Die Nacht der Katzengöttin - Elise Lambert - E-Book

Die Nacht der Katzengöttin E-Book

Elise Lambert

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Beschreibung

Ein Sack voll mit ausgesetzten Katzenbabys führt Lena auf Gut Hohenstein, ein heruntergekommenes Gestüt im malerischen Voralpenland. Sie lernt die zwei- und vierbeinigen Bewohner kennen und lieben und beschließt, eine Weile zu bleiben. Mysteriöse Vorkommnisse in der Vergangenheit und tragische Ereignisse in der Gegenwart führen dazu, dass Lena unbedingt das Geheimnis um Hohenstein lüften will. Mit Hilfe der geheimnisvollen Katze Bastet beginnt sie eine abenteuerliche Spurensuche in den unterirdischen Gängen des Hofes und gerät dabei selbst in große Gefahr.

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Seitenzahl: 353

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Elise Lambert

Die Nacht der Katzengöttin

© 2016 Elise Lambert

Umschlag, Illustration: Coverfoto: "Kyla" von Andrea Riel

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-0667-3

Hardcover:

978-3-7345-0668-0

e-Book:

978-3-7345-0669-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel 1

Es regnete in Strömen. Aber das störte sie wenig. Lena fuhr mit ihrem Kleinwagen, der so aussah als ob er schon bessere Zeiten erlebt hätte, in mäßigem Tempo auf der Autobahn. Ohne ein Ziel. Nur weg wollte sie. Weit weg von all dem, was in der letzten Zeit passiert war. Unbewusst rannen ihr wieder Tränen über die Wangen als sie an das Geschehene dachte.

Wie kann man nur so naiv sein! Ausgerechnet sie fiel auf diese alberne Geschichte rein.

Die junge Frau zündete sich eine Zigarette an und sog tief den Rauch in ihre Lungen. Eigentlich hatte sie damit vor einem Jahr aufgehört. Aber jetzt waren ihre guten Vorsätze dahin.

Ihre fast hüftlangen, kastanienbraunen Haare, die sonst immer so gepflegt frisiert waren, lagen ihr jetzt wie ein struppiger Haufen undefinierbares Fell um die Schultern. Sie achtete nicht darauf. Die geheimnisvollen grünen Katzenaugen, um die sie von all ihren Freunden und Kollegen schon immer beneidet wurde, blickten heute nur stumpf durch die Windschutzscheibe. Sie lagen in tiefen Höhlen, eingerahmt von dunklen Ringen, zeugend von dem wenigen Schlaf und der vielen Tränen der letzten Tage.

Lena blinkte und fuhr die nächste Ausfahrt von der Autobahn ab. Ein menschliches Bedürfnis machte sich bemerkbar und außerdem war es an der Zeit ein bisschen frische Luft zu schnappen und sich die Beine zu vertreten. Sie fuhr noch etliche Kilometer auf der Landstraße entlang, bis sie einen geeigneten Platz zum Halten gefunden hatte. Es handelte sich um einen kleinen Rastplatz, lediglich mit einem hölzernen Tisch und zwei Bänken davor und einer total überfüllten Mülltonne. Der Abfall stapelte sich schon neben der Tonne. Ans Ausleeren dachte hier in dieser Gegend wohl keiner. Doch Lena achtete nicht weiter darauf. Da auch keine Toilette aufgestellt war, musste sie wohl oder übel mit ein paar Büschen vorlieb nehmen, die am Rande wuchsen. Bei dem Regen bestimmt nicht angenehm, aber mit dem Gedanken an eine übel riechende, verdreckte Rastplatztoilette war es Lena sogar lieber so. Da das Wetter in keinster Weise einladend war, verschob sie das Beine vertreten und setzte sich wieder hinter das Steuer ihres kleinen verrosteten Golfes. Sie nahm sich aus ihrem Rucksack ein paar Kekse und eine Flasche Limonade, alles was sie in der Eile ihrer Abreise, eigentlich war es schon fast eine Flucht, eingepackt hatte. Nach dem kleinen Imbiss fühlte sie sich keinesfalls besser, jedoch das dumpfe Gefühl in ihrer Magengegend verschwand ein wenig. Sie starrte vor sich hin. Von der Gegend, in der sie sich befand, nahm sie so gut wie nichts war. Sie war bereits über 600 km gefahren, aber ihr schien es immer noch nicht weit genug weg.

Weit weg genug von „Ihm“!

Angefangen hatte alles vor etwa sechs Monaten.

Sie trat gerade ihre neue Stelle als Krankenschwester an der Universitätsklinik von Hannover an. Alles schien perfekt zu laufen. Die Arbeit auf der Unfallstation gefiel ihr, die Kollegen waren alle sehr nett, ... und dann traf sie auf Stefan... Stefan war Oberarzt auf der Inneren Station. Sie traf ihn zum ersten Mal, als sie ein paar Patientenkarteien auf seine Station bringen sollte. Ihre Augen begegneten sich, und ihr wurde es heiß und kalt gleichzeitig.

Er sah so gut verdammt aus, mit seinem blonden, korrekt geschnittenen Haar, den stahlblauen Augen, den regelmäßigen, tief gebräunten Gesichtszügen. Den Gedanken, mit ihm etwas anzufangen, verwarf sie sofort. Solche Typen waren entweder vergeben oder schwul.

Abends, als sie mit einem Glas Rotwein in ihren Lieblingssessel gekuschelt vor dem Fernseher saß, sah sie diese Augen wieder vor sich. Diese große, schlanke Gestalt, die sie so freundlich anlächelte.Wie ein Stromschlag durchfuhr sie seine zufällige Berührung, als sie ihm die Karteien überreichte. Sie träumte mit offenen Augen. Das Telefon brachte sie wieder auf den Boden der Realität zurück. ... Behrend..., hörte sie am anderen Ende der Leitung.

Wer... , wie .., warum ..? Er rief sie an, ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Woher hatte er ihre Nummer?

„Hallo, sind sie noch dran?“

„Ja, ja, hallo, “ stammelte sie aufgeregt, „ich habe nur nicht damit gerechnet... „.

Ihr fehlten die Worte. Sie hätte sich ohrfeigen mögen. Sie benahm sich wie eine pubertierende Vierzehnjährige. Dabei war sie beinahe siebenundzwanzig.

„Ich wollte Sie fragen, ob ich Sie mal auf einen Kaffee einladen dürfte?“

Mann, der ging aber ran. Eigentlich hätte sie dabei schon hellhörig werden sollen. Diese Stimme klang nur so verflixt erotisch. Ohne lange zu zögern willigte sie ein.

Die nächsten Wochen und Monate vergingen wie im Traum. Sie verlebte eine wunderschöne Zeit mit Stefan.

