Der letzte Sonnenfunke - Tanja Hammer - E-Book

Der letzte Sonnenfunke E-Book

Tanja Hammer

4,5

Beschreibung

Band 1 der Sonnenfunken-Reihe. Seit dem zweiunddreißig Jahre zurückliegenden Sonnenfall befindet sich das Weltenrund im frostigen Griff der Ewigen Nacht. Gierige Schattenwesen namens Scáth streifen durch die Finsternis und machen Jagd auf ihre Leibspeise Mensch. Die Geschwister Leben und Tod sind verschollen. An die Stelle des Licht und Wärme spendenden Himmelskörpers sind die nach dessen Bersten auf die vier Kontinente niedergegangenen Sonnenscherben getreten. Alchemisten und Nachtzauberer haben sich der Aufgabe der verschwundenen Geschwister angenommen, neugeborene Kinder zu beseelen und sich um die Geistnebel der Verstorbenen zu kümmern, während tapfere, Fiagi jer Scáth genannte Kämpfer ihre Mitbürger vor den Schatten beschützen. Kaum jemand glaubt noch daran, die Sonne könne jemals wieder geheilt werden. Doch eine Handvoll Menschen hält eisern an der Hoffnung fest, dass ihre Rückkehr möglich ist. Eines Tages kreuzt der in Rokhanos lebende Fiagi Tighan O'Brannick die Wege jener Hoffenden, woraufhin er in ihre Rettungsmission hineingezogen und von einer dunklen Ära seiner Vergangenheit eingeholt wird.

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KarteDer letzte Sonnenfunke12Ludvijen, 27. August 1349 MZ3456Ludvijen, 07. Mai 1353 MZ7891011Ludvijen, 27. Juli 1353 MZ121314Impressum

Karte

Der letzte Sonnenfunke

»War ja zu erwarten, dass dasnicht ewig gut geht.«

 - Tighan O’Brannick

Die Natur hat die Entstehung des Menschen nie vorgesehen. Der Ursprung unseres Geschlechts findet sich statt in ihrem Willen vielmehr in den Lenden eines Zwerges und dem Schoß einer Elfe. Ihre Verbindung war unmöglich, gleichermaßen in den Augen seines wie ihres Volkes. Und dennoch. Dennoch blieben sie beisammen, und sie zeugten ein Kind, das es unter anderen Umständen wohl nie gegeben hätte. Elfe und Zwerg waren glücklich. Zumindest eine Weile. So lange, bis sie bemerkten, dass ihrem Sohn etwas fehlte. Dass er zwar lebte, aber dass er nicht existierte. Er dachte nicht. Er fühlte nicht. Alles, was er tat, war zu Essen und zu Trinken und zu Atmen. Doch das sämtlich war einzig der Instinkt, der dem Blut eines jeden von uns innewohnt. Für Zwerg und Elfe wurde eine dunkle Ahnung zu finsterer Gewissheit: Ihr Sohn besaß keine Seele. Die Natur hatte ihm den Grundstein des Empfindens nicht gegeben, so wie jedes andere Geschöpf auf der Welt ihn von ihr für seinen Lebensweg bekommt. Denn sie konnte den Jungen nicht finden. Er entstammte nicht ihrem Willen, und so wusste sie weder um seine Geburt noch um seine Not. Flehentlich wandten sich Elfe und Zwerg an die Sonne, unser aller Schutzpatronin. Diese erbarmte sich der jungen Familie und sandte einen Strahl auf die Welt hinunter - Gwylain, ihre Tochter. Diese half dem Jungen, wurde für kurze Zeit zum Bindeglied zwischen ihm und der Natur. Der Sohn von Elfe und Zwerg erhielt seine Seele. Er wurde groß, er wurde stark, fand eine Frau, und sie bekamen ein Kind. Ohne Seele. Neuerlich war Gwylains Eingreifen vonnöten; auch dieses Mal half sie. Von jenem Tag an war sie stets zur Stelle, sobald ein neuer Mensch das Licht der Welt erblickte. Und nachdem alle Zwerge, alle Elfen, alle übrigen Völker der Welt vergangen waren, da überdauerte einzig noch unser Geschlecht. Behütet von Gwylain, ehrfürchtig auch benannt als ›Das Leben‹, begannen wir ein neues Zeitalter.

Semias Craydunne

Der Mythos von Leben, Tod und Menschheit

1

»Ist dir eigentlich klar, was für ein verdammtes Glück du hast?«

Tighan O’Brannick schüttelte den Kopf. Eine Strähne schwarzbraunen, leicht gewellten Haares löste sich aus seinem im Nacken zusammengebundenen Zopf und fiel ihm ins Gesicht. Er schnaubte ungehalten, als sie in seinem ordentlich gestutzten, dunklen Vollbart hängen blieb und ihn an der Wange zu kitzeln begann. Tighan hasste sein langes Haar, und er hasste diesen elenden Bart. Es war ihm einerlei, wenn andere sich mit so was herumschlugen. Sollten sie doch durch die Gegend laufen, wie sie wollten, damit hatte er nun wirklich kein Problem. Womit er allerdings eines hatte - ein gewaltiges, wenn er genau sein wollte -, dann war das er selbst. Er verabscheute sein derzeitiges Äußeres. Zutiefst und ehrlich. Es war nötig, ja. Aber das hieß noch lange nicht, dass es ihm auch gefallen musste.

Begleitet von einem missmutigen Brummen strich er die aufdringliche Haarsträhne hinters Ohr und rückte das offen auf seinem Schoß liegende Tagebuch zurecht. Mit dem Ende des in seiner Hand ruhenden Stiftes tippte er einige Male auf das Papier, dann zuckte er mit den Schultern und widmete sich wieder seiner angefangenen Zeichnung. Sanftes Kratzen und Schaben durchdrang die staubige Luft, wobei ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Abgesehen vom Zeichnen selbst gehörte dieser Stift zu den wenigen Dingen, die er liebte, weshalb er ihn wie seinen Augapfel behütete. Das gute Stück bestand aus gepresstem Graphit, und bereits ein einzelner davon war unsagbar teuer. O’Brannick besaß insgesamt sechs. Sie stellten Mitbringsel von einer langen Reise dar, welche zum Zeitpunkt ihres Antritts ebenso wenig sein Wunsch gewesen war wie die seinen Kopf verunstaltende Haarpracht.

Seinerzeit hatte ein reichlich betagter Alchemist ihm die Graphitstifte gegeben, nachdem Tighan den guten Mann auf einem Marktplatz mit Tusche und Feder in einem Portrait verewigte, um seine gähnend leere Geldkatze aufzufüllen. Mit den Worten›Ein außerordentlicher Dienst bedarf außerordentlicher Gegenleistung‹hatte der Alte ihm nach getaner Arbeit ein Stoffbündel in die Hand gedrückt und war verschwunden. O’Brannick fand nicht einmal genügend Zeit, sich zu bedanken, sein Lohn vermochte die damit einhergegangene Verwirrung jedoch um Längen wieder wett zu machen - obwohl er im ersten Moment bare Münze wesentlich lieber gesehen hätte. Allerdings machten sich die damals noch zehn Graphitstifte rasch bezahlt. Nie zuvor war ihm ein Zeichengerät in die Finger geraten, mit dem er sauber und gleichzeitig überraschend schnell arbeiten konnte, sodass er am Ende jenes bereits viele Jahre zurückliegenden Tages mit einem prall gefüllten Geldsäckchen nach Hause gegangen war.

»Lass mich raten«, fuhr er fort. »Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich meine. Richtig?«

Erwartungsvoll schaute Tighan auf, und ein wissendes Funkeln machte sich in seinen stahlgrauen Augen breit, als er die über dem Fußende seines Bettes sitzende Spinne betrachtete. Sie war etwa so groß wie seine Hand. Ein roter, ebenso dichter wie weicher Flaum bedeckte den voluminösen Hinterleib des Tieres. Dessen lange, kräftige Beine trugen eine identisch gefärbte, locker auf tiefschwarzem Grund verteilte Behaarung, während sich der abgeflachte, runde Vorderkörper nackt und schwarz präsentierte. Mit ihren acht hinter den zwei imposanten Beißklauen sitzenden Augen erwiderte die sogenannte Rote Weberin Tighans Blick und drehte sich ein wenig nach rechts.

›Nein.‹

»Wusste ich’s doch«, schmunzelte er. »Alles andere hätte mich auch schwer gewundert.«

Die Spinne hob ihre beiden vordersten Beine ein wenig an und wackelte mit deren Spitzen sachte auf und ab. Dadurch schien der Lichtstrahl, welcher durch das schräg hinter O’Brannick befindliche, halb verhangene Fenster auf ihren Körper fiel, sämtliche der darauf wuchernden Härchen in einen glitzernden Schauer dunkelroten Blutnebels zu verwandeln.

Ein faszinierender Anblick, der Zeit ihres Daseins zweifelsohne zahlreichen Insekten zum Verhängnis geworden war.

