Die Nacht in dir - Leah Konen - E-Book
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Die Nacht in dir E-Book

Leah Konen

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Beschreibung

Eine Frau auf der Flucht. Eine Kleinstadt mit mehr als einem Geheimnis. Und die Wahrheit hat viele Gesichter … In diesem raffinierten Psycho-Thriller ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint! Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund Davis landet die New Yorkerin Lucy im beschaulichen Woodstock. Die einsame junge Frau, die noch nicht über den frühen Tod ihrer Eltern hinweggekommen ist, schließt allzu schnell Freundschaft mit dem benachbarten Ehepaar John und Vera und baut eine nicht gerade gesunde Beziehung zu den beiden auf. Bald stiftet das rätselhafte Paar Lucy zu einer Verschwörung an: Sie wollen Johns Tod vortäuschen, um ihren eigenen Kleinstadt-Geheimnissen zu entfliehen. Auch Lucy soll dabei eine Rolle spielen – zum Dank wollen Vera und John sie mitnehmen. Ein verlockender Gedanke für Lucy, denn Davis ist in Woodstock aufgetaucht. Doch dann wird John tatsächlich tot aufgefunden … Leah Konens Thriller »Die Nacht in dir« ist ein ausgeklügeltes, psychologisches Spiel mit Schein- und Halbwahrheiten, dem Vertrauen in Nachbarn und Freunde, vorschnellen Urteilen und der Dunkelheit, die sich hinter manch freundlich erleuchtetem Fenster verbirgt. »Die Nacht in dir nimmt einen sofort in den Bann. Dieses Buch hat einfach alles, was ein Thriller braucht – fesselnde Charaktere, und einen Show-down, der es echt in sich hat.« – Samantha Downing, Autorin von Meine wunderbare Frau »Ein schlauer, süchtig-machender Thriller, dessen Wendung am Ende absolut überrascht.« – Kimberly Belle, Autorin von Solange du lügst

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Seitenzahl: 529

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Leah Konen

Die Nacht in dir

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Kirsten Reimers

Knaur e-books

Über dieses Buch

Um ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, muss Lucy King fliehen. Vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund Davis, vor ihrer Trauer über den Tod ihrer Eltern, vor ihrer Vergangenheit. Lediglich mit ihrem Hund und einem Koffer kehrt die junge New Yorkerin ihrer Heimatstadt den Rücken und zieht ins abgelegene Woodstock, wo sie sich in ein heruntergekommenes Cottage einmietet. Hier auf dem Land ist alles viel beschaulicher, anonymer. Und hier meint Lucy vor allem eins zu sein: sicher vor Davis.

Ein Ehepaar aus der Nachbarschaft, die extrovertierte Vera und Künstler John, findet Lucy reizend. Schnell intensiviert sich ihr Kontakt – ungewöhnlich schnell. Als das rätselhafte Paar sie in seinen geheimen Plan einweiht, gerät Lucy in eine prekäre Situation. Denn auch Vera und John haben mit Altlasten zu kämpfen, wollen irgendwo anders einen Neustart wagen. Soll Lucy dabei mithelfen, Johns Tod zu fingieren, das Geld seiner Lebensversicherung zu kassieren, und dann, gemeinsam mit ihnen, ein neues Leben beginnen? Ein verlockender Gedanke …

Doch dann wird John tatsächlich tot aufgefunden … Ein Albtraum beginnt. Wem kann Lucy trauen? Muss sie sich für einen Mord verantworten, den sie niemals begangen hat?

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. KapitelDanke
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Für Eleanor

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1

Menschen haben alle möglichen Vorstellungen davon, was sie machen würden, wenn ihnen etwas zustößt.

Sie würden es ihren Freunden erzählen. Sie würden diesen einen Anruf machen. Sie würden weggehen. Sie würden ganz sicher nicht einfach weitermachen wie bisher, Erfahrungsberichte schreiben oder als Aushilfskraft einspringen, wenn ein Online-Magazin eine freiberufliche Journalistin gerade an diesem Tag braucht. Sie würden es ihren Familien erzählen (vorausgesetzt, es gibt in ihrem Leben noch eine Familie, der sie es erzählen könnten), sie würden sich beschäftigen (Töpferkurs! Politische Kampagnen! Yoga!). Sie würden genesen, sie würden nach vorn schauen, und sie würden ihr Leben wieder neu aufbauen.

Genau das habe ich auch immer gedacht.

Die Ausfahrt nach Woodstock, New York, kam in Sicht, meine Augen zuckten nervös zum Rückspiegel, als ich zügig abfuhr. Urplötzlich war ich mitten auf dem Land, Wiesen und Pferde, heruntergekommene Schulbusse, verlassene Scheunen und idyllische Kirchen lagen überall verstreut: eine Landschaft wie ein Lückentext. Ich fand die Shadow Creek Road am Ende eines besonders gewundenen Abschnitts. Ich wollte so unbedingt aus dem Auto steigen und Schritt zwei des Plans in Angriff nehmen, dass ich beim Wenden kaum das Tempo drosselte …

Ich trat die Bremse bis zum Anschlag durch, während die Hirschkuh wie zu Eis gefror und mich anstarrte.

Meine Brust schlug gegen das Lenkrad; Dusty jaulte auf, als sein Körper gegen die Wand seiner Transportkiste geschleudert wurde. Mein Blut pumpte heftig und schnell durch meine Venen, Hitze durchfuhr mich. Ich rang um Atem, während die Augen der Hirschkuh mich anfunkelten. Was tust du da? Was in Gottes Namen glaubst du, was du da tust? Sie stolzierte davon, ihr massiger Körper verschwand so schnell im hohen Gras der Wiese, wie er erschienen war.

Magensäure stieg auf, meine Kehle brannte wie Feuer, und ich rammte den Schalthebel in Parkposition. Ich sprang raus, eilte zur Beifahrerseite und riss die hintere Tür auf. »Alles okay, Kleiner?«, fragte ich. Dusty leckte meine Hand, mein unberechenbarer Fahrstil hatte ihm offenbar keinen größeren Schaden zugefügt. »Es tut mir so leid«, sagte ich und versuchte, die Bitterkeit hinunterzuschlucken, angeekelt von der Feststellung, dass ich nicht fähig war, meinen Hund zu beschützen. Ich könnte es nicht aushalten, ihn auch noch zu verlieren.

Ein Auto näherte sich von hinten, ein alter buttergelber Mercedes. In der Luft lag der Geruch von frisch gebratenem Essen – Davis und ich hatten mal davon geträumt, einen Mercedes-Diesel so umzubauen, dass er mit Biodiesel, also mit kostenfreiem gebrauchtem Speiseöl aus Restaurants, lief. Eine Frau stieg auf der Fahrerseite aus, anmutig und geschmeidig. Ihr goldenes Haar glänzte im Sonnenlicht, es fiel vollkommen glatt über ihren Rücken. Sie hatte hohe Wangenknochen und kecke Brüste, und ihre Arme waren beneidenswert straff. Sie trug schwarze Spandexhosen und ein lockeres schwarzes Tanktop über einem pinkfarbenen Sport-BH – die Art Frau, für die der »Athleisure«-Look erfunden worden war. Was wollte sie?

»Sind Sie okay?«, fragte sie, die Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen. »Brauchen Sie Hilfe?«

Ihre Worte trieben stechende Tränen in meine Augen. Ich brauchte mehr Hilfe, als sie überhaupt ahnen konnte. Schnell schloss ich die Autotür. Dusty winselte. »Es war nur ein Reh«, brachte ich heraus. »Es hat mich überrascht, aber ich bin in Ordnung.« Bevor sie noch irgendwas sagen konnte, war ich wieder im Auto und schaltete auf »Fahren«.

Im Rückspiegel sah ich, wie sie mir nachblickte – um sich zu versichern, dass ich okay war, oder um mich zu beobachten? Sie folgte mir noch, als ich das Farmhaus erreichte, nach dem ich laut Maklerin Ausschau halten sollte. Es war wundervoll heruntergekommen, mit roten Holzlamellen, abblätternder weißer Verkleidung und einem durchhängenden Dach. Ich fuhr daran vorbei und beobachtete, wie die Frau in die Auffahrt einbog – meine neue Nachbarin.

Langsam kroch ich die Straße entlang, aber ich sah kein weiteres Haus, nur eine Wiese auf der einen Seite und Bäume mit dicken Blättern auf der anderen. Ich fuhr rechts ran und blickte erneut in den Rückspiegel. Ich griff nach meinem Telefon. Die SIM-Karte war gestern ersetzt worden, aber der Bildschirm immer noch gesprungen – es würde mindestens hundert Dollar kosten, das zu reparieren. Ich rief meinen neuen E-Mail-Account auf, gab das Passwort ein und fand die Antwort der Maklerin, Jennifer Moon, die eine zweifarbige E-Mail-Signatur in geschwungener Schrift hatte. »Hi Lucy! Vielen Dank für die schnelle Antwort. Ich bin so begeistert, dass Sie das Cottage mieten wollen, und, ja, Barzahlung passt mir gut. Ihr kleines blaues Haus liegt DIREKT HINTER dem roten Farmhaus, es hat eine kleine Veranda zur Auffahrt hin. Das ist Ihr neues ZUHAUSE! Der Schlüssel ist im Schließfach, der Code ist 3321. Herzlich willkommen!«

Kiesel knirschten unter den Rädern, als ich auf der Straße wieder zurückzuckelte. Mein Dad würde ausrasten, wenn er wüsste, dass ich den Honda Accord über Craiglist gekauft hatte, ein Geldbündel im Wert von dreitausend Dollar gegen einen Schlüssel mit einem »Miami, Florida«-Anhänger getauscht hatte. Er würde durchdrehen angesichts des Plans, den ich hatte. Wenn er da wäre, würde ich diesen Plan natürlich nicht benötigen. Er und meine Mom wären mein Plan.