Sie gingen ins Kino, zum Essen oder einfach nur Spazieren. Sie schliefen zusammen, redeten über die Zukunft.

Nein, genau genommen hatte nur sie über die Zukunft gesprochen. Er hatte dazu immer nur gelächelt. Aber weil er nicht widersprach, nahm sie an, dass er alles so akzeptierte wie sie es wollte. Im Krankenhaus wusste niemand darüber Bescheid. Stefan wollte nicht, dass man über sie tuschelte. Ihr war das nur recht. Als „die Neue“ wollte sie nicht gleich ins Gerede kommen.

Eines Morgens, es war am Samstag vor einer Woche, lag Lena noch im Bett. Stefan hatte bereits um sechs seinen Dienst angetreten. Sie befand sich in Stefans Wohnung. Es war eine riesige, exklusiv ausgestattete Penthauswohnung mitten in der Stadt. Das Schlafzimmer befand sich unter dem Dach. Man erreichte es über eine Wendeltreppe und konnte von einer Galerie aus die gesamte Wohnung überblicken. Lena döste so vor sich hin, ihr Dienst begann heute erst um zehn. Es war gerade mal acht Uhr. Sie hatte also noch etwas Zeit. Mit einem wohligen Schnurren dachte sie an die letzte Nacht. Stefan war ein guter Liebhaber.

Ein Geräusch schreckte sie hoch. Es sperrte an der Wohnungstür. Kam Stefan zurück? Aber er war doch schon lange in der Klinik. Lena schlüpfte in ein T-Shirt. Neugierig schlich sie zur Galerie und sah nach unten. Eine ihr unbekannte Frau, etwa in ihrem Alter, stand in der Diele. Sie trug ein silbergraues hautenges Seidenkostüm und die dazu passenden hochhackigen Pumps. Ein schwarzer Pannésamtbody unterstrich ihr aufregendes Dekolleté und ihre tadellose Figur. Die blond gefärbten Locken waren zu einer wilden Mähnenpracht gestylt. Alles in allem war sie eine aufregende Erscheinung.

Lena spürte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug. Neben der Blondine standen unzählige Koffer. Wer um alles in der Welt war das? Wie auf ein Zeichen sah die Frau nach oben. Ihre Blicke trafen sich.

„Wer sind Sie? Was machen sie da oben in meinem Schlafzimmer?“

Die Stimme klang schroff.

„Das Gleiche könnte ich Sie fragen!“

Lena stotterte leicht vor Aufregung. In ihrem Gehirn begannen die Fragen alle gleichzeitig durcheinander zu wirbeln.

„Nun ja, .. mein Name ist Behrend, Sonja Behrendvon-Lausitz. Und das hier ist zufällig meine Wohnung. Jetzt sagen Sie mir aber doch bitte einmal, wer Sie sind und was Sie hier wollen.“ Sonja Behrend sah sie eindringlich an und rührte sich nicht von der Stelle.

Lena war wie vom Schlag getroffen. Ihre Wohnung? ... Behrend... war sie..., nein sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Langsam antwortete sie: „ Lena Hansen, ich dachte..., ich war der Meinung, Stefan lebt hier allein...!“

Tatsächlich war ihr nie der Gedanke gekommen, dass Stefan gebunden sei. In der ganzen Wohnung waren keinerlei Anzeichen einer weiblichen Hand, wie Lena einmal schmunzelnd feststellte. Für sie war das eine typische Junggesellenbude. Zugegeben, die eines reichen Junggesellen. Die Ausstattung war vom edelsten und hatte bestimmt Unsummen gekostet, aber es fehlte an dem gewissen weiblich Touch. Auch waren keinerlei Dinge zu finden wie Toilettenartikel, Kleidung etc., die eine Frau in der Regel so ihr Eigen nennt.

„Allein?“ Sonja lachte laut. „Glauben Sie wirklich ein Arzt in der Stellung von Stefan könnte sich so eine Luxuswohnung leisten? Dieses Penthouse war das Hochzeitsgeschenk meines Vaters, Professor Dr. Dr. Hubert von Lausitz für mich, seine einzige Tochter, weil ich keine Lust hatte, auf seinem verstaubten Landsitz zu hausen.“

Die Blondine kostete die letzten Worte genüsslich aus. Sie ließ es in keinster Weise an überheblicher Arroganz mangeln.

„Und Stefan ..., der darf hier wohnen, weil er mich geheiratet hat, und somit zum Oberarzt in der Klinik meines Vaters aufgestiegen ist. - Und Sie, meine Liebe sind wohl das derzeitige Flittchen, das er vögelt, und dem er süßen Honig ums kleine Mündchen schmiert!“

Lena wurde blass. Sie hatte das Gefühl, als ob sich alles um sie zu drehen begann.

Sonja war noch nicht fertig mit ihren Erklärungen.

„Nicht dass es mich stört, das er ständig andere Liebhaberinnen hat, wir führen eine offene Ehe, aber bisher hatte er sich wenigstens an die Spielregeln gehalten. Nicht in unserer gemeinsamen Wohnung! Ich finde es geschmacklos, wenn ich nach einem Jahr Auslandsaufenthalt zurückkomme und dann eine seiner zahlreichen Konkubinen hier vorfinde.“

Ihre letzte Bemerkung war reichlich herablassend. Lena wäre am liebsten in einem Mauseloch verschwunden, so elend war ihr zumute.

„Nun wird es aber Zeit, dass Sie Ihre Habseligkeiten zusammen suchen und hier verschwinden. Ich möchte nach der langen Reise baden.“

Sonja ging bereits zur Tagesordnung über und begann einen Koffer zu öffnen, ohne sich weiter um Lena zu kümmern.

Wie in Trance zog sich Lena an. Tränen verschleierten ihren Blick. Wut stieg in ihr hoch. Wut auf sich selbst und vor allem auf Stefan.

Wie konnte ihr Stefan das nur antun. Deshalb wollte er nicht, dass man in der Klinik etwas von ihrer Beziehung wusste. Er war der Schwiegersohn vom Chef. Ausgerechnet Prof. Dr. von Lausitz, der gestrenge Herrscher, den alle fürchteten.

Sie packte gerade ihren Rucksack, als Sonja das Schlafzimmer betrat. Spöttisch musterte sie Lena. „Na, was er an Ihnen gefunden hat, würde mich mal interessieren! – Wohl besonders gut im Bett, was?“

Die Worte trafen Lena wie Peitschenhiebe. Wäre sie nicht so durcheinander gewesen, hätte sie die Eifersucht bemerkt, die in Sonjas Worten mitschwang. War sie auch nicht so aufgedonnert wie Sonja, so konnte sie doch leicht mit deren Aussehen mithalten. Das glänzend gepflegte, kastanienbraune Haar umspielte ihre feinen Gesichtszüge, unterstrich die grünen Katzenaugen und fiel schließlich in langen, schweren Kaskaden bist fast zu ihren Hüften hinab. Sie trug ein leichtes, geblümtes Sommerkleid, dessen Stoff so dünn war, das er ihre wohlgeformten Rundungen erahnen ließ. Die flachen Lederslipper verliehen ihr etwas Mädchenhaftes. Alles in allem war sie eine wunderschöne natürliche Erscheinung, die in jedem Falle dem Vergleich mit Sonja Behrend standhalten konnte.

Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, lief Lena an Sonja vorbei die Treppe hinunter in Richtung Aufzug. Nur raus hier!

Trotz der frühen Morgenstunde versprach es, wieder ein sehr schöner heißer Sommertag zu werden. Doch Lena war das ziemlich egal. Sie fuhr mit ihrem Auto zu der kleinen Wohnung, die sie sich gemietet hatte, als sie nach Hannover zog und verschloss die Tür hinter sich. Dann warf sie sich auf ihr Bett und lies ihren Tränen freien Lauf. Es war eine hübsche, mit viel Liebe und Geschmack eingerichtete Wohnung. Die vielen Topfpflanzen, die stilvollen Bilder an den Wänden machten sie unheimlich gemütlich. Gut, sie befand sich nicht einem so vornehmen Stadtteil wie das Penthouse von Stefan, aber sie war nicht weit von der Klinik entfernt, so das Lena bei schönem Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren konnte. Das alles bedeutete jetzt nichts mehr. Für Lena war eine Welt zusammengebrochen. Sie wollte von all dem nichts mehr hören und sehen. Die Arbeit, die Kollegen, Stefan wieder zu sehen, nein, das konnte sie nicht ertragen.

Hals über Kopf kündigte sie in der Klinik, ohne eine Begründung. Der Personalchef schüttelte mit dem Kopf, er wollte so eine fleißige, zuverlässige und von den Patienten so geschätzte Kraft nicht einfach gehen lassen. Doch Lena blieb stur, und so händigte er ihr schließlich ihre Papiere aus.

Zuhause saß sie dann brütend in einem Sessel und starrte nur stumpf vor sich hin. Als zum wiederholten Male Stefan anrief und auf den eingeschalteten Anrufbeantworter irgendein Gesülze von wegen, wir könnten uns doch auch weiterhin noch treffen, von sich gab, zog sie den Stecker aus der Leitung. Sie war empört. Langsam wich die Trauer in ihrem Herzen einem maßlosen Hass.

Was fiel diesem Idioten eigentlich ein? Hielt er sie auch nur für ein billiges Abenteuer, so wie Sonja gesagt hatte?

Irgendwann an diesem Abend fasste sie den Entschluss von hier zu verschwinden. Irgendwo anders neu anfangen. Wie, dass würde sich zeigen. Aber Lena war schon immer eine Frau schneller Entscheidungen gewesen. Finanziell würde sie schon eine Zeit lang über die Runden kommen. Schließlich hatte sie etwas gespart. Alles andere würde die Zeit mit sich bringen.

Sie packte ihre Koffer und verstaute sie in ihrem altersschwachen Golf. Das mit den Möbeln und der Wohnung würde sie zu einem späteren Zeitpunkt lösen. Dann setzte sich die junge Frau hinter das Steuer, atmete tief durch und fuhr los.

Kapitel 2

Lena erwachte als es bereits zu dämmern begann. Der Regen hatte aufgehört und das Abendrot am Himmel versprach einen schönen neuen Tag. Sie stieg aus dem Auto und streckte sich. Lena befand sich noch immer allein auf dem Rastplatz, keine Menschenseele weit und breit. Nur die Vögel zwitscherten in den höchsten Tönen und flatterten wild auf den angrenzenden Wiesen umher. Sie wollten vor der bevorstehenden Nacht noch ein wenig Futter finden, nachdem sie den ganzen Tag über in ihren Verstecken vor dem Regen Unterschlupf gesucht hatten. Tief sog Lena die frische milde Luft in ihre Lungen. Sie sah sich um. Es war eine wunderschöne Gegend hier. Ringsum war das Gelände hügelig und begann zu massigen Bergketten aufzusteigen. Für die Frau aus Norddeutschland war das ein ungewohnter, aber faszinierender Anblick. Bei ihr zu Hause war das Land eben, man konnte kilometerweit sehen, aber hier...

Sie begann ein paar Schritte zu gehen. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihrem Kopf breit. Sie sah vor ihren inneren Augen etwas Dunkles. Panik stieg in ihr hoch. Sie wähnte sich selbst in einer Enge eingesperrt und versuchte verzweifelt sich zu befreien, aber sie hatte keine Kraft.

Unwirsch schüttelte sie den Kopf.

Jetzt werde ich jetzt langsam verrückt, schalt sie sich selbst! Doch die Bilder ließen sich nicht verdrängen.

Aber das war nicht sie selbst, die sich zu befreien versuchte. Sie spürte etwas Pelziges neben sich. Einen kleinen, schwachen Körper.

Die junge Frau hatte solche seltsamen Bilder schon öfter vor Augen gehabt, aber sie verschwanden meist nach wenigen Augenblicken wieder. Sie hatte ihnen bisher noch keine große Bedeutung beigemessen.

Nun hörte sie noch ein zartes Stimmchen. Verzweifelt sah sich Lena um. Was konnte das sein?

Neben der überfüllten Mülltonne lag ein brauner Sack, wie man ihn zum Transportieren von Kartoffeln verwendete.

Aus einem inneren Zwang heraus näherte sie sich diesem Sack. Und nun hörte man aus dem Innern ein klägliches, kaum vernehmbares Wimmern. Mit klopfendem Herz packte Lena den Sack und öffnete ihn. Kleine haarige Fellbündel, vollkommen durchnässt, kamen zum Vorschein. Sie griff hinein und beförderte ein winziges Katzenbaby ans Tageslicht. Es bewegte sich nicht mehr. Seine Glieder hingen schlaff an seinem ausgezehrten Körperchen herunter. Es hatte sein Leben bereits ausgehaucht. Lena schluckte. Auch ein zweites Kätzchen war bereits tot. Dann kam ein etwas pummeliger rot befellter Kopf hervor. Hoffnungsvoll, vor Kälte bibbernd maunzte das Kätzchen Lena an. Sie nahm es hoch und legte es vorsichtig in ihren Schoss. Zwei weitere, noch lebende Katzenzwerge waren zu schwach um noch irgendwelche Töne von sich zu geben. Die Frau packte die toten Kätzchen wieder in den Sack und nahm die Überlebenden mit zu ihrem Wagen. Schnell kramte sie in ihrem Koffer nach einem Handtuch und begann dann langsam die drei nassen Geschöpfe vorsichtig trocken zu reiben.

