Nächster Halt Liebe - Leah Konen - E-Book

Nächster Halt Liebe E-Book

Leah Konen

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Beschreibung

Ammy ist auf dem Weg zur zweiten Hochzeit ihres Vaters. Und das, obwohl sie noch nicht mal an die wahre Liebe glaubt - dafür hat die Scheidung ihrer Eltern im vergangenen Jahr gesorgt. Im Zug begegnet sie Noah, den sie auf Anhieb nervig findet. Noah ist ein hoffnungsloser Romantiker, der nach Hause fährt, um seine erste Liebe zurückzugewinnen. Als der Zug mitten im Schneegestöber zum Stehen kommt, bleibt Ammy nichts anderes übrig, als sich mit Noah zusammenzutun. Denn sie haben ein gemeinsames Ziel: rechtzeitig nach Hause zu kommen. Ein abenteuerlicher Road-Trip beginnt, und Ammy erkennt, dass es die große Liebe vielleicht doch gibt.

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Seitenzahl: 342

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Leah Konen

Nächster Halt Liebe

Aus dem amerikanischen Englisch von Maren Illinger

© by Arctis Verlag

Ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich, 2022

Alle Rechte vorbehalten

© Leah Konen 2018

 

Übersetzung: Maren Illinger

Covergestaltung: zero-media.net unter Verwendung der Fotos von Alamy Stock Photo/© Elena Vagengeym (Pärchen), FinePic® (alle weiteren Motive)

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-118-4

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

 

Für meine Schwester Kimberly, meine erste Leserin und mein erster Fan

Erster TeilDer Zug

Ammy

11:23

Zugfahren ist längst nicht so romantisch, wie ich es mir vorgestellt habe.

Eigentlich bin ich nicht besonders fantasievoll veranlagt, aber hey, man spricht schließlich auch von Eisenbahn-Romantik! Ich hatte mir ausgemalt, dass silberne Getränkewagen den Gang entlangrollen, dass die Leute aus dem Fenster schauen und die vorbeiziehende Landschaft betrachten, dass Zeitungen ausgebreitet werden und der Schaffner eine vornehme Mütze trägt. Frauen in Kleidern und Seidenstrümpfen und Männer in dunklen Anzügen.

Ich habe wohl zu viele Filme geschaut.

Dabei weiß ich eigentlich längst, dass nichts so ist wie im Film. Erst recht seit dem letzten Jahr.

Ich sitze im Amtrak, einem Zug, der aussieht wie eine silberne Gewehrpatrone, sich allerdings überhaupt nicht so bewegt, und fahre die Ostküste hinauf. Die Sitzbezüge sind aus kratzigem blauem Polyester, haben ein Muster, das garantiert vor meiner Geburt entworfen wurde, und es ist kein einziger Getränkewagen in Sicht. Ich habe auch noch nicht herausgefunden, wo man hier etwas zu essen bekommt, obwohl ich schon drei Waggons weitergegangen bin.

Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich tausend verschiedene Grautöne. Kahle Flächen und verkümmertes Gras. Betonblöcke und Fabriken, die aus einem Roman von Dickens stammen könnten – dabei ist Dickens überhaupt nicht mein Fall. Ein industrielles Niemandsland. Ich lege die Hand an die Fensterscheibe. Sie ist feucht und eiskalt, im Gegensatz zu der Hitze hier drin.

Der Zug ist voll. Auf der anderen Gangseite sitzt ein etwas verwahrloster Typ, der zwar aussieht, als würde er schon seit längerer Zeit nicht mehr arbeiten, der aber immer noch Jackett, Anzughose und Krawatte trägt. Etwa so, wie Miss Havisham, die sitzen gelassene Braut in Dickens’ Große Erwartungen, sich weigerte, ihr Hochzeitskleid auszuziehen. Auf dem weißen Hemd unter seinem zerknitterten Jackett zeichnet sich Schweiß ab.

Frauen in Kleidern und Seidenstrümpfen, wie man sie in alten Filmen sieht, kann man hier lange suchen. Fast alle sind angezogen wie ich – Jeans, dicker Pullover und eine Menge Schals, Mützen und Handschuhe, eine Ausrüstung, die für die Kälte draußen, aber nicht für die Hitze hier drinnen geeignet ist.

Alle stieren auf ihre Handys oder Tablets, und obwohl der Schaffner tatsächlich eine coole Mütze trägt, hat er eine ziemlich ruppige Art »Fahrkarte, bitte!« zu sagen, die keinen Zweifel daran lässt, dass er überall lieber wäre als hier. Diese Zugfahrt ist also alles andere als malerisch oder romantisch. Aber das Ganze war ja sowieso ein blöder Spontaneinfall.

Mein Handy klingelt. Ich stehe auf, um es aus meiner Tasche oben auf der Gepäckablage zu holen, und stoße mir fast den Kopf an. Mit meinen eins fünfundsiebzig bin ich so groß, dass es hier eng wird. Meine rote Ledertasche, ein Geburtstagsgeschenk von Dad, das per Express von Hudson drei Tage nach meinem Geburtstag ankam, klemmt zwischen meinem großen Rollkoffer und drei oder vier glänzenden Plastiktüten mit der Aufschrift »Century 21«. Ich ziehe mit beiden Händen daran, wodurch auch mein Koffer mit nach vorn rutscht. Meine Tasche fällt auf den Boden, aber immerhin gelingt es mir, den Koffer aufzufangen, bevor er jemanden erschlägt.

Der mittelalte Mann eine Sitzreihe weiter mustert mich, als wäre ich das größte Trampeltier des Planeten. Seine Frau starrt auf die Plastiktüten, voller Panik, ich könnte deren Inhalt ruinieren. Sorry, aber das ist mir gerade ziemlich egal. Wenn sie die Ablage nicht so vollgestopft hätten, hätte ich ein bisschen mehr Platz zum Rangieren.

Mein Handy verstummt, während ich immer noch mit dem Koffer kämpfe, der nicht mehr auf die Ablage passt, weil die Plastiktüten zur Seite gekippt sind. Also verstaue ich ihn auf dem freien Platz neben mir, auch wenn man das vermutlich nicht darf, aber die Fahrt dauert fünf Stunden, von denen erst drei herum sind, und ich habe ehrlich gesagt keine große Lust, beim nächsten Halt einen mitteilungsbedürftigen Sitznachbarn zu bekommen.

Ich setze mich wieder und beuge mich vor, um meine Tasche vom Boden aufzuheben, als mein Handy erneut anfängt zu klingeln.