Entgegen ihrem Namen spann die Rote Weberin keine Netze, in denen sie auf ihre Beute lauerte, sondern ging auf die Jagd. Das sich bei Bewegung auf ihrem Pelz brechende Licht wirkte auf vielerlei Getier verlockend genug, dass selbiges unvorsichtig wurde, sich in ihre Nähe wagte, tja, und dann Lebewohl Gevatter. Doch trotz ihrer Fressgier waren Rote Weberinnen ziemlich feige. Sobald sich ihnen etwas näherte, das größer war als sie selbst, ergriffen sie für gewöhnlich die Flucht. Es sei denn, man genoss das Privileg einer besonders intensiven Verbundenheit zu den Sphären der Tierwelt.

Tighan verfügte über diese Gabe. Seit er das Licht der Welt erblickt hatte, war sie - neben einigen noch weitaus eindrucksvolleren Fähigkeiten - ein fester Bestandteil seiner selbst. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten hatten andere wie er eben jener Talente wegen den höchsten Preis bezahlen müssen, den ein Mensch je zu erbringen vermochte. O’Brannicks Rechnung hingegen stand noch offen, und er setzte alles daran, es dabei zu belassen. Denn mal im Ernst, wer gab schon gern sein Leben her?

»Ich könnte es dir erklären, wenn du willst«, schlug er vor. »Hat was mit Seelen zu tun. Wie ihr Tiere eure bekommt, und wie das Ganze mittlerweile bei uns Menschen abläuft.«

Prompt zuckte die Spinne noch ein Stück nach rechts.

›Nein danke. Kein Bedarf.‹

In der Tat wusste Tighan ihre Reaktionen durchaus richtig zu deuten.

»Du scheinst nicht gerade von der redseligen Sorte zu sein, was?«

Ihre Antwort bestand aus einer leichten Linksdrehung.

›Gut erkannt, vollkommen ungesprächig.‹

Da O’Brannick nun wusste, dass er es mit einem die Stille liebenden Exemplar zu tun hatte, beschloss er, ihm zuliebe den Mund zu halten und sich ganz auf seine Zeichnung zu konzentrieren. Inzwischen zierten vier Beine sowie der halbe Oberkörper der Roten Weberin das Blatt. Somit hegte er die berechtigte Hoffnung, sein Bild fertigzustellen, bevor das Tier die Lust verlor oder ein vorüberkrabbelnder Käfer alles verdarb. Abgesehen davon war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Ira O’Mally, sein alter Freund und Zimmergenosse, der in ihrer Unterkunft vorherrschenden Ruhe ein jähes Ende bereiten würde. Immerhin lag der Weckruf für die Tagesschicht bereits über eine halbe Stunde zurück, und Ira - als Vorsteher ihrer Jägerloge stets darauf bedacht, bei der morgendlichen Aufgabenverteilung unter den ersten Anwesenden zu sein - hatte wie üblich die Bettwärme lange vor dem Eintreffen des Weckburschen aufgegeben, um sich direkt nach dessen Verschwinden auf den Weg zu machen.

Während er zeichnete, blendete Tighan die Welt um sich herum zunehmend aus. Zuerst verblasste das Zimmer einschließlich der spärlichen, aus einer zweiten Schlafstatt, einem einfachen Tisch mit zwei Stühlen sowie zwei schmalen Kleiderschränken bestehenden Einrichtung. Danach stahlen sich die auf dieser Etage befindlichen Flure und Räume aus seiner Wahrnehmung, die sich hinter der dem Fenster gegenüberliegenden Tür erstreckten. Ihnen folgte das gesamte mehrgeschossige Haus sowie der Rest des vier weitere Häuser gleicher Bauart zählenden Komplexes, der den Fiagi jer Scáth von Mar-Dinye zur Verfügung stand. Jener Gemeinschaft, welche die Bürger des Landes Rokhanos vor den Übergriffen fleischgewordener Schatten beschützte und der Tighan seit nunmehr acht Jahren angehörte.

Am Ende vergaß er sogar das. Schob beiseite, warum er sein Gesicht hinter einem Übermaß an Haaren versteckte. Verdrängte den Grund, weshalb er seit einer gefühlten Ewigkeit ständig diese verdammten fingerlosen Lederhandschuhe trug und (mit Ausnahme von Ira) gegenüber jedem Menschen den Namen Gusvig Jones für sich verwendete. Er dachte nicht mehr daran, dass er vierundsiebzig Lenze zählte, aussah, als wäre er nicht älter denn Ende dreißig, und dass er noch immer die körperliche und geistige Verfassung eines etwa zwanzigjährigen Burschen aufwies.

All das trieb weit von ihm fort, und für eine Weile, da gab es nur noch die Rote Weberin, sein Tagebuch, den Graphitstift und ihn.

Als O’Brannick sein Bild mit den letzten Feinheiten versehen hatte und den Stift beiseitelegte, wäre es problemlos möglich gewesen, ihm weiszumachen, dass in der Zwischenzeit ganze Tage vergangen waren, dermaßen hatte seine Arbeit ihn in ihren Bann gezogen. Erstens jedoch wusste er aus Erfahrung, dass er für eine Zeichnung wie die gerade angefertigte - selbst wenn er trödelte - höchstens eine Viertelstunde brauchte. Zweitens kehrte sein Geist bereits (viel zu schnell) wieder in die Gegenwart zurück, und drittens polterte just in diesem Augenblick Ira O’Mally ins Zimmer. Er war sechsunddreißig Jahre jünger, einen knappen Kopf kleiner sowie von etwas muskulöserer Statur als der drahtig gebaute Tighan. Unter seinem knapp kinnlangen, stets zerzausten, rotbraunen Haarschopf blitzten wachsame, hellgrüne Augen hervor, und auf seiner linken Halsseite erstreckte sich eine doppelt fingerlange, alte Narbe - sie war ein Andenken an Iras erste Begegnung mit einem Scáth. In der Hand hielt er ein notdürftig wieder zusammengerolltes Pergament, mit dem er Tighan grinsend zuwinkte. Dabei brach ein Stück des am unteren rechten Rand des Papiers angebrachten Wachssiegels ab und fiel zu Boden.

Es war blau.

Nicht etwa gelb für Wachdienst auf den Feldern. Oder rot für die Eskorte von Boten oder wem auch immer sonst in eine der anderen Königsstädte. Auch nicht grün für Patrouillengänge in einem der drei umliegenden Dörfer oder weiß für sonstige anfallende Arbeiten.

Nein, dieses Siegel war blau.

Das bedeutete, O’Mally hatte einen Auftrag für die Jagd auf einen speziellen Scáth mitgebracht.

»Tigs, bald platzen unsere Geldkatzen aus allen Nähten«, verkündete er feierlich, nur um beim nächsten Atemzug im wahrsten Sinne des Wortes zu erstarren, den Blick auf die Tighans Bett gegenüberliegende Wand geheftet. »Bei Gevatter Tods Pisspott!«

»Ich wage zu bezweifeln, dass er so was jemals gebraucht hat«, gab O’Brannick lachend zurück, aber sein Einwand wurde geflissentlich ignoriert.

»Wehe du sagst mir jetzt, dass du das Spinnenvieh da noch nicht gesehen hast!«, rief Ira aus, wobei er einen Schritt zurückwich und die freie Hand fest genug um den Türknauf klammerte, dass dieser bei der kleinsten falschen Bewegung abzubrechen drohte. »Das Ding ist so groß wie ein Teller, verflucht!«

»Ein kleiner Teller.«

»Alsohastdu sie gesehen!«

»Aye, hab ich.« Verschmitzt lächelnd hielt Tighan sein Tagebuch in die Höhe und präsentierte die aufgeschlagene, eine äußerst detailgenaue Abbildung zeigende Seite. »Ich hab sie sogar gezeichnet.«

»Mach das beschissene Buch zu, sonst muss ich kotzen«, stöhnte Ira, während er noch blasser um die Nase wurde als es ohnehin schon der Fall war. »Acht daumendicke Beine«, jammerte er. »Und so riesig wie der Deckel von ‘nem Weinfass. Mann, Tigs, du weißt ganz genau, wie sehr ich diese ekelhaften Biester hasse.«

»Mhm«, grinste O’Brannick, betrachtete die reglos auf ihrem Platz hockende Rote Weberin und hob verwundert eine Augenbraue.

Normalerweise wäre sie spätestens in dem Moment verschwunden, in welchem Ira die Tür aufgerissen hatte. Aber passiert war nichts dergleichen, sodass Tighan nicht anders konnte, als der Sache auf den Grund zu gehen. Er rutschte ans Ende seines Bettes und streckte die Hand aus.

»Er fasst es an«, murmelte O’Mally entgeistert. »Bei allem, was ein Mann in die Finger bekommen kann, fasst er ausgerechnet eineSpinnean. Warum geb ich mich eigentlich immer nur mit Verrückten ab?«

»Weil es außer denen keiner länger als einen halben Tag in deiner Nähe aushält?«, schlug O’Brannick vor.