„Ihr armen Dinger, wer hat euch bloß in diesen Sack gesteckt und euch hier zum Sterben ausgesetzt? Wer tut so etwas?“

Irgendwie musste sie die Babys wärmen. Nach kurzer Überlegung holte sie einen ihrer übergroßen Kuschelpullover aus dem Koffer, band ihn sich als Schürze um den Bauch und packte die Kätzchen da hinein.

„Was mach ich jetzt mit euch, ihr müsst schnellstens was zu essen bekommen, und ein Tierarzt könnte vielleicht auch nicht schaden.“

Sie setzte sich in den Wagen und fuhr los. Es muss ja auf dieser Straße einmal eine Ortschaft kommen, da würde sie um Hilfe fragen.

Dann dachte sie noch mal an die seltsamen Bilder, die sie in ihrem Kopf gesehen hatte. Haben diese Katzenzwerge sie telepathisch um Hilfe gebeten? Davon gehört hatte sie ja schon öfter, aber dass so etwas tatsächlich möglich war? Lena zweifelte bisher immer an solchen Geschichten. Aber nun…!

Nach ein paar Kilometern erreichte sie ein kleines Dorf. Hohenstein - stand auf dem Ortsschild. Sie fuhr die Hauptstraße entlang bis zu einer kleinen Gaststätte.

Es waren nur wenige Gäste in der Schenke. Lediglich am Stammtisch saßen ein paar Männer, die Karten spielten und Bier tranken. Der Raum war einfach eingerichtet.

Bei Lenas Eintreten flogen die Köpfe der Männer herum. Spöttisch fielen ein paar zotige Bemerkungen, als die leicht verwahrloste, aber dennoch sehr hübsche Person in Augenschein genommen wurde.

Außer dem runden Stammtisch in einer Nische waren noch etwa zehn Holztische aufgebaut. Es fehlte an jeglichem Zierrat, lediglich ein Aschenbecher und die Speisekarte lagen in der Mitte eines jeden Tisches. Doch es war sauber. Lena hatte dafür momentan keine Augen. Aufgeregt fragte sie nach einem Tierarzt.

Der Wirt zeigte Ihr freundlich den Weg, und wünschte ihr, nach dem sie ihm den Grund ihrer Aufregung erzählt hatte, viel Glück, allerdings mit einem ziemlich süffisanten Grinsen.

Der Tierarzt, ein sympathischer älterer Herr, mit ergrauten Haaren und gütigen braunen Augen, war zu Hause. Seine kräftige Gestalt und seine großen Hände ließen in Lena Zweifel aufkommen, ob er der Richtige für ihre kleinen Findlinge war. Aber zum Zweifeln blieb jetzt keine Zeit. Entweder der, oder keiner konnte den Katzen mehr helfen. Der Veterinär, er stellte sich als Dr. Abraham vor, führte sie in sein Behandlungszimmer. Sie legte die Babys auf den Tisch.

„Ich habe sie nicht weit von hier auf einem Rastplatz gefunden“, begann sie, „ sie waren in einem Sack ausgesetzt neben der Mülltonne. Zwei waren leider schon tot. Können sie für diese hier noch etwas tun?“

Dr. Abraham sah sich die Kleinen genau an. Er hörte sie mit dem Stethoskop ab, und brummte dabei etwas von rücksichtslosen, egoistischen Tierbesitzern in sich hinein. Bei einem Kätzchen, das sich nicht mehr bewegte, schüttelte er den Kopf.

„ Da ist kein Herzschlag mehr zu hören, das hat die Tortur nicht überlebt.“

„Bei dem zweiten da“, er deutete auf das mittlere, auch sehr schwache Kerlchen, mit hübschem silbergrauen Fell, „habe ich auch keine Hoffnung mehr. Es hat eine schwere Lungenentzündung. Es wird wohl die Nacht nicht überleben. Wenn Sie Glück haben, bringen Sie vielleicht den Roten da durch. Mit viel Glück! Haben Sie schon mal ein Katzenbaby aufgepäppelt?“

Lena verneinte.

„Aber ich würde es gerne versuchen. Ich bin Krankenschwester, und verstehe einiges von der Krankenpflege, --- bei Menschen, „ fügte sie hinzu.

Abraham nickte. „Ich gebe den Beiden jetzt Injektionen zur Stärkung und gegen die Infektion. Ob der Graue es schaffen wird, weiß ich nicht!“

Er zuckte mit den Schultern.

„Aber Sie müssen versuchen, die beiden zu füttern. Dafür bin ich leider nicht ausgestattet. Meine Patienten sind normalerweise ein paar Nummern grösser als die hier. In dieser Gegend kümmern sich die Leute wenig um ein paar Katzen. Sie sind ihnen ziemlich egal. Aber das haben Sie ja selber erlebt. Hier lebt man von Kühen und Schweinen. Vielleicht auch manchmal von Schafen oder Pferden. Katzen sind nur nützlich zum Mäuse- und Rattenfangen. Sie laufen so nebenbei mit. Keinen kümmert es, ob sie krank sind oder sterben. Und wenn sie sich zu stark vermehren, ... dann entledigt man sich ihrer eben. Seit Jahren versuche ich den Bauern hier klar zu machen, dass eine Kastration der zahlreichen Katzennachwuchsschar Einhalt gebieten würde. Aber eine solche Operation kostet Geld. Und das geben sie für ein dummes Katzenvieh nicht aus.“

Der Veterinär holte einen Infusionsständer herbei, dann setzte er eine winzige Nadel unter die Haut am Rücken der Kätzchen, an die er einen Infusionsschlauch anschloss. Aus einer Flasche ließ er nun eine Flüssigkeit laufen. Auf Lenas fragenden Blick hin erklärte er ihr: „Die sind so klein, und der Kreislauf ist schon so schlecht, da würde man keine geeignete Vene finden um sie mit etwas Nährlösung wieder aufzupäppeln. Aber man kann es bei den Tieren auch unter die Haut injizieren, das gibt dann eine kleine Flüssigkeitsbeule, die vom Körper langsam aufgesogen wird.“

Lena nickte verständnisvoll.

„Ich kenne jemanden, der Ihnen weiterhelfen kann!“

Dr. Abraham schrieb auf einen Zettel einen Namen und eine Adresse.

„Das ist eine Bekannte von mir. Wohnt etwas außerhalb des Dorfes. Ungefähr zehn Minuten von hier mit dem Auto. Sie kümmert sich um herrenlose Tiere. Um die Ausgestoßenen! Die, die keiner mehr haben will. Wenn jemand die Kätzchen durchbringt, dann sie: Adele von Hohenstein.“

Er erklärte Lena noch den Weg, und versprach bei Frau von Hohenstein inzwischen anzurufen, damit sie auf Lenas Ankunft vorbereitet wäre.

