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Die Eltern sind tot, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihr Begräbnis, zu dem Stefan Zell überstürzt aus dem Urlaub zurückkehrt, ist für ihn schon wie schlecht geträumt. Und dazu erwartet ihn auch noch Hanna, mit der das Zusammenleben fragwürdig geworden ist, seit sie darauf bestanden hat, das Kind zu bekommen, das er nicht will. Auf dem Weg zu ihr biegt er ab, und wo er ankommt, hat er nicht erwartet. Aber er hat sich danach gesehnt, denn davon träumen wir alle: von höchster Intensität des Erlebens, von fleckenlosem Glück. Doch je näher Stefan Zell dem gleißenden Licht kommt, umso näher auch seiner sengenden Glut.»Die Nähe der Sonne« erzählt von Gefährdungen, die sich in Helligkeit aufzulösen scheinen, und von Triumphen, die Brandspuren hinterlassen. 1985 erstmals erschienen, ist es Gernot Wolfgrubers letztes Buch: der furiose Abschluss eines literarischen Werkes, das seinesgleichen sucht. Was danach dort und da erschienen ist, waren Auszüge aus einem in Arbeit befindlichen Roman: den kaum wer erwarten kann, der »Die Nähe der Sonne« gelesen hat!
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Seitenzahl: 573
Veröffentlichungsjahr: 2024
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© 2024 Jung und Jung, Salzburg
Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,
Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten
Umschlagabbildung: Explosion in the Eye © Max Peintner
Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com
ISBN 978-3-99027-312-8
GERNOT WOLFGRUBER
Roman
für Michel
1
2
3
Man wird das Haus ungern verlassen. Man ist in der Stadt bekannt. Jetzt überhaupt. Ständig werden einem Leute begegnen, denen die Neugier die Hälse verbiegt, wird man Bekannte treffen, die das ihnen Peinliche: einem über den Weg gelaufen zu sein, nur loswerden können, indem sie einem die Hand hinstrecken und ein paar Worte murmeln, einen also anstecken mit ihrer Peinlichkeit, während man ihnen schon dankbar wäre, wenn sie von nichts weiter als vom schönen Wetter, vom schönen Herbst reden würden oder wie andere plötzlich die Straßenseite gewechselt oder angelegentlich in ein Schaufenster gestarrt hätten, bis man vorbei wäre.
Es ist ganz leicht vorstellbar.
Man wird zusammensitzen, ehe man sich auf den Weg macht. Acht bis zehn Leute, die Kinder nicht gerechnet, vielleicht auch zwölf, Stefan Zell unter ihnen. Im Wohnzimmer Evas, der Schwester, wird man sich versammelt haben, um den ausziehbaren Eßtisch. Eine gute Stunde ist noch Zeit. Man hat schon gegessen. Es ist viel auf den Tellern, in den Schüsseln geblieben. Man hat gesagt, daß man überhaupt nichts essen kann. Und man hat sich gewundert, daß man konnte. Manche haben einander lange nicht gesehen. Man hätte sich einen erfreulicheren Anlaß gewünscht, sagt man, und das ist jetzt nicht einmal eine Phrase. An eine Gelegenheit, wo »wir alle« zusammengekommen sind, kann man sich kaum noch erinnern. Die Kinder sind zu laut in den angrenzenden Kinderzimmern, obwohl sie sich Mühe geben, leise zu sein: irritiert von den Erwachsenen, die auf einmal so still und nachsichtig sind, und von der ungewöhnlichen Kleidung. Im Fernsehen ist um diese Tageszeit noch kein Programm. Das erspart den Kindern die Überlegung, ob man an einem solchen Tag die Frage wagen kann, den Fernseher aufzudrehen.
Die Fenster stehen offen, und man hört Vögel in der bereits kahl werdenden Kastanie vor dem Haus. Dabei ist es warm wie im Sommer. Irgend jemand wird sagen: Wie schön es sein könnte.
Einige der Männer sitzen in Hemdsärmeln. Man ist ja unter sich. Aber niemand außer Zell hat die Krawatte gelockert. Man spricht mit gedämpften Stimmen, als könnte jemand geweckt werden, wodurch die gängigsten Phrasen und plattesten Banalitäten auf einmal bedeutungsvoll scheinen. Jedes Seufzen und Räuspern bedeutungsvoll. Und an vielen Sätzen und Wörtern merkt man auf einmal eine Zweideutigkeit, die einem sonst nicht auffallen würde und die den Sprecher ins Stammeln oder jäh zum Verstummen bringt. Man bemüht sich: Man sieht darüber hinweg.
Irgendwann geht in einem der Nebenzimmer polterndes, nicht enden wollendes Gelächter los: Eines der Kinder hat einen »Lachsack«, ein kleines Tonband mit Lachstimme, unter den fremden Spielsachen gefunden und aufgezogen. Das Lachen beginnt auch das Wohnzimmer zu irritieren, Gesichter verziehen sich zu Grimassen, aber ehe ein richtiges Grinsen daraus werden kann, ist Eva schon aufgestanden. Man kann nicht hören, was sie zu den Kindern sagt, wenn sie überhaupt etwas sagt. Zell kann sich ihr Gesicht jetzt gut vorstellen. Es ist das Gesicht der Mutter, das er denkt.
Er spürt immer noch kaum Müdigkeit. Auch jetzt nicht, nachdem die beinahe ununterbrochene Bewegung vieler Stunden hier zum Stillstand gekommen ist, in seinem Kopf aber weiterhaspelt, als rauschten noch immer Leitplanken, Bäume, Autos vorbei, als zögen Lichter und Städte vorüber, als drehe sich das Land neben ihm weg. Es fällt ihm schwer, zuzuhören, den Gedanken der anderen zu folgen und nicht seine eigenen laufen zu lassen, alles verknüpft sich mit allem, ein so wirrer Strudel bisweilen, daß es wie eine Dumpfheit ist: als siede es leise in seinem Kopf. Am besten geht noch das Reden. Er könnte jetzt, meint er, so schlagfertig sein, wie man sich nur wünschen kann. Ohne nachzudenken ist der richtige Gedanke sofort da. Der richtige, aber unpassend.
