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Während ihrer archäologischen Ausgrabungen in der Grafschaft Sutherland, an der extrem dünn besiedelten Nordküste der schottischen Highlands, stößt eine Gruppe Studenten auf einen seltsamen Gegenstand. Schon kurze Zeit darauf kommt es zu äußerst ungewöhnlichen Todesfällen, die das Interesse von Blake und McGinnis wecken. Kaum beginnen sie sich der Angelegenheit anzunehmen, geraten sie in eine tödliche Gefahr, aus der es anscheinend kein Entrinnen gibt …
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die schwarze Macht
Die schwarze Macht
Mystery-Krimi
von
Elise Lambert und Thomas Riedel
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar
2. Auflage (überarbeitet)
Covergestaltung:
© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel
Coverfoto:
© 2019 depositphoto.com
ImpressumCopyright: © 2019 Elise Lambert & Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Jenseits des Raums, jenseits der Zeit
dehnet sich wild, dehnet sich weit
ein dunkles Land.
Auf schwarzem Thron,
regiert ein Dämon …«
Edgar Allan Poe (1809-1849)
Kapitel 1
D
ichter Regen durchschnitt den frühen Abend wie mit silbernen Messern, und der bereits dunkle Himmel bezog sich mit noch dunkleren Massen wirbelnder, schwarzer Wolken, die der peitschende Wind vom Atlantik herübertrug. Nur selten hatte sich die Sonne blicken lassen. Schon seit Tagen herrschte diese unbestimmte Wetterlage in der Grafschaft Sutherland, hoch oben in Schottland, an der extrem dünn besiedelten Nordküste der Highlands – genauer gesagt in Durness, einem kleinen Dorf, gut dreißig Meilen westlich von Tongue, das ausschließlich über zwei einspurige Straßen zu erreichen war. Die um diese Jahreszeit ständig herrschenden Stürme über dem rauen Atlantik bogen die Bäume, und wäre es bereits Herbst gewesen, sie hätten die rötlichbraun gefärbten Blätter mit einem Mal vollständig weggefegt. Es waren unfreundliche, nasskalte und dunkle Tage, die in den Menschen diesen gewissen Zustand von Melancholie wachriefen – eine bittere Melange von Schwermut, Schmerz und Nachdenklichkeit, die darin zum Ausdruck kam, nur wenig Freude am Leben zu haben.
Der traditionelle Gasthof bildete so etwas wie einen Mittelpunkt der Gemeinde, obgleich es noch ein zweites Wirtshaus gab, das mit seinen vierhundertsiebzehn Jahren sechs Jahre älter war als das ›Smoo Cave‹. Hier versammelte sich der Großteil der Männer des Dorfes nach vollbrachter Arbeit. Schweigend tranken sie hier ihr dunkles, starkes Bier und ließen sich zu einem Spiel Darts hinreißen, welches sie zumeist ebenso wortlos absolvierten.
Ian Robertson, der Wirt, überblickte von seinem erhöhten Standort aus die Gäste, füllte Gläser nach und achtete penibel darauf, dass seine beiden Töchter ununterbrochen beschäftigt waren.
»Probier‘ mal den Hirsch, der ist gut!«, rief er einem seiner Gäste zu. »Kenny hat ihn geschossen.«
»Einverstanden«, kam es fröhlich zurück, »aber vorher will ich einen anständigen Whisky!«
»Welchen willst du?«, rief der Wirt fragend zurück und deutete auf eine Reihe bernsteinfarbener Flaschen, deren Namen viel besser über die Zunge gingen, wenn man schon zwei, drei Gläser von ihnen getrunken hatte. »Craigellachie, Bunnahabhain oder Bruichladdich?«
»Bunnahabhain!«
Kenny Morrison, der am Tresen saß, lachte. Es klang ein bisschen wie bei Ernie aus der Sesamstraße und mündete in einem mittelschweren Hustenanfall. Er war ein Mann von gedrungener Statur, mit leichten Segelohren, wenig Haar und viel Glatze. Sein Kopf war rot und sein Gesicht etwas aufgedunsen. Das Leben hatte seine Spuren hinterlassen. Er trug einen dunkelblauen Seemannspullover mit der Aufschrift ›Sealord‹, auch wenn jeder wusste, dass er nie beim Militär, geschweige denn zur See gefahren war. Ja, nicht einmal schwimmen konnte er.
Es kehrte wieder Stille ein. Robertson füllte ein Glas und ließ dabei seinen Blick schweifen. An der Gruppe Archäologen, die sich bei ihm einquartiert hatten und schon seit Wochen in der Nähe ihren Ausgrabungen nachgingen, blieb er hängen.
Mary, seine älteste Tochter, brachte gerade heißen Punsch an den Tisch von Prof. Lamondt mit seinen Assistenten Jake Miller und Clark Butcher.
Langsam brach die Dämmerung herein, und die Konturen in dem behaglich eingerichteten Gastraum begannen zu verwischen.
Auch Lamondt und seine Helfer saßen schweigend und gedankenvoll an ihrem runden Eichentisch. Mit einer Miene des Bedauerns sah der Professor auf den Rest seiner Zigarre, während er sorgfältig die Glut in dem großen, schweren Kristallaschenbecher ausdrückte.