Derweil berührte er mit den Fingerspitzen vorsichtig den glatten Vorderkörper der Roten Weberin, woraufhin das Tier wie ein Stein herunterfiel und begleitet von einem dumpfen Geräusch auf dem hölzernen Fußboden aufschlug.

Ein flüchtiger Seitenblick in Iras Richtung zeigte, dass dieser einen Satz rückwärts gemacht hatte und nun auf dem Flur stand. Tighan verkniff sich eine passende Bemerkung, obwohl ihm gleich mehrere eingefallen wären. Stattdessen begnügte er sich mit einem belustigten Schmunzeln, sprang vom Bett und holte die darunterliegende Spinne hervor.

»Tja«, sagte er, wobei er sie interessiert von allen Seiten beäugte. »Die ist ziemlich tot, würde ich meinen.«

»Wenn du mich verscheißerst, erschlag ich dich mit deinen dämlichen Stiften«, brummte O’Mally aus sicherer Entfernung.

»Da steht ein Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken einen Scáth nach dem nächsten erledigt. Aber im Angesicht einer toten Spinne kneift er die Hinterbacken zu«, lachte Tighan. Dann setzte er eine versöhnliche Miene auf. »Die rührt sich nicht mehr, Ira. Ehrlich.«

»Der Sonne Gnade sei Dank«, schnaufte dieser und deutete auf das Fenster. »Wirf sie raus.«

»Ich finde, heutzutage sollte man nichts verkommen lassen.«

»Was bitte?«

»Flint«, erklärte O’Brannick. »Der freut sich doch immer über einen fetten Leckerbissen. Ähm ... Wo steckt er überhaupt?«

»Wo soll der um die Zeit schon sein?«

»Unten in der Küche?«

Ira nickte bestätigend, woraufhin er abermals das Pergament schwenkte. »Was hältst du davon, wenn wir uns ebenfalls ein ordentliches Frühstück genehmigen, während wir den Auftrag besprechen?«

Dem Vorschlag konnte Tighan eine Menge abgewinnen. Daher machten sich die beiden Freunde auf den Weg, sobald er das Tagebuch versteckt sowie die sterblichen Überreste der Roten Weberin fest in ein Tuch gewickelt und in seiner Hosentasche deponiert hatte.

***

Leeom Hamsay, Küchenjunge des Th’Each jer Fiagi Dhá (dem zweiten Haus der Jäger) in Mar-Dinye, balancierte auf jeder Hand ein mit Rührei, gebratenem Speck, frischem Brot, Milch und heißem Kräutertee beladenes Tablett, während er sich geschickt zwischen den im Speisesaal aufgestellten Bänken und Tischen sowie den übrigen, nur für das ungeübte Auge wahllos umher wuselnden Küchenjungen voran schob. Zu dieser frühen Stunde gaben sich Tag- und Nachtschicht hier die Hand, weshalb die vorhandenen Plätze größtenteils besetzt waren und der Saal in einem Dunst aus lautem Gelächter, dem Klappern von Geschirr, mancherlei mehr oder weniger deftigen Wortwechseln und sonstigem Geplapper unterzugehen schien. Leeom für seinen Teil ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Winter war er dreizehn Jahre alt geworden, sodass er inzwischen seit vieren davon täglich in der Küche des Th’Each jer Fiagi Dhá arbeitete. Demnach stellte das allgemeine Durcheinander schon lange keine Herausforderung mehr für ihn dar, und außerdem rückte er mit jeder Stunde, die er seinem Dienst nachging, seinem großen Traum ein bisschen näher. Denn eines Tages würde er Koch sein. Aber nicht in einem der Jägerhäuser, nein. Er würde am Hof von König Allister var Greagen, dem Herrscher von Mar-Dinye, eine wundervolle Kreation nach der nächsten hervorbringen und die Gaumen der Königsfamilie mitsamt ihrem Hofstaat verwöhnen, wie es noch niemand zuvor getan hatte. Talent dazu besaß er mehr als genug, so er den Mitgliedern dieses Jägerhauses Glauben schenken wollte.

Seit Beginn seines Daseins als Küchenjunge hatte Leeom allerdings nicht bloß Putzen, Bedienen und die Grundlagen des Zubereitens von Speisen gelernt, sondern auch eine Menge über Geld und Zahlen. Längst nicht jeder in dieser Stadt konnte rechnen, von den Dörflern ganz zu schweigen. Leeoms Mutter, die Frau eines Bauern, mit dem sie insgesamt drei Kinder, fünf Schweine, drei Kühe, ein paar Hühner und ein Weizenfeld ihr eigen nannte, gehörte ebenso dazu wie seine beiden Schwestern. Sein Vater konnte rechnen, hatte aber nie die Muße besessen, seine Familie in die geheime Welt der Zahlen einzuweihen - was von den Frauen auch niemals verlangt worden wäre. Der kleine Hamsay war jedoch ganz wild darauf, sodass es nach dem Beginn seiner Lehre nicht lange dauerte, bis er den Vater im Rechnen sogar übertraf. Zudem bildete er den einzigen Angehörigen seiner Familie, der schon einmal einen echten Silberrogen in der Hand gehalten hatte. Ach, was hieß einmal? Mehrfach sogar! Viele der Fiagi zahlten ihr Essen in Silber und gaben ein wenig von ihrem Wechselgeld an die Küchenjungen ab. Auf diese Weise hatte Leeom inzwischen eine stattliche Summe von fünfzig Kupferrogen und einem Bronzerogen zusammengetragen, obwohl er für seine eigene Verpflegung sowie neue Kleider selbst aufkommen musste und den gesamten Verdienst, welchen er für seine geleistete Arbeit vom Koch erhielt, an seine Eltern abtrat. Hin wie her, für den kleinen Hamsay bildeten seine gesammelten Münzen ein wahres Vermögen. Noch jedenfalls. Denn wer konnte schon sagen, wie die Dinge stehen würden, wenn er in einigen Jahren für König var Greagen Töpfe und Pfannen schwang?

»Das ist schon ein bisschen irrsinnig, findest du nicht?«, drang es unvermittelt an Leeoms Ohren. Rasch kramte der Junge in seinem Gedächtnis und erkannte die Stimme als jene von Mr. Gusvig Jones. Dem drahtigen Kerl mit seinem stets im Nacken zu einem Zopf zusammengebundenen, schwarzbraunen Haar und dem für einen Fiagi schon fast zu ordentlichen Äußeren. Gemeinsam mit dem rothaarigen und blassgesichtigen Mr. Ira O’Mally formte er eine der wenigen Jägerlogen, die nur aus zwei Mitgliedern bestand und trotzdem sehr erfolgreich war. Er grinste leise in sich hinein, froh, dass er seine dampfende Last jeden Augenblick auf dem Tisch der beiden Männer loswerden würde.

»Dieser Auftrag bringt uns hundertsiebzig Rogen in Silber ein«, hörte er Mr. O’Mally antworten. »Pro Nase, mein Freund. Pro! Beschissene! Nase!«

»Ehrlich gesagt, bin ich wenig scharf darauf, nach einer solchen Jagd auch noch den Kopf in irgendeine Latrine hängen zu müssen, um meinen Lohn zu bekommen.«

Hamsay hörte das Niederschlagen einer Faust auf die hölzerne Tischplatte sowie ein unterdrücktes, dadurch jedoch nicht minder freches Lachen.

»Du bist ein Arsch, Gus.«

»Und du bist von allen guten Geistern verlassen, wenn du dir so was hier aufschwatzen lässt.«

Der just am Tisch angelangte Küchenjunge sah, wie Mr. Jones mit einem Pergament vor der Nase seines Jagdgenossen herumwedelte. Am unteren rechten Rand blitzte ein blaues Wachssiegel hervor, von dem ein Stückchen fehlte. Wenn man - wie Leeom - mit offenen Augen und Ohren durch die Gegend lief, dann hatte man längst gelernt, welche Bedeutung die jeweiligen Siegelfarben innehatten. Er hätte mit keinem der Fiagi tauschen wollen, besonders nicht mit Mr. Jones und Mr. O’Mally. Denn gezielt einen Scáth zu provozieren, damit er sich zeigte, und ihn dann zur Strecke zu bringen, hielt Leeom für um Längen schlimmer als eine rein zufällige, im Verlauf einer Wache entstandene Begegnung. Ihn schauderte allein der Gedanke daran, was diesen beiden Männern bevorstand, und plötzlich fühlte er sich ziemlich klein.

Früher, als er noch bei seinen Eltern auf dem Hof lebte, hatte er des Öfteren gleich mehrere dieser Schattenwesen gesehen und sich jedes Mal schrecklich gefürchtet. In den Dörfern gab es nicht so starkes Licht wie in der Stadt und auf den Feldern, sodass die Bestien sich immer wieder nah an die Häuser heranwagten; und manchmal sogar hinein, wurden sie nicht rechtzeitig von den Fiagi aufgehalten.

