Die Nacht so groß wie wir - Sarah Jäger - E-Book

Die Nacht so groß wie wir E-Book

Sarah Jäger

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Beschreibung

«Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.» Suse, Pavlow, Maja, Tolga und Bo sind enge Freund:innen, seit vielen Jahren. Jetzt wartet endlich das echte Leben auf sie, denn nach diesem Tag und dieser Nacht haben sie ihre Schulzeit hinter sich. Gemeinsam beschließen sie, bis zum nächsten Morgen all das zu erledigen, was sie sich bisher nicht getraut haben. Auf jede:n der fünf warten offene Rechnungen – und innere Ungeheuer. Die Dinge laufen aus dem Ruder. Und nach dieser Nacht ist nichts mehr, wie es vorher war.

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Seitenzahl: 202

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Sarah Jäger

Die Nacht so groß wie wir

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.» Suse, Pavlow, Maja, Tolga und Bo sind Freund*innen. Enge Freund*innen seit vielen Jahren. Jetzt stehen sie kurz vor dem Sprung ins Erwachsenwerden, denn nach diesem Tag und dieser Nacht haben sie die Schulzeit endlich hinter sich, das echte Leben wartet. Gemeinsam beschließen sie, bis zum nächsten Morgen all das zu erledigen, was sie sich bisher nicht getraut haben. Auf jede*n der Fünf warten offene Rechnungen und innere Ungeheuer. Doch die Dinge laufen aus dem Ruder. Und nach dieser Nacht ist nichts mehr, wie es vorher war.

Vita

Sarah Jäger, geboren in Paderborn, lebt im Ruhrgebiet. «Die Nacht so groß wie wir» ist ihr zweiter Roman nach «Nach vorn, nach Süden», für den sie von der Presse gefeiert und vielfach ausgezeichnet wurde.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat Christiane Steen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Readymade-Images/Romain Ballon/plainpicture

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00949-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Maja

Es beginnt mit Tolga.

Er scheint selbst überrascht zu sein, als sein Name aufgerufen wird, denn normalerweise bildet er überall das Schlusslicht. Normalerweise endet immer alles mit Tolga. Er steht auf und guckt uns mit leicht geöffnetem Mund an, die Narbe an seiner Schläfe leuchtet rot. Von seinen Eltern kann er keine Hilfe erwarten, sie sind noch mit den Einstellungen an ihrer Digitalkamera beschäftigt. Wahrscheinlich haben sie gedacht, bei einem Nachnamen wie dem ihren, einem Nachnamen, der mit Z beginnt, hätten sie noch ausreichend Zeit, sich mit der Technik vertraut zu machen. Im linken Ohr von Tolgas Vater nehme ich das beige Gehäuse eines Hörgeräts wahr und wundere mich kurz, weil mir Tolga nichts davon erzählt hat. Suse und Pavlow, die mit ihren Müttern eine Reihe hinter uns sitzen, nicken ihm aufmunternd zu, und Bo neben mir bringt sein Handy in Position. Ich habe ein «Schaffst du» auf den Lippen, entscheide mich aber für «Mach jetzt», weil ich glaube, dass Samthandschuhe gerade nicht angebracht sind.

Tolga tritt in den Mittelgang der Aula. Auch an diesem Tag trägt er seine graue Kapuzenjacke, in manchen Dingen ist Tolga unheimlich konsequent. Nur bei seinen dunkelbraunen Locken hat er eine Ausnahme gemacht, sie haben heute einen Kamm gesehen. Vielleicht hat er das für seine Mutter getan.

«Euer Sohn», flüstere ich Tolgas Eltern zu, und sie wenden erschrocken ihren Blick von der Kamera ab.

Die Haarfarbe von Tolgas Mutter würde ich immer noch als schwarz bezeichnen, obwohl sich die grauen Strähnen nicht mehr unter Färbemitteln verstecken müssen. Die Akzeptanz ihrer grauen Haare sei ihr Geschenk an sich selbst, hat Tolga uns erklärt. Bei Tolgas Vater ziehen sich tiefe Gräben an den Seiten seines Kopfes entlang, und nur ein schmaler Grenzstreifen weißen Haupthaares verhindert, dass die beiden Gräben sich vereinen. Dort, wo auf Tolgas Schläfe die Narbe rot leuchtet, haben sich auf der Schläfe seines Vater Altersflecken versammelt.

