gerichtete, bodentiefe und unverhangene Fenster gewährten einen herrlichen Blick über die Stadt. Rechts und links der Tür sorgte je ein bunter Wandteppich für farbliche Akzente, während die Raummitte von einem großen, rechteckigen Tisch dominiert wurde. Um das aus blank poliertem Rotholz gezimmerte Möbelstück scharten sich neun helle Polsterstühle, und auf der Tischplatte lag eine ausgebreitete Karte.
Das Pergament weckte Vargos’ Neugier. Allerdings war die Anziehungskraft des neben dem linken Fenster aufgestellten Servierwagens größer. Als er den Raum in besagte Richtung durchschritt, gab das helle Eichenparkett ein verhaltenes Knirschen von sich. Arkjen lächelte über das vertraute Geräusch, wobei er die drei auf dem Wagen deponierten Keramikkaraffen inspizierte. Wie erwartet, enthielten sie Wein (auf keinen Fall), gekühlten Minztee (nur, wenn er gezwungen wurde) und Wasser. Froh, endlich etwas gegen seinen trockenen Mund unternehmen zu können, griff er nach einem der im unteren Fach des Servierwagens verwahrten Becher und bediente sich großzügig aus der Wasserkaraffe. Der gestillte Durst zog ein bohrendes Hungergefühl nach sich, sodass Vargos seine Aufmerksamkeit einem reich bestückten Obstkorb neben dem rechten Fenster widmete. Er wählte einen saftig roten Apfel. Zufrieden kauend schlenderte er an den Tisch heran, um einen genaueren Blick auf die Karte zu werfen. Was er dort sah, war ein detailliertes Abbild von Khyssandria; jenem Staat, der neben Agris die beiden kleineren Städte Charis und Sikris beheimatete. Vor Agris waren einige Gruppen fingernagelgroßer Holzwürfel in den Farben Gelb und Rot angeordnet, wobei erstere Farbe für die Stadtgarde stand und die zweite die Gezeichneten symbolisierte. Die Verteilung der überwiegend gelben Würfel schrie förmlich nach dem Anfang eines strategischen Schlachtplans. Hatte Mirjen ihn deswegen rufen lassen? Brauchte sie ihn und seine Dreißig für einen Kampf? Nachdenklich knabberte Arkjen an dem Apfel und fing an, im Geiste einige Formationen durchzuarbeiten. Er wurde jedoch bald von seiner Schwester unterbrochen.
»Da hat der feine Herr sich also endlich her bequemt«, brummte sie, als sie den Raum betrat. Kopfschüttelnd zog sie die Tür ins Schloss, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn aus grünen Augen. In ihrem bodenlangen, violetten Samtkleid und mit dem zu einem lockeren Knoten hochgesteckten, flachsblonden Haar sah sie hinreißend aus. Zweifelsohne zählte Mirjen Vargos zu den Frauen, die mit jedem weiteren Lebensjahr an Schönheit dazugewannen.
»Schwesterherz!«, rief Arkjen, ohne sich von ihrem mürrischen Gesicht beeindrucken zu lassen. Grinsend breitete er die Hände aus. »Komm, lass dich drücken!«
Zuerst schien Mirjen ihm lieber eine der Karaffen über den Schädel ziehen zu wollen, als ihn zu begrüßen, aber ihr Widerstand währte nur kurz. Ein Schmunzeln im Mundwinkel tragend kam sie herbei und schloss ihn in die Arme.
»Du musst unbedingt an deiner Pünktlichkeit arbeiten«, tadelte sie ihn, nachdem sie voneinander abgelassen hatten. »Wir haben beide keine Erben, also wird der nächste Stadtvorstand nicht mehr zur Familie gehören. Mit deiner momentanen Einstellung wirst du es schwer haben, wenn ich mein Amt weitergebe.«
»Bis dahin vergehen noch ein paar Jahre«, entgegnete Arkjen schulterzuckend. »Wenn du in den Ruhestand gehst, bin ich wahrscheinlich schon lange tot.«
Er bereute seine unbedarften Worte, kaum dass sie gesprochen waren, denn sofort füllten sich Mirjens Augen mit Tränen. Die Geschwister pflegten seit jeher ein herzliches Verhältnis zueinander, und der zwölf Jahre zurückliegende Tod ihrer Eltern hatte sie nur noch enger zusammengeschweißt. Entsprechend schwer hatte es Mirjen getroffen, als Vargos’ zehnte Glyphe erschienen war. Schnell suchte er nach einem anderen Gesprächsthema und deutete mit dem Apfel auf die Karte von Khyssandria.