»So, wie es aussieht, war es das wohl. Unsere Arbeit hier in Durness ist vorerst beendet«, stellte er mit gedämpfter Stimme fest, und brach damit das Schweigen. »Summa sumarum ist festzuhalten, dass es sich mehr als gelohnt hat. Im Vorfeld hätte ich es kaum für möglich gehalten, derartig viele, vor allem aber so gut erhaltene, Artefakte zu finden. Auch wenn uns die exakte Auswertung aller Funde noch über Monate hinaus beschäftigen wird, lässt, was ich bisher gesehen habe, bereits den Schluss zu, dass wir auf eine sehr interessante alte Kultstätte gestoßen sind.«
Die klugen Augen in Clark Butchers schmalem Gesicht blitzten in triumphierender Freude. »Stimmt«, bestätigte er zufrieden. »Mit einer solchen Ausbeute war wirklich nicht zu rechnen.« Er hatte den Satz gerade beendet, als die altertümliche Tischlampe aufflammte und die Ecke, in der die Männer saßen, in ein gemütliches warmes Licht tauchte.
Prof. Lamondt zog seine Taschenuhr hervor, ein schweres, altmodisches silbernes Monstrum. Er ließ den Deckel aufspringen und las mit zusammengezogenen Augenbrauen die Zeit ab. Dann zuckte er ungeduldig die Achseln. Seine Miene umwölkte sich ein wenig, und man spürte deutlich, dass dies seine Art war gegen unnütze Verzögerungen zu protestieren.
»Sagt mal, hat einer von euch eine Ahnung wo Robert steckt?« Lamondt sah seine Assistenten fragend an. »Er sollte doch schon längst hier sein.«
Clark Butcher zeigte ein leichtes unwissendes Achselzucken, während in den Mundwinkeln von Jake Millers asketischen Gesichtes ein missmutiger Ausdruck lag.
»Ich habe keine Ahnung. Heute Morgen sind wir gegen kurz vor acht Uhr noch gemeinsam mit dem Geländewagen zur Ausgrabungsstätte gefahren, und wir sind auch zusammen wieder zurück.« Miller nahm einen Schluck Punsch und sprach weiter: »Zurück waren wir gegen zwei Uhr. Ich dachte, er würde auch aussteigen, meinte dann aber, er müsse noch einmal zurück, weil er etwas vergessen habe. Habe mich etwas gewundert und nachgefragt, aber er hat nichts dazu nicht gesagt.« Miller runzelte nachdenklich die Stirn. »Mit ist nur aufgefallen, dass er die ganze Zeit über einen eigenartig abwesenden Eindruck gemacht hat.« Lächelnd sah er den Professor an. »Na ja, Sie wissen ja selbst, wie schnell er beleidigt ist. Deshalb habe ich nicht weiter nachgehakt. Außerdem hielt ich es nicht für wirklich wichtig.« Er warf einen Blick in Richtung der Eingangstür. »Ich bin sicher, er wird jeden Augenblick auftauchen.«
Butcher war ein hagerer Bursche, mit einem energischen Gesichtsausdruck, der seine schulterlangen schwarzen Haare immer zu einem Zopf gebunden trug. Er nickte bestätigend. »Als du ausgestiegen bist, habe ich zufälliger Weise aus dem Fenster gesehen, Jake«, untermauerte er Millers Aussage. »Du warst kaum ausgestiegen, da ist er in einem Tempo davongerast, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.«
Seine letzten Worte waren noch nicht verklungen, als man von draußen das Geräusch eines vorfahrenden Wagens hörte – jaulende Bremsen und ein kurz aufheulender Motor. Gleich darauf wurde kraftvoll eine Wagentür zugeschlagen. Dann öffnete sich die Tür zum Schankraum, und Robert McIntire kam herein.
McIntire war ein kleiner, ausgesprochen dicker Mann mittleren Alters. Mit seinen recht imposanten Stirnfalten und den beiden ausgeprägten Hängebacken, ähnelte er mehr einer dösenden Bulldogge, als einem ernstzunehmenden Wissenschaftler, der gerade erst erfolgreich das Rigorosum hinter sich gebracht und mit ›magna cum laude‹ promoviert hatte.
Verwundert blickten die drei zu McIntire, der mit hastigen Schritten auf ihren Tisch zueilte. Er wirkte aufgeregt. Alles in seinem Gesicht zuckte. Nie zuvor hatten sie ihn in einer derartigen Verfassung gesehen.
»Was ist denn mit dir los?« Jake sah ihn fragend an.
»Als wir heute Vormittag in den Überresten der alten Kapelle geforscht haben, hatte ich aus irgendeinem Grund den Drang, noch vor der großen Steinplatte zu graben. Ihr wisst schon, welche ich meine«, sprudelte es wie ein Wasserfall aus ihm heraus, als er endlich bei ihnen war und sich einen Stuhl heranzog, um sich zu setzen. »Wir hatten darüber ja schon einmal vor einigen Tagen gesprochen, die Idee an ein solches Vorhaben letztlich aber wieder aufgegeben. Wir waren ja übereingekommen, dass das nichts einbringen würde.« McIntire gab dem Wirt ein Zeichen, ihm einen zweifingerbreiten Whisky zu bringen. »Wie auch immer«, winkte er ab, »jedenfalls wurde dieser Drang während der Rückfahrt dermaßen übermächtig, dass ich mich entschloss noch einmal umzukehren und es allein zu versuchen.« In das dicke Knautschgesicht trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Es war schon seltsam. Ich hatte das Gefühl, als würde mich jemand förmlich dazu antreiben. Ich habe wohl noch nie so schnell gearbeitet. Es war direkt unheimlich. Laufend hatte ich das unbestimmte Gefühl, ich würde dabei beobachtet.« Er hatte seine Stimme gesenkt, denn Mary kam mit dem Whisky zu ihnen herüber. Erst als sie das Glas abgestellt und sich wieder zurückgezogen hatte, sprach er weiter. »Jedenfalls bin auf ein Grab gestoßen. Mit der Winde habe ich die Steinplatte hochgezogen. Eigentümlicherweise waren in dem Grab keine menschlichen Überreste zu finden. Es war leer, … bis auf … das hier. Aber seht es euch selbst an.«
Mit einer raschen Bewegung zog er die Rucksacktasche auf seinen Schoß, die er die ganze Zeit über fest in der linken Hand gehalten hatte, öffnete die Schnallen, und holte mit beiden Händen einen runden Gegenstand heraus, den er zum Schutz in ein Baumwollhandtuch eingewickelt hatte. Behutsam entfernte er die Umhüllung und zeigte den drei Männern, auf was er im Grab gestoßen war.