Aus dem Schädel des AltenMannes vorne auf der Bühne sprießt kein einziges Haar mehr. Er steht hinter dem Stehpult und fährt sich mit der linken Hand über seine Glatze, während er auf Tolga wartet. Das hat er auch gemacht, als ich vorgestern noch einmal in seinem Büro gewesen bin:

«Ich will doch persönlich gratulieren», sagte er und fuhr sich mit der Hand über seine Glatze. Und natürlich schob er hinterher, dass er mit seinem Empfehlungsschreiben schließlich auch einen kleinen Anteil daran gehabt hätte, dass ich den Praktikumsplatz am deutschen Kulturinstitut in Osaka bekommen habe. Ich verbeugte mich vor ihm. Mit geradem Rücken, aber nur fünf Grad, damit es neutral blieb und nicht zu viel Dankbarkeit ausdrückte. So viel habe ich in meinem Japanischkurs schon gelernt.

«Heute entlassen wir Sie in das Erwachsenenleben», hat der AlteMann vor achtzehn Minuten seine Rede begonnen. Am Anfang machte ich mir noch aus Gewohnheit ein paar Stichpunkte in mein Notizbuch, aber nach wenigen Minuten verwandelten sich seine Worte in Strichmännchen und Blumenmuster. «Heute entlassen wir Sie in das Erwachsenenleben», repetierte er am Ende seiner Rede, für all diejenigen, die es beim ersten Mal nicht verstanden hatten. Und es wurde auch nicht gehaltvoller, als er die Vergabe der Zeugnisse ankündigte: «Ich mache es heute mal von hinten.» Der Stiefvater von der blonden Lara lachte am lautesten, sogar lauter noch als Bo neben mir. Ich verdrehte nur die Augen, und die Mutter von der blonden Lara zischte «Jochen».

Inzwischen ist Tolga am Bühnenrand angekommen. Als er dem AltenMann sein Abiturzeugnis aus den Fingern nimmt, hebt er für einen winzigen Augenblick den Kopf – seine Narbe ist nun glühend rot –, um sich dann mit schnellen Schritten zurück zu seinem Platz zu begeben. Bo streckt sein Handy in die Höhe und ruft laut, «Tolga, guck mal hier!», aber Tolga hebt kein zweites Mal den Kopf. «Das ging jetzt alles so schnell», murmelt Tolgas Vater überfordert. «Ich war noch gar nicht fertig mit der Kamera. Und ich wollte doch …»

«Ist schon okay», beruhigt ihn Tolga, nachdem er sich an seinen Eltern vorbeigeschlängelt hat und wieder links neben mir sitzt, «ist doch nur Papier.» Aber ich sehe ein Lächeln auf seinem Gesicht und lege meine Hand auf seine. ‹Tomodachi›, denke ich stolz. In diesem Papier stecken dreizehn Jahre unseres Lebens. Und erwachsen zu sein hat hoffentlich mehr zu bieten als primitive Witze, über die nur lachen kann, wer Jochen heißt. Manchmal beschleicht mich die Angst, dass aus meinem besten Freund ein Hikikomori werden könnte, ein Einsiedler, der sich von der Welt zurückzieht. Aber solange wir befreundet sind, werde ich das zu verhindern wissen.

Sieben Minuten später ist der AlteMann beim Buchstaben S angekommen. Er sagt Pavlows Namen ins Mikrofon, während er sich wieder über die Glatze streicht. Pavlows Mutter jubiliert mit geschlossenem Mund. Ihre Finger umklammern den Henkel der Wildlederhandtasche, als wolle sie verhindern, dass sie sich vor Freude geballt in die Luft recken. Als sich Pavlow erhebt, löst seine Mutter eine Hand von dem Taschenhenkel und streicht über den Ärmel seines glattgebügelten Hemdes. Wenn man genau hinsieht, wirft die blassblaue Bluse, die seine Mutter trägt, unter dem Kragen leichte Falten. Pavlow bügelt seine Hemden immer selbst.