Er hat seit gestern morgen nicht geschlafen und ist, als er heute vormittag hier ankam, dreizehn Stunden fast pausenlos im Auto gesessen. Von außen ist die Heftigkeit der Bewegung, die in ihm leerläuft, nicht zu bemerken, wenn man davon absieht, daß er das Mineralwasserglas ständig zwischen den Fingern dreht. Aber das kann auch daher kommen, daß er in einem fort rauchen möchte, es sich aber verbietet: so lange, bis ein automatischer, gedankenloser Griff nach den Zigaretten das Verbot, ohne ihn zu fragen, durchbricht: Er hat über ein halbes Jahr nicht geraucht, seit gestern tut er es wieder. Und gleich so, als müsse er den Raucher von früher in den Schatten stellen. Er würde sonst einschlafen während der Fahrt, hat er gemeint, das vor sich selber entschuldigen zu können. Es ist ihm gewesen, als könne er diesen plötzlich aufgetauchten und gleich so unabweisbaren Zwang zu rauchen nicht auch noch aushalten. Dagegen hilft reden nicht, im Gegenteil.
Daß man bis zum Anruf Hannas gestern nachmittag schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, ihn zu erreichen, wird man ihm gleich bei der Begrüßung oder knapp danach gesagt haben. Die Schwester unter Tränen. Bernhard, der Bruder, ernst, beinahe vorwurfsvoll: als könne nur ihm, Stefan Zell, einfallen, in der Weltgeschichte herumzufahren, ohne täglich wissen zu lassen, wo er sich befinde und man ihn, gegebenenfalls, jederzeit erreichen könne. Von Verantwortungslosigkeit wird man nicht gesprochen haben, aber man wird sicher noch einmal und noch einmal wiederholen, wie leicht er hätte zu spät kommen können. Er würde sich ewig Vorwürfe machen müssen.
Aber zu spät, wird Zell, ein wenig nachdenklich lächelnd, hinzufügen, zu spät sei es in einem solchen Fall ja immer. Wie die Ereignisse abgelaufen seien, könne man gar nicht so rechtzeitig eintreffen, um nicht zu spät zu kommen.
Man wird auf das Wortspiel wahrscheinlich nicht weiter eingehen. Vielleicht wird gedankenvoll genickt. Oder Zell hat das Wortspiel nur gedacht und redet von den Zufällen, reiht sie aneinander, die dazu führten, daß er nun doch rechtzeitig unter den Geschwistern und Verwandten sitzen kann. Eine Kette von Zufällen. Wenn er zum Beispiel nicht ausgerechnet gestern verschlafen hätte, wird er sagen. Er sei zwar trotzdem zum Hafen hinuntergegangen, aber die Fähre sei schon ausgelaufen gewesen. Gerade an diesem Tag einmal pünktlich, was so gut wie nie vorkomme, wie man ihm versichert habe. Zufall Nummer zwei also. Hätte er nämlich das Boot erreicht, wäre er auf die nächstgelegene Insel hinübergefahren. Und daß er von dort aus Hanna anzurufen versucht hätte, wäre sehr unwahrscheinlich gewesen. Einen dringenden Grund habe es ja für ihn nicht gegeben. Auch sei er nur zufällig am Gebäude der Hauptpost vorbeigekommen, ganz ohne Absicht. Vielmehr habe er ein Restaurant gesucht. Nicht weil er habe essen wollen. Es war erst Nachmittag. Sondern weil er es einfach wiederfinden wollte. Immer dringender, je länger er herumlief. Ein Lokal, in dem er vor Jahren unsinnigerweise auch einmal mit Lina gewesen war.
Aber von Lina wird er wahrscheinlich nicht sprechen. Ob sie da sein wird? Mit am Tisch sitzen? Kaum. Sie gehört nicht mehr zur Familie. Und das Kind? Markus? Schließlich waren es seine Großeltern. Auch wenn er sie die letzten Jahre bloß zwei- oder dreimal sah, mit ihm für einen Nachmittag zu ihnen fuhr. Aber Nachricht wird man ihnen gegeben haben. Und wenn Markus dasein wird, dann auch sie. Wenn es allein auf Eva ankäme: bestimmt. Und wenn es nach dem Bruder geht: nein. Also nein.
Er habe, wird Zell nur sagen, einfach ein Restaurant gesucht, in dem er vor Jahren oftmals und jedesmal ausgezeichnet gegessen habe. Überzeugt sei er gewesen, sich noch genau erinnern zu können, wo es war. Alle Gassen sei er in dem Viertel abgelaufen und mehrmals ganz sicher gewesen, jetzt, hinter der Ecke, in der nächsten Quergasse, nach der Straßenkrümmung werde es auftauchen. Ganz deutlich habe er das Bild vor Augen gehabt: Eine schmale Tür mit dem bunten Namen des Restaurants im Oberlichtfenster, rosarote und silbrige Meerestiere zwischen Eis und Tang in Körben hinter der Auslagenscheibe, und beinahe habe er auf diesem Kopfbild schon den Namen des Restaurants entziffern können, den er vergessen hatte, dort drüben ist es aber jetzt, habe er gemeint, ganz sicher, gleich hinter dem Brunnen, sei aber doch immer nur vor Häuserreihen gestanden, an denen nichts darauf hinwies, daß hier je etwas anderes gewesen war als eben Wäscherei, Carabinieri, Fahrradwerkstätte, Damenfriseur. Sich dann plötzlich dem Postgebäude gegenübersehend, sei er kurzentschlossen eingetreten, obschon er gewußt habe, daß Hanna noch gar nicht daheim sein konnte. Sie war zusammen mit einer Freundin auf Urlaub gefahren, einen Tag nach ihm, und hatte erst Ende der Woche zurück sein wollen. Trotzdem. Endlos lange hat er sich angestellt, um dann, wie erwartet, nur dieses lächerliche, mit jedem weiteren Schnarren immer sinnloser werdende Freizeichen zu hören. Wieder auf der Straße, habe er sich, gegen jede Vernunft, anders besonnen und noch einmal angerufen. Und Hanna war da, gerade zur Tür hereingekommen, aber schon seit vier Tagen zurück, weil, wie sie sagte, alles nicht so gelaufen sei, wie sie es sich vorgestellt habe. Und so habe er alles erfahren. Vielleicht hätte er sie sonst erst am nächsten Tag wieder anzurufen versucht oder erst am Wochenende. Und so hätte er vielleicht noch tagelang meinen können, nirgendwo sei etwas geschehen, das ihn betreffen könnte.