Schließlich sah ich es. Es war atemberaubend, königsblau mit einer winzigen hölzernen Veranda, umgeben von ungemähtem Gras. Verdammt, es hatte sogar eine Hollywoodschaukel, etwas, das ich mir immer gewünscht hatte, als ich mir noch ein Leben mit Davis ausgemalt hatte, weit weg von New York City, ein kleines Mädchen mit meinen Augen und seinem Mund, das mit Bauklötzen zu unseren Füßen spielte. Nichts schien unmöglich damals, unsere Zukunft erstreckte sich vor uns wie Dominosteine, ein Tag ergab den nächsten.

Ich parkte und befreite schnell Dusty aus seinem Gefängnis. Er pinkelte an den ersten Busch, den er finden konnte, dann folgte er mir auf die Veranda. Ich gab den Zahlencode in das Schließfach ein, und ein silberner Schlüssel fiel mir in die Hände. Die Haustür ließ sich einfach öffnen, fast zu einfach, und als ich drin war, prüfte ich den Türriegel drei Mal.

Das Haus war möbliert. Die letzte Bewohnerin war ebenfalls eine alleinstehende Frau gewesen, aber das Haus gehörte einem älteren Paar, das vor ein paar Jahren zurück nach Phoenix gezogen war, um näher beim Enkel zu sein – Jennifer Moon hatte mir das alles erzählt, bevor ich auch nur die Chance hatte, danach zu fragen.

Dusty überprüfte die neue Umgebung, wie er es schon in dem verdreckten Days Inn in Queens gemacht hatte, wo wir uns die letzten beiden Tage verkrochen hatten; sein kleiner weißer Körper wieselte herum wie ein gigantisches Wattebällchen. Ich musterte den Raum: zwei kleine marineblaue Sofas vor einem Holzofen, daneben Holzscheite; Bücherregale mit Wanderführern für die Catskills, einem Taschenbuch über Buddhismus und einem mehrbändigen, nicht ganz vollständigen Lexikon; ein hölzerner Schaukelstuhl in einer Ecke, ein Doppelglasfenster auf der anderen Seite.

Der Schlafraum war eine Sardinenbüchse mit einem schmiedeeisernen Bett, das meine Mutter geliebt hätte, und einem knallbunten Quilt, den sie gehasst hätte; einem Schreibtisch, der zu klein war, um nützlich zu sein, und einem Wandschrank. Ich griff nach meiner Tasche und kippte den Inhalt aufs Bett:

 

- Geburtsurkunde

- Sozialversicherungskarte

- Pass und Ausweise

- Bank- und Kreditkarten

- Moms Seidenschal

- Dads Hammer

- Umschlag voller Bargeld

 

Während ich die Gegenstände auf dem Bett ausbreitete, berührte ich jeden einzelnen, als könnte er sich vor meinen Augen in Luft auflösen, wenn ich ihn nicht im Blick behielt. Dusty wollte über die Papiere krabbeln, aber ich scheuchte ihn weg. Das war mein Leben. Plastik und Papier, Geld und Seide. Ich griff nach dem Umschlag, zählte noch einmal das Geld – etwas mehr als zehntausend Dollar –, dann legte ich den Hammer auf den Nachttisch, zur Verteidigung. Ich nahm den Schal in die Hand, er war cremeweiß, umrandet von einem königsblauen Streifen und Blumenknospen. Ich hob ihn näher heran, um die ruinierte dunkelbraune Ecke zu inspizieren. Das würde ich Davis nie verzeihen. Ich ließ den Schal aufs Bett fallen und musterte meine restlichen Besitztümer, während ich überlegte, was ich mit ihnen machen sollte.

Draußen knackte ein Zweig, laut wie ein Feuerwerkskörper.

Dusty bellte, und ich sprang auf, griff nach dem Hammer, lief zum Fenster und riss die Vorhänge zurück. Mein Herz schlug wie eine Trommel.

Ein graues Kaninchen mit langen Hinterpfoten hoppelte davon.

Ich nahm einen langen Yoga-Atemzug. Manchmal war ich wie ein verschrecktes Tier, schlimmer als Dusty, wenn er seinen Schwanz einzog.

Ich legte den Hammer weg und schob das Bett zur Seite, Metall schabte über die Holzdielen. Auf den Knien – sie hinterließen Abdrücke in der Staubschicht – prüfte ich vorsichtig jede Diele. Nach fünf Minuten entdeckte ich nur wenige Zentimeter neben der Sockelleiste eine, die sich locker anfühlte. Mithilfe der Hammerklaue zog ich sie heraus, schuf einen Freiraum von rund zwanzig mal zehn Zentimetern, verbarg darin alles bis auf das Tuch und Geld für die Miete, und drückte die Diele wieder an ihren Platz. Ich wischte mit den Händen darüber, um den Staub zu verteilen, bevor ich das Bett zurückschob.

Ich brauchte einen Drink. Seit meinem Weggang hatte ich mich gezwungen, keinen Alkohol mehr zu trinken, weil ich wusste, dass ich einen klaren Kopf brauchte. Es war fast drei, früher als in meinem normalen Leben üblich, aber angesichts der Umstände war das okay. Das war meine neue Realität: Ich lebte in einem süßen kleinen Cottage, um das Waldtiere herumtollten, und hatte meine Besitztümer unter den Dielen versteckt – wer war da in der Position zu sagen, ich müsste bis sechs Uhr warten?

»Was meinst du?«, fragte ich Dusty. »Hat Mommy sich einen Drink verdient?«

In der Küche holte ich die letzte Flasche von Davis’ gutem Whiskey heraus, diejenige, die ich vor zwei Tagen gestohlen hatte. Ich blickte mich um und entdeckte eine Hundetür; ich musste Dusty beibringen, sie richtig zu nutzen. Ich goss zwei Finger breit Whiskey in ein kleines Glas und nahm einen Schluck. Dann spähte ich nach draußen – der eingezäunte Hof in der Größe einer Briefmarke war von Baumbeständen umgeben. Dieser Ort war perfekt für uns. Er musste perfekt sein.

Auf meinem Bett klappte ich meinen Laptop auf und loggte mich in das Virtual Private Network ein, bei dem ich angemeldet war, eines, das meine IP-Adresse zerhackte und meine Verbindung nicht zurückverfolgbar machte, nur für den Fall. Ich rief mein altes E-Mail-Postfach auf und fürchtete das Schlimmste, aber es waren keine neuen Nachrichten eingegangen, nichts als Werbemails und Bettelbriefe von Non-Profit-Organisationen, die Ängste schürten im Bemühen um weitere Spenden.

Ich las noch einmal den Entwurf, den ich am vergangenen Abend geschrieben hatte, die Brust zog sich mir zusammen bei dem Gedanken, was meine beste Freundin Ellie inzwischen erfahren haben mochte.

 

Hey Süße,

bitte entschuldige diese Nachricht in letzter Minute, aber ich kann heute Abend nicht zu unserer Essensverabredung kommen! Ich habe beschlossen, für ein paar Monate zurück nach Seattle zu ziehen. Ich werde ein letztes Mal den Nachlass meiner Eltern durchgehen und versuchen, meine Karriere als Freiberuflerin voranzubringen an einem Ort, der nicht ganz so teuer ist wie Brooklyn. Vielleicht denkst du jetzt nicht nur, »was soll der Scheiß«, sondern fragst dich auch, was mit Davis ist. Ich muss dir leider mitteilen, dass wir jetzt getrennte Wege gehen. Ich wollte es dir gern persönlich erzählen, aber ich halte das nicht durch. Es tut mir leid.

Ich hab dich lieb, und ich hasse es, dass ich abgetaucht bin, ohne mich von dir zu verabschieden, aber das kam alles sehr plötzlich. Wenn ich mich eingelebt habe, planen wir eine Wiedervereinigung an der Westküste, bitte, bitte – ja?

Umarmungen und Küsse

L

 

Bevor mir Zweifel kamen, klickte ich auf Senden.

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2

Sie denken vielleicht, es wäre einfach, alle Verbindungen zu einem Mann wie Davis zu kappen, eine natürliche Reaktion für eine nach vorn blickende Frau wie mich. Aber das war es nicht. Im Gegenteil, es war wie mit jeder anderen Sucht, man kehrte viel schneller wieder zu ihr zurück, rationalisierte sie, als dass man sie vollkommen aufgab. Nur. Noch. Ein. Kleiner. Schluck. Wenn es doch nur AA-Treffen für miese Freunde gäbe, für die Frauen, die es nicht schafften, sie zu verlassen.

Es war fast vier und mein erstes Glas fast leer, als ich den Mut aufbrachte, Davis zu schreiben.

 

Ich gehe zurück nach Seattle. Du kannst uns nicht mehr kontrollieren.

 

Ich hängte das Foto an die Mail, meine Absicherung gegen zukünftige Bestrafungen. Die einzige, die ich hatte.

In mir öffnete sich eine Luke, das konnte ich fühlen, nur einen Spaltbreit, Ärger kam auf über all das, was zwischen uns passiert war, aber ich schloss sie wieder, weil ich wusste, dass ich das musste; ich atmete tief durch und klickte auf Senden.