Neugierig schob sich Prof. Lamondt seine schmale goldgeränderte Brille auf die Nase, die er immer an einer Kette um den Hals trug. Als er und seine beiden Assistenten den Fund sahen, holten sie tief Luft.
Auf Robert McIntires Handflächen lag eine Kristallkugel, die dem Umfang eines zwei- bis dreijährigen Kinderkopfes entsprach. Auf eine befremdliche Weise kam aus ihrem Zentrum, ein schwaches, rotes Glimmen, das in einem langsamen Rhythmus zu pulsieren schien.
Lamondt nahm die Kugel, betrachtete sie intensiv und legte sie dann auf den Tisch. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte er, ein unbeschreiblich ekelhaftes Empfinden zu verspüren, das erst aufhörte, als er den Kristall nicht mehr in seinen Händen hielt.
»Nun, Robert, … ich muss zugeben, dass ist ein durchaus interessanter Fund«, stellte er anerkennend fest, wenngleich in ihm keine wirkliche Freude darüber aufkommen wollte.
Aber weder McIntire, noch seine beiden Kollegen schienen seine Worte zu hören. Wie gebannt starrten sie die Kugel an.
Dem Professor wurde es unbehaglich zumute. Es war eine bedrückende Stimmung, die von ihm Besitz ergreifen wollten, und die er nur gewaltsam von sich abschütteln konnte. Er schob es auf die harte körperliche und geistige Anstrengung der letzten Wochen und darauf, dass der Zustand der Anspannung jetzt erst einmal vorüber war.
Unser Kaliumphosphatspiegel ist im Keller und wir benötigten alle ein paar Tage der Ruhe, dachte er, dann wird unser dünnes, inzwischen reichlich strapaziertes, Nervenkostüm schon wieder in Ordnung kommen. Bis dahin können wir uns mit der Untersuchung des letzten Fundes Zeit lassen.
Kurz entschlossen griff er nach der Kristallkugel und wickelte sie wieder in das Baumwolltuch.
»Pack‘ sie wieder gut weg, Robert«, wies er McIntire an.
Der nickte und legte den Fund behutsam in den Rucksack zurück.
»Halten Sie es für sinnvoll, dass wir die Stelle, an der Robert gegraben hat, noch einmal gründlich untersuchen?«, erkundigte sich Miller, während er den Professor eindringlich ansah.
»Wenn da noch etwas zu holen wäre«, stellte Lamondt lächelnd fest, »hätte es uns Robert wohl schon gesagt, oder?«
McIntire nickte wortlos.
»Na, dann steht unserer Heimfahrt für den morgigen Tag ja nichts mehr im Weg«, meinte Butcher lächelnd.
»An der Stelle habe ich buchstäblich jeden Krümel Erde umgedreht«, meldete sich McIntire jetzt doch noch zu Wort. »Aber außer dieser Kristallkugel habe ich weiter rein gar nichts entdecken können.« Er schüttelte enttäuscht darüber den Kopf. Nachdenklich strich er sich über das Kinn, während er hinzufügte: »Was mich irritiert, ist der Umstand, dass das Grab ansonsten vollkommen war.« Er zuckte mit den Schultern. »Das ist mir echt ein Rätsel, allerdings möchte ich arg bezweifeln, dass wir darauf eine Antwort finden werden.«
»Vielleicht nicht sofort, was aber nicht heißt, dass wir es nicht werden«, erwiderte Prof. Lamondt, der sich eine weitere Zigarre gegönnt hatte und in die Runde blickte. »Es bleibt also dabei, dass wir unsere Zelte wie geplant abbrechen. Sobald wir die Fundstücke im Institut ausgewertet haben, kommen wir noch einmal her. Bis dahin werden sich ganz sicher neue Gesichtspunkte für ein weiteres Vorgehen ergeben haben.«
Kapitel 2
L
auren Pritchard stand vor dem Spiegel. Sorgfältig zog sie mit einem Lippenstift die Konturen ihrer Lippen nach, die ihrem Mund das sinnliche Etwas gaben. Sie war eine außergewöhnlich hübsche, junge Frau, und sie wusste das sehr genau. Lächelnd betrachtete sie sich in der reflektierenden Glasfläche. Ihr schönster Schmuck waren ihre bis weit über die Schultern reichenden Haare, die die Farbe reifen Weizens hatten. Erstmals trug sie ihre natürliche Haarfarbe. Während ihrer Studienzeit hatte sie viel herumexperimentiert, mal waren ihre Haare rot, dann wieder pinkfarben gewesen. Auch von ihrem Kurzhaarschnitt hatte sie sich verabschiedet. So, wie es jetzt war gefiel es ihr am besten.