Die junge Frau fuhr, die beiden Kätzchen wieder auf den Bauch gebunden, aus dem Ort hinaus. Es war mittlerweile finster geworden. Nur schemenhaft erkannte sie Felder und Wiesen im Licht ihrer Scheinwerfer. Die Schlechtwetterfront war endgültig abgezogen. Der Mond war aufgegangen, und seine gestochen scharfe Sichel glänzte zwischen den vielen kleinen Sternen, die über ihnen am schwarzen Himmel prangten.

Nach etwa fünf Kilometern bog der rostige kleine Golf in einen Seitenweg ein.

-Gut Hohenstein – stand da auf einem verwitterten Schild. Die Straße, besser gesagt, das was von ihr übrig war, befand sich in einem äußerst schlechten Zustand. Tiefe Löcher schüttelten das Auto samt Insassen ordentlich durch. Hier hatte man lange nichts mehr gemacht.

Endlich war Lena am Ziel. Der Weg mündete in eine breite Allee, gesäumt von gigantischen, monsterhaft wirkenden Kastanienbäumen. Nach etwa fünfzig Metern endete sie in einem großen gepflasterten Hof. Lena drückte die Kätzchen fest an ihren Bauch und stieg aus.

Ein riesiger zotteliger Hund kam schwanzwedelnd auf sie zu und versuchte an ihr hochzuspringen. Noch bevor Lena erschrocken zurückweichen konnte, wurde er von einer energischen Stimme zurückbeordert:

„Hexe, Du unartiger Hund. Du verjagst doch unseren Besuch, noch bevor er richtig angekommen ist. Marsch, hierher zurück zu mir!“

„Sie müssen entschuldigen,“ die Stimme klang jetzt sehr freundlich, „Hexe freut sich immer so über jeden. Sie kann nicht verstehen, dass sie durch ihr Aussehen für manche zunächst einmal furchteinflößend wirkt. Aber sie ist eine Seele von einem Hund. Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben.“

Gräfin Adele von Hohenstein erwartete sie bereits in der Tür des alten Gutshauses. Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen begrüßte sie den späten Gast. Als die junge Frau mit dem Gesicht in den Lichtstrahl der Hauslaterne kam, stockte die Gräfin abrupt. Aschfahl wurde ihre Haut für einen kurzen Moment. Sie starrte Lena an, als ob sie soeben einen Geist sehen würde.

Lena streckte zögernd die Hand aus, lies das Zotteltier kurz daran schnuppern und reichte sie dann der Gräfin zum Gruß.

Adele hatte sich blitzschnell wieder gefasst und verschob unwirsch die Gedanken, die ihr bei Lenas Anblick durch den Kopf gingen. Sie nahm deren Hand und schüttelte sie. Mit gütigen Augen musterte sie jetzt ihre Besucherin, der Schreck war vorbei. -Es konnte ja nicht sein!

Auf der Herfahrt hatte sich Lena vorgestellt, wie die Gräfin wohl aussehen mochte. Groß, edel und wahrscheinlich sehr vornehm. Doch die Person, die vor ihr stand, glich in keinster Weise ihrer Phantasie.

Vor ihr stand eine kleine, zierliche Frau von etwa fünfundsechzig Jahren. Die silberweißen Haare waren zu einem einfachen Knoten verschlungen auf den Hinterkopf gesteckt. Ein paar vorwitzige Strähnen hingen ihr ins wettergegerbte Gesicht, dessen Züge trotz der wenigen Falten verhärmt und fahl wirkten. Sie trug ausgewaschene, aber saubere Jeans und eine karierte Bluse, über die sie wegen der Kühle der Nacht eine dunkelblaue ausgeleierte Wolljacke gezogen hatte. Ihre Füsse steckten in ausgetretenen Pantoffeln. Alles in allem war sie durchaus nicht die vornehme Erscheinung, die Lena angenommen hatte.

„Lena Hansen“, stellte sie sich schüchtern vor, „ Dr. Abraham schickt mich zu Ihnen. Ich habe ein paar ausgesetzte Katzenbabys gefunden.“

„ Adele von Hohenstein, aber Sie können einfach Adele zu mir sagen, so wie jeder hier in der Gegend. Kommen Sie doch herein.“

Sie machte eine einladende Handbewegung und Lena folgte ihr in die große Diele des wohl einst prächtigen Herrenhauses. Jetzt war davon nicht mehr viel übrig. Der Putz bröckelte stellenweise von den Wänden und die weit ausladende geschwungene Holztreppe, die von der Eingangshalle in die oberen Stockwerke führte, sah aus als ob sie auch schon bessere Zeiten gesehen hätte.

Überall schlichen Katzen umher. Manche gingen mit aufgestelltem Schwanz direkt auf Lena zu, um zu sehen, wer da gekommen war. Laut schnurrend rieben sie ihre Köpfe an Lenas Knie. Andere hielten sich eher im Hintergrund, die Augen auf Lena gerichtet, in geduckter Stellung, zur schnellen Flucht bereit.

„ Viktor, also Dr. Abraham, hat mich bereits informiert.“

Adele führte Lena in einen kleinen, spärlich eingerichtetem Raum, scheuchte Hexe und einige zu neugierige Katzen zur Seite und schloss die Tür.

In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer Tisch, auf dem eine Gummimatte lag. Rechts an der Wand stand ein Glasschrank, hinter dessen Türen jede Menge medizinischer Gerätschaften lagen.

„Mein Sanitätsraum!“, verkündete Adele stolz. „Wenn man sich um so viele kranke und verletzte Tiere kümmert wie ich, muss man auch dafür eingerichtet sein. Nebenan“, sie deutete auf eine weitere Tür, „ befindet sich dann die Krankenstation. Aber nun zeigen Sie mir doch erst einmal, was Sie da mitgebracht haben.“

Vorsichtig zog Lena die zwei Kitten unter ihrem Pullover hervor. Nachdem er so unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde, begann der rote Zwerg sofort kläglich zu maunzen. Er erinnerte sich daran, dass da ein großes Loch in seinem Magen war, das nun unbedingt gefüllt werden musste. Sein Geschwisterchen, ein silbergraues, zierliches Etwas hob nur leicht den Kopf. Eine Stimme konnte man von dem geschwächten Körperchen nicht mehr vernehmen.

Adele hatte bereits einen Korb mit flauschig weichen Handtüchern und einer Wärmflasche darunter vorbereitet. In einem Warmhaltegerät, so wie man es aus der Kleinkinderernährung kennt, befanden sich zwei kleine Fläschchen mit weißer Flüssigkeit. Katzenaufzuchtmilch, wie die Gräfin Lena erklärte. Sie legte die beiden Katzenkinder in das warme Körbchen und versuchte zunächst dem Roten mittels eines winzig kleinen Schnullers, den sie über die Flasche stülpte, ein wenig von der Milch einzuflößen. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten hatte dieser die Futterquelle akzeptiert und begann gierig zu nuckeln. Lena übernahm bereitwillig die Flasche und fütterte weiter. Ein kleines Strahlen huschte über ihr Gesicht, beim Anblick der putzigen kleinen Gestalt, die immer eifriger an dem Nuckel sog.