Aus irgendeinem Grund, den Leeom nicht verstand, töteten und fraßen die Scáth mit Vorliebe Menschen. Zwar verschmähten sie das Fleisch von Tieren ebenso wenig. Wenn sie hingegen die Wahl hatten, fiel sie stets auf menschliche Beute. Darunter litten vor allem die Dörfler, denn Feuer oder Kerzenschein vermochte die grässlichen Kreaturen mitsamt ihrem ständigen Hunger niemals vollends in Schach zu halten.

»Von wegen aufgeschwatzt«, holte Mr. O’Mallys mürrische Stimme den Jungen zurück in die Gegenwart. »Leighs wollte ausdrücklich uns beide für den Auftrag. Ablehnen ausgeschlossen. Außerdem können wir das Geld gut gebrauchen, nach der Sache mit meiner Schulter.«

Die zwei Fiagi rückten ein wenig vom Tisch ab, als sie Leeom bemerkten, der nun seinerseits behutsam die Tabletts vor ihnen abstellte.

»Danke, Junge.«

Hamsay erwiderte Mr. Jones’ Lächeln und ertrug gefasst dessen lästige Angewohnheit, ihm das Haar zu zerzausen. Auch Mr. O’Mally nickte grinsend und deutete auf das Rührei.

»Hast du die gemacht, oder hatte der olle Stanton seine Finger da dran?«, fragte er.

»Mr. Stanton, Sir«, antwortete Leeom prompt.

Der Fiagi seufzte gedehnt und schüttelte den Kopf. »Ein Jammer. Die armen Eier.« Mit diesen Worten langte er in seine am Gürtel befestigte Geldkatze und drückte dem Küchenjungen das Silber für das Frühstück beider Männer sowie einige zusätzliche Kupferrogen in die Hand. Dabei zwinkerte er ihm verschwörerisch zu. »Sind ein paar mehr als sonst. Als Ansporn, damit nächstes Maldudich an den Herd stellst.«

Leeom verbeugte sich artig und verstaute die Münzen in seiner Tasche. »Ich werde mein Bestes geben, Sir.«

»Davon sind wir überzeugt«, befand Mr. Jones, während er ihm ebenfalls etwas Geld zusteckte. »Und wenn du schon dabei bist, beeil dich bitte mit dem Älterwerden. Wird Zeit, dass du Meister Magenvernichter ablöst.«

»Jawohl, Sir«, kicherte der Junge.

Er brachte es nicht übers Herz, den Männern von seinen Zukunftsplänen zu berichten. Stattdessen bedankte er sich höflich und gab seine neuen Münzen zu den anderen. Er spürte an ihrem Gewicht in seiner Hand, dass es weniger waren als jene, die er von Mr. O’Mally erhalten hatte. Doch da er sie mitsamt einer lockeren Mischung aus Flusen und Krümeln in seine Tasche gleiten ließ, wusste er, dass hier kein Geiz den Grund dafür bot. Vielmehr waren diese Rogen vom Boden eines jetzt wahrscheinlich größtenteils geleerten Beutels fortgeklaubt worden.

Begleitet von diesem Gedanken verbeugte der Küchenjunge sich ein zweites Mal, dann machte er auf dem Absatz kehrt und begab sich wieder an die Arbeit.

»He, Bursche!«

Mitten in der Bewegung hielt Leeom inne und sah Mr. Jones fragend an.

»Wenn du kannst, scheuch Flint aus der Küche und schick ihn her, ja?«

»Das mach ich, Sir.«

***

Tighan und Ira blickten dem davoneilenden Leeom Hamsay lächelnd nach, bis er in der Menge verschwunden war. Unabhängig voneinander hofften sie beide, dass der Knabe es später einmal besser treffen würde, statt auf ewig in Stantons verlotterter Küche zu arbeiten. Er war ein schlaues Kerlchen und hatte es nicht verdient, im Dunstkreis von Essensgerüchen, Abfallgestank und einer lauten Schar grobschlächtiger Männer zu versauern. Nicht einmal dann, wenn sie bis an ihr Lebensende verwürztes, halb angebranntes Rührei würden essen müssen.

Tröstlich blieb, dass es den Fiagi der übrigen Häuser in dieser Hinsicht kaum anders erging. In allen Speisesälen gab es mehr als reichlich Auswahl, um einen knurrenden Magen zu besänftigen, deren Qualität ließ allerdings in den meisten Fällen arg zu wünschen übrig.

»Leighs wollte also unbedingt uns für den Auftrag?«, griff O’Brannick die abgebrochene Unterredung wieder auf. »Nachdem du drei Wochen ausgefallen bist und erst seit einer Woche wieder auf den Übungsplatz gehst? Willst du meine ehrliche Meinung dazu hören?«

»Nein«, brummte Ira, beugte sich tiefer über seinen Teller und gab vor, schwer beschäftigt zu sein.

»Mir gefällt das nicht«, fuhr Tighan unbeirrt fort, seinerseits skeptischen Blickes in den Eiern herumstochernd. Er spießte eine Portion auf die Gabel, roch vorsichtig daran und verzog das Gesicht. »Wir haben mehr als genug erfahrene Jägerlogen, die so einen Auftrag ausführen können. Crails und seine fünf Jungs zum Beispiel. Die machen neuerdings fast nur noch solche Jagden. Oder Casper, Darren, Harver und die zwei Bryans. Kaum Wachdienst und Patrouillen, aber dafür eine Jagd nach der anderen. Im Gegensatz zu dir, der drei Wochen in der Heilstätte verbracht hat. Und zu mir, der vier Wochen lang nichts anderes gemacht hat, als bei irgendeiner drittklassigen königlichen Wachmannschaft auszuhelfen und mit den Pfeifen auf einem verdammten Feld am Stadtrand rumzustehen. Mir sind in dieser Zeit ganze fünf Scáth vor den Bogen gekommen, vor das Schwert kein einziger. Und jetzt sollenwir zweiunbedingtheute nocheinen Kategorie Fünf erledigen? Nachdem dir neulich ein Kategorie Vier fast die Schulter zertrümmert hätte? Das kann doch nicht sein Ernst sein!«

»Die Schulter ist wieder in Ordnung«, murrte O’Mally zwischen zwei Happen Ei und einem Bissen Brot. »Sonst hätte Hortis, der verfluchte Quacksalber, mich niemals vor die Tür geschickt. Geschweige denn, dass ich auf den Platz gedurft hätte. Du weißt, wie streng der Übungswart die Wiederzulassungslisten der Verletzten kontrolliert.«

»Mag schon sein, aber was ist mit der Praxis?«, blieb Tighan beharrlich. »Du kannst ein noch so guter Jäger sein, wenn du nicht dauernd in Übung bist, grenzt ein Auftrag wie der hier an Selbstmord. Vor allem nach drei Wochen Zwangspause.«

»Sorg lieber dafür, dass deine Eierpampe nicht kalt wird«, erwiderte Ira ungerührt. »Solange das Zeug warm ist, ist es noch einigermaßen erträglich. Außerdem jagt es sich schlecht auf leeren Magen.«

»Du hast wirklich vor, das durchzuziehen, ja?«

»Kommt ganz drauf an, wie viele Nächtedunoch bei verbotenen Faustkämpfen deinen Jägerstand und deinen Hals riskieren willst.« O’Mally zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ist ja nicht so, dass du bei den letzten Schlägereien sonderlich erfolgreich warst und ein paar zusätzliche Rogen in unsere Kasse gebracht hättest, anstatt welche zu verlieren.«

Unwillkürlich berührte Tighan den Bereich über seinem linken Wangenknochen, der zwei Nächte zuvor eine mächtige Prellung davongetragen hatte. Dabei konnte er froh sein, dass er von blauen Flecken oder gar Blutergüssen stets verschont blieb (was dummerweise nicht auf den mit derlei Blessuren einhergehenden Schmerz zutraf). Jedenfalls fiel so seine derzeitige nächtliche Beschäftigung nur denjenigen Jägern auf, die ebenfalls bei den Kämpfen zugegen gewesen waren - und untereinander bewahrte man über diese Sache selbstredend Stillschweigen.

Den Fiagi jer Scáth war es streng untersagt, sich bei den in stickigen Hinterzimmern diverser zwielichtiger Pubs ausgetragenen Faustkämpfen blicken zu lassen; sei es nun als Teilnehmer oder um bei den Wetten mitzumischen. Auf einen Verstoß gegen dieses Verbot folgte der sofortige, unehrenhafte Ausschluss aus der Gemeinschaft der Fiagi. Hierfür musste man aber erst einmal von den Wachleuten des Königs, dem die gesamte Jägerschaft der Stadt unterstellt war, auf frischer Tat ertappt werden. Der Sonne Gnade sei Dank ließ sich das jedoch mit ein wenig Umsicht leicht vermeiden.