Vor einem halben Jahr hatte sie ihr Archäologiestudium in Edinburgh bei Prof. Francis Alverston abgeschlossen, der bei Ausgrabungsarbeiten in der Ruine der festungsartigen Anlage von ›Dùn Gòrdan-Castle‹ nahe Kinloss ums Leben gekommen war [1]. Gleich im Anschluss an ihr Studium hatte sie mit ihrer Dissertation begonnen und durch ihren Doktorvater Prof. Lamondt eine Assistentenstelle bekommen.
Erst gestern hatte er sie aus Durness angerufen und sie wissen lassen, dass er heute wieder zurückkäme. Lauren Pritchard schaute auf ihre Uhr. Es war gerade zehn Uhr geworden.
Er hatte relativ wenig Worte am Telefon mit ihr gewechselt, sich aber sehr zufrieden mit den Ergebnissen der Ausgrabungen gezeigt.
Sie war gerade von der Damentoilette zurückgekehrt und hatte sich einen kräftigen Kaffee eingeschenkt, als es an der Tür zum Büro klopfte.
»Ja, bitte!«, forderte sie den Anklopfenden auf einzutreten.
Die Tür öffnete sich und ihr Doktorvater trat ein.
»Schön Sie zu sehen, Professor«, begrüßte sie ihn freundlich. Dabei ging sie ein Stück auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln.
»Hallo, Lauren.« Er erwiderte ihren herzlichen Händedruck. »Na, wie läuft es mit deiner Dissertation? Kommst du gut voran?«
»Langsam, aber ... ja«, erwiderte sie lächelnd. »Es wird jedenfalls noch einiges an Zeit brauchen.«
»Du machst dir mehr Druck als nötig. Lass dir Zeit!«
»Sie haben sicher Recht damit«, räumte sie ein.
»Wenn du einen Rat brauchst, lass es mich wissen. Ich helfe dir dann natürlich gern«, stellte Lamondt wohlwollend fest.
»Ja, dass weiß ich. Möchten Sie auch einen Kaffee, Professor?« Sie schwenkte einladend ihre Tasse. »Ganz frisch. Habe ihn gerade erst gekocht.«
Lamondt nickte, nahm sich eine Tasse und ließ sich von ihr einschenken.
»Wie war es in Durness?«, erkundigte sie sich. »Sie sagten am Telefon, Sie wären mit den Ergebnissen sehr zufrieden.«
»Ich muss zugeben, die Tage in Durness waren recht aufreibend. Aber es war klasse. Es steht zu vermuten, dass die alte Kultstätte deutlich älter als viertausend Jahre ist. Sollte das stimmen, wäre es eine Sensation ersten Ranges und würde so einige alten Theorien buchstäblich über den Haufen werfen.« Er machte einen durchweg zufriedenen Eindruck, nippte am Kaffee und sah sie mit müden Augen an. »Jetzt hatte ich eigentlich auf eine kleine Auszeit gehofft. Ein paar Tage der Ruhe hätten mir sicher gut getan, aber, wie das im Leben so ist, … ein frommer Wunsch.«
»Warum?«, wollte sie wissen und fügte mitfühlend hinzu: »Sie sehen müde aus, Professor. Nehmen Sie sich doch ein paar Tage frei. Die haben Sie sich verdient.«
»Schon möglich, … geht aber nicht.«
»Ach, Quatsch!«, entgegnete sie forsch. »So was geht immer!«
»Diesmal leider nicht. Aus Athen kam eine Einladung zu einem Archäologenkongress und unser Dekan erwartet von mir, dass ich daran teilnehme.« Er machte ein unzufriedenes Gesicht. »Jammern hilft da nichts. Mein Flug ist schon gebucht. Gleich morgen in der Früh geht es von Edinburgh-Airport mit Easy-Jet nonstop nach Athen. Billigflug, aber zumindest kein Umsteigen. Hoffe, ich kann in den gut vier Flugstunden etwas schlafen.« Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Jake und Clark werden wohl ebenfalls begeistert sein, die fliegen nämlich mit.« Er sah sie forschend an. »Du wirst die Stellung solange mit Robert allein halten müssen, Lauren. Robert wird den Bericht in den nächsten Tagen sicher fertiggestellt haben. Ich bitte dich, ihn genau durchzulesen und die einzelnen Fundstücke mit ihm zu katalogisieren.«
»Kein Problem, Professor«, versprach sie lächelnd.
Lamondt griff in seine alte abgewetzte Ledertasche, holte einen verhüllten Gegenstand heraus und legte ihn sorgsam auf ihrem Schreibtisch ab.
»Darin ist eine Kristallkugel«, erklärte er ihr, auf ihren neugierigen Blick hin. »Robert hat sie am letzten Tag noch in einem ansonst leeren Grab gefunden. Ich denke, sie wird uns wohl die größte Nuss zu knacken geben. Lege sie bitte zu den anderen Fundstücken.«
Er schwieg und es schien, als denke er über etwas nach.
Sie erschrak bei seinem Anblick.