Für den Bruchteil einer Sekunde stellte ich mir vor, wie er es las, die Knöchel seiner Finger weiß, so fest umklammerten sie das Telefon.

Dann stellte ich mir die Alternative vor, und ich betete darum, dass Davis okay war, mein Magen wand sich zu einem Knoten, während mein Herz gnadenlos hämmerte.

Ohne meine Angst zuzulassen, loggte ich mich aus dem alten E-Mail-Account aus und in den neuen ein, [email protected]; darin gab es nur den Mailwechsel wegen des Cottages, eine »Willkommen bei Gmail«-Nachricht und ein bisschen Spam.

Ich gebe es ungern zu, aber dann tat ich das, was ich, um zurechtzukommen, monatelang getan hatte – ich trank.

Als ich die Fußangeln der Schwarzen Löcher des Internets hinter mir gelassen hatte, als aus dem zweiten Glas das dritte geworden war, als Dusty um Futter winselte und mir klar wurde, dass es fast neun Uhr abends war, öffnete ich eine Dose Hundefutter und bestellte mir eine Pizza bei einem der wenigen Lieferdienste des Ortes. Dann trank ich weiter.

 

Dusty berührte mit der Pfote mein Gesicht.

Meine Augen sprangen auf. Es war Morgen, Licht umgab die Kanten der Vorhänge wie ein Heiligenschein. Ich war vollständig bekleidet und lag auf dem Quilt, das Haar zerdrückt, wie eine Puppe, die nach dem Spielen in die Ecke geworfen worden war. Mein Kiefer war verspannt. Ich hatte mit den Zähnen geknirscht, wie ich es immer tat, wenn ich Angst hatte, eine Angewohnheit aus der Kindheit, die ich nicht ablegen konnte.

Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, ohne Davis aufzuwachen. Es war schwer, mir nicht vorzustellen, wie er auf seiner Seite des Bettes lag, die Beine um die Laken geschlungen, seine Schulter zum Ankuscheln für mich bereit. Sein blondes Haar zerzaust, die Haarwirbel ungezähmt, seine Brille mit den dicken Gläsern, eins der Dinge, die wir gemeinsam ausgesucht hatten, bereitgelegt auf dem Nachttisch. Seine Augen öffnen sich – »Morgen, Babe«.

Jetzt war seine Bettseite besetzt von einer fettfleckigen Schachtel von Ciceros Pizza. Der Geruch von Wurst drehte mir den Magen um.

Davis war sehr schnell ein wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden, mit allen Vor- und Nachteilen. Er war da, um mich zu Geburtstagspartys von Freunden zu begleiten, an meiner Seite, um den neuesten Independent-Film zu sehen oder ein Rezept auszuprobieren, das ich online gefunden hatte; bereit, das neue Album von LCD Soundsystem anzuhören und dann stundenlang darüber zu diskutieren, ob es etwas taugte. Da, um einen nerdigen Witz über die inzestuösen Untertöne in Star Wars zu reißen. Um mich zu halten, wenn die Trauer über den Verlust meiner Eltern mich mitunter untröstlich machte. Schließlich da, um mich voll und ganz in seiner Wohnung, seinem Leben willkommen zu heißen. Das Bett anzuwärmen, mein Partner in der Hundesache, unsere geteilte Verantwortung, um ein Leben mit Dusty, meinem Ein und Alles, zu ermöglichen …

Davis sollte all diese Sachen direkt in die Hölle schicken. Er war da, um mir sein wahres Ich zu enthüllen, nach und nach. Um das, was ich unter einer Überraschung verstand, neu zu definieren.

Dusty sprang aufs Bett und schnüffelte an den Resten der Pizza.

»Runter«, sagte ich, während ich eine klebrige Bitterkeit in meiner Kehle spürte. »Wir gehen gleich.« Mein Telefon lag unheilverkündend auf der Schachtel. Ich tippte auf den Bildschirm. Es war nach elf. Keine Anrufe oder Textnachrichten, aber das war auch nicht zu erwarten. Davis kannte meine neue Nummer nicht, meine neue SIM-Card hatte dafür gesorgt.

Ich schob mich aus dem Bett, dann linste ich durch die Vorhänge, gerade, als ein Auto langsam vorbeifuhr. Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen. Ich schloss die Vorhänge, darauf bedacht, dass nicht einmal ein Zentimeter des Fensters freilag, dann näherte ich mich dem Spiegel, der neben der Tür hing. Da, gerahmt von meinen nicht zu bändigenden dunklen Locken und unmöglich zu übersehen, war der Bluterguss. Wütend und weiß in der Mitte, rot und blau – wie Flecken aus Wasserfarben – an den Rändern. Er umrundete meinen Wangenknochen wie eine Zielscheibe, fast acht Zentimeter breit.

Ich nahm meine Tasche vom Nachttisch, wo ich sie hingeworfen hatte, und suchte das Dermablend, nach dem meine Mom mich süchtig gemacht hatte, als Akne noch meine größte Nemesis war. Als ich es auftupfte, brannte meine Wange, die Haut war empfindlich, dünn wie Pergament; für eine Sekunde war es wieder Mittwochabend, der Moment in unserer Wohnung, als der Raum aus dem Gleichgewicht geriet und sich zu drehen begann.

Dusty fiepte, fast als würde er mit mir fühlen, aber ich wusste, er wollte nur raus. Ich musterte mein Meisterwerk – der Bluterguss, Kratzer und die angedeuteten Sommersprossen verschwanden unter dem Make-up, verschwommen wie unter einem großzügigen Instagram-Filter, vage und makellos wie die Mona Lisa. Frauenmagazine veröffentlichen niemals Tipps für so etwas. Solche Sachen muss man allein herausfinden.

Ich hörte einen Krach und sprang auf. Neben mir zog Dusty seine Leine vom Nachttisch, und der Metallhaken war auf den Hartholzboden geknallt. Ich atmete tief ein und kniete mich hin, um Dusty hinter den Ohren zu kraulen. Die Wärme seiner Haut und sein watteweiches Fell beruhigten meinen Puls, meine Atmung wurde gleichmäßiger – und dann landete mein Blick auf den von der Sonne erleuchteten Dielen.

Schnell schob ich das Bett zur Seite. Das fragliche Dielenbrett ragte ganz leicht heraus, als wäre es bewegt worden. Ich zermarterte mein Gehirn. Hatte ich, nach einem Whiskey oder nach dreien, das Brett angehoben, um nachzusehen? Nein. Daran würde ich mich erinnern. War Dusty unter das Bett gekrabbelt und hatte dort herumgekratzt, wie er es oft in Brooklyn getan hatte? Am wahrscheinlichsten. Dennoch überprüfte ich den Inhalt des Verstecks, holte alles heraus und glich es mit meiner Liste ab. Alles da. Mein Magen meldete sich zu Wort – dieses Mal allerdings nicht wegen des Alkohols.

Ich hämmerte die Bodendiele an ihren Platz, schob das Bett zurück und durchsuchte schnell das Cottage. Es gab keine Anzeichen dafür, dass jemand Fremdes hier gewesen war.

Es war nicht möglich, versicherte ich mir selbst, als ich die Tür hinter uns verschloss und dabei mehrfach überprüfte, um sicherzugehen, dass sie wirklich zu war. Dieses Mal hatte ich dafür gesorgt, dass er mich nicht finden konnte.

Alles in allem hatte ich eine Menge gelernt in den letzten Monaten.

Diesmal würde es nicht so sein wie vorher.

 

Licht besprenkelte den Straßenrand, und eine Brise wogte durch das hohe Gras der Wiese. Dusty hüpfte voran, gleichermaßen fasziniert von dem Fehlen anderer Hunde wie der Fülle an Grün. Kein Park in Brooklyn kam dem Walden-artigen Utopia vor uns gleich.

Wir kamen nur langsam voran, Dusty wollte jedes Stämmchen und jede Blume anpinkeln, das grelle Licht des Tages ließ alles noch realistischer erscheinen. Fernsehfilme kamen mir in den Sinn, solche, wie ich sie im muffigen Keller mit meiner Mom geschaut hatte. Die Flucht der Heldin vor dem bösen Kerl war der Höhepunkt, der Triumph. Man sieht nie den Teil, in dem sie nicht weiß, wie sie von vorn anfangen soll, wenn sie sich fragt, ob Thoreau sich gelangweilt hat, so allein im Wald.

Wir erreichten das Farmhaus, der pittoreske Mercedes parkte neben einem dreckbespritzten Pick-up. Von Nahem sah es so idyllisch aus wie gestern, obwohl man eine Menge Arbeit hineinstecken musste. Ein Fenster war kaputt, und die Außenwand bettelte um einen neuen Anstrich. Ich zog an der Leine, aber Dusty war starrköpfig – er stoppte am Briefkasten, um sein Geschäft zu verrichten.

Ich hörte Gebrüll. Worte konnte ich nicht verstehen, nur erhobene Stimmen, ein Kreischen, das vom Scharren eines Stuhls über Hartholzdielen stammen konnte, ein entschiedenes Stampfen.

Ich versteifte mich, entzückt. Alte Wände sind dünn, ich wusste das. Davis und ich tauschten nachts kurz und bündig Flüstereien in der Küche aus. Früher hatte er darüber gelacht und gesagt, dass man sich in Brooklyn nicht den Luxus einer ordentlichen Auseinandersetzung gönnen konnte. Das war witzig gewesen, denn es entsprach der Wahrheit. Unsere Streitereien waren liebevoll und nachsichtig gewesen damals, voller Geplänkel, wie zwei Menschen, die das Skript einer Sitcom vorlasen.