»Gehst du da jetzt endlich mal dran?«, zischt die Frau vor mir. Weiß Gott, was die in diesen Tüten hat, dass sie so angespannt ist. Oder sind alle New Yorker so?

Ich zucke nur mit den Schultern, während ich mein Handy aus der Tasche fische. Alle hier scheinen viel besser zu wissen als ich, wie Zugfahren funktioniert.

Aber dafür kann ich nichts. Dieser Trip war nicht meine Idee. Bevor ich gestern Abend mit Kat, der Beinahe-Stieftochter meines Vaters, telefoniert habe, hatte ich mich eigentlich schon hundertprozentig dagegen entschieden. Und zwar seit Monaten.

Komm schon. Verbring die Woche bei uns. Es wird dir leidtun, wenn du nicht kommst. Es wird ganz leicht.

Aber es ist nicht leicht, nicht im Geringsten.

Während mein Handy immer weiterklingelt, wühle ich panisch in den Büchern und dem Krimskrams herum, den ich heute Morgen in die Tasche gestopft habe. Meine Schultern verspannen sich, und ich warte nur darauf, dass die Frau vor mir noch einen bissigen Kommentar macht. Endlich finde ich das Handy zwischen Madame Bovary und Naokos Lächeln. Wie erwartet ist es Kat. Sie ist der einzige Mensch in unserem Alter, der lieber anruft, statt eine Nachricht zu schreiben.

»Hallo«, sage ich und spüre augenblicklich, wie mein Puls hochgeht.

Nicht sie macht mich nervös, sondern die ganze Situation.

Dieses Gefühl sollte der Gedanke an Familie eigentlich nicht auslösen. Aber Familien sollten so viele Dinge nicht tun oder sein, die sie, wie ich im letzten Jahr feststellen musste, eben doch tun und sind.

»Sag mir, dass du wirklich im Zug sitzt!« Wie üblich ist ihre Stimme so übersprudelnd wie die einer notorisch aufgedrehten Tussi mit ein paar Kaffee zu viel intus.

»Ja, ich sitze im Zug«, bestätige ich. Die Frau vor mir fährt schon wieder herum, als würde ich zu laut sprechen, dabei ist meine Lautstärke ganz normal.

Kat quiekt, und ich halte instinktiv das Handy auf Abstand. »O mein Gott!«, jubelt sie. »Ich bin ja so aufgeregt. Du wirst mich buchstäblich vor diesem Katastrophentag retten!«

Normalerweise würde ich ihr jetzt den Unterschied zwischen buchstäblichem und übertragenem Sinn erklären, aber dann fallen mir Moms Worte von heute Morgen wieder ein.

Wie kannst du mich ausgerechnet heute alleinlassen?

Von welchen »Katastrophen« Kat auch immer spricht, was auch immer mit Sophies Kleid oder Beas Frisur schiefgeht, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich in den letzten 24 Stunden mitgemacht habe.

»Du weißt aber schon, dass ich meinem Dad und deiner Mom garantiert nicht zujubeln werde, ja?«

»Ich weiß«, erwidert sie. »Schon klar. Ich auch nicht. Aber dein Dad wird sich so freuen. Er war die ganze Woche richtig deprimiert. Er vermisst dich.«

Ich verdrehe die Augen und stoße ein bitteres Lachen aus. Na klar doch. Ich bin gerade zweifellos das Thema Nummer eins in seinem Kopf. Bestimmt kann er die ganze Zeit nur Ammy, Ammy, Ammy denken. Welcher Vater würde nicht an seine Tochter denken, die er verlassen hat, um eine zehn Jahre jüngere Hot-Yoga-Lehrerin zu heiraten?

Ich bin für ihn doch nur eine Fußnote in seinem neuen Leben, die ihn an sein altes erinnert. Außerdem habe ich überhaupt erst durch Kat von dieser blöden Zeremonie erfahren, und nicht durch ihn.

Kat wartet meine Antwort nicht ab. »Wann kommst du an?«

»Um halb zwei«, sage ich. »Du holst mich doch ab, oder?«

»Natürlich«, erwidert Kat. »Hudson Station?«

»Ja.«

»Perfekt«, sagt sie. »Ich hab es übrigens Bea gesagt, aber sonst niemandem.«

Ich seufze. »Du hattest versprochen, es überhaupt niemandem zu sagen. Es sollte eine Überraschung sein.«

Ich höre quasi durchs Handy, wie Kat die Augen verdreht. »Sie ist meine Schwester. Und deine zukünftige Stiefschwester. Sie wird nichts ausplaudern. Außerdem freut sie sich total.«

Kats Worte treffen mich unerwartet heftig. Zukünftige Stiefschwester. Das Ganze wird wirklich passieren. Bea und Kat in schicken Kleidern. Sophie, meine zukünftige Stiefmutter, in irgendeinem eierschalenfarbenen Boho-Fummel. Mein Dad, der seine Liebe zu einer Frau beteuert, die nicht meine Mom ist.

Mein Blick huscht zur Zugtür vor mir, und kurz wünsche ich mir, ich könnte die Notbremse ziehen und dem Zugführer sagen, er solle umdrehen und mich zurück nach Virginia bringen, damit ich meine Mom umarmen und ihr sagen kann, dass es mir leidtut und dass ich immer zu ihr halten werde, was auch passiert.

Aber gleichzeitig weiß ich, dass das nichts ändern würde. Nach unserem Streit gestern Abend ist mir erst so richtig bewusst geworden, dass das, was Mom und ich hatten, längst verloren ist.

»Na ja, jedenfalls freue ich mich, dich und Bea zu sehen«, murmele ich schließlich.

»Okay, ich muss jetzt Mom mit ihrem Kleid helfen. Bis später!«

Und in typischer Kat-Manier legt sie auf, bevor ich etwas erwidern kann.

Ich starre mein Handy an und wünsche mir, ich hätte noch eine Weile mit ihr reden und ihr von meiner Angst erzählen können, dass meine Mom mir diese Aktion nicht verzeiht und dass mein Dad mich nicht mal wirklich dabeihaben will, weil seine neue Familie ihm reicht.

Ich schüttele den Kopf, um die Gedanken wegzuschieben, und ignoriere den Chat mit meiner Mom, den ich zum Schutz meiner geistigen Gesundheit vor einer Stunde stumm geschaltet habe.

Stattdessen springe ich zwischen den sozialen Netzwerken hin und her und scrolle durch Fotos von Leuten, die im Kreise ihrer Liebsten weihnachtliche Familiendinge tun. Von Dara und ihrem Bruder, die in den Flieger nach L.A. steigen. Vom schlausten Mädchen der Schule, das mit seinen Eltern auf der Rückreise von South Carolina ist. Ich spüre den vertrauten Stich der Eifersucht, wie immer, wenn ich eine auch nur halbwegs intakte Familie sehe, und beiße mir auf die Unterlippe.

