Gib mir deine Angst - Leah Konen - E-Book
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Gib mir deine Angst E-Book

Leah Konen

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Beschreibung

Drei Freundinnen, drei Trennungen – ein Wochenendtrip, der tödlich endet »Gib mir deine Angst« ist ein raffinierter psychologischer Thriller aus den USA mit unvorhersehbaren Twists. Sam ist heilfroh, als ihre Freundinnen Margaret und Diana, die ebenfalls unschöne Trennungen hinter sich haben, einen Wochenendtrip vorschlagen: einfach mal raus aus New York und die düsteren Gedanken für eine Weile beiseiteschieben! Doch dann haben die drei ausgerechnet in der Kleinstadt Catskill eine Autopanne, in der Sams Ex mit seiner neuen Freundin lebt. Nach einem Abend in der örtlichen Bar ist Diana plötzlich spurlos verschwunden, außerdem stellt sich heraus, dass Margarets Exfreund, der die Trennung nicht akzeptieren will, ihr nach Catskill gefolgt ist. Als die Polizei am nächsten Tag den Fund einer Leiche meldet, wird der Ausflug endgültig zum Alptraum. Was wissen die Freundinnen wirklich übereinander? Leah Konen inszeniert auch in ihrem zweiten Domestic-Noir-Thriller ein faszinierendes, hochspannendes Spiel mit Schein- und Halb-Wahrheiten rund um Freundschaft und toxische Beziehungen. »Mit seinem unheimlichen Setting, der beunruhigenden Handlung und den schockierenden Enthüllungen hat mich ›Gib mir deine Angst‹ von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.« Megan Miranda, Bestseller-Autorin von »Little Lies« Entdecken Sie auch Leah Konens Thriller »Die Nacht in dir« über eine Frau auf der Flucht und eine Kleinstadt mit tödlichen Geheimnissen.

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Seitenzahl: 442

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Leah Konen

Gib mir deine Angst

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Brandl

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sam ist heilfroh, als ihre Freundinnen Margaret und Diana, die ebenfalls unschöne Trennungen hinter sich haben, einen Wochenendtrip vorschlagen: einfach mal raus aus New York und die düsteren Gedanken für eine Weile beiseiteschieben!

Doch dann haben die drei ausgerechnet in der Kleinstadt Catskill eine Autopanne, in der Sams Ex mit seiner neuen Freundin lebt. Nach einem Abend in der örtlichen Bar ist Diana plötzlich spurlos verschwunden, außerdem stellt sich heraus, dass Margarets Ex-Freund, der die Trennung nicht akzeptieren will, ihr nach Catskill gefolgt ist.

Als die Polizei am nächsten Tag den Fund einer Leiche meldet, wird der Ausflug endgültig zum Albtraum. Was wissen die Freundinnen wirklich übereinander?

Leah Konen inszeniert auch in ihrem zweiten Domestic-Noir-Thriller ein faszinierendes, hoch spannendes Spiel mit Schein- und Halb-Wahrheiten rund um Freundschaft und toxische Beziehungen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

FREITAG

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

SAMSTAG

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

SONNTAG

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

MONTAG

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

DIENSTAG

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

DIENSTAG

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

ZWEIMONATESPÄTER

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Dank

Für Thomas und Eleanor

Prolog

Jeder meint zu wissen, was Wut bedeutet, doch das ist Irrglaube.

So sauer zu sein, dass man beinahe durchdreht, Gereiztheit und der typische Allerweltsfrust, der einem die Zornesröte ins Gesicht treibt und sogar die Hände zittern lässt, das hat jeder schon einmal erlebt. Und hält es für Wut. Aber das ist keine Wut.

Ich weiß das, glauben Sie mir.

Wut geht so viel tiefer als Verärgerung, bricht förmlich aus einem heraus, ist unkontrollierbar, schon allein per Definition. Wut ist keine gewöhnliche Gefühlsregung, die man abends in seinem Tagebuch aufarbeitet oder bei einem Drink der besten Freundin anvertraut. Nein, Wut erfordert Handeln. Sie schlägt einem ihre Klauen ins Fleisch und schleift einen mit sich, lässt einen im Tunnelblick erstarren, während ringsum alles in gleißend helles Licht getaucht ist, mit Ausnahme dessen, was man gerade vor Augen hat; sie pulsiert im Körper, vermengt sich mit dem Blut, das einem in den Schläfen pocht.

So wie bei mir, als ich auf die Szene vor mir blickte, und sie spürte, im Bauch, in den Fingerspitzen, im Nacken.

Nicht Ärger, nicht Frust, sondern blanke Wut.

Für wen zum Teufel hält sie sich eigentlich?

Die beiden sahen mich nicht – wie auch?

Sie wussten nicht, dass ich schon die ganze beschissene Zeit da war.

Doch das war das Gute. Genauso wollte ich es.

Tief und zittrig holte ich Luft, und tat, was ich tun musste.

FREITAG

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Sam

Die Hautpartie war bedrohlich blass, fast kränklich, tief in meinen Finger eingegraben, mit widerlich aufgequollenem Gewebe ringsum.

Mein schmutziges kleines Geheimnis, das nun jeder sehen konnte.

Ich hatte meine Ringe nicht mehr abgenommen, seit Harry sie mir an den Finger gesteckt hatte.

Der Ehering bestand aus schlichtem, schmucklosem Platin. Er sei unzerstörbar, hatte der Juwelier uns versichert, während ich die glänzenden, auf königsblauen Samt gebetteten Schmuckstücke im Laden betrachtet und Harry seine Amex gezückt hatte. Platin sei so rein wie die Liebe selbst, dabei aber wesentlich pflegeleichter als Silber oder Weißgold.

Mit dem Finger fuhr ich über die Innenseite, über die Worte, die ich aufsagen konnte, ohne hinzusehen. Eingraviert, in den Ring und in mein Gedächtnis. Für meinen Darling, Sam. Von deinem Darling, Harry.

Hätte diese sülzige Gravur ein erster Hinweis sein müssen? Diana hatte gelacht, als ich ihr erzählte, dass Harry mich immer »Darling« nannte, und gefragt, ob Harry soeben den Fünfzigern entstiegen sei – hätten sie oder Margaret mir erzählt, dass Brandon oder Lars sie fast ausschließlich so nannten, hätte ich vermutlich insgeheim die Augen verdreht. Doch für mich hatte es sich nie nach drittklassigem Schauspieler angehört, der einen auf Cary Grant machte, vielmehr war es so leicht gewesen, hingerissen zu sein, wenn Harry sie mit seiner schroffen und zugleich sanften Stimme aussprach, kräftig und vollmundig wie guter Whiskey. Mein Darling. Meine Sam.

Der Verlobungsring war sogar noch schöner, mit raffinierten Verzierungen, mehreren winzigen Brillanten und einem fetten Exemplar in der Mitte. Eigentlich hatte ich mich immer für einen Anti-Brilli-Typ gehalten – ich fand, sie waren aus der Zeit gefallen –, doch als es hart auf hart gekommen war, hatten auch bei mir die Schmetterlinge im Bauch getanzt. Nur bei absurd Überteuertem hatte ich bestimmt die Reißleine gezogen – kein Cartier, herzlichen Dank –, zudem war Protzerei ohnehin nicht Harrys Stil. Allerdings hatte er etwas draufgelegt, weil es sich um kanadische Klunker handelte, deren Gewinnung angeblich unter menschenwürdigeren Bedingungen ablief.

Harry löste eine ganze Menge in mir aus, vor allem aber Bedürfnisse, innige Bedürfnisse. Nicht nur nach seiner Liebe, sondern nach allem, dem ganzen Programm – durch ihn hatte sich meine Welt vergrößert wie eine Kaugummiblase. Alles, wovon ich nie auch nur zu träumen gewagt hatte, stand mir plötzlich zur Verfügung. Ich tauschte meine lausige Bude direkt an der U-Bahn-Linie mit dem nervigen Dauerrauschen des Verkehrs – gewissermaßen die Urbanversion von Meereswellen – gegen das Luxusapartment mit Blick auf Manhattan ein, das Harry lediglich für Gelegenheiten behalten hatte, wenn er über Nacht in der Stadt bleiben wollte. Ich bekam meine erste Kosmetikbehandlung (ein Geschenk von ihm kurz nach der Verlobung), die Flitterwochen verbrachten wir im Four Seasons auf Anguilla. Eigentlich war ich eher der Typ Backpackerin, anspruchslos und hart im Nehmen, doch auf einem schicken Holzliegestuhl an einem weißen Sandstrand, die eine Hand mit Harrys Fingern verschlungen, in der anderen eine Piña Colada für siebzehn Dollar, dagegen konnte wohl niemand etwas sagen. Man müsste schon verrückt sein, sich gegen so etwas zu sträuben, oder?