Nicht vermeiden ließ sich wiederum das Pech, von dem O’Brannick jüngst eindeutig zu oft heimgesucht worden war. Seine zurückliegenden vier Kämpfe waren reichlich danebengegangen und hatten ein gähnendes Loch in seinen Geldbeutel gerissen. Denn die Teilnahme erforderte von jedem der beiden Kontrahenten eine happige Gebühr, die am Ende zusammengerechnet und im Verhältnis ein Drittel zu zwei Drittel zwischen dem Pubbesitzer sowie dem Sieger des entsprechenden Kampfes aufgeteilt wurde. Da er und Ira ihren jeweiligen Verdienst als gemeinsame Logenkasse behandelten, war von selbiger demzufolge nicht mehr allzu viel übrig. Genau genommen hatte sie ihr erbärmlich schmeckendes Frühstück den Rest ihrer verbliebenen Ersparnisse gekostet.

»Und?«, hakte Ira nach.

»Ich bleib dabei. Mir gefällt das nicht.«

»Tja, wenn wir uns lange genug sträuben, wird Leighs sich sicher ‘ne andere Loge suchen. Ich frag mich bloß, ob auch nur einer von uns beiden danach jemals wieder einen anständigen Auftrag abbekommt.«

Leise seufzend vertilgte Tighan ein paar Happen seiner Mahlzeit. Das Rührei machte das Rumoren in seiner Magengegend keinen Deut besser, obwohl er sofort mit etwas Brot und Tee nachspülte. Er schüttelte sich innerlich. Einerseits ob des Essens, vor allem aber wegen der vor ihnen liegenden Aufgabe, die zugleich Iras ersten Arbeitstag seit seiner Verletzung darstellte. Ein Scáth von der Kategorie Fünf war eine Mordsbestie, die normalerweise von einer mindestens vier bis fünf Mann starken Jägerloge erlegt wurde. Leighs konnte für sie jedoch zu einem weitaus größeren Problem werden, sollten sie sich ernsthaft weigern, seinen explizit an ihre Loge gerichteten Auftrag durchzuführen. Außerdem waren sie blank, und wenn er ehrlich sein wollte, hatte er die Nase gestrichen voll davon, sich als Aushilfswache und Teilzeitschläger zu verdingen. Welche andere Wahl konnte ein Mann da also noch haben?

»Wir brauchen einen guten Köder«, sagte er schließlich.

»Hast du an Leighs’ Auflistung der Absude jetzt tatsächlich auch noch was zu meckern?«

»Blödsinn.« O’Brannick schüttelte energisch den Kopf. »Die Liste für den Hausalchemisten ist vollkommen in Ordnung. Was das angeht, macht unser Herr Stadtoberalchemist keine Fehler. Allerdings neigt er manchmal dazu, bei der Wahl seiner Logen sehr, sehr tief in die Jauche zu greifen.«

»Du kannst damit einfach nicht aufhören, oder?«, schnaufte Ira gequält, woraufhin Tighan ihm grinsend beipflichtete.

Dann winkte er ab und wurde wieder ernst.

»Wie gesagt, auf den Köder kommt es an«, sagte er. »Und damit meine ich nicht das Zeug, mit dem wir das Vieh anlocken. Wir brauchen noch was anderes. Irgendwas, das interessant genug ist, um den Schatten abzulenken.«

Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern, und die sie umgebende Geräuschkulisse verschaffte sich stärkeres Gehör. Es wurde gefaselt und diskutiert. Teller, Besteck und Becher klirrten. Aus irgendeiner Ecke drang lautes Fluchen hervor - dem Wortlaut nach war wohl jemand mit seiner Leistung bei einer frühmorgendlichen Partie Siebenschläfer gewaltig unzufrieden. Ein anderer schimpfte auf Stanton, wovon die mit ihm am Tisch sitzenden Fiagi kaum Notiz nahmen. Während des Essens über den alten Koch herzuziehen, gehörte im Th’Each Dhá schon seit Jahren zum guten Ton und bedurfte keiner zusätzlichen Kommentierung mehr.

»Vielleicht Flint?«, meldete sich Ira unvermittelt zu Wort. »Ich glaube, der kann selbst einen Kategorie Fünf genügend aus der Fassung bringen, dass wir dem Viech so lange egal sind, bis wir den ersten Schlag führen. Und wenn der richtig sitzt, dann haben wir den schlimmsten Teil schon hinter uns.«

Zuerst wollte O’Brannick aus tiefster Seele widersprechen. Als er jedoch etwas genauer darüber nachdachte, erschien ihm der Einfall seines Freundes gar nicht mal so verkehrt. Normalerweise ließen sie den Burschen im Zeugkeller bei Buck Bouwler oder einem seiner Gehilfen, wenn sie ihren Aufträgen nachgingen. Langsam aber sicher war es allerdings an der Zeit, dass Flint seinen Anteil zum Fortbestehen ihrer Jägerloge beitrug. Immerhin hatten Ira und er ihn seinerzeit nicht nur zum Spaß aus der Gosse gezogen und bei sich aufgenommen.

»Aye, warum eigentlich nicht«, befand Tighan. Dann schob er den mittlerweile geleerten Teller von sich und ließ einen satten Rülpser ertönen, ehe er mit dem restlichen Tee und der Milch dem aufwallenden Sodbrennen Einhalt gebot. »Am besten gehe ich ihn holen.« Er lachte leise. »Vielleicht ahnt der Gute schon, was ihm blüht, und zögert den Moment der Wahrheit absichtlich hinaus.«

»Oder er ist dumm genug, dass er es vor Freude kaum abwarten kann.«

Sprachs und deutete auf die just in diesem Augenblick auffliegende Küchentür. Hindurch sprang nicht etwa einer der Jungen, sondern ein wahrer Riese von einem Hund. Im strammen Trab - was in diesem Fall beinahe gestrecktem Galopp gleichkam - zwängten sich in raues, mittellanges sowie graurot gestromtes Fell gehüllte einhundertdreißig Pfund zwischen Bänken und Jägern hindurch und hielten schnurstracks auf Ira und Tighan zu.

Je näher das zwei Jahre alte, eine Schulterhöhe von knapp drei Fuß innehabende Tier den beiden kam, umso eindringlicher wurden sein aufgeregtes Fiepen und das Wedeln der kräftigen Rute. Kurz vor seinen Ziel mäßigte der Hund seine Geschwindigkeit zu verhaltenem Schritt, senkte Lefzen leckend den Kopf und klappte die kleinen Schlappohren unterwürfig nach hinten, worauf O’Brannick wie immer als Erster begrüßt wurde. Behutsam drückte Flint seinen mächtigen Schädel in die Hände des Fiagi, verstummte, schloss die hellbraunen Augen und genoss es, sich von ihm Wangen und Hals kraulen zu lassen.

»Na, du alter Stinkfisch?«, schmunzelte Tighan, dem eine deftige Fahne aus warmem Hundeatem, altem Fleisch und weichgekautem Knochen entgegenschlug. »Hast dich wieder gut an Stantons Abfällen bedient, hm?«

Zur Antwort schnaubte Flint gedämpft und wich ein wenig zurück. Anschließend schnupperte er in der über den Tabletts stehenden Luft herum, rümpfte die Nase, schüttelte sich und bedachte Tighan mit eindeutigem Blick.

›Klar, na und? Was ihr da gefressen habt, kann unmöglich frischer gewesen sein.‹

Lachend tätschelte O’Brannick dem Hund den Kopf, woraufhin dieser ihm mehrmals über die Finger leckte, sich abwandte und die gesamte Begrüßungsprozedur bei Ira wiederholte. Dessen Miene nach zu urteilen, konnte auch er Flints Maulgeruch nicht das Geringste abgewinnen. Aber weil hierzu bereits alles gesagt war, begnügte er sich damit, ihm eine Portion Streicheleinheiten zu gönnen und währenddessen in eine andere Richtung zu atmen.

Erstaunlicherweise besserte sich der Gestank merklich, nachdem Flint die tote Rote Weberin verschlungen hatte.

***

Hauptzeugwart Buck ›der Schleifer‹ Bouwler, gut sechs Fuß groß, beleibt, dreiundsechzig Jahre alt und faltig, quälte den morschen Schemel unter seinem ausladenden Gesäß nicht grundlos. Vor ihm auf dem wurmstichigen, mit einem dick eingewachsten Tuch bedeckten, niedrigen Tisch stapelten sich zweiundzwanzig Schwerter samt Scheiden, die in der vergangenen Nacht ihren Besitzern ohne jeden Zweifel das Leben gerettet hatten. Jede der Klingen war über und über besudelt mit einer klebrigen, tiefschwarzen Masse, die träge auf das Wachstuch tropfte, bereits mehrere winzige Seen bildete und alsbald ihre letzte Ruhe in zahlreichen Lappen finden würde, mit denen später die Wäscherei sicherlich ihre wahre Freude hatte. Oder eher das genaue Gegenteil. Schon die Fiagi gaben sich höchst ungern mit dem finsteren Blut der Scáth ab. Eine Abneigung, die auf die Waschfrauen noch ungleich mehr zutraf.