Tief im Inneren weiß ich, dass mein Dad sich freuen wird, mich zu sehen. Er will, dass ich dabei bin. Zumindest hat er das letzten Monat am Telefon gesagt. Aber ich weiß, dass er es auch überlebt hätte, wenn ich nicht gekommen wäre. Ich bin nicht mehr seine einzige Tochter. Und Mom gehört überhaupt nicht mehr zu seiner Familie. Wir stehen an zweiter Stelle. Und das tut weh.

Ich schaue aus dem Fenster, um mich mit der hässlichen Industrielandschaft abzulenken, aber es ist plötzlich stockdunkel, und ich sehe nur Graffitispuren an Tunnelwänden.

Wir müssen die Penn Station erreicht haben, ohne dass ich es bemerkt habe. Ich lehne den Kopf an die Scheibe und blende das Geräusch der sich öffnenden Türen und hereinpolternden Schritte aus.

Ich will schlafen, bis ich da bin, mir keine Gedanken mehr über diese ganze Sache machen. Ich will, dass dieser blöde Tag vorbei ist und ich in Kats Zimmer sitzen kann, um alte Folgen von Friends zu gucken und zu überlegen, in welche überteuerte Restaurantkette wir zum Brunch gehen.

Ich habe die Augen geschlossen, als ich eine Stimme höre, eindringlich und ungeduldig.

»Entschuldigung.«

Und wieder, bevor ich mich überhaupt umdrehen kann:

»Entschuldigung! Ist der Platz noch frei?«

Noah

11:29

Man merkt immer, wenn jemand zum ersten Mal mit dem Zug fährt. Normalerweise versuche ich, den Neulingen zu helfen. Ich erkläre ihnen, dass man auf den Knopf drücken muss, damit sich die Türen zwischen den Waggons öffnen, zeige ihnen, wo der Speisewagen ist, und warne sie vor dem Hähnchen-Sandwich. Aber heute bin ich dafür viel zu nervös. Ich muss die ganze Zeit an Rina denken.

Für die Mittagszeit ist der Zug ungewöhnlich voll, es ist ja eigentlich keine Zeit für Pendler. Vermutlich haben immer noch viele Leute frei, so wie ich, obwohl schon der 3. Januar ist.

Das Mädchen sieht aus, als würde es schlafen. Die Feuchtigkeit der Fensterscheibe hat ihre kurzen dunkelbraunen Haare platt gedrückt.

Ich zeige auf ihren Koffer, das eindeutige Indiz. Daran erkennt man jeden Anfänger. »Der Zug ist voll. Der Koffer muss da weg.«

»Oh«, sagt sie. »Klar.«

Sie steht auf und stößt sich beinahe den Kopf an der Gepäckablage. Dann wuchtet sie den Koffer nach oben.

Ich lege die Blumen auf den freien Platz und helfe ihr. Ihre Haare duften ganz leicht nach Minze.

»Es geht schon«, sagt sie scharf. Sie gibt dem Koffer einen Stoß, und er gleitet auf die Ablage.

»Danke«, sage ich. »Sind das deine?«, frage ich dann und zeige auf die drei Century-21-Tüten.

Sie schüttelt den Kopf, was mich nicht überrascht, weil sie nicht wie eine aussieht, die Wert auf Designerklamotten legt. Ich lehne mich über sie und schiebe die Tüten zur Seite. Die Frau vor mir schaut mich giftig an. Ich hieve meinen Rucksack nach oben, nehme die Blumen und setze mich.

Das Mädchen wirft einen Blick auf den Strauß in meiner Hand, sagt aber nichts.

Ich begutachte die Blüten. Zwei sind ein bisschen zerdrückt.

Ob Rina das merkt? Ja.

Ob es sie stört? Hoffentlich nicht.

Das Mädchen hält seine Fahrkarte in der Hand. Sie trägt einen dicken, waldgrünen Oversize-Pulli und ausgewaschene Jeans. Wahrscheinlich will sie sich das College in Bard anschauen, die Kunsthochschule in der Nähe meiner Heimatstadt.

Rina hat immer über die Bard-Studenten gelästert, die in das Restaurant kamen, in dem sie vorletzten Sommer gearbeitet hat. Sie meinte, die hielten sich alle für so einzigartig wie Schneeflocken und redeten die ganze Zeit über Triggerwarnungen und anderen Blödsinn. Sie hat den ultraliberalen, gefühlsbetonten Stil der Schule immer gehasst.

Die Leute dagegen, die aus New York City hochkamen, liebte sie. Deshalb habe ich letztes Jahr das Hunter College in New York City auf meine Liste gesetzt. Und deshalb habe ich mich schließlich auch dafür entschieden. Obwohl mich die Studenten aus Bard nie gestört haben.

Rina ist im Herzen ein Stadtmädchen, auch wenn sie auf dem Land aufgewachsen ist. Sie hat so eine Ich-lass-mir-nix-gefallen-Art, die perfekt nach New York passt. Sie liebt es, ihren Vater dort zu besuchen, sich auf der Suche nach billigen Handtaschen und klebrigen Baozi in Chinatown zu verirren, mit dem Citi Bike zum Prospect Park zu fahren. Und mich durch Century 21 zu schleifen und sich die Taschen mit billigen Designerschnäppchen zu füllen, in denen sie, zugegeben, großartig aussieht.

Sie hat mich begleitet, als ich mir das Hunter College angeschaut habe, weil meine Eltern zu der Zeit nur mit sich selbst beschäftigt waren. Sie hat mich davon überzeugt, dass das Leben an der Upper East Side von Manhattan ziemlich cool sein kann.

Ich streiche eine der Blüten glatt, damit sie nicht mehr ganz so zerknittert aussieht, überprüfe das Ergebnis und hoffe, dass es gut genug ist.

Ich werfe einen Blick auf meine Sitznachbarin, die jetzt Murakami liest. Sie passt definitiv nach Bard.

Ich glaube, Rina hatte vor allem deshalb ein Problem mit Bard, weil es so nah an zu Hause ist. Der Sprung wäre ihr nicht groß genug gewesen.