Was für Zufälle es doch gibt, wird man ungläubig sagen. Zufälle?, wird jemand lächeln. Ganz sicher Olga.
Als ob ich gewußt hätte, könnte Zell hinzufügen, daß ich anrufen muß. Dabei weiß er genau, daß er gar nichts geahnt hat.
Aber man würde ihm solche Ahnungen glauben. Wahrscheinlich. In einer Situation wie der, in der man sich befand. An einem solchen Tag. Hier an diesem Tisch: wo man, unter ungläubigem Kopfschütteln, jähen Satzanfängen, versickernden Reden, leeren Pausen und hilflosem Sinkenlassen der Schultern, das im Moment noch Unbegreiflichste denken möchte wie das Alltäglichste; wo nur die Schwester und der Bruder und Ulrich, der Mann der Schwester, die schon seit Tagen und immer noch mit der Organisation des bei solchen Anlässen Nötigen beschäftigt sind, sich in die Sicherheit einfacher, klarer Überlegungen retten können: ob man diesen oder jenen nicht auch einladen und anderen vielleicht, selbst wenn man schon lange jeden Kontakt verloren hat, nicht wenigstens Nachricht geben hätte müssen; ob die Wahl des Lokales, in dem man später zusammensitzen würde, richtig gewesen sei oder ob man nicht besser überhaupt alles in kleinstem Rahmen, im Kreis der engsten Familienangehörigen hinter sich hätte bringen sollen.
An einem solchen Tag, in einer solchen Situation ist man anfällig dafür, zu glauben, daß alle diese Zufälle, die Zell vielleicht aufgezählt haben wird, in Wirklichkeit keine Zufälle gewesen sein können. Hat man nicht schon oft von solchen Ahnungen gehört? Natürlich hat man das nicht geglaubt. Glaubt es immer noch nicht. Aber so viele »Zufälle« auf einmal! Kann das Zufall sein?
Wenn dieser Lastwagen nicht dahergekommen wäre, wird jemand langsam sagen. Zufällig in dem Augenblick. Der Tankwagen. Und wenn sie zwei Minuten früher oder später von daheim aufgebrochen wären. Wenn eine Ampel grün gewesen wäre, die auf Rot stand, oder umgekehrt. Ja wenn sie überhaupt an diesem Tag diese eigentlich unnötige Fahrt nicht unternommen hätten.
Wenn. Dann. Falls. Wenn nicht. Wie anders hätte alles kommen können. Wir säßen jetzt nicht hier.
Und damit ist man wieder beim Thema. Ganz gleich, was Zell sagen wird: Alles führt darauf zu. Und man wird wieder und noch einmal damit anfangen, den Hergang des Geschehens zu zerreden, das alle hier zusammengerufen hat. Die Mutmaßungen, wie es dazu hat kommen können, laufen im Kreis: Aber was wäre gewesen, wenn. Und ganz gleich, welche Möglichkeit man gerade bespricht, immer endet es damit, daß jemand den Kopf schüttelt und sagt: Ich kann mir das alles einfach nicht vorstellen. Mir will und will das nicht in den Kopf. Ich kann es immer noch nicht glauben.
Niemand kann sich vorstellen, daß ein Auto am hellichten Tag auf schnurgerader, trockener Straße plötzlich auf die linke Fahrbahn gerät und gegen einen entgegenkommenden Tankwagen prallt. Keiner der am Unfall Beteiligten war alkoholisiert, wie die Untersuchungen ergeben haben. Und ein anderer »vernünftiger« Grund konnte nicht gefunden werden, warum der Lenker des Unglücksfahrzeuges erst abgebremst hatte, als er den Lastwagen schon wie eine Mauer vor sich hat aufragen sehen müssen: eineinhalb Meter vor dem Zusammenprall. Das hatten die Reifenspuren auf dem Asphalt hinlänglich bewiesen. Aus ungeklärter Ursache, lautet in solchen Fällen der Polizeibericht. Und es wird nichts mehr geklärt werden: Die Schuldfrage ist klar; die Rechtsfahrregel eindeutig. Und was sich in den Köpfen der Menschen an diesem Tisch oder draußen in der Stadt seit Tagen herumdreht: die Frage nach dem »Warum« ist für das Gesetz nicht von Belang. Der Schuldige kann ja nicht vor Gericht gestellt werden. Nur an den Pranger. Die Lokalzeitung ergeht sich in Spekulationen; unbestreitbar ist: Beide Insassen des Personenwagens müssen auf der Stelle tot gewesen sein. Der Lenker des Tankwagenzuges hingegen sei, wie bei solchen Anlässen geschrieben wird, mit dem Schrecken davongekommen.
Wir können es immer noch nicht glauben.