Gerade stand ich vor meiner Kommode und ließ die Ringe in die Keramikschale fallen, die meine Mutter mir eigens dafür geschenkt hatte – Harry & Sam. Möge eure Liebe euch für immer begleiten.

Ein Jahr. So lange hatte es gedauert, bis ich mich verändert hatte; ein Jahr, in dem unsere Verbindung ihre Spuren wie eine Warnung an mir hinterlassen und die Haut an meinem Ringfinger ausgebleicht hatte. Drei Monate verlobt, sieben Monate verheiratet. Zwei getrennt.

Diana, selbst ernannte Meisterin der Selbstzerstörung und stets bei denen, die unbedingt ein drittes Glas Wein oder eine Portion Pommes zum Essen bestellen oder eine Zigarette hinterm Haus rauchen mussten, hatte verstanden, weshalb ich zögerte, die Ringe abzulegen. Ich hatte sie vor etwa anderthalb Jahren in der Bar in der Tenth Avenue kennengelernt, wo ich nach der Arbeit immer hingegangen war. Sie hatte mich angesprochen und vorgeschlagen, uns doch zusammenzutun, um das Zwei-Cocktails-zum-Preis-von-einem-Angebot in Anspruch zu nehmen. Was wir auch getan hatten. Nach mehreren Runden hochprozentiger Drinks und dem impulsgesteuerten Kauf von Zigaretten im Deli nebenan hatte ich ihr anvertraut, dass ich mich Hals über Kopf in Harry verknallt hatte. Sie hatte es damals nachvollziehen können und tat es auch heute noch.

Margaret, die semi-neurotische Texterin, mit der ich im Lauf der Jahre immer wieder zusammengearbeitet hatte, und mit Abstand die Pragmatischste in unserem Trio, hatte sehr viel mehr Druck gemacht. Ich müsse die Ringe abnehmen, einen »Schritt in Richtung Akzeptanz« machen, wie sie es formulierte. Zumindest würden wir bei unserem Ausflug unsere Vergangenheit hinter uns lassen, soweit es eben möglich war.

Ich kehrte meiner Kommode – ein wackliges Teil aus Hartfaserplatten von IKEA, das mir fast zehn Jahre lang in New York treue Dienste geleistet hatte, und eines der wenigen Möbelstücke, das ich aus meiner alten Wohnung in Harrys Apartment umgezogen hatte – den Rücken zu. Mein Koffer lag aufgeklappt auf dem Bett, sodass Sommerkleider, Pullis und Unterwäsche hervorquollen. Ich hatte das Ding bestimmt schon fünf Mal umgepackt. Wahrscheinlich waren meine Erwartungen an diesen Trip viel zu groß. Eigentlich war es bloß ein langes Wochenende mit – wollen wir ganz ehrlich sein – sehr viel Wein in einer Hütte in Saratoga Springs, nur Diana, Margaret und ich. Deshalb war meine Garderobe völlig unwichtig, andererseits war es das erste Mal, dass ich aus der Stadt herauskam, seit Harry mich verlassen hatte.

Na ja, außer diesem einen Mal.

Und es würde ganz toll werden.

Wie Margaret gesagt hatte, würde ich endlich einen »Schritt in Richtung Akzeptanz« machen und meine Vergangenheit hinter mir lassen.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Sie hatte ein großes Goldgehäuse und ein Schlangenlederband und war ebenfalls ein Geschenk von Harry, letztes Jahr zum Geburtstag. Diana und Margaret sollten jeden Moment hier sein. Ich klappte den Koffer zu und drückte den Deckel fest zu, damit ich den Reißverschluss zuziehen konnte, ehe ich ihn vom Bett wuchtete.

Dann zog ich die Tagesdecke über die Matratze, auf der sich Harrys Körperumrisse noch abzeichneten. Das sagte einem keiner beim Kauf einer Matratze mit Memoryschaum. Diese Dinger vergaßen nicht, niemals. Stattdessen konservierten sie den Körper und zwangen einen, tagein, tagaus die Einbuchtung des Menschen anzusehen, mit dem man einmal zusammen gewesen war.

Ich zog den Koffer hinter mir her durch den Korridor und an der Nische vorbei, die mir als Arbeitsecke diente. Unbezahlte Rechnungen und Kontaktbögen von einem meiner Projekte, die ich eigentlich schon vor zwei Wochen hätte abgeben sollen, stapelten sich auf dem Schreibtisch. Als ich vor einigen Monaten den Auftrag über die grafische Gestaltung der Launch-Kampagne einer neuen Wedding-Planer-App angenommen hatte, war Harry noch hier gewesen, und Diana und Margaret hatten einander nicht einmal gekannt. Alles war ganz anders gewesen.

Mein Handy vibrierte. Es war eine neue Nachricht in unserer Whatsapp-Gruppe mit dem liebevollen Namen Sgt. Diana’s Lonely Hearts Group.

Diana:

Ich habe spontan noch ein paar Weinflaschen mehr besorgt, bevor ich zu Margaret fahre. Komme zehn Minuten später, aber das war’s wert. Hab das Gefühl, das wird ein ganz schönes Gelage ;-)

Ich lachte. Wenn Diana mit von der Partie war, würde es das ganz bestimmt werden, und mich mit den beiden zu betrinken erschien mir immerhin sehr viel weniger beschämend, als es alleine zu tun.

Ich zog eine Strickjacke über, schlüpfte in meine Stiefel und schnappte meine Handtasche, um nach unten zu gehen, vielleicht noch kurz einen Kaffee im Deli zu holen und auf sie zu warten.

Aus einem inneren Drang heraus machte ich kehrt und ging durch die Wohnung, wobei meine Absätze auf dem nicht gefegten Holzboden klapperten, zurück ins Schlafzimmer.

Die Ringe lagen immer noch in der Keramikschale und glänzten mich an.

Ich schnappte sie und steckte sie in die Tasche meines Leinenkleids, wo niemand sie sehen konnte.

Kann ja nicht schaden, dachte ich, vielleicht mit einer Spur Verzweiflung.

Zumindest niemandem außer mir selbst.

 

Diana stand mit dem Handy in der Hand gegen den SUV gelehnt, als ich nach unten kam. Die silbernen Strähnen in ihrem ansonsten dunkelbraunen Haar schimmerten im warmen Spätnachmittagslicht. Trotz ihrer noch nicht einmal fünfunddreißig Jahre war sie bereits halb ergraut. Sie trug ein schwarzes Kleid und schwarze Leggins dazu. Diana trug fast ausschließlich Schwarz, was ihre üppigen Kurven und ihr konsequent ungefärbtes Haar noch spektakulärer wirken ließ.

Mit ihrem sahnigen Teint, der markanten Nase, den haselnussbraunen Augen und dem obligatorischen roten Lippenstift sah Diana wie eine Renaissance-Schönheit aus, eine Frau, wie Botticelli sie gemalt hätte. Sie sah auf und strahlte mich an. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte sie statt einer Begrüßung.

»Zuerst die schlechte.«

»Du bist so eine Masochistin«, erwiderte sie. »Na gut, ich habe gerade gemerkt, dass ich den O-Saft für den Sekt Orange vergessen habe.«

»Und die gute Nachricht?«

Diana grinste. »Das heißt, wir können ohne schlechtes Gewissen Prosecco pur schon zum Frühstück trinken.«

Ich lachte. In diesem Moment stieg Margaret auf der Fahrerseite aus, trat um den Wagen herum und schloss mich ebenfalls in die Arme.

Sie räusperte sich. »Ich habe Diana schon gesagt, dass ich auf eine Regel bei diesem Ausflug bestehe. Ein Glas Wasser zwischen jedem Glas Alkohol. Wir fahren nicht vier Stunden, bloß um jeden Tag völlig verkatert zu sein. Ich will wandern gehen, verdammt noch mal.«

Diana legte den Arm um Margaret und drückte sie fest an sich. »Keine Angst, wir genießen den Wein, das Wasser und die Natur. Das eine schließt das andere ja nicht aus.«

»Dir ist klar, dass ich dich auf dieses Versprechen festnageln werde. Und bilde dir ja nicht ein, ich würde es nicht tun«, erwiderte Margaret lächelnd und fuhr sich mit der Hand durch ihr schulterlanges, stumpf geschnittenes Haar, ähnlich wie meines (ein Schnitt, den Diana, die als Sozialarbeiterin in einer Therapieeinrichtung auf der West Side arbeitete, als »Agentur-Bob für Coole« bezeichnete), nur dass Margarets Haar glatt, meines eher lockig war.