Betont langsam geht er den Mittelgang entlang, seine Arme schwingen vor und zurück. Alle können sehen, wie sehr er es genießt, den AltenMann hinter seinem Stehpult warten zu lassen. Er steigt die drei Stufen zur Bühne hinauf. Sein rechter Fuß steht bereits auf der Bühnenfläche, doch Pavlow friert einen Moment in der Bewegung ein, bevor er sein linkes Bein nachzieht. Als der AlteMann ihm das Zeugnis überreichen will, streckt Pavlow seine rechte Hand vor, aber seine Finger greifen nicht nach dem Papier, sie bleiben ein spiegelverkehrtes C. Der AlteMann reagiert zu langsam, weil seine Reflexe die eines alten Mannes sind. Er lässt das Papier los, und das Zeugnis schwebt durch das C hindurch zu Boden. Während sich der AlteMann hinunterbeugt, um das Papier mit seinen Fingerkuppen vom Parkett zu klauben, steht Pavlow aufrecht da und blickt auf ihn herab.

Als Pavlow zurückgeht und auf der Höhe von dem gestreiften Henning ist, der drei Reihen vor uns sitzt, ruft Bo: «Pavlow, wink mal!» Aber Pavlow fragt nur mit einem Grinsen, das bis in das Grün seiner Augen reicht: «Hast du den Kniefall auf Video?»

Pavlow lässt sich von Suse umarmen. Seine Mutter holt ein Taschentuch aus ihrer Wildlederhandtasche und tupft sich die Augenwinkel ab. Ihr Jubel hat den Weg nach draußen gefunden. Ich vergesse den AltenMann und die Buchstaben R bis L, denn ich kann nicht aufhören, die Frau mit der zerknitterten Bluse zu betrachten. Ich kann mich nicht sattsehen an Menschen, die vor Freude weinen. «Bastian, ich bin so stolz auf dich», sagt Pavlows Mutter und streicht über seinen Arm, bis er ihn wegzieht. Seit Jahren nennen wir Pavlow nicht mehr Bastian.

Ich lasse ab von Pavlows Mutter und wende mich wieder der Bühne zu. Den Seitenblick von Bo ignoriere ich, indem ich mich auf die Stimme des AltenMannes konzentriere. Er hat inzwischen das K erreicht, und zum K gehöre ich. Als die piksige Tamara nach vorne geht, atme ich noch einmal tief ein und kontrolliere die Schnürsenkel meiner Schuhe. Siebenmal hinfallen, achtmal aufstehen, sagt man in Japan. Aber wenn ich hinfalle, dann nicht wegen meiner Schnürsenkel. Eine Minute später hallt mein Name durch die Aula.

Ich sehe in meinen Augenwinkeln Tolga und Bo, hinter mir spüre ich Pavlow und Suse. Nur meine Eltern, die fehlen. Es ist wie damals vor neun Jahren, an meinem ersten Tag auf dem Humboldt-Gymnasium. Es ist traurig oder beruhigend, manche Dinge ändern sich nie. Nur das Gebäude schien vor neun Jahren viel größer zu sein: Gefühlte drei Stunden irrte ich durch die Gänge wie durch ein Labyrinth, bis ich endlich die Tür zur Aula fand. Ich drückte die Klinke runter und schlüpfte in den holzvertäfelten Raum. Vorne an der Bühne bildete sich eine Gruppe, gerade war ein Mädchen mit zwei Zöpfen aufgerufen worden. Ihr Nachname begann mit einem P. Sie nahm ihren pinken Tornister und ging zu den Wartenden. Es folgten Nachnamen mit R und S, keiner mit T und nur einer mit U. Die Kinder standen auf, nahmen ihre Tornister, die Coolen nahmen ihre Rucksäcke, und verabschiedeten sich von ihren Eltern. Es gab kein Kind, das allein gekommen war. Ein Junge, dessen Nachname mit Z begann, schien nicht da zu sein. Der Name wurde noch einmal vorgelesen, doch niemand stand auf. Die Gruppe verließ die Aula, angeführt von einer Frau mit rot gefärbten Haaren in Jeansjacke und Jeansrock. Neue Namen wurden aufgerufen und eine weitere Klasse zusammengestellt. Ich wartete auf meinen Namen, vergeblich. Als alle Zehnjährigen die Aula verlassen hatten und nur noch einige Eltern in kleinen Gruppen zusammenstanden, ging ich nach vorne zu dem AltenMann, den ich damals noch «Herr Altmann» nannte. Damals kam mir der AlteMann viel älter vor als heute, obwohl vor neun Jahren noch Haare auf seinem Kopf wuchsen. Herr Altmann durchforstete seine Papiere und fand meinen Namen auf der Liste der Klasse 5B. Vor der Tür der Aula trafen wir auf Tolga und seine Eltern. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass es Tolga war. Tolga war der Junge, dessen Nachname mit Z begann. Seine Eltern redeten auf Herrn Altmann ein. Jeder dritte Satz war eine Entschuldigung, «wir haben uns die falsche Uhrzeit im Kalender notiert, wir wissen auch nicht, wie das passieren konnte, es tut uns ja so leid». Sie redeten, während der Junge mit seinem Zeigefinger über die Rillen in der Holztür fuhr. Ich habe mich damals gefragt, was in seinem Kopf vor sich ging, und das ist bis heute so geblieben.