Abgesehen von den hohen Studiengebühren hätte ich es in Ordnung gefunden, in der Nähe zu bleiben, wenn Rina nicht gewesen wäre. Im Gegensatz zu mir braucht Rina Abenteuer. Wenn sie die Möglichkeit hätte, in New York zu wohnen, würde sie die Stadt innerhalb kürzester Zeit besser kennen als ich. Sie ist der Typ Mensch, der in eine unbekannte Straße einbiegt und kein einziges Mal zurückblickt.

Ich hingegen blicke ständig zurück. So habe ich sie auch verloren. Aber das werde ich jetzt wiedergutmachen. Ich werde mich – oder uns – nicht mehr infrage stellen.

Ich klemme die Blumen in die Tasche vor meinem Sitz und ziehe meine Jacke aus. Dann schaue ich mich um. Ein paar Reihen weiter sitzt ein Typ in einem Anzug, der schon bessere Tage gesehen hat, und tippt auf einem urzeitlichen Laptop herum.

Ich ziehe meine Umhängetasche, die ich immer für die Uni nehme, auf den Schoß und hole meinen E-Reader heraus. Mittlerweile habe ich die Reise von meinem schäbigen, überfüllten Wohnheim in der Stadt zu der Ranch meiner Eltern in Lorenz Park schon dreimal gemacht. Aber immer, um meine Familie zu besuchen. Um die Herbstferien zu Hause zu verbringen. Meine Wäsche zu waschen. Eine Tupperdose mit meinem Lieblingsessen für das Tiefkühlfach im Wohnheim mitzunehmen. Was man im ersten Collegejahr eben so macht.

Ich versuche, mich auf die Worte auf dem Display zu konzentrieren, aber sie verschwimmen vor meinen Augen und vermischen sich wie Buchstabensuppe. Rina geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Das Mädchen neben mir scheint sich auch nicht konzentrieren zu können. Sie hat einen Finger zwischen die Seiten ihres Murakami gelegt, rutscht auf ihrem Sitz herum und seufzt.

Sie versucht erfolglos, das Beste aus dem winzigen Abstand zwischen ihren Knien und dem Sitz vor ihr zu machen.

Sie bemerkt meinen Blick und schaut schnell weg.

»Nicht so romantisch, wie du es dir vorgestellt hast, was?«, frage ich.

Sie hört mit dem Herumrutschen auf und sieht mich an. »Wie bitte?«

Es sollte nur ein Witz sein. Als ich das erste Mal mit dem Zug gefahren bin, war ich enttäuscht von den unbequemen Sitzen und dem abgestandenen Schweißgeruch.

Aber so scheint sie es nicht verstanden zu haben.

Wahrscheinlich sollte ich einfach »Vergiss es« sagen und weiterlesen.

Aber die Vorstellung, mich die nächsten zwei Stunden zu fragen, wie Rina auf mein Erscheinen reagieren wird, ist plötzlich unerträglich.

»Fährst du zum ersten Mal mit dem Amtrak?«, frage ich und gebe mir Mühe, fröhlich zu klingen.

Sie beißt sich auf die Unterlippe und verschränkt die Arme. Ihre Augen sind groß und stehen weit auseinander, und ihr Kinn ist spitz wie ein zorniges Herz. Sie ist kantig, überall da, wo Rina es nicht ist, Rina mit ihren blonden Locken, ihrem runden Gesicht und ihrer Art, die Unterlippe vorzuschieben, wenn sie etwas will.

»Was geht dich das an?«, fragt sie.

Ich lache. Sie scheint zu versuchen, die New Yorkerin raushängen zu lassen, obwohl ihr Vorstadtakzent auf etwas anderes schließen lässt.

»Sorry«, sage ich. »Ich wollte nur Konversation betreiben.«

Sie verdreht die Augen und wendet sich ab.

Dann eben nicht.

Ich schaue wieder auf meinen E-Reader, aber ich kann mich immer noch nicht konzentrieren, also klemme ich ihn in die Tasche vor mir neben die Blumen und nehme mein Handy.

Ich will Rina schreiben. Unbedingt. Ich will endlich wieder mit ihr sprechen.

Bleibt nur das Problem, dass ich nicht weiß, was ich schreiben soll:

Hey, ich will heute Abend vorbeikommen und dich zurückerobern. Bist du da?

Wie gehts dir? Haben uns ganz schön lange nicht gehört!

Denkst du manchmal an mich? Ich denke die GANZE Zeit an dich.

Egal, was ich schreibe, es würde einfach nur lächerlich klingen. Ich muss persönlich mit ihr sprechen. Ich muss mich an meinen Plan halten.

Ich würde sie so gerne auf Facebook oder Instagram stalken. Mich vergewissern, dass sie keinen neuen Freund hat, obwohl Danny erzählt hat, dass Cassie gesagt hat, dass sie keinen hat. Ich würde so gerne ein paar aktuelle Fotos von ihr sehen, aber sie hat mich letztes Jahr blockiert, nachdem wir Schluss gemacht hatten. Rina schätzt glatte Brüche. Das kann ich ihr wohl nicht vorwerfen.

Angeblich hat Cassie auch gesagt, dass sie glaubt, dass Rina mich manchmal vermisst.

Ich checke meinen Newsfeed und sehe ein Selfie meiner Eltern auf dem Kreuzfahrtschiff mit den Bermudainseln im Hintergrund. Ich habe wirklich versucht, der ganzen Sache positiv gegenüberzustehen, aber ehrlich gesagt bin ich immer noch sauer, dass sie mich dieses Jahr über Weihnachten alleingelassen haben.

Nicht, dass mir Weihnachten so wichtig wäre. Wir sind Juden, es ist also keine große Sache für uns. Trotzdem habe ich unseren kümmerlichen Plastikbaum und das Lametta immer gemocht. Natürlich bin ich froh, dass mein Dad wieder bei uns eingezogen ist und meine Eltern ihre Trennung auf Probe für beendet erklärt haben, aber so süß ihre Wiedervereinigung auch ist, weiß ich nicht, ob diese »Liebeskreuzfahrt« unbedingt nötig war. Zumindest nicht gleich für zwei Wochen. Ich werde schon nervös beim Gedanken daran, was das kostet! Das Geld war schon im letzten Semester knapp, trotz meines kleinen Stipendiums, meines Teilzeitjobs und des Studienkredits. Wenn sie mir dieses Jahr nicht wieder ein bisschen was für die Bücher und das Wohnheim dazugeben können, wird es eng.

Aber wenigstens war ich während der Feiertage nicht ganz allein. Ich konnte ein paar Tage bei meinem Mitbewohner Alex in dem gigantischen Loft seiner Eltern verbringen. Es war cool, mal die schicke Seite der Stadt zu erleben. Am Weihnachtsmorgen gab es Lachs mit Kapern, und am Weihnachtsabend Hummer und Muscheln.