In ihrem früheren Leben war Margaret Schauspielerin gewesen oder hatte es in ihren Anfangsjahren in New York zumindest versucht, wohingegen ich sie eigentlich nirgendwo anders als in einer Werbeagentur sah. Sie zog ihr Markenzeichen, die rote Lederjacke, gerade und schüttelte die Fransen an den Ärmeln.

»Ich habe alles genau geplant«, sagte sie, blickte kurz auf ihr Handy, dann wieder auf uns. Margaret war die Planerin von uns: eine Frau, die einen Termin für etwas vereinbarte, was auch mit einem beiläufigen Gespräch abgehandelt werden könnte, mit würdevoller Anmut den Raum betrat und sich uns ohne Umschweife zur Brust nahm. »Wenn der Verkehr halbwegs übersichtlich bleibt, sind wir in vier Stunden in den Adirondacks.«

Diana hob die Brauen – die vergleichsweise lange Anfahrt für einen Wochenendausflug hatte von Anfang an für Diskussionen gesorgt –, rang sich jedoch schnell ein Lächeln ab. »Gerade lange genug, damit wir meine ganze Playlist durchhören können.«

»Du hast ja wirklich an alles gedacht«, erwiderte Margaret, wobei ich eine winzige Spur Gereiztheit zwischen den beiden wahrzunehmen glaubte.

Diana hatte die Idee mit dem Ausflug aufgebracht, doch Margaret war diejenige gewesen, die vorgeschlagen hatte, in die Hütte des Vaters einer Bekannten von ihr im Norden zu fahren, statt irgendwo in der Gegend etwas zu mieten. Anscheinend gab es einen Whirlpool und eine Feuerstelle mit Blick auf die Berge, und ihre Freundin, die gerade Mutter geworden war, nutzte sie aktuell nicht. Außerdem brauchten wir nichts zu bezahlen. Dagegen ließ sich nur schwer etwas einwenden.

Margaret mochte den Großteil der Planung übernommen haben, doch Diana hatte die Angewohnheit, das Ruder an sich zu reißen. So war sie einfach.

Schließlich war sie auch diejenige gewesen, die uns drei zusammengespannt hatte.

Wenige Tage nach dem Vorfall mit Harry hatte ich mich mit Margaret in einer Bar in der Tenth Avenue verabredet – sie hatte mir erzählt, sie stecke inmitten einer hässlichen Trennung von Lars, während ich selbst noch komplett unter Schock gewesen war, weil Harry mich einfach verlassen hatte. Plötzlich war Diana hereingekommen. Sie war Stammgast in der Bar, allerdings hatte ich sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen; seit ich mit Harry zusammen war, war ich nicht mehr oft ausgegangen. Es war beinahe wie ein Wink des Schicksals gewesen, als sie uns erzählt hatte, sie und ihr Mann Brandon seien ebenfalls frisch getrennt. Er sei geradezu obsessiv eifersüchtig und kontrollsüchtig gewesen, und irgendwann hätte sie die Nase voll gehabt. Jedenfalls hatte sie vorgeschlagen, eine Whatsapp-Gruppe zu gründen, in der wir uns über unsere Trennungen austauschen konnten, und uns damit zu einer Art Pseudo-Selbsthilfegruppe gemacht. Ich habe keine Ahnung, wie ich die letzten beiden Monate ohne sie überstanden hätte.

Diana verkrampfte die Hände, wobei ihre beiden »Love«-Armreifen von Cartier, die sie stets trug, leise klirrten. »Also, worauf warten wir noch? Auf geht’s. Ich helfe dir mit dem Gepäck.«

Als wir den Kofferraum schlossen, fiel Dianas Blick auf meine Hand und den blassen Streifen an meinem Ringfinger. »Du hast Margarets Rat also angenommen?«, fragte sie. »Die Akzeptanz mit offenen Armen willkommen geheißen, oder wie auch immer sie es bezeichnet?«

Ich steckte die Hand in meine Tasche und schloss die Finger um die beiden Ringe, als wären sie mein Rettungsanker. »Ich habe sie hier, aber bitte verrate es ihr nicht. Tragen tue ich sie nicht, und das ist doch schon mal ein Anfang.«

»Absolut.«

Wir stiegen in den SUV wie die kleinen Plastikmännchen aus Spiel des Lebens, die meine Schwester und ich immer gesammelt hatten, und los ging es in Richtung Brooklyn-Queens Expressway, der uns aus der staubig heißen Stadt heraus und nach Saratoga Springs führen würde, wo wir die folgenden vier Nächte verbringen wollten.

Nach etwa zehn Minuten vibrierte mein Handy. Wahrscheinlich war es meine Mom. Oder mein ungeduldiger Kunde, der sich über die Verlängerung der Abgabefrist beschweren wollte, um die ich gebeten hatte.

Oder Harry, auch wenn ich mir diese Hoffnungen lieber nicht machen sollte. Andererseits war seine Nachricht vom Samstag so schrecklich knapp. Nur drei kleine Worte, die jedoch größere Hoffnung in mir entfachten, als ich mir eigentlich machen sollte. Ich vermisse dich.

Aber sie kamen nicht von ihm. Sondern von ihr.

Zehn Ziffern, eine Nummer, die ich nie in meinen Kontakten abgespeichert hatte, aber das brauchte ich auch nicht – ich wusste trotzdem, wer es war.

Lassen Sie uns verdammt noch mal bitte in Ruhe.

2

Margaret

Mit jeder Meile spürte ich, wie das letzte Jahr, Lars und alles, was vorgefallen war, in den Hintergrund rückten und verblassten. Stattdessen blickte ich auf den neuen Weg, der offen vor mir lag. Es war beinahe poetisch – ich ließ meine Probleme buchstäblich hinter mir, auch Lars, der die letzten sechs Monate auf der Couch geschlafen hatte, während wir herauszufinden versuchten, wie wir uns am besten trennen sollten. Mein Mann, der am Dienstag mit einer blutigen Lippe nach Hause gekommen war … ob er auf dem Gehsteig gestolpert oder sich in einer Bar geprügelt hatte, wusste ich nicht, sondern nur, dass er nicht mehr der Lars war, in den ich mich vor langer, langer Zeit verliebt hatte.

Meine Hände lagen in Fahrschulhaltung – auf zwei und zehn Uhr – ums Steuer, der Tempomat war auf exakt fünf Meilen über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eingestellt. Ein Wagen schoss mit fast achtzig Sachen an mir vorbei, als mein Handy vibrierte. Ich ignorierte es.

Diana machte die Musik leiser. Sie hatte vom ersten Moment an die Musikzusammenstellung an sich gerissen, in dem Punkt hatte es keine Diskussion gegeben, wobei ich gegen ihre Auswahl nichts einwenden konnte. Die Playlist war super für eine Autofahrt, eine Lektion in weiblicher Gesangskunst – Diana Ross, Nina Simone, Fiona Apple, die junge Britney Spears. »Bist du sicher, dass du keine Pause einlegen willst?«, fragte sie. »Immerhin fährst du schon seit fast zwei Stunden. Natürlich bin ich eine hervorragende Navigatorin, aber du kriegst das bestimmt genauso gut hin.«

»Ich habe es dir doch schon erklärt«, erwiderte ich. »Du bist nicht als Fahrerin im Mietwagenvertrag aufgeführt, weil es sonst fünfzig Dollar mehr am Tag gekostet hätte.«

Diana grinste. »Ich halte dicht, wenn du’s auch tust. Sams Stillschweigen müssen wir uns notfalls erkaufen, aber wie ich höre, ist sie nicht besonders teuer.«

»Hey«, warf Sam ein, »nur weil ich hier die abgebrannte Millennial bin.«

Ich musste mich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Streng genommen waren wir alle Millennials – Sam war dreißig, ich dagegen knapp sechsunddreißig. Außerdem war Sam alles andere als pleite. Nach allem, was sie mir über Harry erzählt hatte, hatten sie finanziell ziemlich gut dagestanden. Und er war fremdgegangen. Im Gegensatz zu mir hätte sie keine Geldsorgen mehr, sobald die Scheidung erst einmal offiziell war.