Das hatte sich verändert. Davis hatte zahlreiche Methoden entdeckt, um seinen Kopf durchzusetzen, ohne die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu wecken. Ich glaube immer noch nicht, dass die Frau über uns mitbekommen hat, was lief.

Die Haustür krachte auf, und ich hörte die Stimme einer Frau – »Tu das nie wieder« –, und ich schwöre, ich rechnete schon damit, mich selbst zu sehen, wie ich aus der Tür trat – mit funkelnden Augen, bebenden Händen, auf der Suche nach dem Sinn hinter dem, was passiert war, während ich doch wusste, dass solche Dinge keinen Sinn ergaben.

Unerklärlicherweise schüttelte Ms. Buttergelber Mercedes nur ihren Kopf, grinste, als wüsste sie sogar, wie man mit Anmut stritt. Sie hatte ihr Haar heute zu einem gleichmäßigen Pferdeschwanz gebunden, und ihre Kleidung war wieder vollständig schwarz, eng und dehnbar, dazu trug sie Sneakers an den Füßen. Sie sah mich an. »Sie sind das.«

Ihre Worte überraschten mich, und ich fühlte mich nackt und exponiert, ein Kind in der Cafeteria, das nicht wusste, wo es sich hinsetzen soll. Ich musste etwas tun, also suchten meine Hände nach Hundekotbeuteln, doch da waren keine mehr in meinem Spender. Mist.

»Die Frau von gestern, nicht wahr? Kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Hund«, sagte ich, als ich meine Stimme gefunden hatte, und nickte in Richtung Dusty. Er zog an der Leine, weil er Hallo sagen wollte. »Sorry, er hat – nun – auf Ihren Rasen, und ich habe die Tüten vergessen. Ich hätte ihn gar nicht erst in Ihren Garten laufen lassen sollen …«

Sie marschierte den Pfad herunter, ihr Pferdeschwanz glich einem Pendel. Sie war aus der Nähe noch atemberaubender, ihr Lächeln breit und weiß, wie das Grinsen eines Kindes. Ihre Augen waren grau, ihre Augenbrauen blond, aber dicht, und sie war vermutlich älter als ich, fünf oder zehn Jahre vielleicht; es war schwer zu sagen.

»Nicht anspringen, Dusty«, sagte ich.

»Oh, schon okay.« Sie blickte von Dusty zu mir. Sie war ein paar Zentimeter größer als ich, und sie roch nach warmer Erde mit einem Hauch von etwas Beißendem. Sie hatte Dreckflecken an den Knien, und ein geflochtener grüner Plastikkorb stand vor dem überwuchernden Blumenbeet hinter ihr. Bevor sie gestritten hatte, hatte sie im Garten gearbeitet. »Sie haben das Cottage gemietet, oder?«, fragte sie. »Das Haus, das Jennifer –« Sie unterbrach sich abrupt. »Das Haus der Clarks, die nach Phoenix gezogen sind.«

Ich nickte. »Ja, genau.«

»Ich bin Vera.« Sie streckte ihre Hand aus. Ihre Finger waren kurz und ein bisschen wurstig, vielleicht die einzige Sache, über die sie sich Gedanken machte, wenn sie eine geistige Liste ihrer Fehler zusammenstellte. Wie ich und meine Aknenarben. Wurstfinger waren ein dekadenter Fehler. »Schön, dich nun wirklich kennenzulernen.«

Ich zögerte eine Sekunde, plötzlich nervös, bevor ich sagte: »Lucy.«

»Und wer ist das?«, fragte sie.

»Dusty.« Ich lächelte. Es war schwierig, nicht zu lächeln, wenn ich über Dusty sprach, sogar jetzt.

Veras Stimme wechselte in eine Tonlage, als würde sie mit einem Baby sprechen: »Bist du nicht der Allersüßeste mit deinem fluffigen weißen Köpfchen und der kleinen nassen Nase?« Sie blickte auf. »Junge oder Mädchen?«

»Junge.«

»Wer ist ein guter Junge?«, fragte Vera, als Dusty sich streckte, um ihr Kinn zu lecken. »Dusty ist ein guter Junge, das ist er.« Sie richtete sich auf, ihre Hose nun bedeckt mit Dustys weißen Haaren. »Wie lange bleibst du?«

Es war seltsam. Vor wenigen Minuten hatte sie sich mit wem auch immer im Haus angeschrien. Und jetzt benahm sie sich, als wäre nichts geschehen. Mein Wangenknochen glühte auf, nicht so sehr vor Schmerz als vielmehr wegen all dem, was damit zusammenhing. Konnte es so einfach sein? Konnte man sich streiten und rumbrüllen und dann rausgehen und die neue Nachbarin begrüßen?

Ich hob die Hand, um meine Wange zu verbergen. Die Sonne schien zu hell; es war die Art von Tag, der Geheimnisse aufdeckt, den Schnee wegschmilzt, unter dem die Leiche verborgen liegt, den dermatologisch geprüften Concealer durchdringt und etwas Scheußliches freilegt. »Ich bin mir noch nicht sicher«, sagte ich. »Erst mal nur von Monat zu Monat.«

Vera sah mir in die Augen, während sie ihr Gesicht verzog. Versuchte sie, den Bluterguss nicht anzusehen, oder hatte sie ihn nicht bemerkt? Ihr Gesicht klarte wieder auf, als gäbe es da einen Dimmer, der mit bloßem Willen gesteuert wurde. »Wie auch immer: hallo Nachbarin«, sagte sie. »Willkommen in Woodstock. Kommst du aus New York City?«

Widerstrebend nickte ich.

Vera lächelte nüchtern und blickte dann runter zu Dusty. »Oh, du musst diese Beutel hier draußen nicht nutzen. Niemand macht das. Zwischen der Hirschscheiße und der Bärenscheiße fällt das kaum auf.«

Ich nickte, die Haut kribbelte bei dem Gedanken, dass Bären einfach so vorbeispazierten. Sie starrte mich an, als wartete sie darauf, dass ich etwas sagte. »Wir sollten gehen«, sagte ich und zog an Dustys Leine.

»Du solltest zu uns zum Essen vorbeikommen«, sagte sie plötzlich, das Lächeln wieder angedreht. »Du bist gerade erst angekommen, und ich weiß, dass du kein Gemüse im Haus hast. Es sei denn, du bist die Art von Mensch, die daran als Allererstes denkt, und in diesem Fall hasse ich dich. Bitte verrate uns im Übrigen, wie das so geht mit der Perfektion.«

Der Klang meines Lachens überraschte mich – es war lange her, dass ich es gehört hatte. Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort wäre die Antwort leicht gewesen. Ich hätte vorgeschlagen, sich auf einen Drink zu verabreden, und wir hätten uns in einer Cocktailbar mit unverputzten Backsteinmauern und Bukowski lesenden Bartendern getroffen, hätten Mixgetränke mit so albernen Dingen wie Absinth und Eiweiß bestellt. Gegen Ende des Abends wären wir enge Freundinnen gewesen, hätten alles ausgetauscht von der Anzahl der Nächte, die wir pro Woche mit unserem Partner schliefen, bis hin zu den unerträglichen Schmerzen einer Blasenentzündung. In dieser Welt jedoch brachte mich der Gedanke aus der Fassung. Was, wenn Vera etwas über mich bei Facebook oder Instagram postete? Was, wenn es so lange her war, dass ich vergessen hatte, wie man neue Freundschaften schloss – ich hatte mich nur noch auf Davis und Ellie konzentriert und die Welt, die wir gemeinsam erschaffen hatten. Was, wenn mein innerer Kompass so kaputt war, dass ich restlos alle Sensoren dafür verloren hatte, wem ich trauen konnte?

»Ich war noch nicht einkaufen, aber ich …«

Vera unterbrach mich. »Gut. Dann muss ich dich nicht hassen. Komm vorbei. Halb neun. Du bist keine Vegetarierin oder isst nur glutenfrei oder reagierst allergisch auf andere wunderbare Sachen, oder?

»Ich weiß nicht …«

»Weißt du nicht, ob du allergisch bist, oder weißt du nicht, ob du kommen willst?«

Ich lachte wieder.

»Schau mal«, sagte Vera, »ich bin jemand, die immer etwas mehr kocht, als nötig ist. Wenn du ein warmes Mahl brauchst, komm vorbei. Du kannst John kennenlernen, meinen Mann, und ich verspreche, wir werden uns nicht anschreien wegen der Wäsche.«

Es schockierte mich, wie lässig sie ganz nebenbei zugab, dass sie mit ihrem Mann gestritten hatte. Es brachte mich dazu, mich zu fühlen, als wäre ich diejenige, die völlig verkorkst war, und nicht sie.

Vera zuckte mit den Schultern. »Und wenn du keine Lust hast, ist es auch nicht wild. Dann werden wir zu viel essen und zu viel trinken, und das ist alles deine Schuld.« Sie wies mit dem Kopf die Straße hinunter. »Ich geh jetzt laufen. Du musst dich jetzt noch nicht entscheiden. Egal, wir sehen uns hoffentlich um halb neun.« Sie drehte sich um und setzte sich in Bewegung, und ich sah zu, wie aus ihrem schnellen Gehen ein Laufen wurde. Sie war charmant, keine Frage, ein Rätsel von einer Frau. Ich sollte trotzdem nicht zu offen mit anderen umgehen im Augenblick. Ich wusste nicht mehr, wem ich noch trauen konnte.