»Wie stehts mit der Fehde zu unseren Schwesterstädten? Wenn man sich die Karte so anschaut, sieht es nicht besonders gut aus.«
Mit dem Handrücken trocknete Mirjen sich die Augenwinkel und schnaufte. »Erinnere mich nicht daran. Der neue Stadtvorstand von Sikris ist ein listiges Schwein. Seine Bemühungen, uns beim Stadtvorstand von Charis schlechtzureden, tragen langsam Früchte. Die Charier fangen an, mir zu misstrauen und stellen meine und die Entscheidungsfähigkeit meiner Berater infrage. Auf diese Weise können die Stadtvorstände kein funktionierendes Triâm mehr bilden, Arkjen.« Niedergeschlagen betrachtete sie die Karte. »Sollte das so weitergehen, werde ich an Sikris ein Exempel statuieren müssen, bevor der Rest von Xârthrien hellhörig wird. Was passiert, sobald die übrigen Staaten merken, dass die khyssandrische Gemeinschaft ins Wanken geraten ist, mag ich mir in meinen dunkelsten Träumen nicht vorstellen.« Abermals seufzte Mirjen und rieb sich fröstelnd die von feinen Taftärmeln umspielten Arme. An ihren Handgelenken klimperten leise die Eisenkettchen, die sie vor dem Erdatem schützten. »Das wäre nicht der erste Krieg, den ich führe, und trotzdem hasse ich es immer wieder. Aber genug davon. Deswegen bist du nicht hier.«
»Nicht?« Verwundert biss Arkjen ein letztes Mal in seinen Apfel und legte den ungenießbaren Rest auf den Servierwagen.
»Khyssandria ist nicht der einzige Staat, bei dem die Dinge im Argen liegen«, sagte Mirjen. »In Nowar hat sich ebenfalls etwas zusammengebraut.«
Der Erzgezeichnete machte ein abfälliges Geräusch. »Was kümmert uns Nowar?«
»Mehr, als uns und ganz Xârthrien lieb ist. Mir wurde mitgeteilt, dass der Goldene Huf von Scanth plant, bei der Herbstwende einen Bruch herbeizuführen.«
Arkjen war froh, nicht mehr mit dem Apfel beschäftigt zu sein. Anderenfalls hätte er sich an ihm verschluckt und wäre elendig erstickt. Der Zentaur, der zurzeit die Führung der Hauptstadt von Nowar innehatte, wollte einen Bruch zulassen? Das durfte doch wohl nicht wahr sein!
Wenngleich die vier Völker Xârthriens ‒ Najaden, Zentauren, Dryaden und Menschen ‒ nur wenig mehr gemeinsam hatten, als das Land unter ihren Füßen, so gab es doch zwei Dinge, die sie allesamt einten: Das Wissen, nach ihrem Tod in den Orâ zu gelangen, und die Furcht vor der Herbstwende. Jeder Geist eines Verstorbenen zog hinab in die Erde. Dort fand er sich vor den Toren der Jenseitswelt ein, wo die Herrin des Orâ über ihn urteilte. Hatte er ein Leben in guter Absicht geführt, holte sie ihn in ihr Reich. Er erhielt einen Platz an ihrer Ewigen Tafel und führte fortan ein erfülltes Dasein im Jenseits. War er jedoch im Verlauf seines Lebens unverzeihlich in Ungnade gefallen, wurde der Geist von der Herrin verstoßen. Daraufhin entriss ihm die Erde ihren Schutz. Er entschwand in das ferne Dunkel der Leere, die hinter dem Blau des Himmels und dem Glitzern der Sterne lauerte. Was genau dort oben geschah, wusste niemand. Sicher war jedoch, dass die Leere die Geister veränderte. Ihre schemenhaften Leiber wurden fleischlich. Sie wurden rachsüchtig. Blutdurstig. Sie mordeten allein um des Tötens Willen, und es gab genau eine Gelegenheit im Jahr, die ihnen das Stillen dieses Verlangens ermöglichte: Die Herbstwende.