»Bist du dir echt sicher?«, drängte Diana. »Ich fahre wirklich gern, und du könntest dich ein bisschen ausruhen. Bei mir war nicht viel los in der Arbeit. Meine zwei letzten Patienten haben ihre Termine abgesagt.«

»Ja, ich bin mir sicher«, antwortete ich, in der Hoffnung, dass die Sache damit vom Tisch war. Bei aller Obrigkeitshörigkeit, die mich von Diana und auch von Sam unterschied, war die Angst, Enterprise könnte herausfinden, dass wir gegen die Vertragsbestimmungen verstoßen hatten, nicht mein einziges Problem. Ich hatte beiden nie erzählt, dass ich auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, als Lars voll in die Eisen gestiegen war, um den Fahrradfahrer nicht zu überfahren, der uns auf der Fahrt zum Strand in die Quere gekommen war. Sowohl die Ärzte als auch die Internetrecherche hatten bestätigt, dass der Sicherheitsgurt, der (einen Tag, nachdem wir erfahren hatten, dass ich schwanger war) auf meinen Bauch und damit meinen Uterus drückte, nichts mit dem zu tun hatte, was mit uns passierte. Nichtsdestotrotz war dieser Vorfall der Anfang gewesen, der erste Dominostein in einer nachfolgenden Kette von Ereignissen, auch wenn kein ursächlicher Zusammenhang zwischen ihnen bestanden haben mochte. Schwer zu sagen, wie alles gekommen wäre, hätten wir nicht beschlossen, einen Ausflug zum Strand zu machen. Aber deshalb fiel es mir seitdem schwer, mich auf den Beifahrersitz zu setzen und jemand anderem die Kontrolle über mein Leben zu überlassen. Würde Diana die ganze Geschichte kennen, hätte die Sozialarbeiterin in ihr bestimmt die Diagnose gestellt – PTBS. Doch Diana kannte die ganze Geschichte nicht, ich hatte ihr und Sam bloß erzählt, dass ich keine Kinder bekommen könnte, mehr nicht. Dabei fragte ich mich häufig, ob sie mich mit anderen Augen betrachten würden, wenn sie Bescheid wüssten.

Im Rückspiegel sah ich, wie Sam sich an der Augenbraue kratzte, und bemerkte, dass sie ihre Ringe nicht mehr trug. Endlich hatte sie sie abgenommen. Ehrlich gesagt, war ich ziemlich überrascht gewesen, sie überhaupt erst an ihrem Finger zu sehen, als uns ein gemeinsames Arbeitsprojekt vor ein paar Monaten wieder zusammengeführt hatte. Sam und ich kannten uns seit mehreren Jahren und hatten uns auf Anhieb gut verstanden. Sie war eine der wenigen Art-Direktorinnen, die es einem nicht übel nahmen, dass ein Projekt bei mir streng nach Lehrbuch ablaufen und das Layout absolut perfekt sein musste, bis hin zum letzten Komma. Zwar arbeitete ich inzwischen als Texterin, war jedoch ausgebildete Schauspielerin, und obwohl ich als solche nie Fuß fassen konnte, hatte ich mir meinen Perfektionismus bewahrt. Früher hatte ich jede Szene stundenlang vor dem Spiegel geprobt, um jede Einzelheit im Dialog, jede Betonung richtig hinzubekommen, nun tat ich dasselbe bei Orthografie und Interpunktion. In meinen Anfangszeiten in der Agentur gingen Sam und ich ab und zu nach der Arbeit noch etwas trinken, und während sie die blöden Dating-Apps beklagte, bemühte ich mich, aus Respekt vor den Nöten einer jungen Single-Frau nicht zu begeistert von Lars zu schwärmen.

Als sich unsere Wege vor gut zwei Monaten wieder einmal gekreuzt hatten, hatte jedoch plötzlich eine verheiratete Frau vor mir gestanden. Und ich selbst vor den Trümmern einer kaputten Ehe.

Trotzdem hatte man kein Sherlock Holmes sein müssen, um hinter der Fassade aus wippenden Locken, dickem Eyeliner und trendigem Everlane-Shirt etwas tief in ihrem Inneren Zerbrochenes zu erkennen. Der Concealer unter ihren Augen war ein bisschen zu dick aufgetragen, ihre Entschuldigungen, auf die Toilette zu müssen, kamen etwas zu oft. Entweder litt sie an Blasenentzündung, war schwanger oder brauchte einen Moment, um unbemerkt eine Runde weinen zu können, fernab von den grellen Neonlichtern und der mangelnden Privatsphäre unseres Open-Space-Office.

Am Freitag nach unserem Wiedersehen hatte ich sie auf ein Glas Wein nach der Arbeit eingeladen. Dabei hatte sie sich nach Lars erkundigt und ich so viel und wahrheitsgetreu erzählt, wie ich in diesem Moment über mich brachte. Noch lebten wir unter einem Dach, waren jedoch faktisch von Tisch und Bett getrennt. Er schlief auf der Couch. Ihr waren fast die Augen aus den Höhlen gequollen, und sie hatte sich um ein Haar an ihrem Wein verschluckt. »Harry hat mich am Montag verlassen. Ich bin total fertig«, war sie herausgeplatzt. Pause. »Oh, und das mit dir und Lars tut mir wirklich leid.« Sie hatte fast fünf Sekunden gebraucht, um ihren Gedankengang zu Ende zu bringen.

Mitzufühlen war leicht, auch wenn unsere Geschichten völlig unterschiedlich waren; ihr Liebeskummer so abrupt und frisch, mein eigener so qualvoll lange. Dann – bis heute war meine Erinnerung an diesen Teil verschwommen – war plötzlich Diana hereingekommen, die Sam ja kannte. Wir waren beide angeheitert genug gewesen, um sie einzuladen, sich doch zu uns zu setzen, und nach einer weiteren Runde hatte Sam ihr ihr Herz ausgeschüttet, auch ich hatte von meiner Misere erzählt, als Diana uns wie vom Donner gerührt angesehen und – diesen Teil des Abends habe ich noch glasklar vor Augen – gesagt hatte: »Ihr wollt mich wohl verarschen. Mein künftiger Ex-Mann und ich haben uns auch gerade getrennt.« Dann hatte sie uns von Brandon erzählt, der sich von einem reizenden, hingebungsvollen Partner in ein kontrollsüchtiges, obsessives Ungeheuer verwandelt hatte, weshalb ihr nichts anderes übrig geblieben sei, als – um ihrer eigenen Sicherheit willen – sämtliche Social-Media-Kontakte und Profile zu löschen, während Sam und ich uns bemüht hatten, sie zu trösten.

Schnell hatten die allwöchentlichen Treffen unseres Sgt. Diana’s Lonely Hearts Club einen fast religiösen Charakter bekommen. Wir waren unsere kleine Selbsthilfegruppe, unterstützten uns gegenseitig, unsere Vergangenheit hinter uns zu lassen, uns von unseren Ex-Männern zu befreien, indem wir Kerzen anzündeten und Austreibungszeremonien abhielten wie moderne Hexen. Oder wie Teenager, die in Moms größtem Suppentopf irgendwelche Sachen abfackelten. Obwohl ich Diana und Sam den wahren Grund für das klaffende Loch in meinem Herzen niemals verraten hatte, war es eigentlich schön. So viele meiner Freundinnen hatten eigene Kinder und rätselten offen, weshalb es bei mir und Lars nicht klappen wollte. Diana und Sam standen mir in einer Art und Weise zur Seite, wie es nur jemand konnte, der ebenfalls alles verloren hatte.