Buck rückte sein Hinterteil etwas bequemer auf dem protestierend knarzenden Schemel zurecht und griff sich einen dicken, grauen Lappen von dem neben ihm am Boden liegenden Stapel. Der Geruch scharfer Bleiche und einer mit speziellen alchemistischen Stoffen angereicherten Lauge stieg ihm in die Nase und verursachte ein stechendes Brennen hinter seiner Stirn. Geräuschvoll zog der Schleifer einen Klumpen Rotz hoch, spuckte saftig neben den Tisch und steckte den Zeigefinger in eine Tasche seiner abgewetzten Lederweste. Als der Finger wieder zum Vorschein kam, klebte ein Tropfen einer zähen, fast durchsichtigen Paste daran. Wie beiläufig schmierte er sich das Mittel unter die Nase, holte tief Luft und atmete erleichtert auf, taten die verschiedenen Öle darin doch sogleich ihre Wirkung und vertrieben den Schmerz, noch ehe er sich vollends unter seinem schütteren, grauen Haar auszubreiten vermochte.

Er vertrug den Gestank von Lauge und Bleiche nicht mehr besonders. Aber wo ein gesundheitliches Problem war, da gab es meistens auch irgendeinen Quacksalber, der es lösen konnte.

Mit besänftigtem Schädel und einem fröhlich gepfiffenen Lied auf den Lippen nahm Buck das erste Schwert zur Hand. Ein einziger Blick seiner geschulten, blauen Augen genügte, um zu wissen, dass sich die ganze Mühe hier nicht mehr lohnte. Der einstmals glänzende Stahl war verdammt hart rangenommen worden und die Schneide dermaßen beschädigt, dass einfaches Nachschleifen ebenso sinnlos war wie das Putzen derselben. Der Hauptzeugwart vermutete (durchaus richtig, obschon er es nicht wusste), dass diese Waffe Bekanntschaft mit einem wahrscheinlich knochengepanzerten Gegner hatte machen müssen, der ihr zum Verhängnis geworden war. Schulterzuckend legte Buck das Schwert beiseite, wohlwissend, dass er am Abend mehr als bloß dieses eine auf seinen Eselskarren laden und zum Einschmelzen in die Schmiede fahren würde. Doch vorerst galt es, sich jenem Stahl zu widmen, den er noch retten konnte.

Unbeirrt weiterpfeifend griff der Schleifer sich die nächste Klinge und nickte zufrieden. Man sah ihr die Strapazen des letzten Kampfes zwar an, aber in ihrem Fall konnte er den Spuren später mit dem Schleifstein problemlos zu Leibe rücken. Also begann er, die Waffe sorgfältig vom Scáthblut zu befreien.

Das schwarze Zeug war verflucht hartnäckig, pappte am Stahl fest wie Kletten in Hundefell. Nur an einer Stelle des Schwertes befand sich kein einziger Tropfen davon, und dies war die Hohlkehle. In die Schwerter der Fiagi und der königlichen Soldaten wurde heutzutage regelmäßig eine Stange des in angenehm hellem, zugleich aber blendfreiem Licht erstrahlenden Sonnenglases eingeschmiedet. War die Klinge fertiggestellt, wurde in einem langwierigen Schleifgang nachträglich die Hohlkehle so tief eingearbeitet, dass das Sonnenglas auf beiden Seiten des Schwertes freigelegt wurde. Auf diese Weise erhielt man die einzig tatsächlich wirkungsvolle Waffe gegen einen Scáth. Natürlich war es auch möglich, die Biester mit Hilfe einer herkömmlichen Klinge zu verletzten oder gar in die Flucht zu schlagen. Allerdings regenerierten sich durch einfachen Stahl geschlagene Wunden bei den Schatten innerhalb kürzester Zeit, ohne irgendeinen dauerhaften Schaden zu hinterlassen. Erst das Licht aus dem Sonnenglas beschied den Scáth ihr verdientes Ende. Gleiches galt für mit dem Glas versehene Pfeile und Armbrustbolzen, bei denen sich das Material in den Spitzen sowie den Schäften befand.

Während Buck putzte und pfiff, begutachtete und aussortierte, behielt er das geschäftige Treiben im Zeugkeller ebenso sehr im Auge, wie er aufmerksam zuhörte. Bei all dem üblichen Brimborium der dort zwischen den aneinandergereihten, schmalen Waffenschränken umherwuselnden Jägerlogen, das unter anderem unterschiedlich stark ausgeschmückte Berichte über die beendete Schicht, derbe Witze, Fachsimpelei oder auch manches Streitgespräch beinhaltete, gab es oftmals allerhand interessante Dinge zu erlauschen.

Heute war das Hauptthema der sich für ihre Aufträge rüstenden Tagesschicht die Loge von Ira O’Mally und Gusvig Jones. Offenbar hatte diese dämliche, sich Stadtoberalchemist schimpfende Hundsfott von Reamonn Leighs die zwei Jäger dazu auserkoren, ihm die Innereien eines Kategorie Fünf zu besorgen. Bouwler hielt diese Wahl für gewaltig idiotisch, womit er keineswegs allein war. Das allgemeine Gerede im Zeugkeller bot den besten Beweis dafür. Nicht, dass die beiden Männer keine guten Jäger abgaben, oh nein. Zweierlogen zählten zu den Besten ihres Fachs; eine Auszeichnung, die auch Jones und O’Mally anhaftete.

Jeder, der mit den Fiagi jer Scáth zu schaffen hatte oder sich halbwegs für ihr Tun interessierte, wusste, worauf sich Ruf und Erfolg der Zweierlogen begründeten, und der Schleifer gehörte freilich dazu.

Zum einen lag es an den Scáth. Als Schattenwesen, die sie waren, besaßen sie zahlreiche unangenehme Eigenschaften, von denen eine für die Zusammenarbeit der Fiagi besonders bedeutsam war: Wer auch immer einen Scáth betrachtete, erblickte nicht zwangsläufig dieselbe Gestalt, welche die Menschen um ihn herum zu sehen vermochten.

Also war es wichtig, dass die Mitglieder einer Jägerloge möglichst ähnliche Wesen vor sich sahen, sobald sie einem Schatten gegenüber standen.

Nur auf diese Weise konnte vermieden werden, dass beispielsweise ein Mann von einem durch einen anderen Jäger visualisierten sechsköpfigen Ungeheuer angegriffen wurde, obwohl er selbst es bloß als zweiköpfiges Biest erkannte. Denn dadurch vermochte der Scáth ihn zu schnappen, noch ehe der bedauernswerte Tropf überhaupt begriff, was vor sich ging. Sahen jedoch alle Fiagi nahezu dasselbe Getier, war eine derartige Gefahr gebannt, und böse Überraschungen blieben weitestgehend ausgeschlossen.

Der große Vorteil der Zweierlogen bestand darin, dass sie ausnahmslos jeden Scáth exakt bis ins kleinste Detail in derselben Form erblickten. Abweichungen in ihrer Wahrnehmung gab es nicht, weshalb gerade die Jagden dieser Logen besonders erfolgreich waren.

Selbstredend verbargen sich hinter Vorteilen auch gewisse Nachteile. Gleiches äußerte sich bei den Zweiern dergestalt, dass sie aufgrund der geringen Größe ihres Verbundes höchstens auf Schattenwesen der Kategorie Vier angesetzt werden konnten - und sogar das galt in Fachkreisen als viel zu riskant, weswegen die Aufträge für Zweiertrupps normalerweise nicht über die Kategorie Drei hinausgingen.

Wohlgemerkt, normalerweise.

Was Jones und O’Mally betraf, so schien zumindest Reamonn Leighs es darauf abgesehen zu haben, die beiden mit Vorliebe in größere Gefahr zu bringen als nötig. Immerhin war jeder Fiagi ein wertvoller Kämpfer, und Buck Bouwler hielt es für ausgesprochen schwachsinnig, nur einen einzigen von ihnen sinnlos zu verheizen. Leighs beharrte da offenbar auf einer anderen Meinung. Zuletzt hatte er das deutlich zu zeigen vermocht, indem er die zwei einen Vierer hatte jagen lassen, der O’Mally für mehrere Tage ins Krankenbett beförderte, während das jüngste, im Zeugkeller kursierende Gerücht der ganzen Sache die Krone aufsetzte. Pah! Einen Fünfer sollten sie kleinmachen! Der Schleifer spuckte abermals aus. Diese armen Schweine konnten froh sein, wenn es nicht andersrum ausging.

Während Buck noch mit sich verhandelte, ob er genügend Rotz für einen dritten Spuckfleck übrig hatte, betraten Tighan und Ira den Raum, dicht gefolgt von Flint, der bereits sehnsüchtig zu dem Hauptzeugwart herüber schielte; schließlich steckte in den Taschen des alten Mannes immer ein Stück Wurst oder Käse, über das er sich hermachen durfte. Zu seinem Leidwesen gab ihm jedoch keiner der beiden Männer die Erlaubnis, sich von ihnen zu entfernen. Stattdessen waren sie wie angewurzelt am Treppenabsatz stehen geblieben, und jetzt bemerkte auch der Hund die plötzlich eingetretene Stille sowie die in ihre Richtung gewandten Blicke. Schnaubend hockte er sich auf die Hinterpfoten und wartete ab, was als nächstes passieren würde.