In der Nacht, in der der Sommer sich zur Ruhe bettete und die Herrschaft über das Land an den Herbst übergab, erstarrten die Elemente. Sobald die Sonne am Horizont untertauchte, verstummte der Wind. Sämtliche Feuer erloschen und ließen sich nicht wieder entzünden. Der Erdboden versteinerte, und jeder Tropfen Wasser wurde so hart wie Metall. Dieser Zustand hielt an bis zum Morgengrauen, und solange er Bestand hatte, waberten grüne und violette Lichtfahnen über den Himmel. Sie boten ein faszinierendes Schauspiel, waren aber deswegen nicht minder gefährlich. Das Leuchten zeugte vom Versiegen der Elementmächte, welche die Kreaturen der Leere im Zaum hielten. Also stiegen sie herab, um das Land im Blut seiner Völker zu ertränken. Den Gezeichneten der Quellwache oblag es, das zu verhindern. Hierzu sammelte sich bei jeder der sechs in Xârthrien verteilten Erdatemquellen ein Trupp von mehreren Männern und Frauen, die beim Einsetzen der Abenddämmerung einen Gedankenschild wirkten. Die Schilde der sechs Gruppen spannten sich weiträumig über das Land, vereinigten sich und schirmten es vor dem Zugriff der Ungeheuer ab. Manchmal kam es vor, dass eine der Gruppen versagte, sodass der Schild brach. Die Folge waren erbitterte Kämpfe zwischen den Xârthriern und den Leerebestien, die bis zur Wiederherstellung eines lückenlosen Schutzwalls in das Land eingedrungen waren.
Zurzeit zählte man das Jahr 412 nach dem letzten Bruch. Arkjen Vargos gehörte gewiss zu den Letzten, die der Rücksetzung auf das Jahr 1 beiwohnen wollten.
»Ja hat dieser verdammte Trophos denn völlig den Verstand verloren?«, rief er aus.
Ächzend stemmte Vargos eine Hand in die Hüfte. Die andere hob er an die rechte Schläfe und begann, das dort sitzende Todesmal zu massieren. Es brannte kalt und jagte ein schmerzhaft pulsierendes Stechen durch seine Hirnwindungen. Einen Moment lang gab er sich der Befürchtung hin, sein letztes Stündchen hätte geschlagen. Die todbringende Panikattacke blieb jedoch aus. An ihrer statt spürte Vargos eine wutschnaubende Hitze in sich aufsteigen. Grimmig biss er die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten. Er merkte, wie ihm das Pochen seines vor Zorn rasenden Herzens bis in die Kehle kletterte. Sein Atem ging in kurzen, harten Stößen. Sein Blickfeld verschwamm. Er wusste, dass nicht mehr viel fehlte, bis er seinem schäumenden Ärger mittels gepflegter Randale Luft verschaffen würde. Im Geiste sah er sich bereits ein paar Stühle durch das Zimmer werfen oder irgendwas zertrümmern, während seine Schwester wimmernd vor Angst in der Ecke kauerte. Aber Mirjen war längst nicht mehr das schüchterne, kleine Mädchen, das sich vor den Wutausbrüchen seines großen Bruders in der Speisekammer des elterlichen Hauses versteckte. Sie war eine gestandene, mutige Frau, deren angenehm kühle Hände sich nun sanft aber bestimmt um seine Unterarme schlossen und deren ernster Blick den des Erzgezeichneten fesselte.