Trotzdem wäre ich lieber in Lorenz Park gewesen, bei meiner Familie, mit der ich Geschenke unterm Weihnachtsbaum ausgepackt und eine große Fuhre chinesisches Essen bestellt hätte.

Und bei Rina.

Ich schaue kurz aus dem Fenster auf die kleiner werdende Skyline, die dem hässlichen vorstädtischen Gebiet von Yonkers weicht.

Vermutlich sollte ich mich bei meinen Eltern bedanken. Ihre Reise hat mir klargemacht, wie sehr ich Rina vermisse. Ihre Reise hat mir gezeigt, dass Menschen sich trennen und wieder zueinanderfinden können, wenn sie sich wirklich lieben.

Ich scrolle weiter durch meinen Newsfeed, entdecke aber nichts Interessantes. Also hole ich meinen E-Reader wieder hervor, weil ich sonst nichts zu tun habe.

»Verdammt«, murmele ich. Der Akku ist leer.

Das Mädchen dreht sich zu mir und grinst mich überlegen an.

»Tja, das ist der Vorteil von echten Büchern: Sie brauchen keine Batterien.«

Ammy

11:54

Der Typ schaut mich mit dem dümmlichen Blick an, der für attraktive Jungs so typisch ist. Als hätten sie sich schon ihr ganzes Leben lang auf ihre ultrasymmetrischen, massenkompatiblen Gesichter verlassen und deshalb nie einen sozialverträglichen Gesichtsausdruck erlernen müssen. Ich kann nicht sagen, ob er überrascht ist oder sauer, aber es ist mir auch egal. Ich musste schließlich irgendwas erwidern auf seinen (sexistischen) Spruch, dass ich nicht das romantische Abenteuer bekomme, das ich erwartet habe, was mich, offen gestanden, umso wütender gemacht hat, da es voll und ganz zutrifft.

Aber das muss er ja nicht wissen.

Ich rutsche auf meinem kratzigen Sitz herum und schaue aus dem Fenster. Das industrielle Niemandsland ist von kahlen Bäumen und einem blassgrauen Himmel abgelöst worden, hier und da stehen hässliche, graffitibeschmierte Betonklötze herum. Die Idylle auf dem Land haben wir wohl noch nicht erreicht, aber wenigstens gibt es einen Fluss, und wenn ich den Hals recke, kann ich im Hintergrund die Skyline von New York sehen, die wirklich ziemlich beeindruckend ist.

Dann sehe ich wieder den Typen an, der mich immer noch verständnislos anstarrt. Seine Haut ist olivbraun, und seine Haare sind lockig. Er trägt dunkelblaue Jeans und ein Trikot der Pittsburgh Steelers. Seine orangefarbene Daunenjacke hat er unter der kakifarbenen Umhängetasche vor sich verstaut, und auf der Tasche klebt ein Taylor-Swift-Button – seltsam. Wahrscheinlich studiert er BWL oder so.

Vor ihm in der Sitztasche klemmt ein Strauß rosa Rosen, garantiert für sein aktuelles Herzblatt unter den Cheerleaderinnen.

»Ich habe gesagt, dass echte Bücher zuverlässiger sind.« Ich tippe auf das Cover von Naokos Lächeln. »Solltest du auch mal versuchen.«

Er lacht, und sein verständnisloser Blick weicht einem Lächeln, das sein ganzes Gesicht einnimmt. »Ach ja?«

Ich mustere noch einmal die Blumen. Rosen – was für ein Klischee.

Er ist der klassische Kumpeltyp: sportlich, gewöhnlich, langweilig. Ein Kumpeltyp der schlimmsten Sorte, wenn ich mir die Blumen anschaue. Die Sorte, die sich für einen »netten Kerl« hält. Wahrscheinlich glaubt er, nur weil er sich an das Buch Verführen für Anfänger hält, wird er bekommen, was er will. Er gehört zu der Sorte Jungs, die nicht kapieren, dass Romantik sinnlos ist, weil sich am Ende sowieso alle gegenseitig verletzen.

Und das ist eine Tatsache.

Sogar bei Leuten, von denen man zu einhundert Prozent sicher war, dass sie für immer zusammenbleiben würden.

Dara und Simone behaupten, ich sei zu zynisch. Dara erinnert mich ständig daran, dass ihre Eltern sich auch getrennt haben und sie trotzdem an die wahre Liebe glaubt. Und Simone meint, Zynismus sei zwar eine natürliche Reaktion, trotzdem gebe es viele Scheidungskinder, die selbst glückliche Beziehungen führen.

Aber sie verstehen es einfach nicht. Es war keine gewöhnliche Trennung. Ich kann mich an Daras Eltern erinnern. Die haben sich die ganze Zeit gestritten. Meine nicht. Bei uns lief alles super. Bis es dann auf einmal nicht mehr super lief. Wenn man so aus heiterem Himmel überrumpelt wird, ist es schwer, einfach darüber hinwegzukommen.

Der fremde Kumpeltyp lächelt mich immer noch an. Wartet er darauf, dass ich mit den Wimpern klimpere, oder was?

Dann legt er den Kopf schief, rutscht auf seinem Sitz nach unten und stößt mit den Füßen gegen den Vordersitz.

»Murakami?«, fragt er.

»Ja«, erwidere ich vielleicht ein bisschen schroff. »Schon mal gehört?«

»Autsch.«

Ich weiß selbst nicht, warum ich so unfreundlich zu ihm bin, aber dann fällt mein Blick wieder auf die Blumen, die machen mich einfach rasend.

Sophie liebt Rosen. Die blöde Einladung auf Büttenpapier, die sie geschickt hat, war voll von hässlichen kleinen Rosen. Ich beschließe, auf Konfrontation zu gehen, statt einen Rückzieher zu machen.

»Was liest du denn?«, gebe ich zurück. »Dan Brown?«

Ich warte gespannt, ob er das als Beleidigung auffasst. Bei einem wie dem kann man nie wissen. Ein Typ aus meinem Englischkurs hat doch tatsächlich mal gefragt, ob er seinen Aufsatz in klassischer Literatur über die Krimis von James Patterson schreiben könnte. Und das war ernst gemeint!