 

Wir betreten den Klassenraum, und dreißig Augenpaare starren uns an. Ich werde meinen Kopf nicht senken. Links am Rand sehe ich das Mädchen mit den Zöpfen, sie sitzt neben einem Rucksackjungen. Der Junge mit Z betrachtet seine Schuhspitzen. Als ich meinen Namen sage, wiederholt der Rucksackjunge mit der Stimme von Biene Willi «Maja». Dann zeigt er auf mein Blümchenkleid und ruft: «Und ihre Wiese hat sie gleich mitgebracht.» Ich werde meinen Kopf nicht senken. Bevor die Lehrerin etwas sagen kann, ziehe ich den Jungen mit Z an der Hand hinter mir her. Als wir an dem Rucksackjungen vorbeigehen, sehe ich ihn an und sage laut: «Schweig, Fremder!»

In der letzten Reihe sind noch zwei Plätze frei. Als wir sitzen, flüstere ich: «Das haben wir geschafft. Und schlimmer wird es bestimmt nicht mehr.» Der Junge mit Z zieht die eingeritzten Buchstaben auf der Tischplatte nach, und ich frage mich, was er wohl gerade denkt.

 

Bevor ich aufstehe, drücke ich meine Lippen auf Tolgas Schläfe. «Das haben wir geschafft», flüstere ich in sein Ohr. Ich richte mich auf, senke die Schultern und hebe den Kopf.

Als ich an den Stuhlreihen vorbeigehe, höre ich hier und da Gemurmel. Während sich die Strophen unterscheiden, singen alle den gleichen Refrain: ‹Die da im schwarzen Kleid, die hat uns den Abiball geklaut.› Ich zähle meine Schritte, um zu verhindern, dass sich die gemurmelten Worte in einen Ohrwurm verwandeln.

Nachdem mir der AlteMann mein Zeugnis in die Hand gedrückt hat, recke ich mein Kinn zwei Zentimeter nach oben und betrete erneut den Mittelgang. Von der Bühne bis zu meinem Sitzplatz sind es sechzehn Schritte.

«Halt mal dein Zeugnis in Bos Kamera», bettelt Pavlow, aber ich schüttele entschieden den Kopf. «Ach, gönns ihm doch, so nah kommt er nie wieder an eine 1,3.»

Bo lacht, als ob sein Scheitern nur eine gute Pointe sei. Er trägt heute eine braune Nadelstreifenhose, «ist ja ein festlicher Anlass. Brauch man nicht drum rumreden», hat er uns mit einem Achselzucken gesagt.

Bo hat die Abiturklausuren nicht bestanden. Zu den Nachprüfungen ist er gar nicht erst angetreten, weil die Lage, so meinte Bo, hoffnungslos gewesen sei. Nun hält er unseren Siegeszug auf Video fest und verzichtet darauf, nebenan in der Droste-Hülshoff-Gesamtschule seiner eigenen Niederlage beiwohnen zu müssen. Gemeinsam warten wir auf den letzten Höhepunkt, gemeinsam warten wir auf das B.