»Was denn, eh?«, rief O’Mally aus. »Tut nicht so, als wären wir hier die einzigen Todgeweihten! Wir haben uns die Scheiße alle selber ausgesucht, und heute sitzen Gus und ich halt mal ‘n bisschen tiefer drin als sonst! Kümmert ihr euch um euren Haufen, wir kümmern uns um unseren!«

Das allgemeine Schweigen wurde von kollektivem Gemurmel abgelöst, aus dem herauszuhören war, dass die restlichen Fiagi Ira überwiegend Recht gaben. Nur Sekunden später lebte die gewohnte Geräuschkulisse wieder auf, und es wurde neuerlich laut im Zeugkeller. Jeder beschäftigte sich mit seinen eigenen Angelegenheiten, doch den zwei Freunden entging keineswegs, dass sie trotz allem immer noch mit manch heimlicher Mitleidsmiene betrachtet wurden.

»Man will fast meinen, wir hätten schon den Bestatter hinter uns herlaufen«, knurrte Ira leise. »Würde mich nicht wundern, wenn die Hälfte von den Spinnern drauf spekuliert, dass sie sich bald was von unserem Zeug unter den Nagel reißen können.«

»Aye«, brummte Tighan missmutig.

Bei allem Gemeinschaftssinn, den die Fiagi besaßen, gab es unter ihnen dennoch nicht wenige, die jede Gelegenheit nutzten, den eigenen spärlichen Besitz aufzuwerten, sobald einer ihrer Jagdgenossen das Zeitliche segnete. Sei es nun, dass sie sich dessen hinterlassene Kleidung, Waffen und Geld aneigneten, oder im wahrsten Sinne des Wortes dessen Seele verkauften - so sie diese denn vor den Suchern fanden.

»Bevor mein Arsch nicht alt und runzlig ist, bekommt ihr von mir gar nichts, ihr verdammten Hurensöhne!«, brüllte O’Mally plötzlich in die Runde, womit er ein paar beschämte Blicke, aber auch reichliche Lacher erntete.

»Als ob irgendeiner von uns deine durchgefurzten Altmännerhosen haben will«, ließ sich grinsend Grady Naith vernehmen.

»Besser durchgefurzte Hosen, als gar keine«, konterte Ira trocken.

Damit verursachte er nur noch größeres Gelächter, hatte Grady doch für seinen scherzhaften Einwurf mitten im Umkleiden innegehalten, sodass er nun mit blankem Hintern dastand. Eine Tatsache, die ihn nicht im Mindesten interessierte, zumal er zu denen gehörte, die deswegen am Lautesten grölten.

»Komm, wir schauen eben beim Schleifer vorbei«, schmunzelte Tighan und klopfte seinem Freund auf die Schulter.

»Aye. Mal sehen, was er dazu sagt, dass unser Stinkfisch heute mit auf die Jagd geht.«

Etwa zwei Minuten später spuckte Buck Bouwler den beiden Freunden direkt vor die Füße, kraulte Flint selig lächelnd im Nacken und steckte ihm ein zweites Stück Käse zu. Der Hund schluckte es im Ganzen, schmatzte danach jedoch weiter, als hätte er den gesamten Laib zwischen den Zähnen.

»Der wird beißen«, befand Buck. »Der is’ nich’ ausgebildet, so wie die andern. Das is’ ‘n Halbwilder. Wenn der einmal frisches Scáthblut gerochen hat - ich schwörs dir in die nackte Hand, Jones -, dann hört der nich’ mal mehr auf dich. Ihr wisst genau, dass die Köter nur beißen dürfen, wenn ‘se sollen. Der alte Leighs reißt euch die Ärsche bis zum Nacken auf, wenn der Stinker seine Zähne in dem schwarzen Drecksvieh versenkt und irgendwas erwischt, was die Hundsfott braucht. Und den Köter lässt er mit dem Schwanz zuerst den nächstbesten Baum raufziehen.«

»Ich hab Flint auf dem Weg hierher alles erklärt«, widersprach Tighan ruhig und verpasste dem Hund einen freundschaftlichen Klaps gegen die Rippen, worauf dieser endlich mit dem Schmatzen aufhörte. Er verzog die Lefzen wie zu einem Grinsen und wedelte sachte mit der Schwanzspitze. »Er hat durchaus begriffen, worum es geht.«

»Du magst vielleicht ‘n komischen Draht zu dem ganzen Viehzeug haben«, gab der Schleifer zurück. »Aber du kannst mir nich’ weismachen, der Köter würd von dem, was du sagst, Wort für Wort kapieren.«

»Werden wir ja sehen.« Ira warf Buck einen herausfordernden Blick zu. »Ich nehm noch Wetten an. Bist eingeladen.«

»Schreis nich’ so laut, O’Mally«, mahnte Bouwler. »Hier unten gibt’s Ohren, die hören das tausend Meilen gegen ‘nen beschissenen Sturm, undzack...« Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »... hat’s euch erwischt. Außerdem weiß ich, dass eure Geldkatzen so leer sind wie ‘n Darm nach ‘nem ordentlichen ...«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach Tighan ihn hastig. »Spar dir das, ja? Ich hab für heute genug bildhafte Vergleiche aus deinem Schandmaul gehört, danke. Und Ira, auf diesen Auftrag wetten wir nicht. Verstanden?«

»Och, die Quote würde sich aber lohnen«, ertönte unvermittelt Gradys Stimme hinter den zwei Freunden, während er seine Hosen zurechtrückte und den Gürtel schloss. Anschließend zog er ein zerfleddertes Notizbuch sowie ein Stück Kohle aus der Hosentasche und begann, auf einer leeren Seite herum zu kritzeln. »Das wäre eine saubere Wette. Ich rechne hoch zwei auf lebend, hoch fünf auf tot. Da kann ich euch jetzt schon verraten, worauf die meisten unserer Jagdgenossen setzen werden.«

»Und ich kann dir verraten, wer gleich seine Kohle durch die Nasenlöcher atmet, wenn er nicht sofort verschwindet.«

O’Brannick und Naith starrten einander erzürnenden Auges an. Ira seufzte langgezogen. Flint fiepte einmal und wedelte etwas stärker mit der Rute.

Der Schleifer stopfte ihm den dritten Brocken Käse ins Maul, zog die Nase hoch, behielt das Resultat allerdings für sich. Die übrige Belegschaft ignorierte das Szenario.

»Hab es ja gesagt«, murmelte Bouwler. »Ohren überall. Hässliche noch dazu.«

»Sagt wer?«, knurrte Grady.

»Sag ich«, erwiderte Buck düster.

»Weißt du, Gusvig, im Grunde ist es doch so«, warf O’Mally ein. »Wenn wir beide auf lebend wetten, werden wir nicht den kleinsten Verlust machen. Entweder kommen wir zurück und heimsen die gewonnenen Rogen ein, oder wir verrecken da draußen. Dann kann uns das Ergebnis sonst wo dran vorbei gehen, wir bekommen es ja eh nicht mehr mit.«

»Wahre Worte, O’Mally«, stimmte Grady ihm zu, ohne den Blick von Tighan abzuwenden. Derweil begann sein linker Mundwinkel verdächtig zu zucken.

»Wie schade, dass wir blank sind«, erwiderte dieser gefährlich leise. In seinen Augen funkelte es verräterisch, und er trat einen Schritt auf Naith zu, wodurch sich die Distanz zwischen ihnen auf anderthalb Armeslängen verkürzte.

»Dann geb ich euch eben Kredit«, sagte Naith. Das Zucken im Mundwinkel wurde etwas stärker.

»Vergiss außerdem die Quote nicht, mein Freund«, fügte Ira hinzu. »Egal, wie viel du setzt, du bekommst es doppelt zurück. Selbst nach Abzug der geliehenen Rogen ist das immer noch ein netter Gewinn.«

Abermals entstand ein Moment des Schweigens, der schließlich jäh von O’Brannick beendet wurde.

»Ach, bei des Henkers Bart, was soll’s«, rief er, warf die Hände in die Luft und hörte auf, sein mühsam unterdrücktes Grinsen zu bändigen. »Das Leben ist kurz. Wetten wir.«

»Nichts anderes hab ich erwartet«, lachte Grady, froh, von seiner gespielt eisernen Miene erlöst worden zu sein, und wedelte mit dem Wettbuch. »Meine Herren, die Einsätze, wenn ich bitten darf.«

»Fünf auf lebend«, entschied Tighan.