Dusty zog an der Leine, er wollte hinter ihr her, aber es gab Sachen, die ich heute noch erledigen wollte, Dinge, die überprüft und vorbereitet werden mussten. Ich zog Dusty zu mir und drehte mich auf der Ferse um.

Ich machte einen Satz. Eine grauhaarige Frau stand da, Linien waren in ihre Mundwinkel geätzt, die Augen tief liegend und dunkelbraun, Augen, die einst sicherlich als wunderschön gegolten hatten. »’tschuldigung«, sagte ich. »Sie haben mich erschreckt.«

Sie trug einen weinroten Sweater, der zu warm sein musste für dieses Wetter, und ausgewaschene Jeans – sie sah aus, als wäre sie etwas über sechzig. Sie hatte einen mittelgroßen Hund an der Leine, der doppelt so groß war wie Dusty; er sprang auf uns zu und schnupperte an Dustys Nase.

»Das ist Dusty«, sagte ich, so lief das übliche Prozedere.

»Hat sie Sie beleidigt?« Sie zog die Lippen zusammen, als hätte sie etwas Bitteres gegessen.

»Bitte?«

Sie zeigte zur Straße, wo Vera noch in Sicht war, sie lief schnell, aufrecht, selbstbewusst. »Wegen des Hundes. Ich hab gesehen, dass er in ihrem Garten war und so. Sie mag keine Hunde. Zumindest ist sie nie freundlich zu Pepper.

»Oh«, stammelte ich und zog Dusty näher zu mir. »Sie schien nicht …«

»Wenn sie Sie beleidigt, lassen Sie mich es wissen«, sagte die Frau. »Ich bin Maggie, ich wohne die Straße runter. Neben Ihnen, glaube ich. Wissen Sie, Nachbarn müssen aufeinander achtgeben.«

»Lucy«, bekam ich heraus. Ich ergriff ihre Hand, sie war klamm und kalt. Sie lächelte, und mir fiel auf, dass einer ihrer Zähne grau war, ein toter Zahn.

»Sie sollten sich in Acht nehmen vor ihnen«, sagte Maggie plötzlich.

Im Versuch, meine Hand zurückzuziehen, machte ich einen Schritt rückwärts. »Was?«

»Vera und John können sehr charmant sein«, sagte Maggie, als sie meine Hand aus ihrem Griff freigab. »Aber sie denken nur an sich selbst.«

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3

Anfangs schienen nur kleine Dinge verloren zu gehen. Eine Rechnung für einen meiner Kunden. Die Reste eines teuren Essens, die ich aufwärmen wollte. Meine Lieblingssocken. Mein hellblauer Edding. Der Schal meiner Mutter. Verlegt, oder zumindest dachte ich das. Alles fand sich an einem anderen Ort wieder. Die Rechnung eingeklemmt unter einem Stapel Bücher. Die Essensreste vergammelten im Schrank statt im Kühlschrank. Die Socken ganz unten im Eimer mit Dustys Spielzeug. Der Edding war unerklärlicherweise in den Wäschekorb gefallen und mitgewaschen worden. Der ehrwürdige Seidenschal meiner Mutter – mit dreckigen Geschirrhandtüchern zusammengeknüllt, eine Ecke hatte eine Küchensauerei aufgesogen und war für immer verdreckt.

Dinge, so klein und so unbedeutend, dass ich mich fast fragte, ob ich den Verstand verloren hatte. Vielleicht war ich nur vergesslich, unzuverlässig, wie Davis immer andeutete.

Nur dass nie Dinge verschwunden waren, solange ich allein gelebt hatte – erst als ich bei ihm einzog.

Als der Nachmittag schnell in den Abend überging und der Regen leise auf das Dach meines neuen Cottages fiel, ging ich von Raum zu Raum, stellte fest, was wo war, und hielt es in meinem Notizbuch fest.

Wohnraum: Wanderkarte und Geschichte der Catskills (auf dem Couchtisch); Lexikon, ohne den Band H (im Regal) und so weiter. Küche: Teedose (vier Beutel Earl Grey, zweimal Minze), Notizblock (begonnene Einkaufsliste: Bananen, schwarze Bohnen, Kaffee), Besteckkasten (erstaunlicherweise ein komplettes Set), Messerschublade (sechs Messer, rote Plexiglasgriffe).

Vielleicht war dieses Verhalten immer schon da gewesen, unterschwellig, aber erst mit Davis trat es zutage – ein Versuch, das Unkontrollierbare zu kontrollieren. Ich begann, Dinge aufzuschreiben, um meinen Verstand zu schützen, um zu verstehen.

Und während ich das tat, wurde es langsam offensichtlich, wie ein Polaroid, das langsam an Schärfe gewann. Ich war nicht unzuverlässig. Mein Hirn war kein Sieb.

Es waren Bestrafungen. Kleine nur, klar. Passend zu meinen eigenen kleinen Vergehen. Dafür, dass ich bei einer Party nicht über einen von Davis’ Witzen gelacht hatte. Dafür, dass ich ihn gebeten hatte, häufiger abzuwaschen. Dafür, dass ich ihm eine Notiz hinterlassen hatte – ja, geschrieben mit dem hellblauen Edding – wegen des Wasserhahns, der immer tropfte.

Der Regen hatte aufgehört, und es war nach sieben, als ich in den Schlafraum kam, den ich mir als Letztes aufgehoben hatte. Hier gab es keinen Krimskrams, nichts als Möbel. Ich warf das Notizbuch aufs Bett und schleppte meine Tasche zum Wandschrank. Eine schmale Kommode schmiegte sich darin an die Wand. Ich füllte die Schubladen mit schwarzen T-Shirts, Jeanshemden, leichten Sweatern und Jacken. Die kleinere Schublade für Unterwäsche war die oberste. Als ich versuchte, sie zu öffnen, klemmte sie, es knarzte, aber ich zog stärker, und etwas gab nach. Eine verstaubte Möbelbroschüre lag darin, vielleicht schon, seit das Ding hergestellt worden war – in den Fünfzigern, Sechzigern, wer weiß.

Als ich nach der Broschüre griff, fielen ein paar Fotos heraus, fünf Stück, glänzend. »Catskill Photo« war auf die Rückseite gedruckt. Jedes Bild zeigte den gleichen Mann. Es waren alles Nahaufnahmen, so nah, dass sie fast intim wirkten, braunes Haar und ein grau melierter Bart fingen das Licht auf. Der Mann wirkte robust, er hatte tief liegende Augen und ein ausgeprägtes Kinn, die Art von Mann, bei der man denkt: Solche Männer gibt es heute nicht mehr.

Ich schob die Fotos zurück in die Broschüre und warf sie in die Schublade. Ich tat meine BHs, Unterhosen und den Schal meiner Mutter hinein, dann schob ich die Schublade mit Wucht zu. Die Fotos waren ohne Bedeutung, die Reste eines vergessenen Lebens. Vielleicht der Freund der letzten Bewohnerin. Ich nahm mein Notizbuch und hielt sie trotzdem fest. Schlafzimmerschrank: fünf Fotos in der obersten Schublade (alle von einem Mann). Dann machte ich mit meinem Handy ein Foto von den Listen, die ich für jeden Raum erstellt hatte, nur für den Fall.

Ich setzte mich aufs Bett und atmete tief durch, versuchte mir einzureden, dass Davis mich hier niemals finden konnte. Ich hatte eine neue SIM-Karte, was bedeutete, dass ich eine neue Nummer hatte; meine Accounts bei den sozialen Medien waren gelöscht, mein altes E-Mail-Konto war nur noch über das VPN zugänglich, ein notwendiges Risiko wegen der Arbeit. Sogar mein neues Zuhause war wie ein Neustart – voller perfekt unpersönlicher Dinge, Sachen, die nicht einmal mir gehörten; hier könnte ich zu einem anderen Menschen werden.

Wenn ich Ellie wäre, würde ich ausflippen. Meine beste Freundin konnte keinen Tag aushalten, ohne etwas auf Instagram zu posten. Aber Ellie hätte vielleicht einen Weg gefunden, mit alldem anders umzugehen. Sie kam immer gut klar mit schwierigen Situationen; sie war eine Freundin, die wusste, wie sie auf mich eingehen konnte, die niemals über meine Eltern sprach, bis ich es selbst wollte, die mich einlud zu Mutter- oder Vatertag, um mich mit ereignislosen Buddy-Movies und Wein von allem abzulenken.

Trotzdem kann ich nicht sagen, wie sie mit alldem umgegangen wäre. Das hier war was anderes als die Sache mit meinen Eltern. Niemand wusste, was geschehen war, außer Davis und mir. Das machte ihn zu meinem einzigen Verbündeten. Sogar jetzt wollte ich ihn schon beinahe anrufen: Babe, ist es nicht verrückt? Kannst du wirklich glauben, dass uns das zustößt? Ich fragte mich, ob er das Gespräch annehmen würde, wenn das Telefon einfach … klingeln würde.

Stattdessen öffnete ich Instagram.

Ich tippte Davis’ Usernamen in die Suche ein, und sofort war er da. Sein Account war öffentlich, aber er hatte nichts eingestellt in diesen drei Tagen. Der Gedanke daran, wie Davis sich eine Möglichkeit überlegte, es mir heimzuzahlen, ließ meine Haut sich zusammenziehen. Der Gedanke, wie er in unserer Wohnung dahinsiechte, allein, auch.