Mein Gott, ging es ihr durch den Kopf, wie müde und erschöpft er aussieht. Andererseits kennt er ja auch nur noch seine Arbeit, ist förmlich mit ihr verheiratet. Vermutlich bekämpft er damit die Trauer und Einsamkeit, seit seine Frau verstorben ist, … und Kinder, die sind ihm ja versagt geblieben.
»Sollten Fragen auftauchen, dann wende dich an Robert«, unterbrach er ihre abschweifenden Gedanken. »Mir bleibt nicht viel Zeit. Es gibt noch einige Dinge vor der Abreise zu erledigen.« Er trank seinen Kaffee aus, stellte die Tasse beiseite und schenkte ihr ein Lächeln. »Wird schon, … und im Übrigen bin ich ja in fünf Tagen wieder zurück.«
Er griff nach seiner Aktentasche, sah ihr mit einem warmen Blick ins Gesicht und ging hinaus.
Kapitel 3
D
etective Chief Inspector Blake hatte seine Unterlagen vor sich auf dem Pult ausgebreitet, während sich der Hörsaal langsam, bis auf die letzte Reihe, gefüllt hatte. Inzwischen hatten die meisten Studenten ihren Platz in den Sitzreihen eingenommen und Ruhe kehrte ein. Aufmerksam blickten sie zu ihm herab. Er und McGinnis waren für eine Vorlesungsreihe nach Edinburgh kommandiert worden.
»Mir ist bewusst, dass aus der gestrigen Vorlesung noch einige interessante Fragen unbeantwortet geblieben sind. Aber sehen Sie es mir nach, wenn ich diese hinten anstellen möchte, da ich sonst kaum in der Lage sein werden den heutigen Zeitplan auch nur ansatzweise einzuhalten.«
»Fangen Sie nur an, Chief Inspector«, meinte ein junger Mann mit rötlichem Haar aus der dritten Reihe keck.
»Herzlichen Dank für Ihre Erlaubnis«, gab Blake spöttisch zurück, wurde dann aber sofort wieder ernst. »Ich habe gestern hin und wieder auf die vielfältigen Möglichkeiten der Leichenliegezeitbestimmung Bezug genommen. Ich denke, zu Beginn bietet sich eine kleine Zusammenfassung an.« Er warf McGinnis, der dem Vortrag in der ersten Reihe folgte, selbst noch nie einen Vortrag gehalten hatte, und entsprechend nervös war, da er nach ihm dran war, einen aufmunternden Blick zu. »Die Möglichkeiten über die sogenannten supravitalen Zeichen hatte ich erwähnt. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass es sich um Erfahrungswerte handelt, die durch äußere Einflüsse, sprich Temperatur, stark variieren können.« Blake bediente seinen Laserpointer und ließ eine Powerpointgrafik auf der Leinwand hinter sich erscheinen. »Lassen Sie uns mit den Totenflecken beginnen. Sie beginnen nach etwa zwanzig bis dreißig Minuten am Hals und an den Ohrläppchen und konfluieren über die nächsten dreißig bis zu einhundertzwanzig Minuten. Komplett verlaufen sind sie nach sechs bis zwölf Stunden hpm, also hora post mortem, … sprich nach Todeseintritt. Zehn bis zwanzig Stunden nach dem Tod ist noch möglich sie durch Fingerdruck wegzudrücken.« Er löste sich vom Pult und machte ein paar Schritte zur Seite. »Da wir in der Kriminalistik auch vom Umlagern einer Leiche durch den Täter ausgehen müssen, ist es wichtig zu wissen, dass die grauvioletten Flecken infolge Blutentmischung in den ersten sechs Stunden noch wandern können, und erst danach nicht mehr wegdrückbar sind.« Er betätigte einen Knopf auf seinem Pointer und zeigte den Studierenden ein entsprechendes Bild aus der Pathologie. »Nach ungefähr zwei bis vier Stunden beginnt die Totenstarre am Kiefergelenk. Sechs bis acht Stunden später ist sie komplett ausgebildet. Auch hier gilt es wieder genau auf die Temperatureinflüsse zu achten. Die Ausbildung geschieht unter Hitze schneller, bei Kälte ist sie entsprechend langsamer. Und auch die Lösung der Starre ist sehr stark von der Temperatur abhängig. Zumeist beginnt das nach zwei bis drei Tagen – bis zur vollständigen Rückbildung vergehen in der Regel drei bis fünf Tage …«
»Ich habe gelesen, dass es auch deutlich länger dauern kann«, warf der junge Rotschopf unterbrechend ein.
»Darf ich wissen, wie Sie heißen?«
»Westfield. Thomas Westfield.«
»Damit haben Sie durchaus Recht, Mr. Westfield, auch wenn ich unaufgeforderte Einwürfe nicht schätze«, entgegnete Blake kühl. »Aber ... «, er sah in die Runde seiner Zuhörerschaft, »... um Mr. Westfields Frage zu beantworten: Bei sehr tiefer Umgebungstemperatur kann es bis zu drei Wochen dauern.« Er machte eine kurze Pause, wechselte die Präsentationfolie und sprach weiter: »Kommen wir nun zur elektrischen Erregbarkeit der mimischen Muskulatur. Diese ist ein bis sechs Stunden hpm als ipsilateral fortgeleitete Kontraktion zu erkennen, danach bis zur achten Stunde nur noch elektrodennah ...«
Er war jetzt voll und ganz in seinem Element. Es folgten ausführliche Erklärungen zum Zsako-Muskelphänomen, zur pharmakologischen Reizung der glatten Iris-Muskulatur, zur Abnahme der Körperkerntemperatur und über das Durchschlagen des Venennetzes.