Sobald eine Person nach vorne gerufen wird, informiert Suse ihre Mutter über den aktuellen Beziehungsstatus, die psychische Konstitution und diverse familiäre Verwicklungen. Suse interessiert sich nicht dafür, wer die Ptolemäer, Seleukiden und Antigoniden waren, man könnte sie jedoch aus dem tiefsten Schlaf reißen und eine Antwort auf die Frage fordern: «Mit wem ist die fusselige Ana beim Flaschendrehen in der achten Klasse im Schrank verschwunden?» Suse würde keine Sekunde lang überlegen, mit geschlossenen Augen hätte sie bereits «mit dem schillernden Boris» gesagt. Ihr enzyklopädisches Wissen über unsere gesamte Jahrgangsstufe hat mich schon in der sechsten Klasse überfordert. Ich verstand nie genau, über wen Suse sprach, bis sie irgendwann anfing, jedem Vornamen ein Adjektiv voranzustellen. So lernte selbst ich, all die Laras zu unterscheiden: die blonde, die tuffige, die stumme. Ich übernahm die Bezeichnungen und vergaß irgendwann, welcher Anlass Henning dazu verdammt hatte, von nun an der gestreifte Henning zu sein. Nur Pavlow, Tolga, Bo und ich bekamen keine Adjektive zugewiesen. Wir genügten Suse auch so.

Ihre Mutter hört Suse aufmerksam zu und mustert alle Aufgerufenen von oben bis unten. Wenn Suse ergänzt, «mit dem habe ich in der Achten rumgeknutscht», oder «mit der hatte ich was auf der Kursfahrt», zuckt die Mutter leicht zusammen und sagt schnell: «Du weißt doch, das Glücksgefühl entscheidet.»

Als Suse endlich an der Reihe ist, springt sie auf und läuft nach vorne. Sie trägt schon lange keine Zöpfe mehr, sondern einen Messy Bun, und inzwischen hat die Schule auch verstanden, dass ihr Nachname mit einem B und nicht mit einem P geschrieben wird. ‹Ich werde sie wahnsinnig vermissen›, denke ich und verdränge den Gedanken sofort wieder, denn noch ist Osaka 9196 Kilometer weit entfernt.

Auf dem Rückweg winkt Suse in Bos Kamera und nutzt die Breite des Mittelgangs für einen kleinen Siegestanz.

«Wenigstens eine von euch, die liefert», stellt Bo zufrieden fest.

Wir überstehen das A, und wir überstehen auch die abschließenden Worte des AltenMannes, die ihn selbst mehr berühren als uns, weil sein Leben langsam endet und unseres nun endlich beginnt.

Suse

«Heute Nacht», sagt Pavlow. Wir schauen ihn an, und eigentlich müssten Fragezeichen über unseren Köpfen blinken, über den Köpfen von Bo, Maja, Tolga und mir, über unseren Köpfen müsste es irgendwie aussehen wie Las Vegas bei Nacht. Vielleicht nicht über dem Kopf von Tolga, der hat ja gar nicht so richtig zugehört, vermute ich, denn er ist völlig vertieft in den Anblick einer Fliege, die immer wieder gegen die Fensterscheibe klatscht, weil sie rausmöchte und nicht kann. Aber wir anderen, wir schauen Pavlow an, mit Las Vegas über unseren Köpfen. «Ich habe darüber nachgedacht, was der AlteMann heute Vormittag gesagt hat», erklärt er uns. Er sieht zwar keine blinkenden Fragezeichen, aber er kann unsere Blicke deuten. Blicke deuten kann Pavlow ziemlich gut. «Über den Abschied von der Jugend und so weiter. Er hat schon recht.»

Maja runzelt die Stirn, und ich muss mich davon abhalten, ihr ins Gesicht zu greifen, weil ihre bronzefarbene Brille wie immer schief auf der Nase sitzt, da kann ich ihr tausendmal sagen, dass der Optiker das Gestell kostenlos richtet, es ist ihr völlig egal. Wenn sie irgendwann mal unser Land regiert, dann wird sie es mit einem verbogenen Brillengestell tun, da mache ich jede Wette drauf.

«Du stimmst dem AltenMann zu, gerade du?», fragt sie und denkt wahrscheinlich auch daran, wie Pavlow es vorhin gar nicht hatte abwarten können, das Kniefall-Video auf allen sozialen Kanälen zu teilen.