So wenige Fakten es gibt, so sehr wird man alles auseinanderreden. Als könnte einem dieses Unglaubbare damit greifbarer werden.
Bernhard wird das Wrack bestimmt gesehen haben. Und? Kein »Und«. Er wird darüber nicht sprechen. Verschlossen wie immer. Wie der Vater. Und nachzufragen, ihn auszufragen, wird man sich scheuen. Aber man kennt dieses Bild ja: Wie oft ist man daran schon vorbeigefahren, vorbeigewinkt worden von der Polizei, vorüber an flatterndem Blaulicht, eine Zeitlang beklommen, weil sich in einem alles sträubt, dieses Entsetzliche zu denken, ruhig und genau: all dieses Blut und klaffende Fleisch, während man weiterfährt, als wäre man selber gerade noch davongekommen.
Daß man die Eltern mit Schweißbrennern aus dem Wrack schneiden mußte, wird in der Zeitung stehen. Zell wird sie gelesen haben. Langsam, Satz für Satz, Stehsatz für Stehsatz, als erhoffe er sich hier eine Nachricht. Und gleichzeitig wird er ganz ohne Sinn für das Geschriebene gewesen sein.
Niemand im Zimmer wird die Eltern nach dem Unfall noch sehen haben können. Bernhard wird nicht sie identifizieren haben müssen, sondern bloß Gegenstände. Eine zerbrochene Brille vielleicht, das ist das Naheliegendste, eine Armbanduhr, die keineswegs stehengeblieben ist zwischen elf Uhr zehn und elf Uhr zwanzig, eine Halskette mit einem Bernsteinanhänger und, seltsamerweise, eine runde Blechplakette mit dem Bild Elvis Presleys, die man an der Revershinterseite der Jacke gefunden haben wird, die die Tote trug.
Zum ersten Mal wird Bernhard gesehen haben, was die Mutter alles in ihrer Handtasche hatte: erstaunlich wenig, und es wird ihm wie ein Übergriff, ein Eindringen in Verbotenes gewesen sein, diese Dinge ansehen zu müssen, ohne den Kopf abzuwenden.
Aber auch das wird Bernhard nicht sagen.
Und irgendeiner der Runde wird der sein, der sie als Letzter lebend gesehen hat. Sogar am Tag des Unfalls. Man wird ihn ansehen wie einen, der beinahe Augenzeuge ist. Er hat die letzten Sätze noch im Kopf, die sie gewechselt haben. Aber eigentlich müsse er sagen, Auffälliges habe er nicht bemerken können. Sie seien gewesen wie immer.
Und er, Stefan, wann hat er die Eltern zuletzt gesehen?
Das war knapp eineinhalb Monate her, Anfang September. Knapp vor Schulbeginn. Er wisse das deshalb so genau, weil der Vater das damals erwähnt habe: Jetzt fange also das Schuljahr wieder an. Ein Datum, das in diesem Herbst, zum ersten Mal seit dreißig Lehrerjahren, für ihn nichts mehr bedeutet hatte.
Und wie sehr sich der Vater auf den Ruhestand gefreut, wie er ihn genossen hat, wird man wissen. Keine Rede sei bei ihm von einem Lebensabend gewesen. Voller Zukunftspläne habe er den Kopf gehabt. Man wird nicht wissen, welche. Nichts wird man aufzählen können, was der Vater nicht auch früher in seiner ohnedies reichlichen Freizeit hätte tun können.
Und habe die Mutter nicht immer von großen Reisen gesprochen? Dann, wenn der Vater endlich im Ruhestand sei?
Ja, einmal Amerika! Seit ewig sei das ihr Traum gewesen. Warum sie sich eigentlich diesen Traum nicht längst erfüllt hat?
Zell selber kann vom letzten Besuch bei den Eltern nichts Besonderes berichten. Kann keinen bedeutungsvollen Satz überliefern. Und auch keinen, der damals zwar belanglos war, nun aber höchst bemerkenswert geworden wäre. Tatsächlich sind die Eltern wie sonst gewesen. Wir können es immer noch nicht glauben.
Warum hört man auf einmal die Kinder nicht mehr?
Möchte noch jemand Kaffee, fragt Eva.
Und endlich wird dann jemand sagen, daß es langsam Zeit wird, aufzubrechen.
Das kalt werdende Metall des Autos knackte manchmal, sonst war es fast völlig still. Ab und zu leises, papierenes Blätterrascheln durch den Spalt des Fensters, den er offengelassen hatte, oder das entfernte Geräusch eines Autos, drüben auf der Straße, von der er abgebogen war. Gegen halb fünf Uhr morgens war es, unweit der Grenze, und so dunkel, daß außerhalb des Autos nichts zu erkennen war. Zell hatte die Kartenlampe eingeschaltet gelassen, ein fahles, grünliches Licht vom Armaturenbrett, und die Tür hatte er verriegelt, trotzdem war ihm ein wenig unheimlich. Der Sitz, den er in die Waagrechte geklappt und zuerst so unsagbar bequem gefunden hatte, drückte gegen seine Rippen, kühl war es und bald kalt, mit seinem Bademantel und dem Badetuch hatte er sich zugedeckt, in den Ohren rauschte es, und auf den geschlossenen Lidern zuckten Lichtspiele, als kämen ihm immer noch Scheinwerfer entgegen, leuchteten ihm in die Augen, durch sie hindurch, quer durch das Gehirn bis an die hintere Schädelwand. Als habe sein Körper viel mehr Gewicht als sonst, spürte er schmerzhaft jeden Muskel, jeden Knochen, auf dem er lag. Jede neue Lage war nur für Momente wie die endlich richtige, dann war da schon wieder der Druck gegen die Rippen, das Hüftgelenk, die Knie, lag ein Bein so schwer auf dem anderen, daß die Knöchel und Schienbeine wehtaten, er räumte die Hosentaschen aus, die Jackentaschen, zerrte am Bademantel, eine kurze Erleichterung, dann klemmte wieder irgendwo etwas, drückte, er legte sich auf den Rücken, den Bauch, auf die Seite: Längst war er überzeugt, nicht einschlafen zu können.