»Arkjen«, sagte sie mit milder Stimme. »Vergiss das Atmen nicht.«
Er nickte. Atmen. Atmen war eine gute Idee. Tief und zitternd holte er Luft und stieß sie konzentriert wieder aus. Einmal. Zweimal. Dreimal. Beim vierten Mal ließ das Hämmern in seinem Schädel nach. Beim fünften versiegte die seinen Körper in Brand steckende Hitze. Langsam entspannten sich seine verkrampften Muskeln. Arkjens Todesmal beruhigte sich, sein Herz verfiel in seinen gewohnten Trott, und die Welt klärte sich zu alter Schärfe. Er öffnete die Fäuste. Mirjen drückte noch einmal leicht seine Arme. Dann ließ sie ihn los, und er schob die Hände in die Manteltaschen.
»Danke«, flüsterte er.
»Früher war Vater der Einzige, der dich noch beruhigen konnte, wenn deine Wut dich vollends im Griff hatte. Dafür habe ich ihn immer bewundert.« Seine Schwester lächelte. In ihren Augen machte sich ein freches Glitzern breit. »Ich finde, es wäre angebracht, wenn du mich dafür bewunderst, dass ich es geschafft habe, seinen Platz einzunehmen.«
Der Erzgezeichnete lachte auf, legte Mirjen einen Arm um die Schultern und zog sie heran. »Das tue ich jeden Tag, Schwesterherz. Jeden. Verdammten. Tag.«
Damit küsste er sie auf die Stirn und drückte sie kurz an sich, ehe er schnaufend auf einen der Polsterstühle sank. Mirjen setzte sich ihm gegenüber, und ihre sanfte Miene wurde ernst.
»Was Trophos angeht, hast du den Nagel auf den Kopf getroffen«, erklärte sie. »Er hat tatsächlich den Verstand verloren. Vor zwei Monaten gab es ein Attentat auf ihn. Zu dem Zeitpunkt befanden er und seine Frau sich in ihrem Gemach, und ihre Leibwächter hatten den Befehl, das Paar unter keinen Umständen zu stören.« Mirjen zuckte mit den Schultern. »Offenbar stimmt das Gerücht, dass es bei den ehelichen Praktiken der beiden ebenso ruppig wie laut zugeht, und sie wollten auf Nummer sicher gehen, dass niemand mit erhobenen Waffen ins Zimmer platzt, während sie … Na ja, du weißt schon. Die Leibwächter blieben also auf ihrem Posten, als es hinter der Tür laut wurde, obwohl der Krach diesmal nicht dem Akt der Liebe geschuldet war. Die Angreifer hatten sich Zugang zu Trophos’ und Ganias Gemach verschafft, in der Absicht, den Goldenen Huf umzubringen. Getroffen hat es aber seine Frau.« Arkjens Schwester deutete auf ihre Brust. »Sie bekam ein Messer ins Herz. Gania war sofort tot. Trophos ist daraufhin ausgerastet. Er hat sich sein Schwert gegriffen und wollte die Attentäter zur Rechenschaft ziehen. Es kam zum Kampf. Dabei schlug einer der drei Angreifer ihm den Arm ab.«
»Lass mich raten«, sagte Vargos. »Es war der Linke. Der einzige Körperteil, an dem die ungezeichneten Zentauren ihr Eisen tragen.«
»Richtig.«
Mürrisch schüttelte er den Kopf. »Die eitlen Trottel werden es noch in zweitausend Jahren nicht begreifen, dass zur Rückversicherung versteckt getragenes Eisen keine Schwäche darstellt.«
»Es ist so traurig wie wahr«, pflichtete seine Schwester ihm bei. »Allerdings hatte Trophos Glück im Unglück. Sobald der Erdatem ihn berührte, veränderten sich seine Schreie, und die Leibwachen wurden hellhörig. Als sie das Zimmer stürmten, hatte Trophos die Angreifer bereits in einem Anflug von Wahnsinn niedergemäht. Er selbst kauerte schreiend wie ein panischer Säugling am Boden. Eine der Wachen reagierte schnell genug, um Schlimmeres zu verhindern. Die Frau packte sich das nächstbeste Eisenschmuckstück, das sie finden konnte, legte es Trophos an und trug so nicht unerheblich zur Rettung seines Lebens bei. Den Rest erledigte der Leibarzt des Goldenen Hufs.«