»Wie den meisten von Ihnen sicher bereits bekannt ist, gibt uns auch der Füllstand der Harnblase einen gewissen Anhalt zum Todeseintritt. Allgemein können Sie sich merken, dass eine leere Harnblase auf Tod in der ersten, eine volle Harnblase hingegen auf Tod in der zweiten Nachthälfte schließen lässt. Wie der Füllstand der Blase gibt uns auch der Magen zahlreiche Aufschlüsse.« Die Powerpointfolie zeigte jetzt ein entsprechendes Obduktionsfoto. »In diesem Fall ist es natürlich sehr hilfreich, wenn der Zeitpunkt der letzten Nahrungsaufnahme bekannt ist, da man bei leichten Mahlzeiten von einer durchschnittlichen Verweildauer von etwa neunzig Minuten ausgehen kann. Wie sie ...« Blake warf eine neue Folie an die Wand. »... sehen, sind es gut drei Stunden bei durchschnittlicher Nahrungsaufnahme, bei schwerer hingegen schon vier. Achten Sie auch unbedingt auf die Nahrungsbestandteile. Sie können und werden Ihnen wertvolle Aufschlüsse geben. Und jetzt, da ich selbst Raucher bin ... eine Viertelstunde Pause, meine Damen und Herren.« Lächelnd hatte er dabei auf seine Armbanduhr getippt, bevor er die Präsentation vorerst beendete und es auf der Wand hinter ihm dunkel wurde. »Im Anschluss wird mein geschätzter Kollege Detective Inspector Cyril McGinnis fortfahren. Herzlichen Dank Ihre Aufmerksamkeit.«
Einige Studenten begannen mit den Fingerknöcheln auf ihre Schreibablagen zu klopfen, um sich auf diese Art für den lehrreichen Vortrag zu bedanken, andere klatschten oder gaben freundliche Zurufe zum Besten.
Zwei Stunden später beendete auch McGinnis seine Vorlesung.
»… und vergessen Sie bitte nie, dass neben all dem Gehörten, eine zusätzliche Präzisierung der Leichenliegezeit immer auch durch Rückfragen der jeweiligen Ermittlungsbehörde zu erlangen sind, zum Beispiel mit der Frage, wann eine verstorbene Person zuletzt lebend gesehen wurde oder weitere Anhaltspunkte, wie dem eines geleerten Briefkastens.« Zufrieden lächelnd sah er in die Runde. »Vielen Dank für Ihre konzentrierte Teilnahme. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag.«
Als er seine Unterlagen zusammenpackte und sich daran machte das Podium zu verlassen, kam Blake auf ihn zu.
»Gratuliere, deine Feuertaufe hast du ausgezeichnet bestanden«, schmunzelte er und reichte ihm darauf die Hand. »Willkommen im Dozenten-Club.«
Kapitel 4
K
urz nach fünf am Abend packte Lauren Pritchard ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Heimweg. Glücklicherweise hatte sie in unmittelbarer Nähe der Universität eine hübsche, gemütliche Wohnung anmieten können, die sie zusammen mit ihrer Mutter bewohnte. An ihren Vater konnte sie sich kaum noch erinnern. Sie war gerade erst vier Jahre alt geworden, als er bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte.
Auf dem Weg nach Hause besorgte sie noch einige Kleinigkeiten für das Abendessen. Sie wollte ihre Mutter überraschen und heute wieder einmal für sie kochen. Der Einkaufsmarkt lag auf direktem Weg. Sie brauchte nicht lange für die Besorgungen und eine gute halbe Stunde später trudelte sie mit ihrer schweren Einkaufstüte in der gemeinsamen Wohnung ein.
Sie brachte die Sachen in die Küche. Am Kühlschrank fand sie eine Haftnotiz. Ihre Mutter ließ sie wissen, dass sie unerwartet von einer alten Freundin eingeladen worden war und erst spät am Abend zurückkommen würde. Sie solle mit dem Essen nicht auf sie warten.
Enttäuscht packte sie die Tüte aus, verstaute alles in den Schränken und dem Kühlschrank. Die Freude am Kochen war ihr vergangen. Für sie allein lohnte der Aufwand nicht. Also schnitt sie sich stattdessen ein paar Scheiben Brot ab, holte den Aufschnitt und machte ein paar Häppchen. Mit dem Teller und einer Tasse heißen Kaffee huschte sie ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und schaute sich während des Essens eine nichts sagende Seifenoper an. Später brachte sie das Geschirr zurück in die Küche, zündete sich eine Zigarette an und machte es sich in ihrem behaglichen Lieblingssessel bequem.
Wie kommt es nur, dass ich bei Stress nach diesen Dingern giere, die mich zum Husten reizen? Ja, sie empfand Stress, ein seltsames Gefühl der Anspannung, ohne genau sagen zu können: woher oder warum? Nur gut, dass mich diese Zigaretten schwindelig werden lassen, dachte sie, und redete sich ein, gar keine richtige Raucherin zu sein.
Heute Abend bleibe ich daheim, dachte sie weiter, und gehe mal früh schlafen. Aber vorher werde ich noch etwas lesen.