Als er hier stehengeblieben war, am Anfang eines schmalen Güterweges, der in den Wald hineinführte, und als er sich ausstrecken konnte, endlich, nach so vielen Stunden, in denen er sich das sehnsüchtig vorgestellt hatte, da war er sicher gewesen, jetzt nicht langsam wegzudämmern, sondern gleich so plötzlich weg zu sein, als schlüge ihm ein Beil den Kopf ab. Aber dieser Kopf war nicht zur Ruhe gekommen, war weitergehastet, Gedanken fuchtelten herum, Bilder liefen, und er hatte sich vorgestellt, wie er daliegt, und dieser Kopf steht im Heckfenster und starrt mit geröteten Augen hinaus in die Dunkelheit, und die tausend Kilometer, die in den letzten zehn Stunden vorbeigerauscht sind, laufen noch einmal ab, Straßenschilder, Mautstationen, Bodenmarkierungen, Rücklichter, Kilometerangaben, Tankstellen, Scheinwerfer, Städtenamen und Straßenschilder und Bodenmarkierungen und Bremslichter und tausend Kilometer eines schrecklichen Unfalls und diese jäh ins Bodenlose stürzenden Gedanken, selbst im stumpfsinnigsten Geradeausstarren, hinaus auf die Straße, die Autobahn, auf das Segment Welt, das die Scheinwerfer erfaßten, selbst in diesem halben Dösen immer weiter Bilder, wie er aus dem Postamt tritt, noch immer unter jähen Lachstößen, hinaus in die Hitze, ins unverändert grelle Licht dieses südlichen Nachmittags, und die Straße hinuntergeht wie ein aufgezogenes Spielzeug, ein Schlafwandler, Hannas Stimme in seinen Ohren, es ist etwas Furchtbares passiert, Stefan, und wie er plötzlich stehenbleibt und sich an den Kopf faßt, den er sich auf einmal, ohne zu wissen warum, wie eine Höllenmaschine vorgestellt hatte, an der der Zeitzünder zu ticken angefangen hat.
Das Auto knackt, und irgendwo schreit ein Vogel, die Lippen brennen von den vielen Zigaretten, die Zunge ist pelzig, bis sieben, bis acht, vielleicht sogar bis neun könnte er schlafen, es hatte keinen Sinn, so früh zu kommen, rechtzeitig würde er jedenfalls da sein, wenn nichts Unvorhersehbares geschah, aber was sollte geschehen?, was schon?, ein Tankwagen kommt auf ihn zu, türmt sich zu einer Wand, Bremsen kreischen, ein Knall wie von einer Explosion, Glas splittert, jedenfalls war es besser, bei Tag zu fahren und nicht so übermüdet, auch wenn er nicht schlafen kann, ein wenig ausruhen wird er, wenn nur der Kopf stillstünde, man soll nichts als seinem Atem zuhören, behauptete Hanna, nichts als seinen Atem denken, einatmen, ausatmen, einatmen, ob sie sich nicht doch zurückgestoßen fühlen wird?, weil er gesagt hat, nein, es ist nicht nötig, daß sie kommt, sie hat ja die Eltern fast nicht gekannt, ist ihnen bloß dieses eine Mal begegnet, diese peinliche, verquälte halbe Stunde lang, als sie bei ihm aufgetaucht waren, unangemeldet und also unvermutet, und Hanna lag noch in seinem Bett, er hätte sie jetzt gerne dagehabt, ihren schlafwarmen Körper neben sich, er könnte sie unterwegs anrufen am Morgen, und sie nimmt den Zug, das müßte sich immer noch ausgehen, und was werden die Verwandten sagen?, wenn sie neben ihm geht, gleich hinter den Särgen, das wird nicht möglich sein, sie gehört nicht zur Familie, werden sie sagen, ganz unmöglich, und in Trauerkleidern wird sie auch nicht kommen, bestimmt nicht, also war es besser, wenn es dabei blieb: Sie kommt nicht, und er mußte sich auch noch einen schwarzen Anzug kaufen, eine Krawatte, denn daß er schwarz gekleidet ist wie immer, wird nicht genügen, es war nicht das Schwarz, das heute nötig war, vor ein paar Jahren hätte er sich noch geweigert, in ein spezielles Trauergewand zu kriechen, und ein paar weitere Jahre zurück hatte er behauptet, er wird, wenn Vater oder Mutter einmal sterben, ganz sicher nicht auf das Begräbnis gehen, was sollten diese Konventionen, dieser Pomp in Silber und Schwarz und Tressen und Schleiern, ob er damals tatsächlich nicht gegangen wäre?, das war jetzt kaum mehr vorstellbar, Sprüche waren das gewesen, große Sprüche und kopflose dazu, weit weg von jeder konkreten Vorstellung und ohne jede Phantasie, was sein würde, wenn, aber in einen Begräbnisanzug hätte er sich wahrscheinlich nicht hineinreden lassen, er wäre in seinen üblichen Kleidern gegangen, schwarzer Cord, schwarzes Hemd, was er auch jetzt anhatte, aber die Schwester wird ihn bittend ansehen, und Bernhard wird sagen, wozu will er sich denn schon wieder außerhalb stellen?, meint er nicht, daß er das Vater und Mutter schuldig ist, wenigstens das?, natürlich wird er sich einen Anzug kaufen, nicht aus Konvention, sondern weil ihm plötzlich selber danach war, ein Bedürfnis auf einmal, und auch gegen das Begräbnisritual hatte er nichts, wie gut, daß die Menschen etwas erfunden hatten gegen dieses entsetzliche Auf-einmalnicht-mehr-wissen-wo-man-selber-hingehört, gegen diesen verrücktmachenden Abgrund, in den das Denken jedesmal stürzt, wenn es merkt, daß da etwas nicht mehr zu denken ist, was immer das Sicherste war, wie gut, daß es in all der Verwirrung etwas gab, das ganz einfach sein mußte, wenn es nur kein halber Staatsakt