«Man kann ein kompletter Idiot sein und trotzdem mal was Schlaues sagen.» Pavlow winkt dem weltbesten Penne zu, damit er uns eine neue Runde bringt, und ich winke dem weltbesten Penne zu, einfach nur so, weil er der beste Penne der Welt ist, wenn nicht sogar des gesamten Universums. Der weltbeste Penne steht genau da, wo er die letzten fünf Jahre immer gestanden hat, und wahrscheinlich auch schon all die Jahre davor, als wir noch nicht in seiner Kneipe saßen, er steht hinter seiner Theke aus Eichenholz. Ich habe Penne noch nie woanders gesehen, aber vielleicht heißt Penne außerhalb seiner Kneipe auch gar nicht Penne, sondern Markus oder Rüdiger, und vielleicht sieht er dann ganz anders aus, hat keinen Vollbart, ist viel kleiner und dicker, damit ihn niemand erkennt, wer weiß das schon. Für mich jedenfalls gibt es den weltbesten Penne nur in seiner Penne, irgendwas anderes will ich mir gar nicht vorstellen. Die kirre Bergit hat mal behauptet, dass sie ihn in der Drogerie gesehen hat, als er Katzenfutter und vegetarischen Brotaufstrich kaufte, aber Bergit sollte man eh nichts glauben, die heißt nicht umsonst kirre. In der fünften Klasse hat sie Buntstifte aus unseren Mäppchen geklaut und behauptet, die stille Ayda wäre es gewesen. Penne steht hinter der Theke so wie immer, dabei ist heute überhaupt gar nichts wie immer, sogar das Licht in der Penne ist irgendwie ungewohnt, es ist abends anders als am Vormittag, die Sonnenstrahlen fallen nicht mehr durch das Fenster, um hellgelb auf unserem Tisch zu landen, sondern tauchen den gesamten Kneipenraum in ein orangenes Geschwummer, alles sieht weicher, schöner und freundlicher aus.

Die Penne erreicht man von unserer Schule zu Fuß in drei Minuten, und in den letzten Jahren haben wir hier jede freie Stunde verbracht, jede einzelne Minute, die wir nicht im Unterricht sitzen mussten oder wollten, und immer saßen wir an dem Tisch hinten links in der Ecke, von Anfang an.

 

«Wir können da nicht einfach reinspazieren, wir brauchen einen Plan.» Maja schiebt sich die Brille nach oben. Sie hat eine neue Brille, mit rotem Metallgestell, und irgendwie sitzt die nicht richtig, das macht mich ganz hibbelig.

Wir stehen vor der Eingangstür zur Penne, aber das kann keine normale Tür sein, denn ich bin in meinem Leben schon durch viele Türen gegangen, das ist nicht so schwer, Klinke in die Hand nehmen und drücken oder ziehen, darüber muss ich gar nicht lange nachdenken, das konnte ich schon, bevor ich sprechen gelernt habe.

Aber die Tür zur Penne, die ist anders, die ist so viel größer als die Frage ‹ziehen oder nicht ziehen›. Die sagt einem: «Wenn du hier durchgehst, dann beginnt was Neues. Dann bist du zwar immer noch vierzehn, aber du gehst in die Penne und nicht nur auf den Schulhof oder in die Pausenhalle. Du bist vierzehn, aber das, was du tust, ist näher dran an sechzehn als an zwölf.»

Die Gedanken fühlen sich gar nicht so richtig wie meine eigenen an, sie sind viel zu schwer, vielleicht sind es die von Maja.

Vor den Weihnachtsferien haben wir an der Bushaltestelle gestanden, Bastian, Maja, Tolga und ich, und wir haben uns geschworen, dass wir im neuen Jahr das erste Mal in die Penne gehen werden – wir vier gemeinsam, keine Frage –, wir haben uns geschworen, ohne Spucke und Blut, aber trotzdem geschworen, dass wir im neuen Jahr nicht länger zu den Kleinen gehören wollen.

«Maja, mir ist arschkalt», beschwert sich Bastian und stampft von einem Bein aufs andere. Tolga hat wie immer nur seine Kapuzenjacke an, aber er scheint die Kälte gar nicht wahrzunehmen, er drückt auf die Tasten des Zigarettenautomaten und hat schon längst seinen Rhythmus gefunden. Dreimal schnell auf Marlboro lights, zweimal Lucky Strikes, viermal die roten Gauloises, dreimal Menthol.

Maja presst die Außenkanten ihrer Hände gegen die Fensterscheibe und schaut unter ihren Fingern hindurch in den Kneipenraum. «Hinten links in der Ecke, da ist ein Tisch frei … Aber es stehen noch Gläser drauf. Vielleicht kommen sie gleich zurück.»