Sie liebte Science Fiction und hatte erst vor einigen Tagen mit ›Fahrenheit 451‹ von Ray Bradbury angefangen. Sie mochte die Geschichte, deren Verfilmung sie bereits gesehen hatte, und in deren Zukunftsvision die Feuerwehr nicht mehr mit Wasserspritzen ausgerüstet war, sondern mit Flammenwerfern, die genau den Hitzegrad erzeugen, bei dem Papier Feuer fängt, eben 451 Grad Fahrenheit, um die letzten Zeugnisse individualistischen Denkens – die Bücher – zu vernichten. Es war der Feuerwehrmann Guy Montag, der ihr besonders gefiel, weil er anfing sich Fragen zu stellen. Sie konnte sich nicht vorstellen in einer Welt zu leben, in der das Bücherlesen mit Gefängnis und Tod bestraft wurde. Den Gedanken daran fand sie beängstigend. Für sie war der Roman ein zeitloses Plädoyer für das freie Denken. Der Film hatte sie schon begeistert und auch der österreichische Schauspieler Oskar Werner, dem Francois Truffaut die Rolle Guy Montags gegeben hatte. Für Werner musste es eine schwere Rolle gewesen sein, denn er war noch Zeitzeuge von Hitlers Bücherverbrennungen gewesen. Sie wusste, dass Werner die Bedeutung der Literatur für die Bewusstwerdung des Menschen und das Verbrechen der Bücherverbrennung deutlicher dargestellt haben wollte, und damit angefangen hatte Truffauts Entscheidungen im Laufe der Dreharbeiten zunehmend zu hinterfragen und teils seine Anweisungen gänzlich zu ignorieren, bis er sich gegen Ende der Arbeiten sogar mit dem Vorwurf der Sabotage einzelner Szenen konfrontiert sah.
Sie stand auf und wollte sich gerade das Buch von der Nachttischkonsole holen, als ihr Blick unvermittelt auf die wildlederne Umhängetasche fiel, die sie achtlos auf das Sofa gestellt hatte. Was sie verwunderte war, dass sie so seltsam kugelig aussah. Sie konnte sich gar nicht erinnern, etwas in die Tasche getan zu haben. Verwirrt schüttelte den Kopf.
Kann mir dergleichen tatsächlich entfallen sein?
Jetzt hatte sie die Neugier gepackt. Sie nahm die Tasche, ging damit zum Frisiertisch in ihrem Zimmer, setzte sich auf den davor stehenden zierlichen Hocker und öffnete sie. Verständnislos betrachtete sie den Inhalt. Außer den gewohnten Utensilien, die sich gewöhnlich in den Taschen aller Frauen befanden, war da noch, der in ein Baumwolltuch verpackte, Gegenstand, den ihr Prof. Lamondt am Morgen übergeben hatte.
Sie stutzte. Es war ihr schier unerklärlich, wie der in ihre Tasche gekommen war. Unwillkürlich fing sie an zu rekapitulieren:
Er hat mir das Fundstück auf den Schreibtisch gelegt, und ich habe es, … ich bin mir absolut sicher …, später im Stahlschrank eingeschlossen. Das verstehe ich nicht. Sie schüttelte leicht den Kopf und begann an sich zu zweifeln. Habe ich es denn womöglich gar nicht in den Schrank gelegt, … und stattdessen in meine Tasche? Daran müsste ich mich doch eigentlich erinnern!
Verwirrt und verärgert über sich selbst, weil es ihr nicht einfallen wollte, zuckte sie mit den Schultern. Sie versuchte sich beruhigen und sagte sich, dass es jetzt eh müßig sei, sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen.
Ohne dass es ihr richtig bewusst wurde, hatte sie die das Fundstück herausgenommen und damit begonnen es auszupacken. Voller Interesse besah sie sich die seltsame Kristallkugel, von der ihr Prof. Lamondt gesagt hatte, sie würde ihnen noch große Rätsel aufgeben. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel bei dem Gedanken daran, dass er in diese simple Kugel etwas hineininterpretiert hatte, was ganz sicher nicht in ihr steckte. Sie glaubte fest daran, dass die eigenartige rötliche Färbung im Inneren der schwarzen Kugel mineralischen Ursprungs war.
Lauren Pritchard wollte den Kristall schon wieder einpacken, um ihn gleich am Morgen wieder ins Institut zurückzubringen, als sie jäh innehielt. Irritiert rieb sie sich die Augen.
Träume ich etwa? Konzentriert schaute sie in das Zentrum der Kugel. Ein seltsamer Prozess hatte dort begonnen. Was geschieht hier?
Das zunächst kaum merkliche rötliche Leuchten im Inneren schien zunehmend an Intensität zu gewinnen. Aus irgendeinem für sie unerklärlichen Grund breitete es sich immer schneller aus, bis es nach wenigen Minuten die gesamte Oberfläche der Kugel eingenommen hatte, und diese, wie einen rotglühenden Ball aussehen ließ. Doch der geheimnisvolle Vorgang war damit noch lange nicht zu Ende. Kaum hatte sich das Glühen über die gesamte Oberfläche ausgebreitet, begann es in dem Kristall intensiv aufzuwallen. Hatte das rötliche Licht bislang gleichmäßig pulsiert, tat es das jetzt wild und heftig. Es erinnerte sie auf unbestimmte Weise an ein schlagendes Herz. Allein die Vorstellung daran, kam ihr unglaublich vor.
Alles um sie herum war wie ausgeblendet. Sie war wie gebannt und starrte unentwegt auf den ihr unbegreiflichen Vorgang.