wurde, mit Schülerchor und ehemaligen Lehrerkollegen der Mutter von der Hauptschule und denen des Vaters vom Gymnasium und Schülerabordnungen, Lokalpresse und Gemeinderat und Reden und Hatt’ einen Kameraden und nochmals Letzten Grüßen, die alles in die Länge ziehen, die Toten zu leeren Formeln und die Familienangehörigen endgültig zur Staffage machen, so daß man am liebsten sagen möchte, diese Redenschwinger sollen sich ihre eigenen Leute zum Andeklamieren sterben lassen, der Friedhof ist schwarz von Menschen, den Weg entlang, den sich der Kondukt hinzieht, und zwischen den umliegenden Gräbern überall Schaulustige, so daß man Angst haben muß, sie steigen auf ein Grab, was bedeuten soll, daß man sie selber bald hinaustragen wird, natürlich ist es etwas Besonderes: zwei Särge auf einmal, in welcher Reihenfolge man sie wohl tragen wird?, sie zuerst, oder ihn?, denn um sie nebeneinander zu tragen, sind die Friedhofswege zu schmal, und auch im Grab werden sie nicht nebeneinander liegen, sondern aufeinander, ob sich die Särge in der Größe, ob sie sich überhaupt unterscheiden?, nach Maß waren sie ja längst nicht mehr, alles nur noch Supermarktnorm, von der Aufbahrungshalle zum Grab, Blasmusik, vielleicht hat man ihnen sogar eine Grabstelle im alten Teil des Friedhofs zugebilligt, dort, wo die liegen, die sich im Leben haben grüßen lassen, die Eingesessenen und Besitzer, und nicht im neuen Teil, wo die begraben sind, die haben grüßen müssen, die Eltern sind ja jemand gewesen, die immer aufs heftigste gegrüßt wurden, Grüß Gott, Herr Professor, Frau Fachlehrer, auch wenn sie Zugezogene gewesen sind, jemand ohne Familiengruft, nicht einmal mit einem Familiengrab, aber als Lehrer sind sie schnell Einheimische geworden, die jeder kannte, denen man entweder selber ausgesetzt gewesen ist oder in deren Sprechstunde man am Elternsprechtag oder vielleicht sogar aufgrund einer Vorladung mußte, Blasmusik mit Baßtuba oder Helikon, Pfarrer, Ministranten, Litaneien, Blumen, Kränze und Geläute von der Stiftskirche herauf, ein großer Auflauf, der Mutter hat sowas immer gefallen, große Menschenansammlungen, am besten gut dirigierte, Musik und Reden und Fahnen und Trachtengruppen, da stand die Vergangenheit in ihr auf, daß ihre Augen glänzend wurden, während dem Vater wohl am liebsten wäre, nur die engsten Verwandten gingen hinterdrein, nie war er ein besonders geselliger Mensch, kein Einzelgänger, aber jemand, der gerne allein war, am zufriedensten in seiner Werkstätte, die er überall, wo sie hingezogen waren, so schnell wie möglich einrichtete, und wohin er sich hatte zurückziehen können, heraus aus allem, eine Handvoll Leute hinter dem Sarg, so wird er es sich vielleicht gedacht haben, wenn er überhaupt an so etwas dachte, keine Musik, wie beim Begräbnis des Großvaters, seines Vaters, sieben oder acht muß ich gewesen sein damals und bin neben ihm gegangen, in einem neuen Anzug, der mir ein wenig zu groß ist, und die Haare haben sie mir frisch geschnitten, hinauf bis über die Ohren, wo mich friert im kalten Märzwind, und in den nassen Schuhen, und daß sie den Großvater vorne tragen, ist mir gleichgültig, immer wieder sehe ich den Vater an, sehe an ihm hinauf, in ein Gesicht, in dem sich nichts rührt, nur die Muskeln an den Kieferwinkeln treten manchmal hervor, als beiße der Vater die Zähne zusammen, und der Adamsapfel ruckt auf und ab, ständig habe ich zu ihm hinaufgeschaut und ihn die ganze Zeit gesehen, wie er unten in der Werkstatt hockt, nachdem die Nachricht vom Tod seines Vaters gekommen ist, plötzlich ist er verschwunden gewesen, und ich bin in den Keller hinunter, nichts ist zu hören, kein Arbeitsgeräusch, nichts als etwas wie Seufzen, und ich sehe zwischen den Latten hindurch, die den Keller unterteilen, sehe ihn sitzen, vor der Werkbank, nach vorne gelehnt und den Kopf auf die Arme gelegt, eine Angst in mir plötzlich, ich weiß nicht, was hier geschieht, und dann ist da ein Aufstöhnen, noch einmal, ein Schluchzen, die Schultern des Vaters zucken, ich starre hin, möchte schreien, herausbrüllen vor Entsetzen: der Vater weint!, noch nie habe ich den Vater weinen gesehen, noch nie habe ich einen Vater weinen gesehen, erst im Entsetzen über das Weinen des Vaters habe ich begriffen, was es hieß: der Großvater ist tot, ist mir dieser Tod so ungeheuerlich geworden, als wäre mir jemand Geliebter gestorben, als wäre er mir gestorben, er, der mir erst in diesem Augenblick jemand geworden war, den ich lieb hatte, ich hätte hin mögen zu ihm, ihn halten, mich von ihm trösten lassen, aber ich bin gestanden, unfähig, mich wegzurühren, bis ich Schritte auf der Kellertreppe hörte und mich schnell verdrückt habe, versteckt unter der dunklen Schräge der Stiege, und den ganzen Tag bin ich so verstört gewesen, daß die Mutter mich immer wieder an sich gedrückt hat und sich nicht beruhigen konnte über meine Weichherzigkeit, wie sie das nannte, weil mir der Tod des Großvaters so nahegegangen war, den ich doch fast nicht kannte.