Der Typ klappt seinen E-Reader zu und steckt ihn in die Tasche. »Warum bist du so herablassend ?«

Ich lache, doch dann sehe ich, dass er wirklich verletzt ist. Ich lege einen Finger in mein Buch. »Hey, du hast angefangen. Du hast mir unterstellt, dass ich eine hohle Nuss bin, die sich eine romantische Zugfahrt ausgemalt hat. Gleiches Recht für alle.«

Er legt den Kopf schief, als wollte er meine Gedanken lesen. Dann verschränkt er die Arme, und seine Muskeln zeichnen sich unter dem Trikot ab, eine Bewegung, die er garantiert mit Absicht macht. Ein paar Reihen vor uns stimmt jemand ein bellendes Husten an und schleudert New-York-City-Keime in die Luft, über die ich gar nicht nachdenken will.

Die Frau vor uns dreht sich wieder um und wirft mir ihren Standardblick zu. Draußen fallen die ersten Schneeflocken vom Himmel, und ich spüre das vertraute Herzklopfen, das immer kommt, wenn ich Schnee sehe, schon seit ich klein war. Aber es verschwindet schnell wieder, weil ich nicht mehr klein bin und nichts den gleichen Zauber hat wie früher. Nicht mehr.

Außerdem, wenn es zu stark schneit, wird Kat Schwierigkeiten haben, mich vom Bahnhof abzuholen.

Der Typ neben mir schnaubt verächtlich.

»Was ist?«, frage ich. Irgendwie fällt es mir schwer, das Gespräch zu beenden.

Er grinst. »Nur weil du Murakami liest, bist du nicht automatisch ein Genie, weißt du? Den lesen doch alle, die schlau aussehen wollen. Außerdem finde ich den Roman ein bisschen hochgestochen.«

»Du hast Murakami gelesen?«

Er seufzt, dreht sich zu mir und zählt an seinen langen Fingern ab: »Naokos Lächeln, Kafka am Strand und1Q84.« Er hält inne, beobachtet meine Reaktion und grinst. »Schau nicht so erstaunt. So schwer ist das nicht. Eine Seite nach der anderen, wie bei jedem anderen Buch auch.«

Ich lege den Murakami ab und trommele mit den Fingern auf die Knie. Ich mache mich bereit, diese Schlacht zu verlieren. »Und an welcher Lektüre wirst du gerade gehindert? Was ist auf dem kleinen impotenten E-Reader versteckt?«

Sein Grinsen wird noch breiter. »Flammender Zorn. Du weißt schon – der dritte Band von Die Tribute von Panem.«

Ich kann nicht anders. Ich lache los. »Murakami ist überbewertet, und Die Tribute von Panem sind unterschätzt? Haha!«

»Weißt du, dasselbe habe ich auch gesagt, bis meine F…«

Er unterbricht sich und sein Lächeln verschwindet.

»Bis meine Exfreundin mir die Bücher empfohlen hat«, sagt er. »Die sind echt gut. Du bist nur voreingenommen.«

Mein Blick fällt wieder auf die Blumen. Was hat er vor – seine Ex zurückzuerobern? O Mann, dieser Junge ist ja die reinste Karikatur.

Ich schaue wieder aus dem Fenster. Die Geschwindigkeit lässt den Schnee besonders beeindruckend herumwirbeln, schnell und schwungvoll wie am Fuße von Space Mountain, kurz bevor die Achterbahn beginnt und die Sterne an einem vorbeisausen. Die Tribute von Panem, denke ich bitter. Letzten Sommer wollte mein Vater mich ständig überreden, diese Bücher zu lesen, inspiriert von seiner schönen neuen Familie. Während Mom sich die Antidepressiva einwarf, um die Nachmittage zu überstehen, schwafelte er davon, dass Kat für Gale war und Bea für Peeta und dass ich die Bücher unbedingt lesen müsse, um den Streit zu schlichten.

Äh, nein danke.

Ich hebe den Blick zu dem Typen und merke, dass mein Magen knurrt. Sein Gesicht zeigt sogar jetzt ein leichtes Lächeln. Ganz schön nervig. »Hast du deshalb den E-Reader? Damit keiner sieht, was du für einen Schund liest?«

Der Typ runzelt die Stirn, dann zieht er eine Grimasse, seine Gefühle stehen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben – beim Pokern wäre er miserabel. Er wippt mit dem Fuß, und sein Knie hüpft auf und ab.

»Und vielleicht hast du deshalb keinen. Damit jeder sieht, wie schlau du bist.«

Ich beiße mir auf die Lippe. Ich sehe, dass ich ihn gekränkt habe, und plötzlich macht es keinen Spaß mehr, meine Wut an einem Fremden auszulassen.

»Tut mir leid. Ich bin nur hungrig und mir ist heiß und ich hatte einen echt miesen Tag …«

Aber er hört mir nicht zu. Er steht auf, dreht sich um und geht eilig den Gang entlang in den hinteren Teil des Zugs.

Ich sehe ihm nach, bis er hinter den Türen zum nächsten Waggon verschwindet, dann widme ich mich wieder meinem Buch. Es gibt kein Gesetz, das besagt, dass man sich mit seinem Zugnachbarn anfreunden muss. Ich würde jede Wette eingehen, dass mein Buch tausend Mal besser ist als dieser rührselige Kinder-ermorden-Kinder-Mist aus Panem.

Mich interessiert nicht, was die anderen sagen – schon gar nicht mein Dad oder irgendein durchschnittlicher Kumpeltyp im Zug.

Doch nach etwa einer Minute lasse ich mein Buch sinken. Es ist unmöglich zu lesen, wenn die Gedanken in meinem Kopf herumschießen wie in einem Flipperautomaten – wie wird die Hochzeit, was macht Mom gerade, und wird es einmal eine Zeit geben, in der ich mich wieder normal fühle, in der sich alles wieder beruhigt hat?

Der Schnee fällt jetzt dichter, es wird richtig ungemütlich draußen. Vielleicht sollte ich Mom schreiben. Sie freut sich über Schnee mehr als eine Siebenjährige am Weihnachtsmorgen.

Aber ich weiß nicht, was ich ihr schreiben soll.

Und ich will nicht noch mal lesen, was sie mir geschrieben hat.

Also schaue ich aus dem Fenster, sehe dem stärker werdenden Schneetreiben zu und bete, dass sie einen Weg findet, mir zu verzeihen.

Und dass ich wirklich das Richtige tue.

Noah

12:04

»Was darfs denn sein?«

Die Frau hat strohige Haare, tiefe Lachfalten und eine Stimme, als würde sie schon seit tausend Jahren täglich zwei Schachteln Zigaretten rauchen. Sie trägt eine weiß-blaue Amtrak-Uniform, und die Knöpfe ihrer Bluse spannen.