»Also«, riss mich Dianas Stimme aus meinen Gedanken. »Völlig egal, ob du mich nun fahren lässt oder nicht, habe ich eine prima Tankstelle gefunden, genau auf der Hälfte der Strecke. Und eine Google-Bewertung sagt sogar, man hätte von dort einen tollen Blick auf den Fluss.«

»Der Tank ist aber noch halb voll. Müssen wir wirklich …«

»Ich bin die Navigatorin, schon vergessen?« Diana klappte die Sonnenblende herunter und trug eine Schicht ihres roten Yves St. Laurent-Lippenstifts auf, als wäre sie vielmehr unterwegs zu einem Date und nicht zu einer Tankstelle. »Glaub mir, die Entfernungen zwischen den Raststationen werden immer größer, je weiter es nach Norden geht, außerdem ist der Sprit dort günstig. Du kannst nun mal nicht beide Funktionen haben, Marge.«

Ich zog eine Braue hoch. Jemandem, der zwei Cartier-Armreifen trug – die Dinger fingen bei viertausend Dollar an, und zwar pro Stück (das hatte ich aus morbider Neugier recherchiert) –, war eigentlich nicht zuzutrauen, dass er die Spritpreise kannte, doch ich beschloss, ihr diesen kleinen Triumph zu lassen. »Na, wenn das so ist, Di.«

Diana hatte damit angefangen, meinen Namen abzukürzen, und ich tat inzwischen dasselbe mit ihrem. Keine Ahnung, wieso, aber ich fand es ganz nett. Es erinnerte mich an unbeschwertere Zeiten in meinem Leben, so wie damals während der Highschool, als alle in der Theater-AG besondere Namen füreinander hatten, oder mit Lars, der mich immer Peggy nannte, wenn er in besonders romantischer Stimmung war.

»Ich muss ohnehin mal pinkeln«, vermeldete Sam vom Rücksitz.

»Siehst du, da haben wir’s«, meinte Diana. »Unterschätze nie die Fähigkeiten eines Navigators.«

»Das würde ich niemals tun«, erwiderte ich und unterwarf mich wie gewohnt Dianas Dominanz. Es war ohnehin schon ein Kampf gewesen, sie zu dieser vierstündigen Autofahrt zu bewegen, wo es doch in der näheren Umgebung jede Menge hübscher Ziele gegeben hätte, doch die Miete für eine Ferienwohnung lag weit außerhalb meines Budgets. Damit hatte ich zwar den Sieg über die Entscheidung über unser Ausflugsziel gewonnen, jede weitere in den nächsten Tagen würde sich Diana allerdings kaum aus der Hand nehmen lassen. »Also gut. Wie weit ist es noch bis zu der Tankstelle?«

Diana sah auf ihr Handy, dann auf die Straße. Vor uns ragte eine Bergkette auf, die sich über den Horizont erstreckte.

»Da!« Sie zeigte auf ein grünes Schild, das eine Tankstelle in einer Meile Entfernung ankündigte.

Gerade als ich auf den Zufahrtsstreifen bog, vibrierte mein Handy ein zweites Mal. Dann einige weitere Male rasch hintereinander. Lars, dachte ich und sah ihn vor mir – die Schnittwunde in seiner Unterlippe, wie er laut schnarchend und nach Schnaps stinkend auf der Couch lag, als ich an dem Morgen zur Arbeit aufgebrochen war, für meinen letzten Tag in der Agentur, in der ich gerade einen Auftrag hatte. Es musste Lars sein.

Wieder ignorierte ich es, fuhr langsam auf den Parkplatz und lenkte den Wagen an die erste freie Zapfsäule.

»Dein Handy«, bemerkte Diana, eine Hand bereits an der Türklinke. »Hast du’s nicht gehört? Ein Signalton nach dem anderen.«

»Danke.« Ich schnappte danach und drehte es so, dass sie das Display nicht erkennen konnte. Diana gehörte zu denen, die immer wissen wollten, was Sache war, in allen grässlichen Einzelheiten.

Ein Teil von mir wünschte, es wäre nicht Lars, sondern irgendein Freiwilliger von einer politischen Partei, der um eine Geldspende bettelte. Von mir aus auch ein Gläubiger, der Geld von mir eintreiben wollte. Dieser Teil von mir wünschte, Lars und ich könnten die Trennung auf magische Weise vollziehen, ohne uns noch einmal begegnen zu müssen, damit er mich nicht daran erinnern konnte, wie er es geschafft hatte, einfach weiterzuleben, und weiterzulieben – im Gegensatz zu mir.

Natürlich war er es. Er konnte einfach nicht anders.

Seid ihr schon da?

Geht es euch gut?

Rede mit mir. Bitte.

Ich brauche dich, Pegs.

Mehr als je zuvor.

3

Sam

Ich schob mich vorbei an der Schlange Kunden, die ihre Tüten »Beef Jerky« und Chips bezahlen wollten, und ging nach hinten zu den Toiletten. Davor stand eine sichtlich gestresste junge Mutter, die Gummischlangen an ihre beiden Knirpse verteilte.

Ich drehte mich nach Diana oder Margaret um, doch wahrscheinlich stritten sie sich an der Zapfsäule, wer den Sprit einfüllen sollte – unglaublich, wie die beiden darum rangelten, die Strippen zu ziehen, wohingegen ich ihnen bereitwillig die gesamte Planung überließ, solange ich nur meine Auszeit im Whirlpool mit einem Glas Pinot Noir in der Hand bekam, die Margaret mir versprochen hatte.

Ich zog mein Handy heraus, rief meine Nachrichten auf und löschte ihre, doch die meiner Mutter, die zwanzig Minuten zuvor eingegangen war, entpuppte sich als beinahe ebenso alarmierend.

Sammy! Ich wollte dich schon die ganze Zeit anrufen. Ich habe endlich unser Hotel in New York gebucht. Es ist nur ein paar Blocks von dir entfernt. Hier ist der Link dazu. Ich weiß, dass es anstrengend für Dad werden wird, aber der Arzt hat ihm grünes Licht gegeben. Ich kann es kaum erwarten, dich in zwei Wochen zu sehen! Grüß Harry schön!

Die Tür wurde aufgerissen, und die junge Mutter mit ihren zwei Kindern gingen herein.

Schnell steckte ich das Handy zurück in die Tasche und spürte, wie sich mein Magen verkrampfte.

Was für ein Riesenschlamassel! Anders konnte man es nicht bezeichnen. Flüge, Hotel, alles war gebucht. Meine Eltern, zwei meiner liebsten Menschen auf der Welt, die ich schamlos angelogen hatte, würden in zwei Wochen auf der Matte stehen. Meine Eltern, die nach all der Scheiße, mit der sie sich seit der niederschmetternden Diagnose herumschlagen mussten, stets ein wenig Halt in meinem privaten Glück zu finden geglaubt hatten, würden dann erfahren, dass alles nur Schall und Rauch war. Es würde ihnen das Herz brechen.

Harry und ich waren gerade einmal ein paar Monate zusammen gewesen, als der Anruf gekommen war.

Meine Mom und mein Dad, beide am Apparat. »Wir haben leider keine guten Nachrichten«, sagte meine Mom. Im ersten Moment dachte ich, es sei etwas mit meiner kleinen Schwester Emma. Dass sie und ihre Freundin sich wieder mal getrennt hätten. Oder dass sie beschlossen hatte, ihr Jurastudium zu schmeißen und stattdessen eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin oder sonst etwas Abseitiges zu machen.

»Also, Folgendes«, begann mein Dad. Plötzlich wusste ich es. Hier ging es um etwas sehr viel Schlimmeres als eine von Emmas impulsiven Schnapsideen. Die Brüchigkeit, der Anflug von Trägheit in seiner Stimme. Mein Dad, ein einundsechzigjähriger Mann, der jeden Morgen im Hallenbad schwimmen ging, klang mit einem Mal, nun ja, alt. »Also, Folgendes«, sagte er noch einmal. Die Pause hing bedeutungsschwanger in der Leitung.

»Dein Dad hat Krebs«, erklärte meine Mutter sachlich. »Stadium vier.«

Innerhalb von einer Stunde war Harry zu mir in die Wohnung gekommen. Er machte alles richtig, eigentlich so, wie man es sich von seinem Partner wünschte: Er massierte mir die Schultern, streichelte mir über den Kopf, beruhigte mich. Gemeinsam setzten wir uns hin, kippten uns einen Wodka hinter die Binde und googelten Dickdarmkrebs – »Arschkrebs«, wie mein Vater es bezeichnet hatte.

Nach ein paar Drinks platzte es aus mir heraus – ich gestand Harry, dass ich komplett versagt hatte, was meinen Dad betraf. Er, der Traditionsbewusste, hatte sich immer ausgemalt, seine Töchter zum Altar zu führen und bei der Feier zu den lauten Klängen von »My Girl« seine Standardtänze aufs Parkett zu legen. Ich war fast dreißig und hatte mich durch die Betten gevögelt, gut, das taten zwar die meisten Frauen in New York, aber trotzdem.

Ich hatte mich nie um eine ernsthafte Beziehung bemüht und nie rechtzeitig alles dafür getan, um ihm diesen Herzenswunsch zu erfüllen. Emma war sieben Jahre jünger als ich, und sie und Abby machten keinerlei Anstalten in Richtung Hochzeit, weshalb ich seine einzige Option gewesen war. Und weil ich versagt hatte, würde er nun womöglich von uns gehen, ohne dass sein großer Traum wahr geworden war.