Das trockene Rascheln der Blätter nimmt immer mehr zu, Wind muß aufgekommen sein, Morgenwind, denkt er, ein Vogel schreit, noch einer, die Augen brennen und jucken, es scheint schon zu dämmern, die Fensterscheiben sind beschlagen und undurchsichtig, Tropfen rinnen herab, daß es aussieht, als regne es draußen, rund um das Auto eine dröhnende Glocke aus Vogelgeschrei, er hätte doch weiterfahren sollen, er würde nicht einschlafen bei diesem Lärm, wenn er die Macht hätte, würden all diese schreienden Federn tot aus den Zweigen fallen, eine Stille über der Welt, die endlich auch den Kopf erfaßt, durstig ist er, und die Unterlippe ist aufgesprungen, er schaltet die Kartenlampe aus, wischt über das Seitenfenster, der Himmel ist schon hell über den Wipfeln, der Wald steht nicht mehr wie eine schwarze Wand, man kann bereits die ersten Stämme vorne unterscheiden, ob die Schwester auch wach lag?, oder ob sie nicht hat schlafen können und erst jetzt, wo es hell wurde, in einen traumzerquälten, von Aufschrecken zerrissenen Schlaf fiel?, vielleicht ging sie mit ihm den Anzug kaufen, Probleme würde es dabei nicht geben, Konfektionskleider paßten ihm, und war er denn nicht überhaupt schon Konfektionsgröße geworden?, eigentlich seit damals, seit dem Absturz, und er will es nur nicht wahrhaben, tut noch immer als ob, und ist denn diese ganze Reise etwas anderes gewesen als ein einziges So-tun-als-ob?, war sie nicht schon so geplant?, so tun, als sei er nirgends daheim, oder immer gerade dort, wo er sich hinlegt, hinsetzt, die Koffer abstellt, das Vorgaukeln einer Freiheit, eines Ungebundenseins, einer Unabhängigkeit, aber hatte er sich denn nicht wohlgefühlt dabei?, war es nicht schön gewesen bis gestern?, und war nicht überhaupt jeder Vorsatz, den man faßte, eine Pose?, forderte nicht jedes Ziel, das man anging, zu Posen heraus?, man müßte nur konsequent sein, damit die Pose man selber werden könnte, konsequent, genau das, was er nicht war, er hatte sich doch vorgenommen, Hanna während der ganzen Reise kein einziges Mal anzurufen, einfach so zu tun, als gäbe es sie nicht, und dann hatte er doch gestern nachmittag diese Kreise um das Postamt gedreht, immer engere Kreise, so als sei es das absolute Zentrum der Stadt, ja der Welt, nein, er wird sie nicht anrufen, hat er sich vorgesagt und ist dabei dem Postamt schon wieder nähergekommen, und er hat gewußt, er kommt ihm näher, und hat dabei vor sich selber so getan, als sei er bloß übermütig geworden: anrufen bei ihr, wenn sie bestimmt nicht da ist, einfach des Klingelns wegen, es sich anhören wie eine umwerfende Botschaft und so ernsthaft, als würden ihm die Zehn Gebote gedonnert, und sich ausgelassen gleich noch einmal anstellen, so als sehe er nicht, was der sah, der ihm die ganze Zeit über die Schulter schaut: daß es überhaupt kein Spaß war, sonst hätte er doch auflegen müssen, als sie sich meldete, natürlich war es eine Verrücktheit zu glauben, er wird, wenn sie tatsächlich zurück sein sollte, von ihr hören, was er hören will: Ich habe es mir überlegt, Zell, es ist schon erledigt; daß sie das sagen wird, hatte er doch nicht glauben können, viel zu sehr hatte sie sich schon die Weichen gestellt, war sie, kehrteuch, umgeschwenkt und hatte sich ausgerichtet auf das neue Ziel, nicht nur im Kopf, sondern sogar in ihren bedächtig werdenden Körperbewegungen, was für ein Sinn in ihrem Leben auf einmal!, am Boden sitzt sie, als er kommt, in der Mitte des Zimmers auf dem Teppich, die Knie unter dem langen Rock an die Brust gezogen, sie rührt sich nicht, schaut nur auf, als er im Türrahmen erscheint, also?, fragt er gleich, ohne Begrüßung, und sie nickt!, na zum Glück, sagt er, ist das heute kein besonderes Problem mehr, sie sieht ihn ruhig an, von unten nach oben, beinahe mitleidig, er blinzelt irritiert, ich werde es bekommen, sagt sie dann, diesmal werde ich es bekommen, fast nebenhin redet sie und sitzt da wie jemand, der sich ein für allemal entschlossen hat, nicht jetzt erst, lange schon, und nicht mehr schwankt, komm, komm, sagt er, laß diese Späße, sie schaut ihn nur an, das kann sie doch nicht ernst meinen, ist sie verrückt geworden?, und langsam erhebt sie sich, so vorsichtig, als stehe ihr der Bauch schon bis zum Hals, geht zum Fenster, kehrt ihm den Rücken zu, zwei Abtreibungen, sagt sie, sind genug, jetzt muß Schluß sein, und sie wird auch nicht jünger, in ein paar Jahren ist sie zu alt dafür, er steht noch immer im Türrahmen, den Schlüssel zu ihrer Wohnung in der Hand, und warum gerade diesmal?, stößt er heraus, warum gerade bei ihm?, warum will sie gerade ein Kind von ihm?, wieder dieser mitleidige Blick, auf dich kommt es dabei gar nicht an, sagt sie und lächelt fein, hervorragend!, und