Der Speisewagen ist so schäbig wie immer. Eigentlich kann man hier nur Bier trinken, da sind sich alle einig. Manchmal macht sogar der Schaffner Witze über das schlechte Essen. Aber im Augenblick habe ich keine andere Wahl.

»Einen Wrap mit Truthahn, Schinken und Käse, bitte«, sage ich. Auf der Werbetafel sieht er wesentlich leckerer aus, als er in Wirklichkeit ist.

Sie nickt. »Sonst noch was?«

»Eine Cola.«

Während sie die beiden Beträge eintippt, fallen mir die Worte meiner Sitznachbarin wieder ein. Sie hat behauptet, dass ihr Hunger der Grund war, weshalb sie sich mit mir wegen der Tribute von Panem angelegt hat. Ziemlich witzig eigentlich, wenn man an die Hungerspiele im Buch denkt.

»Ich nehme noch einen Wrap«, sage ich spontan. Ich schaffe auch zwei, falls sie doch keinen Hunger hat. Oder falls sie keine Wraps von Fremden annehmen will.

Mit dem Karma ist es wie mit einem Bankkonto, davon bin ich überzeugt. Man muss ständig was einzahlen, wenn man irgendwann mal was abheben will. Und ich werde heute Abend eine ganze Menge gutes Karma brauchen. Heute vor drei Jahren hatten Rina und ich unser erstes Date. Es ist unser Jahrestag. Besser gesagt, es wäre unser Jahrestag, wenn ich nicht alles so triumphal vermasselt hätte.

Ich habe die Blumen. Ich habe meine Entschuldigungsrede. Ich habe sogar ein selbstverfasstes Gedicht. Heute Abend um sieben werde ich vor ihrer Tür stehen, ihr erklären, was für ein Idiot ich war, und sie bitten, mit mir in das Restaurant zu gehen, in das sie schon immer unbedingt gehen wollte. Dafür brauche ich ein ziemliches Karma-Plus auf meinem Konto.

Die Frau hat alles eingetippt, ich zahle 21,50 Dollar, die reinste Halsabschneiderei, und trete den Rückweg zu meinem Platz an, vorbei an Tischen voller Männer und Frauen, die an ihren Laptops arbeiten, während sie ein Bier nach dem anderen wegzischen.

Als ich auf den Knopf drücke, gleiten die Metalltüren auseinander, und ich spüre die Winterkälte von draußen hereindringen.

Der Waggon hinterm Speisewagen ist genauso voll wie unserer. Ein alter Mann schnarcht laut, während drei Käseflips futternde Kinder ihn kichernd beobachten.

Es ist Samstag, und alle wollen nur raus aus der Stadt und ein bisschen Ruhe haben.

Ich drücke auf einen weiteren Knopf und gehe durch den rauschenden Luftzug zu meinem Waggon.

Meine Nachbarin liest nicht mehr, was mich nicht überrascht. Ich werde es ihr nicht verraten, aber ich habe mich nur mit Mühe durch die ersten drei Kapitel der Murakami-Bücher gequält, die ich angefangen habe. Naokos Lächeln ist das einzige, das ich von vorne bis hinten gelesen habe. Aus irgendeinem Grund behaupten alle, es sei sein Bestes, aber ich finde das nicht. Die Tribute von Panem dagegen, mit Spannung, Politik und ein bisschen Romantik, kann man unmöglich nicht mögen, auch wenn es nicht gerade die hohe Kunst der zeitgenössischen Literatur ist. Aber davon lese ich im College schon genug. Ein kleiner Ausgleich kann nicht schaden.

Das Mädchen schaut aus dem Fenster, das jetzt mit Schneeflocken bedeckt ist, während die für diesen Teil von New York State typischen alten geziegelten Kamine vorbeiziehen. Nach den Backsteingebäuden kommen nur noch kahle Bäume und der Hudson River. Der Anblick verzaubert mich immer wieder und gibt mir das Gefühl, frei zu sein, als könnte ich mich in den Wäldern verirren und ein besseres Leben beginnen oder so …

Natürlich würde ich so was nie tun. Ich würde nie so die Kontrolle verlieren, dass ich mich verirre.

Rina ist diejenige, die vom Weg abkommt und sich verirrt.

Ich nicht.

Am anderen Flussufer sehe ich eins der alten Herrenhäuser, die vermutlich der Familie Rockefeller gehört haben. Meiner Nachbarin scheint der Ausblick auch zu gefallen. Wenn ich so drüber nachdenke, hat das Zugfahren tatsächlich etwas Romantisches. Nicht so, wie man es im Film sieht, sondern auf andere, bessere, echtere Art.

Ich hoffe, dass sie glücklich wird und dass sie sich in Bard wohlfühlt, wenn das tatsächlich ihr Ziel sein sollte.

Ich hoffe, dass sie bekommt, was sie sich von dieser Reise verspricht.

Und ich auch.

Ich will mich gerade hinsetzen, als sich ein kleiner Junge an mir vorbeidrängt und mir dabei gegen das Schienbein tritt. Der Zauber des Moments verpufft. Ich blicke auf und sehe eine typische Brooklyn-Mom in weiten, flatternden Klamotten. Anstatt sich zu entschuldigen, zuckt sie nur die Schultern, aber ich versuche, mir nicht die Laune verderben zu lassen.

Ich setze mich auf meinen Platz. Die Frischhaltefolie der Wraps kräuselt sich in meiner Hand, und das Mädchen schaut immer noch aus dem Fenster.

Plötzlich kommt mir diese großzügige Aktion so bescheuert vor, dass ich kurz erwäge, die beiden Wraps einfach selbst zu essen, aber dann würde mein Karmakonto in den Keller rauschen.

Mir fällt ein, was Rina am Tag vor unserer Trennung gesagt hat.

Warum muss alles mit dir immer so kompliziert sein?

Ich gebe mir einen Ruck und räuspere mich. »Äh, ich hoffe, du bist keine Vegetarierin.«

»Hm?« Sie dreht sich zu mir um und starrt den Wrap an, den ich ihr hinhalte. Sie sagt nichts. Okay, sie findet die Aktion also total merkwürdig. Jetzt werden die nächsten Stunden neben ihr bestimmt unglaublich peinlich. Dann muss ich wieder an Rina denken.

Warum kannst du nicht einfach mal etwas tun, ohne über jede mögliche Konsequenz nachzudenken?

Eigentlich weiß ich, dass sie recht hat. Jemandem ein Sandwich zu schenken sollte nicht so schwierig sein.

Rina wollte mich nicht verändern, wie Bryson immer behauptet. Rina wollte mir helfen.