»Fünf was?«

»Fünf in Bronze.«

Grady Naith hielt inne, ließ die Schreibkohle sinken und machte ein Gesicht, als hätte man ihm soeben eröffnet, dass seine Mutter ihn seinerzeit mit einem Esel gezeugt hatte (übrigens ein Gedanke, der manch einem Fiagi als gar nicht so abwegig erschien). »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

O’Brannick grinste schelmisch. »Aye.«

»Jetzt aber im Ernst.«

»Zwanzig in Silber.«

»Das ist doch mal ein Wort!« Naith ließ die Hand auf das Buch niederschlagen, dass die Kohle staubte. Sein Eselsvatergesicht verwandelte sich in das eines Wolfes, der vor einem frisch erlegten, saftigen Kaninchen saß. »O’Mally?«

»Ich geh mit.«

»Schön, schön.« Grady notierte eifrig. »Schleifer?«

»Lass mich in Frieden. Ich hab noch ‘n paar Schwerter zu putzen.«

»Also zehn in Silber auf die höhere Quote, wie üblich.«

Bouwler grunzte einsilbig.

Grady nickte zufrieden und schrieb weiter.

Ira und Tighan bedachten den Hauptzeugwart mit fassungslosen Blicken.

»Männer!«, ließ sich Naith unterdessen vernehmen, wobei er sein Buch über dem Kopf umher schwenkte. »Heute wird gewettet! Hoch zwei auf lebend zu hoch fünf auf tot für O’Mally und Jones!«

»Ausgerechnetdusetzt auf tot?«, war es schließlich Ira, der beider Freunde Gedanken laut aussprach.

Buck Bouwler zuckte nur lapidar mit den Schultern. »Nimm’s mir nich’ krumm, aber ich bin halt ‘n Realist.«

Wir alle waren Zeuge. Wir alle sahen, wie die Sonne fiel. Wir versteckten uns vor dem goldroten Scherbenregen, der die Hälfte unserer Stadt zerstörte, eines unserer Dörfer dem Erdboden gleichmachte und zahlreiche Leben beendete. Seitdem gibt es über unseren Köpfen nichts weiter außer rabenschwarzer Nacht, während wir uns an das wärmespendende Licht des Sonnenglases klammern und um das Überdauern unseres Geschlechts bangen! Doch wer, frage ich euch, wer trägt die Schuld daran? Wer kommt in Betracht? Meine Freunde, die Antwort liegt so nahebei. Denn niemand anderes als die Dharoi’Sola, deren Mitglieder sich selbst so vollmundig die Sonnenfunken nennen, zehrten jahrhundertelang an den Kräften unserer geliebten Sonne! Ich sage, die Dharoi’Sola haben sie durch ihre Gier nach Macht zerstört, und dafür gehören sie gejagt! Ich sage, die gerechte Strafe für dieses Verbrechen darf nicht geringer sein als der Tod! Lasst sie uns rächen, meine Freunde! Rächen wir den Niedergang unserer Sonne!

Anonymer Aushang eines Bürgers der Stadt

Ardys vom Dezember des Jahres 1378 MZ

Vermutlicher Anfang der Feindseligkeiten

gegenüber den Dharoi’Sola

Bürger und Bürgerinnen von Rokhanos! Hiermit ist folgender Beschluss verkündet: In Verständigung mit sämtlichen Herrschern der vier Kontinente des Weltenrunds wurde - begründet durch den Fall der Sonne vor einem Jahr - der Beginn eines neuen Zeitalters entschieden. Der Beschluss wird vollzogen zur Wende des Jahres 1379 Menschenzeitalter (MZ). Nach der Letzten Nacht wird der Erste Tag des Jahres 1 Dunkelzeitalter (DZ) eingeläutet und die ausschließliche Allgemeingültigkeit dieser Zeitrechnung in Kraft gesetzt. Fortan sei dem Volk geboten ... (weiteres unleserlich).

Dearan O’Larning

Über die Zeitalter des Weltenrunds

Band II - Fundstücke aus königlichen Archiven

2

Dort, wo heute die Th’Each jer Fiagi standen, die zusammen mit den angrenzenden Pferdeställen das bis zur südöstlichen Stadtmauer reichende Übungsgelände der Jäger vom Rest Mar-Dinyes trennten, hatte sich knapp zweiunddreißig Jahre zuvor ein ausgedehnter Park befunden. Es hatte Bäume gegeben, hochgewachsen, dicht belaubt und penibel gepflegt. Saftige, stets sauber geschnittene, von hell gekiesten Wegen durchzogene Wiesen hatten kleine, klare Teiche voller Goldfische und Frösche umschlossen. Überall fanden sich üppige Beete, farbenfroh bestückt mit den schönsten Blumen, die Rokhanos’ Flora zu bieten vermochte. Ein feiner, süßer Duft hatte dieses Fleckchen Erde regiert, und weiß gestrichene, wohlplatzierte Pavillons hatten die vorbeiziehenden Spaziergänger zum Verweilen auf schlank gezimmerten Bänken eingeladen. In der Tat erwies sich der Park von Mar-Dinye damals als ein Ort des Müßiggangs und der Erholung. Er bildete die Geburtsstätte zahlloser, aus klangvollen Bardenkehlen gesungener Balladen. Er war Treffpunkt junger wie alter Verliebter, das verwunschene Dickicht, in dessen Sicherheit so manch ein Jüngling den Mut gefunden hatte, um die Hand seiner Liebsten anzuhalten. Der Hort tausender Geheimnisse, Tanzfläche schillernder Schmetterlinge, die ihren Reigen zum Rhythmus verschiedenster Singvögel vollführten, und noch so viel mehr.

Dann kam jene Stunde, zu der die Sonne zerbarst und das ewige Dunkel seinen Anfang nahm.

Einen Tag und eine Nacht lang stürzten in goldfarbenem Licht erstrahlende Splitter vom Himmel herab, die kleinsten vom Ausmaß einer durchschnittlichen Handfläche, die größten zehnmal höher und zweimal breiter als das prunkvollste Königsschloss. Tief gruben sie sich in Rokhanos’ Leib, schufen neue Schluchten, zerstörten Häuser, Dörfer und halbe Städte. Auch der berühmte Park von Mar-Dinye fiel dem glühenden Schauer zum Opfer, ebenso wie ein erheblicher Teil des Ostviertels und drei der insgesamt fünf zum Herrschaftsgebiet des Hauses var Greagen gehörenden Dörfer, von denen nur eines wieder aufgebaut werden sollte.

Da waren sie nun, die Scherben der Sonne, welche landesweit bekannt wurden als das Sonnenglas, das riesigen Zähnen gleich allerorts aus der Erde ragte.

Kühl in der Berührung und dennoch warm im Licht begannen die Scherben schon bald, das schockstarre Rokhanos mit zaghaft keimender Hoffnung zu tränken. Denn es stellte sich heraus, dass im Leuchtkreis des Sonnenglases alles wuchs und gedieh, als sei niemals etwas geschehen, während das Weltenrund nur noch ein tiefschwarzes, sternengespicktes Firmament überspannte, in dessen finster gewordenen Ecken die Erde gefror, die Felder verkümmerten, Menschen sowie Tiere erkrankten und letzten Endes immer mehr von ihnen starben.

Es dauerte ein halbes Jahr, ehe der findige Glaser Leewood Droghter und sein Freund Wayland Calwaggen, ein angesehener Alchemist, einen Weg fanden, das Sonnenglas zu zerlegen und zu verarbeiten. So baute Droghter eine mit Diamantsplittern bewehrte Säge, die in Verbindung mit einer von Calwaggen erfundenen speziellen Säure in der Lage war, den ungemein widerstandsfähigen Scherben zu Leibe zu rücken. Hilfsbereit, wie beide Männer waren, behielten sie das Geheimnis ihrer Werkzeuge und Chemikalien freilich nicht für sich, sondern verbreiteten die Neuigkeit im gesamten Land, auf dass jede Stadt sich schließlich selbst helfen konnte.

Bereits wenig später erblühte die gestreute Saat junger Zuversicht in vollem Glanz, denn im Verlauf der Aufräumarbeiten offenbarte das Sonnenglas eine weitere positive Eigenschaft: Durch das Zerlegen schwanden weder seine Leuchtkraft noch seine Wärme, weshalb es nicht lange dauerte, bis man die ersten Lichtpfähle auf fruchtlose Felder, vom Frost zerfressene Viehweiden und in die Nähe der Häuser stellte. Und siehe da: Korn, Gemüse, Obst, Gras und Pflanzen begannen neuerlich zu sprießen, kräftiger als je zuvor. Menschen und Tiere überwanden langsam die nagende Trübnis der Ewigen Nacht und fassten wieder frischen Lebensmut, woraufhin Leewood Droghter und Wayland Calwaggen, der Glaser und der Alchemist aus Rionn, als Bewahrer des Überlebens der Menschen von Rokhanos in die Geschichte eingingen - in ihrer Verantwortung noch einige weitere Erfindungen tragend, welche die Handhabung des Sonnenglases entschieden erleichterten.

Das Dasein der Rokhaner hätte ungeachtet aller Widrigkeiten zufrieden fortbestehen können.

Wären da nicht die Kriege, die Verfolgungen und die Sache mit den Seelen gewesen.

Und die Rückkehr der Scáth.

***