Das Silbergraue tat sich da schon etwas schwerer. Zu schwach um selbst zu saugen, leckte er bloß die Milchtropfen von Adeles Fingerspitze. Aber bereits nach wenigen Momenten legte es seinen Kopf wieder zur Seite. Zu anstrengend war das Trinken, und die Lungenentzündung, die Dr. Abraham festgestellt hatte, steigerte seinen Appetit auch nicht gerade.

„Kleines Kerlchen, wenn Du überleben willst, musst Du noch etwas zu Dir nehmen.„“ Adele schüttelte den Kopf.

„Viktor wird Recht behalten. Ich glaube es auch fast nicht, dass es überleben wird.“

Zärtlich streichelte sie über seinen Rücken.

„Wie kann man nur so ein kleines, unschuldiges Geschöpf zum Sterben einfach in einem Sack aussetzen? Ich werde es nie begreifen. Welches Gefühl herrscht in jenen Menschen, wenn sie an das langsame Dahinsiechen der armen Kreaturen denken? Haben sie denn gar keinen Respekt vor dem Leben?“

Dann erlebte Lena etwas Seltsames.

Adele nahm eine Sprühflasche vom Regal und nebelte ihren Körper einmal großflächig mit der darin befindlichen Substanz ein und stellte die Flasche zurück. Sie schloss die Augen und atmete tief durch und murmelte etwas vor sich hin. Nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, wandte sie sich der erstaunten Lena zu.

„Das war eine Quintessenz! Sie reinigt meine Aura. Ich werde dem kleinen Zwerglein jetzt Reiki geben! – Schon mal was davon gehört?“

Lena schüttelte den Kopf.

„Das ist eine universelle Heilenergie. Eine uralte Methode, die ihre Ursprünge in Tibet hat. Man kann damit keine Krankheiten heilen, aber man kann versuchen, die Lebensenergie wieder in Gleichklang zu bringen und den Körper so zu animieren, seine Selbstheilungskräfte zu aktivieren!“

Adele legte ihre Fingerspitzen zärtlich auf das kleine Kätzchen, schloss wieder die Augen und meditierte.

Da waren sie wieder! Diese Bilder, die in Lenas Kopf auftauchten, ohne dass die junge Frau wusste, woher sie kamen.

Sie sah eine menschliche Hand ganz nah vor ihrem Gesicht und spürte dabei eine wohlige Wärme. Aber irgendwie schien es ihr, dass sie nicht sie selbst war. Ihr Körper fühlte sich so fremd an.

In Gedanken versunken starrte sie auf das kleine graue Katzenbaby, dass sich unter Adeles Händen merklich entspannte und nun nicht mehr so pumpte beim Atmen. Da fiel es Lena plötzlich wie Schuppen von den Augen. In ihren Bildern war sie das kleine Kätzchen, und die Hand war die von Adele.

Wie konnte das angehen?

Sie versuchte sich zu konzentrieren, doch die Bilder waren verschwunden.

Ich bin einfach mit den Nerven runter, muss endlich abschalten!

Lena schalt sich selbst, widmete sich wieder ihrem Zögling, der inzwischen mit dem Nuckel im Schnäuzchen wieder eingeschlafen war.

Vorsichtig zog sie ihm das Fläschchen aus dem Mäulchen. Er schmatzte noch mal mit seinen milchverschmierten Lippen und schlief unbeirrt weiter.

„Ich glaube der Rotschopf hier hat genug!“ Adele war mit ihren seltsamen Aktivitäten fertig. Das silberne Kätzchen lag, nun viel entspannter, eingerollt im Körbchen und war ebenfalls sanft eingeschlummert.

Sie nahm der Krankenschwester die Flasche ab. Dann griff sie zu einem Papiertaschentuch, drehte Rotschopf auf den Rücken und begann vorsichtig sein Bäuchlein zu massieren, was er mit einem wohligen Grunzen quittierte.

„Seine Katzenmama würde das jetzt mit der Zunge machen. Damit wird die Verdauung angeregt, und nur so kann der Kleine sein Geschäftchen loswerden.“

Schon zeigten sich die ersten Urintropfen und mit einem Ausdruck der Erleichterung auf dem Gesicht pinkelte der Zwerg seine Blase leer ohne sich in seinem Schlaf stören zu lassen. Nachdem das große Geschäft auf dieselbe Weise abgewickelte wurde, legte in Adele zurück in sein gemütliches Bettchen, wo er sich zufrieden einrollte.

„Das ist übrigens ein Katerchen, und das Silbergraue ist eine Kätzin.“

Lena ließ sich den kleinen Unterschied genau zeigen. Sie war fasziniert von allem was sie sah. Liebevoll blickte sie auf die beiden Katzenkinder in dem Körbchen. Ganz fest kuschelten sich die beiden aneinander.

Für den Bruchteil von einer Sekunde sah Lena das Bild eines großen flauschigen Katzenbauches vor sich und sie hatte das Gefühl seltsamer Vertrautheit, als sie sich im Geiste an ihn schmiegte.

Die Gräfin nahm den Korb und brachte ihn nebenan in das Krankenzimmer. Sie stellte ihn auf den Boden und schaltete eine an der Wand befindliche Rotlichtlampe ein, damit die Kätzchen von oben eine zusätzliche Wärmequelle erhielten.

In dem Raum, der etwas grösser als der vorhergehende war, standen überall Käfige und Körbe herum. In einigen der Unterbringungen sah Lena Tiere. Eine große getigerte Katze mit verbundenem Fuß drückte sich maunzend an das Türgitter.

„Ja, Brummi, bald ist Dein Beinchen wieder verheilt, dann darfst Du wieder nach draußen zu den Anderen!“

Adele hielt ihr Gesicht an den Käfig und der verschmuste Kater streichelte sie mit seiner Pfote durch das Gitter hindurch.

„Das ist Brummi, er muss in eine Glasscherbe gestiegen sein. Dr. Abraham hat den Fußballen wieder genäht. In ein paar Tagen werden die Fäden entfernt, dann kann er wieder mit seinen Freunden draußen umher toben.“

Lena hielt ihre Hand zu Brummi hin, der sofort danach angelte und sie näher zu sich hinzog.

„Sie sollen ihn kraulen!“

Die junge Frau kam der Aufforderung gerne nach und Brummi zeigte, dass er seinen Namen zu Recht verdiente. Er schnurrte was das Zeug hielt, in einer Lautstärke, die man einer Katze gar nicht zutrauen würde.