»Ich hab dir einen Wrap mitgebracht«, sage ich und gebe mir Mühe, selbstsicher zu klingen.

Sie zieht die Augenbrauen hoch, und ihre Augen werden eine oder zwei Nummern größer. Sie sieht aus wie dieser Indie-Filmstar mit dem berühmten Bruder. Der Bruder hat in Brokeback Mountain mitgespielt, aber nicht der, der gestorben ist. Ich habe ein schreckliches Namensgedächtnis.

»Das hättest du nicht tun müssen«, sagt sie zögernd.

Meine Finger schließen sich enger um den Wrap, und die Frischhaltefolie kräuselt sich wieder. Sie will ihn nicht. Genau davor hatte ich Angst.

»Besonders gut ist er wohl nicht, aber wenn du ihn nicht willst, werde ich mich opfern.« Mein gezwungenes Lachen klingt in ihren Ohren hoffentlich nicht ganz so seltsam wie in meinen.

Das Mädchen holt zögernd Luft.

»Er ist für dich, wirklich. Ich kann ihn essen, wenn du keinen Hunger hast oder wenn du es komisch findest, dass dir ein Fremder was zu essen kauft. Truthahn und Schinken.« Ich halte ihn ihr unter die Nase. »Na los, nimm schon.«

Ich will so sehr, dass sie endlich diesen verdammten Wrap nimmt und mich von meinen Qualen erlöst, dass meine Hand beinahe zittert. Ich verfluche mich dafür, dass ich so unbeholfen bin. Dass ich an Dinge wie Karma glaube und dass ich in diesem verdammten Zug sitze …

»Danke. Ich bin am Verhungern«, unterbricht sie meine Gedanken. Sie nimmt den Wrap, wickelt ihn gierig aus und beißt herzhaft hinein. Die Erleichterung, die mich überkommt, ist wie das Gefühl, an einem heißen Tag ins kühle Schwimmbecken zu tauchen. Das Gefühl, das ich immer habe, wenn die Anspannung nachlässt.

»Wow, du bist ja echt hungrig«, stelle ich fest.

Ihre Wangen sind so voll wie die eines Streifenhörnchens, aber kurze Zeit später schluckt sie. »Ich hab den Speisewagen nicht gefunden.«

»Wo bist du denn eingestiegen?«, frage ich.

»Baltimore«, erwidert sie, bevor sie wieder in den Wrap beißt. »Und vorher von Virginia eine Stunde mit dem Auto gefahren.« Sie zeigt mit dem Finger. »Ich bin drei Wagen weitergegangen, an den Toiletten vorbei und so, aber ich habe nichts gefunden. Ich wollte jemanden fragen, aber die waren alle so in ihre iPads vertieft. Und ich wollte meinen Koffer nicht so lange allein lassen. Ich dachte, vielleicht gäbe es hier nichts zu Essen.«

»Zwei Wagen hinter uns«, erkläre ich. »Der Speisewagen ist immer hinten. Der Schaffner macht eigentlich eine Durchsage, aber manchmal vergisst er es. Du hättest mich fragen können.«

Sie grinst und mampft weiter. »Ich war zu sehr mit meiner miesen Laune beschäftigt.«

Darüber muss ich lachen, diesmal aufrichtig.

Ich wickle meinen Wrap aus, und für ein paar Minuten ist alles ganz einfach. Das Knistern der Frischhaltefolie. Das Knirschen des Eisbergsalats. Der Geschmack nach einfachem, schnörkellosem Truthahn. Das leichte Schaukeln des Zugs auf den Schienen. Der Blick auf den Schneesturm vorm Fenster. Es ist beinahe schön. Einer dieser kleinen Momente, über die die Leute in Büchern oder Filmen immer nachdenken. Vielleicht sind es solche Momente, die den Lauf eines Lebens verändern. Vielleicht tue ich wirklich das Richtige, um dem Universum zu beweisen, dass Rina und ich wieder zusammen sein sollten. Etwas an diesem Moment fühlt sich besonders an.

Meine Sitznachbarin knüllt ihre Frischhaltefolie zu einem kleinen Ball zusammen und steckt ihn in ihre Tasche. Ich stopfe meine Folie in das Seitenfach meiner Umhängetasche, in dem sich eine Menge Kaugummis, endlos lange Kassenbons und der Automaten-Fotostreifen von Rina und mir befinden. Die einzigen Bilder, die ich noch von ihr habe.

Ich schließe den Reißverschluss und drehe mich zu ihr. »Äh, ich bin übrigens Noah. Noah Adler.« Ich reiche ihr die Hand.

Sie nimmt sie. Ihre Hand ist überraschend kühl, trotz der Hitze hier drinnen. »Ammy.« Sie nennt keinen Nachnamen, so als wäre sie Madonna oder Cher.

»Ammy?«, frage ich. »Nicht Amy?«

Sie schüttelt den Kopf, und ein Hauch von Gereiztheit kommt zurück. Die Frage hat sie garantiert schon öfter gehört. »So wie Sammy, nur ohne S. Kurz für Amarantha. Das ist aus einem Gedicht. Meine Eltern sind ziemlich durchgeknallt.«

»O Amarantha, süß und klar, flicht nimmermehr das güldne Haar!«, zitiere ich, ohne nachzudenken.

Sie runzelt die Stirn und nickt, sie wirkt beeindruckt. »Das kennen wirklich nicht gerade viele«, sagt sie.

Ich hole tief Luft und halte mich am Vordersitz fest, weil der Zug gerade eine Kurve fährt. Wieder verspüre ich diese Erleichterung. »Tja, vielleicht studiere ich ja Vergleichende Literaturwissenschaft.« Ich hebe die Hand, um ihrem Einwand zuvorzukommen. »Ich weiß, was du jetzt sagst: Was für ein sinnloses Studienfach.«

Sie lacht. »Das hast du gesagt.«

Ich höre auf, an meinem Daumen herumzuknibbeln, und beschließe weiterzureden. »Ich liebe Richard Lovelace. Ich finde, er ist als Dichter wirklich unterschätzt, auch wenn er nicht so berühmt ist wie die Johns. Du weißt schon, John Donne und John Keats –« Ich halte inne, um mich zu vergewissern, dass sie mir zuhört. Das tut sie, sie sieht mir direkt in die Augen. »– aber das muss man deinen Eltern ja nicht erzählen.«

Sie bricht den Blickkontakt ab und zuckt die Schultern. »Na ja, für ein Kind ist es ein ziemlich bescheuerter Name. Ich hatte keinen einzigen Lehrer, der ihn sich merken konnte. Nicht so wie Noah – das ist einfach.«