Plötzlich entrang sich ihrem Mund ein leiser, spitzer Schrei. Sie fühlte, wie eine eisige, noch nie dagewesene Furcht in ihr hochkroch und von ihr Besitz nahm. Sie glaubte, ihr Blut würde in den Adern gefrieren, als sich die den gesamten Kristall durchdringende rote Glut blitzschnell in das Zentrum zurückzog und dort zu zwei feurigen, bösartigen Augen verdichtete, die sie höhnisch musterten.
Eine seltsame, teuflische Kraft ging von diesen Augen aus. Hypnotische Wellen der Beeinflussung drangen in ihren Körper. So sehr sie sich auch mit aller Kraft dagegen zu wehren suchte, sie kam mit ihrem Willen nicht gegen den brutalen Angriff an. Sie fühlte noch den Strom einer unbezwingbaren Müdigkeit, der alle Gedanken und jedes Bewusstsein in ihr fortschwemmte, ehe sie ihre Augen so lange verdrehte, bis nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war. Wenige Sekunden später pendelte ihr Kopf bereits haltlos hin und her, bis er schließlich mit einem dumpfen Ton vorn auf der Tischplatte aufschlug.
Kaum hatte sie ihr Bewusstsein verloren, kam ein fingerdicker Strahl rötlichen Lichts aus der Kristallkugel geschossen und heftete sich an die rechte Schläfe des wehrlosen Opfers. Für einen kurzen Augenblick geschah nichts, doch dann liefen urplötzlich wellenförmige Zuckungen durch den schlaffen Körper, und gleichzeitig färbte sich die strahlende Verbindung tiefrot ein. Es sah aus wie ein roter Strom, der sich aus ihrem Kopf in den dämonischen Kristall ergoss und von ihm wie ein Schwamm aufgesogen wurde. Fast augenblicklich stellte sich eine Wirkung ein, denn die fürchterlichen Augen in der Kugel wurden größer und größer und gewannen zusehends an Leuchtkraft.
Lauren Pritchards Gesichtshaut hingegen verlor mehr und mehr ihre gesunde Farbe. Zuerst wurde sie blass, dann schmutzig grau, um schließlich den Ton weißen Marmors anzunehmen. Je weiter sich die Hautfarbe veränderte, um so mehr nahmen die konvulsivischen Zuckungen ihres Körpers ab, bis sie völlig verebbten. Immer noch strömte auf geheimnisvolle Weise ihre junge, unverbrauchte Lebenskraft in den Kristall, der sich in der teuflischen Zunahme seines rötlichen Glanzes wie eine aufblühende exotische Pflanze zu entfalten schien. Die satanische Macht war bestrebt, sich auch noch das letzte Quäntchen Lebensenergie einzuverleiben, als sie gestört wurde.
Plötzlich war das Klappern eines Schlüsselbundes zu hören. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und gleich darauf die Wohnungstür geöffnet.
Kapitel 5
M
argret Pritchard, Laurens Mutter, war nach Hause gekommen. Irgendwie hatte sie sich bei ihrer Freundin an diesem Abend nicht so recht wohl gefühlt und ihren Besuch vorzeitig beendet. Eigentlich konnte sie sich selbst nicht erklären, was sie unbedingt nach Hause getrieben hatte, aber in der kurzen Zeit, die sie mit ihrer Freundin zusammen war, hatte sie ein seltsames, bedrückendes Gefühl gequält, das zunehmend stärker geworden war. Sie hatte es ihr auch gar nicht erklären können, war einfach aufgestanden, hatte ein paar Entschuldigungen gemurmelt und ihre Freundin sprachlos, mit offenem Mund, verlassen.
Jetzt, wo sie im Flur ihrer Wohnung stand, schalt sie sich eine dumme Kuh wegen ihrer dummen Handlungsweise. Sie war sicher, ihre Freundin würde sie so bald nicht wieder zu sich einladen.
»Lauren, wo steckst du?«, rief sie halblaut nach ihrer Tochter. Sie hatte ihren Mantel an der Garderobe gesehen. »Schläfst du schon, Schatz?«
Sie schloss die Wohnungstür hinter sich und ging mit leisen Schritten auf die Tür zu, die zum Schlafzimmer ihrer Tochter führte. Behutsam drückte sie die Türklinke nach unten, öffnete langsam und blickte in den Raum.
Das Zimmer wurde durch eine kleine Leuchte über dem Frisiertisch nur spärlich erhellt. Auf dem Hocker davor sah sie die zusammengesunkene, nach vorn gebeugte Gestalt ihrer Tochter. Ihr Kopf und der halbe Oberkörper lagen auf der Glasplatte zwischen all den zahlreichen Flakons und kleinen Cremetiegelchen.
»Lauren!«, stieß sie erschrocken aus.
Da war es wieder, dieses dunkle Gefühl, welches sie hatte heimkehren lassen. Ihre Tochter reagierte nicht. Eine tiefe Unruhe bemächtigte sich ihrer als sie nähertrat.
»Schatz! Liebling! Was ist mit dir?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Forschend beugte sie sich zum Kopf ihrer Tochter hinunter, und im gleichen Moment rieselte ein Schauer des Entsetzens über ihren Körper. Die Augen ihrer Tochter waren weit aufgerissen. In ihnen zeigte sich kein Ausdruck von Leben mehr. Reflexartig griff sie nach Laurens Hand und fühlte den Puls. Sie musste sich konzentrieren, um ihn überhaupt wahrnehmen zu können. Er war derart schwach und zögernd, als ob er jedem Augenblick vollends versagen würde.