„So, darf ich Ihnen etwas anbieten? Sie haben sicher noch nichts gegessen, oder?“ Adele wandte sich an ihren Besuch. Lena verneinte.

„Aber ich kann doch nicht ..., ich möchte Ihnen keine Umstände machen. Ich werde jetzt zurück ins Dorf fahren, und in der Gaststätte zu Abend essen. Vielleicht hat der Wirt ja auch Zimmer zu vermieten! Und wenn ich darf, möchte ich die kleinen Kätzchen wieder einmal besuchen, “ fügte sie hinzu.

„Nichts da, ich lasse Sie doch nicht mitten in der Nacht alleine durch die Gegend fahren. Das ist hier nicht ungefährlich!“ Die Gräfin stockte kurz, dann bestimmte sie: „ Ich werde sehen, was Mathilde, meine Haushälterin, in der Küche noch Gutes versteckt hat. Anschließend richte ich Ihnen ein Gästezimmer her. Sie bleiben heute Nacht mein Gast, aus, basta!“

Sie lächelte entwaffnend. Lena zuckte hilflos mit den Schultern.

Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, aber ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände ...!“

„Wenn es mir Umstände machen würde, hätte ich Sie nicht eingeladen“, unterbrach sie Adele und führte sie nach draußen, wo sie schon sehnsüchtig von Hexe und einer Katzenschar erwartet wurden.

Sie gingen durch die Diele in ein großes elegant eingerichtetes Zimmer, das als Wohn- und Esszimmer diente.

Ein ovaler Mahagonitisch mit zehn gepolsterten, an den Lehnen durch Schnitzereien verzierten Stühlen bildete das Kernstück des Raumes. An der Seite befand sich eine Anrichte aus dem gleichen Holz. In der darüber angebrachten Glasvitrine waren jede Menge Tierfiguren zu sehen, vor allem Katzen und Pferde. Auch an den Wänden hingen Dutzende von eingerahmten Fotos, auf denen diese Tiere abgebildet waren. Über dem Tisch prangte ein üppiger Kristallleuchter, der noch vom einstigen Wohlstand des Gutes zeugte.

Die Gräfin bat ihren Gast Platz zu nehmen. Dann entschuldigte sie sich und verschwand in die Küche. Bewundernd ließ Lena ihren Blick weiter schweifen. Nur durch zwei Stufen getrennt sah man in einen pavillonartig anmutenden Wohnraum, der wie ein Wintergarten zu zwei Dritteln verglast war. Ringsum standen Chesterfieldsessel, dazwischen riesige Palmen und Farne, was dem Ganzen ein exotisches Flair verlieh.

Auf den wertvollen antiquaren Sesseln lümmelten ganz selbstverständlich einige der Katzen und sahen den „Eindringling“ wachsam an. Ein paar besonders Neugierige wagten sich nahe an Lena heran, und nach ein paar Schnupperproben wurde sie als ungefährlich eingestuft.

Hexe, die die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gewichen war, lechzend nach einer streichelnden Hand, musste bald energisch durchgreifen. Denn schon hüpfte der erste Stubentiger auf Lenas Schoss und versuchte dem Hund die Liebkosungen streitig zu machen. Wütend versuchte dieser, seinen Widersacher, einen zierlichen schwarzweissen Kater von seinem Platz zu schubsen, was ihm jedoch lediglich einen Krallenhieb auf seiner Nase einbrachte. Beleidigt aufheulend vergrub das zottelige Riesentier seine Schnauze unter Lenas Ellbogen, die ihm tröstend den Rücken tätschelte.

„Ihr sollt doch nicht streiten“, mahnte sie, „alle werden gestreichelt!“

Sie sah nach unten. Um ihre Beine strichen schnurrend ein dicker grauweißer Kater mit prächtigem Barthaar und nur einem Auge, und eine kleine langhaarige Kätzin, die im Aussehen einem Fuchs glich.

„Hallo ihr beiden, wer seit den ihr?“

Die junge Frau strahlte über so viel Zuneigung. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht fühlte sie sich wieder einigermaßen gut.

Inzwischen traute sich auch der Rest der anwesenden Katzen näher. Insgesamt waren etwa zehn dieser Tiere in dem Raum versammelt. Keine von ihnen war makellos. Die Eine hatte keinen Schwanz mehr. Eine Andere hüpfte nur auf drei Beinen, sehr gekonnt übrigens, umher. Man sah Kampfspuren an den Ohrrändern und auf den Nasenrücken. Doch Lena spürte ihre inneren Werte, und dann waren sie alle wunderschön.

Wieder kamen Bilder in ihrem Kopf. Diesmal schienen sie sich zu überschlagen. Wild durcheinander sah sie Tiere, Erlebnisse, Farben, mal deutlicher, mal nur schemenhaft.

Ihr Blick fiel auf die Katzen, die vor ihr saßen.

Mit unbeugsamem Blick wurde sie von den meisten mit aufgerissenen Augen angestarrt, als ob sie ihr was mitteilen wollten.

Fragend schaute sie in die Runde.

Wollt ihr mir etwas sagen? Schoß es Lena durch den Kopf.

Als Antwort auf diese ungestellte Frage purzelten wieder jede Menge Bilder durch ihren Kopf. Ohne ein Wort zu sagen spann sie ihre Gedanken weiter.

Halt! Nicht alle auf einmal! Eigentlich schalt sich die junge Frau selbst aufgrund dieser, wie sie annahm, törichten Verhaltensweise, aber niemand sah ihr zu. Warum also nicht einfach seinen Gedanken nachhängen?

Also, schön der Reihe nach! Sie fixierte den mobbeligen grauen Kater, der sie aus seinem verbliebenen Auge schelmisch anblinzelte.

Vor ihren Augen erschien eine Wiese mit Schmetterlingen und Insekten. Das Gras schien meterhoch. Im warmen Sonnenschein streifte sie durch die Natur. Doch plötzlich donnerte ein Schuss durch die Stille. Ein wahnsinniger Schmerz fuhr ihr durch den Kopf und dann wurde es schwarz vor den Augen.

Urplötzlich wurde Lena bewusst, was sie gerade erlebte. Sie hatte die Fähigkeit, mit den Katzen gedanklich zu reden. Mitleidig strich sie dem Kater über seinen Kopf, als wollte sie ihm zeigen, dass sie verstanden hatte, was er ihr erzählte.

Frau Adele kam zurück. Sie brachte ein Tablett mit Schinken, Wurst und Käse, ein paar Tomaten, Butter und frischem Schwarzbrot.

Lena lief das Wasser im Munde zusammen. Erst jetzt merkte sie, dass sie schon seit längerem nichts mehr gegessen hatte, und auf einmal richtigen Hunger verspürte.