Ich überflog seine Posts: wir mit dem Hund im Park. Wandern in den Pocono Mountains mit Ellie, Schweiß auf unserer Stirn. Sonnenbaden in South Beach. Lachend über einen Insiderjoke. Anfangs habe ich immer gelacht, wenn ich mit ihm zusammen war. Immer. Mein Finger schwebte über dem Message-Button – es gab so viel, was ich sagen wollte.

 

Ich hab gewonnen, du Arsch.

Hast nicht gedacht, dass ich es könnte. Aber ich hab’s getan.

Ich vermisse dich, und ich hasse mich dafür.

Ich habe Angst, bin wie unter Schock.

Du wirst mich oder Dusty nie wiedersehen.

Bist du okay?

 

Wie aufs Stichwort drückte Dusty seine Schnauze gegen mich und sah mich mit seinen großen Hundeaugen an. Das ist es nicht wert, schien er zu sagen. Das ist das Risiko nicht wert.

Schnell schloss ich die App. Es war erst Viertel nach sieben, und die Stunden vor mir schienen sich endlos zu dehnen. Ich nahm mein Notizbuch und begann eine neue Liste, eine To-do-Liste.

 

- Lösung wegen des Geldes/Konto finden

- Telefon reparieren lassen

- richtiges Essen kaufen

- Futter und Leckerlis für Dusty kaufen

- neue Artikel anbieten

- bereits besprochene schreiben

 

Ich ließ den Stift fallen und schaute wieder auf meinem Handy nach der Uhrzeit. Es waren nur ein paar Minuten vergangen. Draußen machte der Wind »sssch«, und meine Haut kribbelte, die kleinen Härchen hatten sich aufgerichtet. Meine Augen sprangen zum Fenster – ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden –, und ich lugte durch die Vorhänge durch, aber da war niemand. Ich holte tief Luft. Ich war einfach paranoid; Alleinsein war nicht das, was ich in Brooklyn kultiviert hatte. Es hatte immer eine Presseparty oder ein Kneipenquiz in einer Kellerbar mit Ellie gegeben. Bevor ich Davis kennengelernt hatte, hatte ich eine endlose Reihe an Dates gehabt. Gute und schlechte, witzige und unerträgliche. OkCupid zuerst, Tinder und Bumble kurz bevor ich Davis traf. Es gab so viele Möglichkeiten, unsere Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Brunch am nächsten Tag, um Geschichten über schlechte Dates auszutauschen.

Und dann Davis, eine Befreiung von alldem. Davis, der die endlose Abfolge von Profilen und Fotos unterbrach, die einem Stapel von Bewerbungen um den Job als fester Freund glichen.

Ich sah auf die Uhr. Nicht einmal eine Minute war vergangen.

Nimm einen Drink stand nicht auf der To-do-Liste, sollte aber.

Geh zum Essen bei potenziell coolen neuen Nachbarn stand da auch nicht.

Ich ging in die Küche, goss mir rund einen Fingerbreit Whiskey ein und schielte zu Dusty, forderte ihn heraus, mich zu verurteilen. Dann holte ich die Pizza aus dem Kühlschrank und starrte sie an. Was immer Vera kochen würde, es wäre deutlich appetitlicher. Dusty beäugte mich – nicht verurteilend, nur bettelnd.

Scheiß drauf, dachte ich. Ich nahm ein Stück vom Rand und warf es ihm zu. Normalerweise bekam er kein Menschenessen, aber es war schon okay. Heute Abend brachen wir beide die Regeln.

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4

Sie sollten sich in Acht nehmen vor ihnen.

Maggies Worte hallten in meinem Kopf, als ich auf Veras Veranda trat, die Holzbohlen knarrten unter meinem Gewicht. Die Verandabeleuchtung war ausgeschaltet, eine der Glühbirnen war kaputt, und Mäusedreck lag vor der Haustür. Ich klopfte, aber nichts geschah; nach ungefähr einer Minute klopfte ich noch mal. Stille. Ich spähte nach drinnen, aber es war weitgehend dunkel, als wäre niemand zu Hause. Blinzelnd machte ich einen umgekippten Stuhl aus.

Was zur Hölle?

Ich klopfte ein drittes Mal, wartete und wollte schon gehen, als die Tür geöffnet wurde.

»Ich hoffe, du hast nicht zu lange gewartet«, sagte Vera, während sie mir einen knochigen Arm um meine Schultern legte und mich in eine kaum beleuchtete Diele führte. »Ich war kurz draußen auf eine Zigarette. Schlechte Angewohnheit, ich weiß. Dann habe ich auf mein Handy geguckt und gesehen, wie spät es ist. Tut mir leid. Ich bin eine fürchterliche Gastgeberin, was?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, machte sie die Lichter an und entließ mich aus ihrem Griff. »Die Stromrechnungen sind unfassbar bei einem alten Haus, darum versuchen wir, kein Licht anzulassen, wenn wir nicht im Zimmer sind. Ich versuche, so zu tun, als wären wir altmodisch und nicht einfach geizig.« Sie sagte nichts zum umgekippten Stuhl, beugte sich nur hinunter und stellte ihn auf. Dann schloss sie die Tür hinter sich, ohne sich damit aufzuhalten, sie abzuschließen, eine Entscheidung, die mein Inneres sich winden ließ. »Egal, du bist absolut rechtzeitig. Die Lasagne ist so weit, dass sie aus dem Ofen kann. Ich hoffe, du hast Hunger!«

Im Licht nahm ich das Haus in mich auf, es war groß und geräumig in jeder Hinsicht, die mein Cottage nicht war. Eine wunderschöne Treppe beherrschte die Diele, der Wohnraum war auf der einen Seite, das Esszimmer auf der anderen. Ein intensiver Geruch lag in der Luft. Basilikum und Wärme. Meine Mom machte immer Auflauf, wenn es kalt oder ich krank war – Truthahn-Tetrazzini, mein Lieblingsessen –, wie ihre Mutter und davor deren Mutter. Eine lange Reihe von Frauen, die sich umeinander gekümmert hatten. Eine Reihe, die unterbrochen worden war, die Nabelschnur zerhackt von einem Moment auf den anderen – einfach so.

Ich betrachtete auch Vera. Sie trug ein schwarzes Trikot und einen seidigen kohlschwarzen Rock, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte, eine Abendvariante des Athleisure-Looks, den ich schon vorher gesehen hatte. An den Füßen trug sie Sandalen, die Fußnägel waren marineblau lackiert und leicht angeschlagen. Ihr Pferdeschwanz schlängelte sich über ihren Rücken.

Ich warf einen Blick in den Wohnraum, wo umgeben von Antiquitäten von der Art, die man bei Hausauflösungen kauft, eine Chesterfield-Ottomane vor einem dick gepolsterten Sofa stand. Dunkelbraune Holzbalken an der Decke und zu meinen Füßen der Hartholzboden – abgenutzt, aber schön. Ihr Heim bot vieles, auf das man neidisch sein konnte, aber wenig, um es zu hassen. Es war zusammengewürfelt und unvollkommen, alles andere als museumsartig, Staub auf den Sockelleisten und Krimskrams auf sämtlichen geraden Flächen: Werbepost, Wassergläser mit Lippenstiftspuren, Schuhe, die in die Ecke geschleudert worden waren.

Und Bücher, überall Bücher. Stapelweise im Flur, im Wohnraum in den eingelassenen Regalen. Kunst und Philosophie (Warhol, Kant); anspruchsvoll und unterhaltend (Zähne zeigen,Bis(s) zum Morgengrauen); Ta-Nehisi Coates lag auf Daphne du Maurier. Bücher bringen mich dazu, mich immer sicher zu fühlen. Plötzlich, und trotz allem, was passiert war, wünschte ich mir, ich hätte mehr aus meiner Kindheit mitgenommen, könnte die Bücher erneut lesen, die mir meine Mutter einst vorgelesen hatte.

»John«, rief Vera die Treppe hinauf. »Lucy ist da!« Nicht: »Lucy, die Nachbarin.« Oder: »Lucy, die Frau, von der ich dir erzählt habe.« Nur Lucy. Sie wartete nicht, bis jemand die Treppe heruntergeeilt kam, sondern führte mich durch den Wohnraum, wo ich einen feinen Hauch von Marihuana wahrnahm, in die Küche auf der Rückseite. Anders als der Rest des Hauses war sie klein und beengt, als hätte, wer auch immer die vorherigen Räume gestaltet hatte, vergessen, dass Menschen kochen müssen, und sie planlos reingeschoben. Alles war weiß gefliest – der Boden, die Rückwand –, besprenkelt mit Fugenkitt und Pastasoße, eine Fliese war durchzogen von Rissen in alle Richtungen, und eine schmale Kücheninsel war auf einer Seite mit noch mehr Wurfsendungen überhäuft, während die andere mit Gewürzdosen und einer leeren Ricottapackung bedeckt war.

»Ich hab das hier mitgebracht«, sagte ich und holte Davis’ guten Whiskey aus meiner übergroßen Handtasche und reichte ihn ihr. »Er ist zwar schon geöffnet, ich weiß, ein bisschen unschicklich, aber er ist gut – versprochen.«

Veras Augen leuchteten auf. »Oh, scheiß auf Schicklichkeit«, sagte sie. »Ich liebe Unschicklichkeit, wirklich. Das ist wunderbar. Ich werde nun selbst ein bisschen unschicklich sein und darauf bestehen, dass wir gleich jetzt ein Glas trinken.« Ohne meine Antwort abzuwarten, schubste sie die Wurfsendungen zur Seite und platzierte die Flasche auf der Kücheninsel, nahm drei Gläser aus einem verwitterten Schrank und holte mit bloßen Händen Eis aus dem Kühlfach. Als sie den Kühlschrank schloss, sah ich eine Tafel auf deren Vorderseite mit einer To-do-Liste, die derart anders war als meine, dass es verrückt war. Es gab nur einen Punkt: Rachel.