Als ich am nächsten Tag von fiesen Kopfschmerzen aufwachte, entschuldigte ich mich bei Harry. Ich hätte ihn nicht unter Druck setzen wollen, sondern nur Schwachsinn geredet, nicht zuletzt durch den vielen Wodka. Ich wusste, wie schwer er es ohnehin schon hatte, und wollte ihm nicht noch zusätzliche Probleme bereiten. Das zwischen uns sollte locker und unkompliziert sein, Spaß machen; keine dieser Freundschaft-plus-Geschichten, sondern eine richtige Beziehung, aber eine vernünftige, in der keiner zu hohe Ansprüche an den anderen stellte. Das hatte ich klargestellt.

Einen Monat später flogen Harry und ich nach North Carolina, um meinem Vater bei der Operation beizustehen. Und ausgerechnet, als wir alle gemeinsam das Krankenhaus verließen und in die schwüle Südstaatenwärme traten, ging Harry zu meiner grenzenlosen Verblüffung auf die Knie und bat mich, seine Frau zu werden, direkt vor der Krebsstation.

Meine Mutter schrie. Mein Vater brach in Tränen aus – auch die Schwester, die ihn im Rollstuhl schob –, und Emma und Abby kreischten hysterisch.

Und ich?

Na ja, mein Herz drohte zu zerplatzen.

Ich war schockiert, komplett von den Socken, sagte aber Ja … wie hätte ich auch Nein sagen können? Und warum? Schließlich hatte Harry nach diesem holprigen Start etwas getan, das so außerhalb jeder Vorstellbarkeit lag, dass ich nicht einmal davon zu träumen gewagt hatte. Er hatte mir diesen einen wertvollen Moment mit meinem Vater geschenkt.

Die Leute sagen immer, Liebe sei ein Opfer, harte Arbeit, die einem abverlange, sich jeden Tag aufs Neue für den Partner zu entscheiden, doch ich erlebte die Liebe ganz anders.

Für mich, zumindest für mich und Harry, war es pure Magie. Märchenhafte Augenblicke, wie man sie sonst niemals erleben würde. Augenblicke, in denen man förmlich den eigenen Körper verließ, auf sich selbst hinabblickte und dachte: Genau so sieht Glück aus. Ich. Er. Zusammen. Also ist das, was man in Filmen sieht, doch ein Stück weit wahr.

Ich zog sofort bei Harry in seine Eigentumswohnung ein, und auch alles andere gingen wir sehr schnell an, weil wir nicht wussten, wie viel Zeit meinem Vater noch blieb. Natürlich gab es deswegen hier und da kleine Zankereien und logistische Probleme, außerdem schafften Harrys enge Freunde und Familie es nicht, so kurzfristig nach North Carolina zu reisen, doch es zählte einzig und allein, dass mein Vater mit meinem Jawort seinen Traum erfüllt bekam. Seine Augen waren feucht, als wir zu »My Girl« tanzten, und die Lichterketten über uns warfen tiefe Schatten auf seine von der Chemo hohlen Wangen.

»Ich schwöre, dieser Tag war die Wende«, sagte meine Mutter noch am selben Abend zu mir – und seitdem noch viele, viele Male. Eine Heilung war in Stadium vier nicht mehr möglich, doch die Freude, miterleben zu dürfen, wie seine Älteste erwachsen wurde und eine eigene Familie gründete, hielt ihn bei der Stange.

Und jetzt musste ich ihm gestehen, dass alles eine Lüge gewesen war. Damit würde ich ihm und auch meiner Mutter nicht nur das Herz brechen, sondern ich befürchtete, ihn damit ins Grab zu bringen. Dass mir mein neues Leben nach so kurzer Zeit um die Ohren flog, würde den Energieschub, den meine Heirat ihm gegeben hatte, schlagartig verpuffen lassen.

Und dann würde der Krebs gewinnen.

Die Tür zur Toilette ging auf. Ich wartete, bis die Mutter mit ihren beiden Kindern herausgekommen war, dann ging ich hinein, schloss hinter mir ab, trat vor den Spiegel und sah mich an. Es war nie meine Absicht gewesen, alle anzulügen, meine Eltern, Emma, alle meine Freunde in Brooklyn und North Carolina. Und schon gar nicht so lange, über zwei Monate.

Doch dass Harry mich verlassen hatte … es war so abrupt gewesen. Eines Abends hatten beim Nachhausekommen seine Koffer an der Tür gestanden, und er hatte mir erklärt, es tue ihm leid, es sei schrecklich für ihn, mir so wehzutun, aber sie brauche ihn jetzt. Zwar hätte er versucht, seine Gefühle zu unterdrücken, doch es sei ihm nicht gelungen.

Es war das erste Mal seit Monaten gewesen, dass ich ihren Namen laut ausgesprochen gehört hatte. Im ersten Moment hätte ich fast gelacht, als wäre all das ein unpassender verfrühter Aprilscherz. Aber dann, als sich kein Lächeln auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte, war der Schock gekommen, mit seiner ganzen grauenvollen Absolutheit.

Und dann war er fort gewesen, ohne dass ich auch bloß eine Minute zum Nachdenken gehabt hätte.

Seitdem hatte er sich immer wieder gemeldet, hatte mir eine E-Mail geschrieben, gespickt mit Klischees, vagen Erklärungen und schwachsinnigen Ausreden, dass sie eine schlimme Kindheit gehabt habe und er sie jetzt nicht im Stich lassen könne. Ich könnte so lange in der Wohnung bleiben, wie ich wollte – oh, wie reizend von dir, Harry! –, doch meine Bitte, uns zu treffen, um alles in Ruhe zu besprechen, hatte er abgelehnt. Es sei viel zu früh dafür.

Und das war’s gewesen.

Er hatte mich wegen ihr verlassen.

Bis auf die Nachricht vor einigen Tagen. Ich vermisse dich.

Ich wusch mir die Hände. Beim Gedanken an sie, an ihr weiches schokobraunes Haar und ihren schönen vollen Mund, juckte es mich in den Fingern. Am liebsten hätte ich auf Instagram sämtliche Fotos nach Hinweisen von ihm abgesucht. Von ihm und ihnen beiden, als Paar.

Außerdem hätte ich auf ihre Nachricht gern geantwortet, ihr meine Meinung an den Kopf geworfen über das, was sie getan hatte.

Aber leider konnte ich das nicht, das hatte sie klipp und klar vermittelt.

Lassen Sie uns verdammt noch mal bitte in Ruhe.

Ich musste aufhören, solange ich noch ein Fünkchen Selbstachtung besaß.

 

Mit einer Plastiktüte mit meinen Lieblingsreisesnacks – Snapple-Limo, Gardetto’s-Chips und Goldfischlis – trat ich nach draußen, blieb jedoch abrupt stehen.

Inzwischen stand der SUV direkt vor dem Laden, allerdings waren sämtliche Türen weit aufgerissen. Margaret hatte sich über den Beifahrersitz gebeugt und schien etwas zu suchen, während Diana sich an der Rückbank zu schaffen machte.

»Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«, fragte ich.

Margaret drehte sich zu mir um und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Wir finden den Schlüssel nicht mehr.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich lachend. »Wir sind an die Tankstelle gefahren, und du hast an der Zapfsäule angehalten. Er muss doch …«

Diana tauchte vom Rücksitz auf. »Ja, echt verrückt, was? Wir verstehen es ja selbst nicht. Geschlagene fünf Minuten suchen wir jetzt schon. Margaret hat den Motor ausgemacht und ist ausgestiegen, um etwas aus ihrem Koffer zu holen, und seitdem ist er weg. Es ist, als … keine Ahnung …«

In der Ferne sah ich den Fluss, schiefergrau im schwindenden Tageslicht, während mich unvermittelt ein Gefühl überkam, tief in meinem Bauch, dass hier etwas ganz gewaltig falsch lief. So wie damals an dem Abend, als meine Eltern anriefen. Oder als ich die Tür aufschloss und Harrys Koffer stehen sah, wo sie eigentlich nicht stehen sollten.

Margaret räusperte sich. Sie war kreidebleich und sah aus, als würde sie sich gleich übergeben.

»Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst.«

4

Margaret

Es war eine echte Erleichterung, als wir endlich mit der Suche aufhören konnten.