Mirjen seufzte, erhob sich und steuerte auf den Servierwagen zu. Dort angekommen wählte sie einen Becher und eine Karaffe. Mit dem weiß und golden gemusterten Keramikgefäß deutete sie auf Vargos. »Wein?«
Er schüttelte sich, als wäre ihm ein Insekt über den Nacken gekrabbelt. »Die Herrin bewahre, bloß nicht.«
Seine Schwester trug ein amüsiertes Funkeln in den Augen, während sie ihren Becher füllte. »Sich in einer Gasse zu übergeben hat nachhaltige Spuren hinterlassen, hm?«
»Woher … Ah, Osta. Er hat es dir erzählt.«
Sie schmunzelte vielsagend, worauf ihr Blick zum Fenster glitt. Einen Moment lang starrte sie schweigend auf die Stadt herab, und Arkjen spürte, dass etwas auf ihrer Zunge lastete. Mirjen war selten um ein Wort verlegen. Wenn es aber doch passierte, dann nicht ohne Grund. Unweigerlich fragte er sich, was ihr so bitter aufstieß und woher sie eigentlich all diese Informationen hatte. Bevor er seiner frisch entflammten Neugier Abhilfe verschaffen konnte, stürzte Mirjen den Wein hinunter und stellte den Becher neben den Apfelrest.
»Manchmal«, sagte sie leise, »besteht der Fehler allein darin, ein Leben zu bewahren.«
Der Erzgezeichnete öffnete den Mund. Da ihm nichts Sinnvolles zur Antwort einfiel, blieb er still und schloss ihn wieder. Wenn er bedachte, was Trophos plante, hatte Mirjen recht. Wäre der Goldene Huf von Scanth durch die Hand der Attentäter gestorben, bestünde heute keine Gefahr eines absichtlich herbeigeführten Bruchs. Gleiches warf die nächste Frage auf. War es nur der Tod seiner Frau, der Trophos so weit getrieben hatte, oder hatte der Erdatem dem Verstand des Zentauren bleibende Narben zugefügt? Vargos hielt eine Kombination aus beidem für wahrscheinlich. Mirjen setzte allerdings noch eins drauf.
»Ein Angriff auf das eigene Leben. Der Tod des geliebten Ehepartners. Der ungewollte Kontakt mit dem Erdatem. Jedes für sich genommen kann ausreichen, um jemanden bis in die Grundfesten zu erschüttern. Trophos sind all diese Dinge am selben Abend zugestoßen, aber trotzdem blieb sein Geist knapp vor dem Rand des Abgrunds stehen. Bis zu dem Moment, als er erfuhr, dass die Attentäter allesamt Gezeichnete der nowarschen Quellwache waren. Das hat ihn dann hinuntergestoßen.«
Abermals konnte Arkjen bloß schweigen. Ihm rann ein beißender Schauer durch die Glieder. Die Verbunde der Quellwächter unterstanden dem direkten Befehl des Machthabers der Hauptstadt ihres Staates, in deren Herrschaftsbereich regelmäßig auch die Quelle lag, an der sie dienten. Jeden von ihnen zeichnete die Loyalität zum Stadtvorstand aus ‒ oder im Falle von Trophos zum Goldenen Huf. Sie kämpften Seite an Seite mit den städtischen Soldaten, wann immer es ihnen befohlen wurde, und sämtliche Quellwächter waren bereit, für ihren Stadtvorstand ihr Leben zu riskieren. Selbst dann, wenn die Sympathie für diesen Herrscher nicht allzu groß war. Dafür wusste der Kodex der Gezeichneten zu sorgen. Normalerweise jedenfalls.
»Gezeichnete als verdammte Meuchelmörder«, murmelte Arkjen fassungslos.
Dass Angehörige der Wache für solche Aufgaben eingesetzt wurden, war nicht ungewöhnlich. Aber in der eigenen Stadt? Mit dem eigenen Vorstand als Ziel? Unwillig schüttelte er den Kopf. Die Welt wurde immer verrückter. Immer gefährlicher. Was Entwicklungen wie diese für seine Schwester bedeuteten, mochte Vargos sich lieber nicht ausmalen.