«In einer halben Stunde ist Sport vorbei, und Bio kann ich echt nicht schwänzen.» Bastian zieht den Reißverschluss seiner Jacke noch weiter nach oben, bis sein Kinn dahinter verschwindet.

Maja dreht sich wieder zu uns.

«Wenn wir das jetzt vermasseln, dann verdirbt uns das die restliche Schulzeit», sagt sie mit ernster Stimme, und sie steckt mich an mit dieser ernsten Stimme, ich wippe plötzlich nervös auf die Fußballen und wieder zurück, eine Tür kann niemals nur eine Tür sein, schon gar nicht die Tür zur Penne.

Bastian und ich schauen uns an, Frau Merijan hat mich auf dem Kieker, wenn ich fehle, drückt sie mir ein Referat rein, sagt sein Blick. Dann verschieben wir es auf morgen, da haben wir Kunst, antworte ich ihm stumm.

«Wollen wir rein?!» Erschrocken drehen wir uns um. Tolga drückt nicht mehr auf den Tasten des Zigarettenautomaten herum, er hat die Tür zur Penne geöffnet, einfach so, als wenn es nichts wäre, seine Füße stehen bereits auf dem Boden der Kneipe. Wenn die Tür geöffnet ist, wenn sie aufgehalten wird, dann ist es ein Kinderspiel. Bastian und ich drängen uns an Tolga vorbei in den Innenraum, Maja zögert noch einen Augenblick, aber dann betritt auch sie die Kneipe, während Bastian und ich schnell zu dem Tisch hinten links in der Ecke laufen und uns auf die Stühle fallen lassen. Geschafft. Ein paar Typen aus der Oberstufe gucken uns schräg an – aber sollen sie doch gucken, wir sind die Neuen, und wir werden immer noch da sein, wenn sie längst Vergangenheit sind. Wir haben einen Tisch und einen Stuhl, wir haben verdammt noch mal das Recht, hier zu sein.

Maja geht mit erhobenem Kopf zu der Holztheke und schüttelt dem Typen, der dahinter steht, die Hand. Er ist mindestens drei Köpfe größer als sie. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen, aber aus den Erzählungen weiß ich, dass das Penne sein muss. Ich habe ihn mir genauso vorgestellt, mit dem dunkelbraunen Vollbart, dem grau melierten T-Shirt, der Creole im linken Ohrläppchen und der Goldkette.

«Ich heiße Maja, das sind Tolga, Suse und Bastian. Wenn es uns hier gefällt, dann kommen wir von nun an öfter.»

 

«Bist du noch da?» Pavlow, der schon lange nicht mehr Bastian heißt, streicht mir über den Oberarm. Er sitzt neben mir, weil er seit der vierten Klasse neben mir sitzt, egal ob Bastian oder Pavlow, egal ob in der Schule oder später in der Penne, er sitzt neben mir, und ohne ihn würde es sich seltsam anfühlen, so ungefähr wie halbseitig nackt.

«Ja», sage ich und fasse seine letzten Sätze zusammen: «Heute Nacht, Jugend.»

«Diese Nacht muss was Besonderes werden.» Pavlow klopft abwechselnd mit Daumen und Ringfinger auf die Tischplatte, das macht er ständig, und dann weiß man, dass er sich gerade erst warm denkt.

Bo reibt sich die Schläfen, das macht er oft, in letzter Zeit. «Ich wollte mich heute eigentlich nur wegballern», sagt er ein wenig hilflos, denn er kennt Pavlow nun auch schon seit vier Jahren, und wenn sich Pavlow einmal an einer Idee festgebissen hat, dann kriegt man ihn nicht mehr so schnell davon los, dann ist er wie ein Pitbull, der sich den Maulkorb abgerissen hat.

«Das ist die letzte Nacht unserer Jugend, Leute. Wir können uns doch nicht einfach nur besaufen wie an jedem anderen verschissenen Freitagabend», antwortet er ungeduldig, und Daumen und Ringfinger trommeln immer schneller, die Maschine kommt ins Laufen.

«Es ist nicht wirklich wie immer», Maja kneift ein Auge zu und mustert uns der Reihe nach. «Wir haben schicke Klamotten an.»