Die Gräfin schenkte ihr noch ein Glas mit dunklem schweren Rotwein ein und wünschte ihr einen guten Appetit. Dann scheuchte sie sämtliche Vierbeiner davon, damit Lena in Ruhe essen konnte.

Elf Augenpaare, beziehungsweise zehneinhalb Augenpaare verfolgten gierig jeden ihrer Bissen. Doch keines der Tiere versuchte offensichtlich zu betteln. In der Hoffnung, so eher einen Happen ergattern zu können, taten sie ganz gelangweilt, als ob sie das Ganze gar nicht interessieren würde. Dabei waren sie innerlich sofort zum Angriff auf eines der leckeren Wurststückchen bereit.

Besonders Hexe sah aus, als ob sie kurz vor dem Verhungern stünde. Dabei stand ihr linkes Ohr kerzengerade in die Höhe und das linke schräg vom Kopf ab. Dieser Anblick war so herzzerreißend urkomisch, dass Lena lachen musste.

„Da vergeht einem ja glatt der Appetit, bei so viel Elend“, scherzte sie.

Doch Adele hatte vorgesorgt.

„Kommt her, ihr Schauspieler, bevor ihr den grausamen Hungertod sterbt.“

Sie packte eine Tüte mit Trockenfleisch aus und warf eine Hand voll davon über den Boden. Im Nu sprangen die Katzen blitzschnell hinter der Beute her, um möglichst viel davon zu ergattern.

„Hexe, hier hast Du einen Hundekeks, dann lässt Du aber Frau Hansen in Ruhe weiter essen!“

„Lena, sagen Sie doch bitte Lena zu mir. Sie sind so freundlich. Dabei kennen Sie mich doch gar nicht.“

Die alte Dame sah sie fast zärtlich an:„ Wer so viel Umstände auf sich nimmt, wegen ein paar halb verhungerter Katzenbabys, der kann nur gut sein. Und außerdem erinnern Sie mich an jemanden, der mir einmal alles bedeutet hat.“

Dabei sah sie aus dem Fenster in die undurchdringliche Schwärze der Nacht hinaus, als ob sie da draußen etwas zu entdecken erhoffte.

Lena aß still weiter. Sie wollte nicht fragen, denn dieses Thema schien Adele sehr zu bewegen. Sie bemerkte den Glanz stummer Trauer in ihren Augen und schwieg.

Nachdem sie das Glas schweren Rotweins geleert hatte, wurde es Lena leicht schummerig im Kopf, sie war Alkohol nicht besonders gewohnt. Sie bat ihre Gastgeberin, sie zu entschuldigen.

„Natürlich, Sie sind bestimmt sehr müde. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer!“

Schnell holte Lena noch ihren kleinen Koffer aus dem Auto, selbstverständlich in Begleitung der neugierigen Hexe und einer kleinen Katzenschar, und dann folgte sie der Gräfin in das obere Stockwerk. Sie betraten ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, das wohl für Gäste genutzt wurde. Ein breites Bett mit geblümten Vorhängen zum Zuziehen stand in einer Nische. Vor dem kleinen Gaubenfenster befand sich ein hübsches, ebenso geblümtes Sofa mit einem Tischchen und einem Sessel davor. Ein zweitüriger, massiver, geschnitzter Kleiderschrank bildete den Rest der Einrichtung. Es war wohl lange nicht mehr genutzt worden, denn auf den Möbeln befand sich eine leichte Staubschicht. Aber das Bett war frisch bezogen, und der Rest störte Lena nicht besonders.

„So, da wären wir. In der Eile konnte ich nicht mehr saubermachen!“ Adele entschuldigte sich. „Ich werde gleich morgen früh Mathilde Bescheid geben, damit sie ordentlich putzt hier. Wir hatten nur schon so lange keinen Gast mehr.“

Nun hatte Lena eigentlich nicht vor, sich hier niederzulassen. Sie wollte keine Umstände machen. Ihr war das Ganze sowieso schon peinlich. Eigentlich hatte sie nur die Kätzchen versorgt wissen wollen.

Die alte Dame war nur so resolut, da konnte sie ihr die Einladung zur Übernachtung gar nicht abschlagen. Morgen wollte sie gleich nach dem Aufstehen weiterziehen.

„Vielen Dank für Ihre Bemühungen. Wegen mir brauchen Sie wirklich nicht sauber zu machen. Ich werde morgen wieder weiterfahren“, räumte die junge Frau ein.

Ihre Gastgeberin war sichtlich enttäuscht.

„Sehr schade. Ich dachte, Sie möchten vielleicht hier ein paar Tage Ferien machen und entspannen. Ihre Arbeit als Krankenschwester nimmt Sie doch bestimmt arg mit.“

Lena sah sie an. Natürlich, Dr. Abraham hatte ihr bestimmt erzählt, welchen Beruf sie ausübte.

„Sicherlich möchten Sie doch auch wissen, was aus den beiden Findlingen wird?“

Adele versuchte ihren Gast zu überreden.

„Wenn Sie jedoch schon andere Pläne haben! Da kann man nichts machen. Hexe würde sich auch freuen, wenn Sie noch etwas blieben. Nicht war Hexe?“

Die riesige Hündin, die die ganze Zeit über gespannt verfolgte was hier alles geschah, erhob sich schwanzwedelnd und stupste Lena hoffnungsvoll an, so als ob sie alles verstand, was ihr Frauchen sagte. Zärtlich fordernd leckte sie die Hand, die sie vorhin so hingebungsvoll gekrault hatte. Lena tätschelte sie sanft auf den Kopf.

„Ich..., ich habe nichts anderes vor“, begann sie leise, „ und wenn ich so nett gebeten werde, kann ich die Einladung wohl nicht ausschlagen.“

Sie gab gerne nach. Insgeheim freute sie sich auf die Aussicht, hier auf Gut Hohenstein zu bleiben. Denn seine Bewohner, egal ob zwei- oder vierbeinig, waren ihr unheimlich sympathisch.

„Aber dann will ich mich wenigstens nützlich machen, darauf bestehe ich.“

Die Gräfin strahlte über das ganze Gesicht.

„Natürlich dürfen Sie sich nützlich machen, bei uns gibt es genug zu tun. Für eine helfende Hand sind wir immer dankbar. Nicht war, Hexelhund?“

Wiederum tat die Hündin ihre Freude kund. Sie sprang an den beiden Frauen hoch, als ob auch sie die Abwechslung begrüßen würde.

„So nun schlafen Sie sich erst einmal richtig aus! Ich werde noch die zwei Waisenkinder versorgen und dann auch zu Bett gehen.“ Adele verabschiedete sich und wünschte eine gute Nacht.

Lena packte schnell ihren Koffer aus und verschwand dann kurz im angrenzenden Bad.