Wir waren ganz systematisch vorgegangen, hatten unsere Taschen abgeklopft, das Gepäck und unsere Handtaschen überprüft, Handys, Brieftaschen und dergleichen auf der Rückbank ausgebreitet und alles durchsucht. Wir hatten unter die Sitze gespäht, waren um den Wagen und die Zapfsäule herumgelaufen. Der Kassierer hatte sogar noch eine zusätzliche Außenbeleuchtung angeschaltet, damit wir den Bürgersteig vor der Tankstelle absuchen konnten.

Es wurde rasch dunkel, und in der einbrechenden Dämmerung sah ich die Hoffnung auf Sams Zügen schwinden, als ihr klar wurde, was das bedeutete: Der Schlüssel war weg. Wir würden nicht spät in Saratoga Springs eintreffen, sondern überhaupt nicht. Sieh nicht so bedröppelt drein, das war mein Ausflug!, hätte ich ihr am liebsten an den Kopf geworfen. Mein Wochenende des Entkommens. Schließlich war ich diejenige, der ein grauenvoller Jahrestag bevorstand, diejenige, die auf diesem speziellen Datum bestanden hatte, als auch nur die Idee eines Mädelstrips aufgekommen war. Ich war diejenige, deren verkaterter Ehemann sie alle fünf Minuten mit einer Nachricht traktierte, ob alles in Ordnung sei. Aber …

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sam. »Wir können ja nicht ewig weitersuchen. Sollen wir ein Taxi rufen? Meine Güte.«

»Nach Saratoga Springs sind es zwei Stunden«, erwiderte ich. »So weit fährt uns kein Mensch.«

Schnaubend verschränkte Sam die Arme vor der Brust, fast wie ein trotziger Teenager.

Diana drückte ihren Arm. »Keine Angst, uns fällt schon etwas ein. Ich rufe einfach eine andere Mietwagenfirma an. Moment. Auf der anderen Seite des Gebäudes habe ich besseren Empfang.« Sie ging davon.

Sam starrte mich finster an. Obwohl sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, war der Vorwurf in ihren zusammengekniffenen Augen unübersehbar. Wie konntest du den Schlüssel verlieren?

»Möchtest du etwas sagen?«, fragte ich.

»Nein. Ich verstehe es nur nicht.«

In diesem Moment kam eine weitere Nachricht. Ich räusperte mich, das ist ein nervöser Tick von mir. »Glaub mir, ich auch nicht.«

Die Nachricht war von Lars.

Wo seid ihr gerade?

Ich schrieb zurück, um ihn möglichst schnell abzuwimmeln.

An einer Tankstelle. Kurz vor Catskill, etwa auf halbem Weg zu unserem Ziel.

Sekunden später kam seine Antwort.

Sitzt ihr immer noch fest? Soll ich kommen?

Meine Finger flogen schneller über die Displaytastatur, als ich sie kontrollieren konnte.

Damit du dich in der nächsten Kneipe volllaufen lassen und mit einem Einheimischen prügeln kannst? Nein, danke.

Lars schrieb genauso schnell zurück.

Sag doch so was nicht, Peggy. Ich bin auf dem Gehsteig gestolpert, das habe ich dir doch gesagt.

Ich ballte die Faust und löste sie wieder. Inzwischen wusste ich nicht mehr, was ich noch glauben sollte.

Tut mir leid. Aber bitte komm nicht. Wir kriegen das schon hin.

»Tja, das war ein kompletter Vollflop.«

Diana stand da, eine Hand in die Hüfte gestemmt. »Es haben alle geschlossen, bis auf eine, die aber erst morgen wieder Fahrzeuge zur Verfügung stellen kann. Ich fürchte, dieses Die-Stadt-die-niemals-schläft-Nummer gilt hier oben nicht.«

»Stimmt, das hier ist eine komplett andere Welt.« Sam blickte auf die Karte auf ihrem Handy.

Eine Frau in einer zerknitterten Freizeithose und einer Bluse mit Button-down-Kragen trat aus der Tankstelle. »Ich bin die Managerin hier. Wie ich höre, haben Sie ein Problem mit Ihrem Wagen?«

»Wir haben den Schlüssel verloren«, gestand Diana. »Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber er ist weg.«

»Tja, ich sage es Ihnen nur ungern, aber der Wagen kann hier nicht über Nacht stehen bleiben. Wir müssen ihn abschleppen lassen.«

»Das verstehen wir«, wiegelte Diana ab. »Keine Sorge.«

Die Frau verschwand wieder.

»Wir sind also am Arsch?«, fragte Sam. In diesem Moment traf mich der erste Regentropfen.

»Nur die Ruhe«, meinte Diana. »Wir sind drei hochintelligente Frauen, und so weit weg von der Zivilisation sind wir nun auch wieder nicht.« Sie schob die Hand in die Hosentasche, als wollte sie sich vergewissern, dass der Schlüssel nicht zufällig da war. Nicht einmal der Anflug von Hysterie war in ihren weit stehenden Rehaugen zu erkennen. Ich fragte mich, ob auch Sam es bemerkte; falls ja, schob sie es bestimmt auf Dianas Job als Sozialarbeiterin und die damit einhergehende Resilienz in Krisensituationen. »Suchen wir uns doch eine Übernachtungsmöglichkeit und überlegen uns, wie wir morgen nach Saratoga Springs kommen. Es ist blöd und ein Rückschlag, aber wir finden schon eine Lösung, und der Whirlpool ist morgen auch noch da.«

Diana sah mich flüchtig an, woraufhin ich brav nickte.

»Dann brauchen wir also eine Unterkunft?«, meinte Sam. »Das Einzige in der Nähe ist ein Howard Johnson-Motel etwa zwanzig Meilen von hier.«

»Da finden wir etwas Besseres.« Diana tippte bereits auf ihr Handy ein. »Diese Bruchbuden sind berüchtigt für Bettwanzen.«

»Sollen wir lieber wieder nach Hause fahren?«, fragte Sam.

»Wir können den Wagen nicht einfach hier stehen lassen«, wandte ich ein. Der Vertrag lief auf meinen Namen, außerdem konnte ich nicht nach Brooklyn zurück – nicht ausgerechnet an diesem Wochenende. Nicht, wenn Lars dort saß und nur auf eine Auseinandersetzung wartete, oder zumindest eine Diskussion oder was auch immer, um die Trauer zu kompensieren, die wir tagtäglich mit uns herumtrugen.

»Ah«, sagte Diana. »Ich glaube, wir haben die Lösung schon. Nur ein paar Meilen von hier ist ein freies Ferienhaus. Wir lassen den Wagen zur nächsten Werkstatt schleppen, wo man uns morgen einen Schlüssel nachmachen soll, und machen es uns inzwischen dort gemütlich.«

Sie drehte ihr Telefon so um, dass wir das einzelne Foto eines tannengrünen Holzhauses bei strahlend blauem Himmel mit markanten Dachvorsprüngen, Fenstern mit hübschen Läden und gemauerten Kaminen auf jeder Seite erkennen konnten. Es sah riesig aus.

»Wie viel kostet es?«, platzte ich unwillkürlich heraus.

»Zweihundert. Ein Schnäppchen. Ich nehme es«, antwortete Diana.

Sam zögerte und holte Luft, als wollte sie Einwände erheben, ehe sie sich wieder ihrem Handy widmete und es dabei beließ.

Ich schrieb Lars.

Mach dir keine Sorgen um uns, wir übernachten in einem Ferienhaus.

Und dann schob ich noch eine Nachricht hinterher, weil er mir immer noch am Herzen lag, selbst wenn ich ihn nicht mehr auf diese Art liebte.

Bitte pass du auch auf dich auf.

Diana tippte auf ihr Handy ein und sah lächelnd auf. »Erledigt. Seht ihr, so schlimm war das doch gar nicht. Und keine Angst, es ist nur ein kleiner Umweg.« Sie grinste. »Morgen fahren wir weiter nach Saratoga Springs. Versprochen.«

 

Ungeduldig traten wir auf der Veranda des Hauses von einem Bein auf das andere, während Diana einen Code von ihrem Handy ablas und in ein Schließfach eingab, woraufhin zwei silberfarbene Schlüssel herausfielen. Eilig schlossen wir die dunkelgrau gestrichene Holztür auf, stürmten hinein und knipsten überall die Lichter an, um unser Asyl in Augenschein zu nehmen. Wir hatten es kaum erwarten können, endlich aus dem Abschleppwagen aussteigen zu dürfen (der uns von der Tankstelle abgeholt und den Diana bezahlt hatte …) und wieder auf sicherem, verlässlichem Boden zu stehen.