Vera schob mir ein Glas zu, schenkte großzügig ein, und ich nahm es dankbar an; ich versuchte, nicht zu eilig einen Schluck davon zu nehmen.

»John!«, rief sie noch einmal. Schritte dröhnten aus der Diele heran.

Er kam rein, und ich hustete, würgte, als mir ein bisschen Whiskey in die Luftröhre geriet.

Braunes Haar. Grau gefleckter Bart. Ein starkes, wie gemeißeltes Kinn. Ein rot kariertes, kurzärmeliges Hemd, das Handy in der Brusttasche. Und das Gefühl, das mich überkommen hatte, als ich das angehobene Dielenbrett bemerkt hatte. Das Gewicht in meinem Magen, das mir sagte, die Dinge seien nicht, wie sie schienen. Ob ruchlos oder harmlos, ich war ein Profi darin geworden, zu wissen, wann mehr hinter einer Sache steckte. Nicht durch den Journalismus, sondern durch Davis.

Ich blickte in das Gesicht des Mannes von den Fotos, keine Frage.

»Hallo«, sagte er, während er mich umarmte. Das traf mich so unerwartet, dass ich Whiskey über seinen Rücken verschüttete.

»Oje.« Ich zog mich zurück und wischte den Rand des Glases ab. »Das wollte ich nicht.«

Vera holte ein leinenes Küchenhandtuch und tupfte den Whiskey auf, fast wie aufs Stichwort. »John ist ein Umarmer«, sagte sie. »Ich hätte dich warnen sollen.« Sie lehnte sich vor, um ihren Mann zu küssen, doch sie verfehlte ihn knapp, sodass ihre Lippen auf seiner Wange landeten.

»Schuldig im Sinne der Anklage«, sagte John lachend. Seine Stimme war tief und kehlig, sie füllte den knappen Freiraum der kleinen Küche und erinnerte mich entfernt an die meines Vaters. »Wäre ein Handschlag besser?«

Ich nickte, als ich seine Hand drückte, die warm, rau war und mit Flecken übersät, die wie Farbe aussahen. »Ich umarme normalerweise auch gern, aber es hat mich einfach überrascht.«

Es ist nur so, dass fünf Fotos von dir in meiner Unterwäscheschublade versteckt waren.

Ich zeigte auf den Whiskey. »Bitte nimm dir einen, bevor ich tiefer in meine Umarmungsgeschichte eintauche.«

Beide lachten. Ein süßes Gefühl, eines, das ich lang nicht mehr gespürt hatte: wertgeschätzt zu werden von neuen Leuten.

Vera drückte John das dritte Glas in die Hand. »Auf die Nachbarn!«, rief sie.

»Und auf neue Freunde«, sagte John, eine Augenbraue hebend. »Besonders auf die, die uns guten Whiskey vorbeibringen.«

Ich hob mein Glas an den Mund, und wir tranken alle gleichzeitig.

 

Die Lasagne war hervorragend, Schichten aus Fleisch, Ricotta, Soße und Nudelplatten, wie meine Mom sie stets zubereitet hatte. Sie hatten keinen Salat dazu angeboten, hatten nicht so getan, als würden sie irgendetwas anderes machen als Pasta essen.

Vera schob sich eine ordentlich beladene Gabel in den Mund, während wir ihr versicherten, wie wunderbar das Essen war, Soße bekleckerte ihre Lippen. Vielleicht war das der Riss in ihrer Rüstung des perfekten Mädchens: Sie hatte nie gelernt, ordentlich zu essen.

Anders als Vera aß John vorsichtig, schnitt jede Nudelplatte in akkurate kleine Vierecke. »Vera hat mir erzählt, du kommst aus New York«, sagte er. »Lass mich raten – Brooklyn?«

»Ja«, sagte ich. »Wie kommst du drauf?«

»Dein Haar«, fiel Vera ein. »Total schick, aber widerspenstig. Ein typisches Brooklyn-Ding.« Sie schaufelte eine weitere Gabel mit Lasagne in ihren Mund, kaute heftig und schluckte schnell.

John lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wandte sich an Vera. »Lass mich das klarstellen: Es gibt einen Unterschied zwischen Manhattan-Haar und Brooklyn-Haar?«

Sie verdrehte ihre Augen. »Oh, als ob du das nicht wüsstest.«

Ich musste lächeln. »Sagen wir mal, bei einem davon ist normalerweise ein Glätteisen involviert.«

»Ganz genau«, meinte Vera lachend. »Und du musst es mir aus meinen totenstarren Händen winden. Wir sind auch aus New York. Wir waren nur nie cool genug, um in Brooklyn zu leben. Wir sind alte Muffelköppe aus dem East Village.« Sie strahlte. »Warum bist du weggezogen? Hast du hier Familie?«

Ich schüttelte den Kopf, die Augen auf meinen Teller gerichtet.

»Woher kommst du denn ursprünglich?«, fragte sie.

Ich nahm einen Schluck von dem Wein, den John geöffnet hatte, sobald wir uns gesetzt hatten. Abgesehen von meinen Ängsten gab es keinen Grund zu lügen. »Nordwestpazifik, aber ich fahr da nicht mehr oft hin.«

»Wohnt deine Familie dort?«, drängte Vera.

Ich schluckte, meine Kehle verengte sich ein bisschen.

John legte seine Hand auf Veras, als wollte er sie stoppen.

»Was?«, fragte sie.

»Dräng doch nicht so, V«, sagte er und drückte ihre Hand. Seine Stimme war freundlich, anders als die von Davis, wenn er mich korrigiert hatte. Seine Augen sprangen zu meinen, leicht zusammengezogen; irgendwie hatte er es gemerkt.

Vera wand ihre Hand unter seiner hervor. »Ich hab nicht gedrängt«, sagte sie. Ihre Gabel schlug gegen den Teller. »Moment. Hab ich?«

»Nein, nein, natürlich nicht«, sagte ich automatisch. Ich zeichnete mit dem Finger die Kante meines Tellers nach und atmete dann tief ein, wie ich es schon so oft getan hatte. »Es gab einen fürchterlichen Unfall während meines dritten College-Jahres«, sagte ich. »Ich verlor beide Elternteile. Ich war das einzige Kind, darum …«

Ihre Hand legte sich auf meine, warm und babyweich, aber ich zuckte bei ihrer Bewegung zusammen, und sie zog sie weg. »O nein, wie schrecklich«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht aufregen.«

Für eine Sekunde wurde das Loch in mir, da, wo meine Eltern sein sollten, so groß, dass es sich anfühlte, als bestände ich aus nichts, so leer wie eine weggeworfene Weinflasche: außen hart, nicht einfach zu zerbrechen, aber mit kaum mehr als Luft und der dreckigen Neige darinnen. Ich betupfte meine Augen mit der Serviette, vorsichtig darauf bedacht, nicht das Dermablend zu verwischen, dann zwang ich mich zu lachen. »Tut mir leid, ich weiß nicht einmal, warum ich weine.«

Ich erwartete die übliche Reaktion – o, es tut mir leid, dass ich das angesprochen habe, ich wollte nicht neugierig sein –, aber zu meiner Überraschung wurden Johns Augen trüb. Sein Gesicht sackte in sich zusammen, sah plötzlich viel älter aus. Vera biss sich auf die Lippe.

»Es wird nicht einfacher, nicht wahr?«, fragte er und griff erneut nach Veras Hand.

Ich sah ihn an und hoffte, er würde fortfahren.

Er räusperte sich. »Meine Eltern starben innerhalb eines Jahres. Lungenkrebs«, sagte er. »Mom, als ich sechsundzwanzig war. Dad, als ich siebenundzwanzig war.«

Ich schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts, denn ich wusste, es gab nicht ein einziges Wort, das ausreichen würde. Worte waren dazu da, um zu beschreiben, um zu erklären, nicht um Trost zu spenden.

»Ich bin nicht das einzige Kind, aber mein Bruder war erst neunzehn.« Johns Augen durchdrangen den Abgrund. »Er wurde schizophren, kam für Jahre in ein Heim.«

»Oje«, sagte ich zum zweiten Mal heute Abend.

Vera lachte gezwungen auf. »Willkommen in der Nachbarschaft. Wir wissen, wie man das Leben leichtnimmt.«

Johns Kopf drehte sich zu ihr. »Ernsthaft, wenn ich Vera nicht kennengelernt hätte, ich weiß nicht, was ich getan hätte.« Er griff mit der Hand herüber, verflocht seine Finger mit ihren.

Mein Innerstes schmerzte; vor nicht allzu langer Zeit hatte ich das Gleiche gedacht. Anfangs hatte sich Davis beinah wie ein Heiler angefühlt, als mein ganz persönlicher emotionaler Balsam. Er war die Familie, die ich verloren hatte, die unbedingte Liebe, die ich erflehte.

Oder zumindest dachte ich, er wäre das.