Das Haus war massiv und symmetrisch, mit einem weitläufigen Wohnzimmer mit grauen Leinensofas auf der einen Seite, einem Essbereich mit einem Tisch für acht Personen sowie einem offenen Kamin in beiden Räumen, wie die beiden Schornsteine auf dem Foto hatten ahnen lassen.

Es war alt, etwa zehn, zwanzig Jahre vor der Prohibition erbaut, mit Fußböden aus breiten Holzplanken, auf denen die Rollen unserer Koffer ein angenehm rhythmisches Poltern erzeugten.

Die Wände waren in einem Cremeton gestrichen, der eigentlich nicht viel Dekoration erforderte, bleiche Rechtecke zeigten jedoch, wo früher einmal Bilder gehangen hatten, und schrien förmlich nach einer frischen Farbschicht. Auf den Fußbodenleisten lag eine dicke Staubschicht, und im ganzen Haus hing ein muffiger, leicht modriger Geruch. Die Decken waren mit extravaganten Stuckleisten verziert, aus deren Rissen noch dunklere Staubflusen hingen, was ihnen das Aussehen von Monsterzähnen verlieh. Ein ungewollter Gedanke kam mir in den Sinn – Die fressen dich bei lebendigem Leib auf –, den ich jedoch sofort verwarf. Wie albern. Ich las eindeutig zu viele Horrorgeschichten. Von der Mitte des Eingangsbereichs aus führte eine Treppe mit dunklem Holzgeländer nach oben.

»Wie kann es sein, dass das Haus bloß zweihundert Dollar kostet?«, fragte Sam und ging die Treppe hinauf. »Es ist riesig.«

»Ein Schnäppchen, was?«, antwortete Diana und folgte Sam.

Ich ließ meinen Koffer neben der Eingangstür stehen und ging in die Küche, wo ich mir ein Glas Wasser einschenkte, um mich ein wenig zu beruhigen, und nach einem typischen Handbuch oder einem Schnellhefter mit Anweisungen, dem WLAN-Code und Restauranttipps Ausschau hielt. Doch da war nichts, weder auf dem Tisch noch auf der Kücheninsel oder der Arbeitsfläche. Bewundernd stand ich vor den Küchenschränken, durch deren Glaseinsätze man das ordentlich sortierte Geschirr sah, exakt vier Exemplare von allem. Ich dachte an meine Küche zu Hause in Brooklyn, die billigen Schränke aus hellem Holz, die wild zusammengewürfelten Gläser, weil im Lauf der Jahre etwas zerbrochen oder abhandengekommen war. Dann sah ich Lars vor mir, wie ihm der Schweiß aus seinen viel zu langen Locken tropfte, sein erhitztes Gesicht und seine leuchtenden Augen, als er sich ein Saftglas schnappte und mit Vinho Verde füllte. Er schien zu glauben, solange man nur Wein trank, hätte man kein Alkoholproblem. Der Whiskey kam erst später am Abend, um sich vollends abzuschießen.

Ich öffnete ein paar weitere Schubladen, die jedoch nur sorgfältig eingeräumtes Besteck und Küchenutensilien enthielten. Kein Willkommensbuch. Aber eigentlich spielte es ohnehin keine Rolle, wir blieben ja nur eine Nacht.

Der Fußboden im oberen Stock knarzte, als Sam und Diana die Räume inspizierten. Ich schnappte meinen Koffer und folgte ihnen.

Das obere Stockwerk war ebenfalls symmetrisch angelegt, zwei Räume links, zwei rechts. Schlafzimmer, vermutete ich. Hinter mir befand sich ein Badezimmer mit sechseckigen schwarz-weißen Fliesen und einer Wanne auf Klauenfüßen. Zu beiden Seiten des Flurs gab es mehrere geschlossene weiße Türen, die nach Wandschrank aussahen.

Diana trat aus dem ersten Zimmer auf der linken Seite. »Dein Zimmer ist hier.« Sie deutete auf eine Tür gegenüber von ihrem Zimmer. »Es hat ein breites Bett, und ich dachte, du solltest es kriegen, weil du die Größte von uns bist.«

»Wie nett.« Die Worte klangen barscher als beabsichtigt. Diana warf mir einen warnenden Blick zu.

Mein Zimmer war groß und hübsch eingerichtet, und unter anderen Umständen hätte ich mich sehr über das hölzerne Himmelbett, die Tagesdecke mit Lochstickerei und die Mahagoni-Schminkkommode mit aufmontiertem Spiegel im Queen-Anne-Stil gefreut, die aussah, als wäre sie für eine lebensgroße American-Doll-Puppe angefertigt worden. Vorsichtig stellte ich meinen Koffer ab und klappte ihn auf, um mein verschwitztes graues Sweatshirt durch ein frisches schwarzes zu ersetzen. Dabei starrte ich in den Spiegel, wie immer. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen.

Da, mitten auf meinem Körper, für den ich mich so quälte, um ihn trainiert und muskulös, anmutig und funktional zu halten, verliefen die Linien, die ich so sehr hasste; entstellte Teile von mir, die ich nicht kontrollieren konnte.

Einige Frauen bezeichneten sie als Landkarte ihrer Lebensgeschichte, als Symbol für ihre Kraft und Stärke. Ich war auf Instagram und auf Pinterest gewesen, hatte gesehen und gelesen, was wir uns einredeten, um sie akzeptieren zu können. Und ich wollte keineswegs behaupten, dass ich nicht daran glaubte.

Rein theoretisch gab es gegen diese braunen Linien nichts einzuwenden, die sich um meinen Bauchnabel zogen wie gezackte, in meine Haut eingeritzte Blitze.

Ich zog mein Körperöl heraus, das ich stets dabeihatte, gab ein paar Tropfen in die Hände und massierte es ein. Das machte ich dreimal täglich, in der inbrünstigen Hoffnung, dass sie irgendwann einmal weggingen.

Wenn Dehnungsstreifen eine Landkarte sein sollten, waren meine eine Straße ins Nirgendwo. Der Gedanke kam aus heiterem Himmel, ließ sich nicht wieder verdrängen.

Morgen wäre er ein Jahr alt geworden. Timothy, benannt nach seinem Großvater. Er hätte gelebt, gelacht, vielleicht …

Hättest du nur anders entschieden.

5

Sam

Im ersten Moment hatte ich es gar nicht bemerkt. Ich war in der Tankstelle auf die Toilette gegangen und hatte die Nachricht meiner Mutter gelesen, ohne irgendwas zu ahnen.

Doch dann war der Schlüssel verschwunden gewesen, wir hatten überlegt, wo wir übernachten sollten, ich hatte einen genaueren Blick auf Google Maps geworfen, und … o Mann!

Catskill, New York. Ein idyllisches Städtchen, nicht so dicht bebaut wie Woodstock oder Kingston; allerdings hatte es in den Siebzigern einen massiven Schwund der Bevölkerung und damit auch der Geschäfte verkraften müssen, so wie viele dieser Siedlungen hier oben. Erst seit ein paar Jahren erlebte Catskill jedoch eine gewisse Konjunktur mit der Ansiedlung kleiner, unabhängiger Craftbier-Brauereien und Fair-Trade-Cafés, die wie Frühlingsblumen nach einem langen Winter aus der Erde sprossen.

Bevölkerungszahl: gut elftausend, gegründet in den 1770ern, ehemaliger Wohnort mehrerer Politiker des Bundesstaats New York und Künstler, eines berühmten Baseballspielers und erstaunlicherweise der Ort, an dem Mike Tyson in den Achtzigern sein Training in Angriff genommen hatte.

Ich wusste alles über Catskill, hatte viel zu viel Zeit auf der viel zu knapp gehaltenen Wikipedia-Seite verbracht und alle Fakten aufgesogen, die ich nur kriegen konnte. Oder war mittels Google Maps sämtliche Straßen abgegangen.

Oder sogar im wirklichen Leben, um zu verstehen zu versuchen. Aber nur ein einziges Mal. Ehrenwort.

Lassen Sie uns verdammt noch mal bitte in Ruhe.

Es wird schon irgendwie, sagte ich mir, als wir unsere Zimmer bezogen, eine Flasche Wein aufgemacht und uns auf eine Bar namens Eamon’s geeinigt hatten, den einzigen Laden in der Stadt, wo wir um diese späte Uhrzeit noch etwas zu essen bekamen.