Vera entwand ihre Finger und knibbelte an ihrer Serviette. »Wir sind so froh, dass du hierhergezogen bist«, sagte sie und wechselte schnell das Thema. »Die Frau, die zuvor in deinem Haus gewohnt hat, nun, wir waren uns ziemlich nahe – ich vermute, das waren wir alle.« Ihre Augen suchten kurz die von John. »Sie ist mitten in die Stadt gezogen, aber schon vorher …« Vera faltete ihre Serviette zu einem festen kleinen Rechteck, dann schüttelte sie es wieder aus. »Egal, ich hatte befürchtet, der oder die neue Bewohnerin würde nicht cool sein, aber sieh an.« Sie lächelte. »Jetzt bist du hier.« Ich merkte, wie ich rot wurde.

»Wollen wir in den Pavillon hinten gehen?«, fragte John, sich räuspernd und seinen Teller wegschiebend. »Wir haben immer noch eine halbe Flasche Wein, um unsere Sorgen wegzutrinken, und es ist nicht zu heiß draußen.«

»Lasst uns das machen«, sagte Vera mit heller Stimme. »Und ich verspreche, keine tiefgründigen Fragen mehr zu stellen.«

»Ich werde dich daran erinnern, V«, sagte John.

Da ich keinen Widerspruch erhob, schob John seinen Stuhl zurück, warf seine Serviette auf den Teller und stand auf.

»Dann wart ihr also mit meiner Vormieterin ebenfalls befreundet?«, fragte ich, als wir uns durch den Flur zum Wohnzimmer zwängten.

»Rachel?«, fragte er, der Name von der Tafel fiel an seinen Platz wie Eiswürfel in Whiskey. »Klar waren wir Freunde«, sagte er. »Sie war meine Nachbarin, genau wie du.«

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5

Unter den Lichterketten des Pavillons lebten die beiden geradezu auf.

John wirkte auffällig markant, der Kiefer stark, die Augen hell. An ihn geschmiegt, war Vera eine Sirene. Eine Hexengöttin, ihr Haar fiel ihr jetzt ungebunden über die Schultern.

Sie beide waren nicht einfach schön. Sie waren diese Art Menschen, die dich dazu bringen, dich wie in die Highschool zurückversetzt zu fühlen, sie nahmen alles, was du dich seit deinem sechzehnten Geburtstag mühsam über Körperakzeptanz und Selbstliebe gelehrt hast, und schickten es direkt in die Hölle. Du kannst so schön sein, wie du es dir einreden willst, aber du wirst niemals so sein wie sie. Fröhlich, unbeschwert, verliebt. Die Art von Menschen, von denen du unbedingt gemocht werden willst.

Vera und John können sehr charmant sein. Aber sie denken nur an sich selbst.

Vera klopfte auf den Platz neben sich, und ich setzte mich hin wie angewiesen, hielt mich an meinem Glas fest.

»Was hat euch beide hergebracht?«, fragte ich.

Vera lächelte, und die beiden tauschten einen konspirativen Blick, als wäre es ihnen ein Vergnügen, ihre Geschichte zu erzählen, Kapitel eins ihres gemeinsamen Lebens. »Wir wollten immer eine Kunstgalerie eröffnen«, sagte Vera. »Aber wir konnten uns keine Räumlichkeit in New York leisten, darum haben wir uns irgendwann entschieden: Lass uns hierherkommen! Ich kümmere mich um die laufenden Geschäfte – ich habe Kunstmanagement am Pratt Institute studiert –, und John malt in seinem Häuschen-Schrägstrich-Studio in den Wäldern. Ich stelle seine Sachen aus, ebenso wie anderes.«

»Wow«, sagte ich. »Das klingt so idealistisch. Wie etwas, wovon Leute immer reden, es aber nie tun.«

Veras Lächeln wurde zögerlich, nur für einen winzigen Moment, und ich fragte mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte.

»Ich bin mir sicher, es ist trotzdem schwer, New York zu verlassen«, fügte ich hinzu. »Neu anfangen und all das.«

Sie wechselten einen Blick, und John nahm einen ziemlich großen Schluck von seinem Wein.

Vera seufzte. »Das ist es, ja. Es kann schwierig sein, Leute kennenzulernen. Es gibt die Wochenendpendler, die in New York City und auf dem Land leben, und es gibt die Leute, die hier geboren und aufgewachsen sind. Mit denen, die dazwischen sind, so wie wir, passen wir nicht immer gut zusammen. Es ist ein bisschen einfacher, wenn du mitten in der Innenstadt von Woodstock lebst, aber schon ein paar Meilen weiter außerhalb ist es ganz anders. Als wir hergezogen sind, waren wir die Einzigen, die nicht in der Gegend aufgewachsen sind. Die Nachbarn wurden nicht richtig warm mit uns«, sagte sie.

Maggie kam mir in den Sinn. Es war nicht weit hergeholt, sich vorzustellen, dass eine Frau von hier, die in ihren Gewohnheiten festgefahren war, ein Paar aus Manhattan selbstbezogen findet. Vielleicht war das alles, was dahintersteckte.

Ich nahm einen Schluck Wein, suchte verzweifelt nach einem Weg, zurück auf sicheren Boden zu finden. »Gibt es Orte, die ich kennen sollte? Gute Restaurants? Bars?«

»Bars!«, sagte Vera lachend. »Ich sage es nur ungern, aber die Barszene hier in der Gegend ist wirklich unzureichend. Nichts, was du aus New York gewohnt bist. Kaum irgendetwas hat spät auf in Woodstock.«

»Es gibt die Plattform«, schlug John vor.

»Plattform?«

Er nickte. »Das ist tatsächlich ziemlich interessant. Viereckig. In einem alten umgebauten Bahnhof, mitten in der Innenstadt. Geöffnet bis zwei Uhr morgens, anders als die anderen Orte, die eher Restaurants mit Barbetrieb sind, so etwas, wo jeder hier in dieser Gegend hinkann.«

Ich machte mir eine geistige Notiz. »Seid ihr da öfter?«

Vera lachte, aber für eine Sekunde klang es fast bitter, und ihr Blick suchte den von John.

»Früher schon«, sagte er vorsichtig. »Aber, weißt du, wir werden älter. Gehören nicht zur Szene dazu.«

Ich lachte. »Ihr seid doch nicht alt.«

Vera biss sich auf die Lippe. »Ich bin neununddreißig.«

»Und ich bin gerade vierzig geworden«, fügte John hinzu.

»Oh, kommt schon, das ist nicht alt«, sagte ich.

Vera stupste ihren Mann an. »Sagt das Mädchen Mitte zwanzig.«

»Ich bin achtundzwanzig«, sagte ich und merkte, wie ich rot wurde. Vielleicht sah Vera das im trüben Licht.

»Nein, nein«, sagte sie. »Versteh mich nicht falsch. Du wirkst nicht übermäßig jung oder naiv oder so, nur, ich weiß nicht … liebenswert.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß, dass wir nicht so alt sind, aber manchmal fühlt es sich so an. Egal, der Hauptgrund, warum wir nicht mehr so oft ausgehen, ist, dass wir versuchen, aufs Geld zu achten. John hat bislang nicht van-goght, darum bringen uns seine Bilder nicht so viel ein. Und erst kürzlich mussten wir unseren Assistenten in der Galerie entlassen und die Kosten reduzieren.«

»Van-goght?«

John grinste verwegen und wandte sich Vera zu. »Ich dachte, wir wären uns darüber einig, unsere Pläne über mein bevorstehendes Ableben nicht mehr mit unseren Gästen zu diskutieren. Mein Gott, Lucy hat uns gerade erst kennengelernt.« Er hob eine Augenbraue. »Die Sache ist die: Da meine Teilnahme an der Whitney Biennial sich nicht so bezahlt gemacht hat, wie ich gehofft hatte, haben wir angefangen, Witze darüber zu machen, dass ich verschwinden könnte, du weißt schon, ins Nichts abtauchen und bekannt werden.«

Ich lehnte mich ein wenig vor. Über das Untertauchenwollen wusste ich das eine oder andere. Einfach ins Nichts entschwinden, wo Davis mich niemals finden konnte. Nicht den kleinsten Beweis meiner Existenz zurücklassen. Keine kaputte Beziehung. Keine verlorenen Eltern. Nichts, weshalb mich irgendjemand bedauern müsste.

»Ich habe mal ein Buch darüber gelesen«, fuhr John fort, er lehnte sich zurück und entspannte die Schultern, während er einen Schluck Wein trank. »Ein schwedischer Künstler hatte seinen Tod vorgetäuscht, damit sein Werk im Preis stieg. Und, glaub’s mir oder nicht, es hat funktioniert – so zehn Jahre lang zumindest. Wir haben angefangen, das van-goghen zu nennen. Er war zu Lebzeiten nicht berühmt, aber nach seinem Tod – du verstehst schon. Allerdings habe ich keine Lust, mir ein Ohr abzuschneiden.«

»Tja, auf jeden Fall würde es mein Leben sehr viel einfacher machen«, sagte Vera strahlend. »Ich hätte einen Star in meinem Portfolio.«

John drückte ihr Knie. »Der Porsche kauft sich nicht von allein, was, V?«

Sie drehte sich zu mir mit einem diabolischen Grinsen. »Wir lieben Kunst, aber Geld lieben wir noch mehr.«

Ich lachte, ihre Worte waren erfrischend. Eine ehrliche, hartherzige Liebe zum Geld, nicht dieser protestantische Mittelschichtsmist, der uns dazu zwingt, so zu tun, als würde es nicht die Welt regieren.

Meine Mom würde sich schütteln