den Vater soll er dann spielen, er lacht spöttisch auf, und sie lächelt weiter, darauf wird auch kein Wert gelegt, sagt sie, wenn er nicht will, er immer lauter, sie immer leiser, er läuft im Zimmer hin und her, und sie lehnt am Fensterbrett, er will einfach kein Kind mehr, will nicht, daß es noch ein Kind gibt von ihm, ein einziges vernünftiges Argument soll sie ihm bringen, warum?, warum?!, und sie in ihrer höhnischen Selbstsicherheit: weil ich es will!, eine Mauer, gegen die nicht anzukommen ist, er konnte sich gestern doch nicht eingebildet haben, daß sie plötzlich wieder zurückschwenkt, ich habe es mir überlegt, Zell, du hast ja recht, und es ist schon alles erledigt, statt dessen, gleich nach den ersten Sätzen: ich muß dir etwas sagen, Stefan, deine Eltern, hat sie wirklich »Stefan« gesagt?, sonst nannte sie ihn doch immer beim Familiennamen: als ließe sich damit die Distanz aufrechterhalten, an der ihr manchmal lag, sogar in den paar Briefen, die er von ihr hat: Seit Du weg bist, Zell, kommt mir mein Bett auf einmal wie ein Doppelbett vor, seit langem ist er daran gewöhnt, bei ihr so zu heißen, es fiel ihm nicht mehr auf, wenn sie es sagte, zu Beginn hatte es ihm sogar gefallen, das muß er zugeben, irgendwie paßt es zu ihr, schien ihm damals, und manchmal kam er sich dabei auf eine seltsame Weise plötzlich sehr ernstgenommen vor, selbst mitten in einem Herumblödeln, während er es immer ein wenig lächerlich fand, einen allzu bemühten Versuch, besonders zu erscheinen, wenn Lotte ihren Georg, mit dem sie fast zwanzig Jahre verheiratet war, Finke nannte, hat Hanna wirklich »Stefan« gesagt?, wie zärtlich ihm das jetzt vorkommt, so, wie er es denkt!, nach zwei Jahren Zell auf einmal Stefan, hat sie wirklich?, er weiß es nicht mehr, die folgenden Wörter sind wie ein glühendes Eisenstück daraufgefallen, ein jäher Schmerz, und wie ein Aufzischen im Kopf, kurz nur, einen Lidschlag lang, und dann fallen ihre Sätze weiter in seinen Kopf, aber nicht brennend und scharf, sondern weich und dicht wie Schnee, er gibt Antwort, weiß es kaum, ja, er kommt, ja, er fährt sofort, nein, ist nicht nötig, daß sie kommt, sie soll die Schwester anrufen, nein, es ist nichts, ist alles in Ordnung, bestimmt, ja, er ruft morgen an, übermorgen ist er bei ihr, ja, jaja, und er geht ein paar Schritte durch die Halle, steht, sieht sich um, schaut an sich hinunter, sieht die Hände an: nichts ist geschehen!, nichts!, nichts, wie immer ist alles, er sieht es nicht anders, als er es vor Minuten gesehen hat, und er steht da, wie er auch sonst steht, wie er dastehen würde, wenn Hanna ihm nichts weiter berichtet hätte, als daß sie am Strumpf eine Laufmasche habe, ein Lachen stößt ihn plötzlich, er kichert, lacht laut heraus, lacht, möchte nicht und lacht, wie grotesk alles ist!, wie grotesk!, diese Beamten hinter den Schaltern!, und diese Geldscheine!, und wie sich die Leute vor dem Telefon anstellen!, vor einem Telefon stellen sie sich an!, vor einem Telefon!!!, er lacht, man dreht sich nach ihm um, er steht vor dem Schalter, wo das Telefongespräch zu zahlen ist, man grinst, und er lacht wieder heraus, und plötzlich lacht jemand mit, noch jemand, ein Gelächter plötzlich in der Halle, er versucht ein ernstes Gesicht zu machen: was für ein Mißverständnis: die lachen italienisch und ich deutsch!!, und wieder stößt ihn das Gekicher, niemandem darf er das erzählen, nicht diese Wahrheit, niemals, wofür würde man ihn halten?, was für eine Gefühlsroheit, eine solche Nachricht, und er lacht!, anstatt betroffen zu sein, getroffen mitten ins Herz, eine unbändige Lust zu lachen, eine Übersprungshandlung vielleicht, als wäre er ein Hahn und stünde einem anderen gegenüber in unentschiedenem Kampf, und statt wieder anzugreifen, fängt er plötzlich an, auf dem Boden zu picken, eine ganz unangemessene Reaktion in dieser Lage, so als gälte es nicht, den Rivalen zu bekämpfen, sondern als fühle er sich so sicher, daß er sich ohne weiteres dem Fressen hingeben kann, ein Umspringen von einer Instinkthandlung in eine andere, um dem Konflikt auszuweichen, der Vater hatte ihm das einmal erklärt, ein Umkippen ins Gegenteil, wie damals, zehn ist er und die zweite Woche in der Klosterschule, die Klasse unbeaufsichtigt im Turnsaal, und unvermittelt sind sie über ihn hergefallen, ohne jede Vorwarnung mitten aus einer kindlichen Balgerei heraus, auf die nach Schweiß stinkende Ledermatte geworfen, er liegt und wehrt sich kaum, weiß ja noch nicht, daß er hier der ist, der noch oft zum Opfer werden wird, sie halten ihn fest, zwei sitzen auf seinen Beinen, und ein Großer, Schwerer hockt ihm mit den Knien auf den Oberarmen, »Muskelreiten«, das kennt er schon, und Brabetz, nie wird er das vergessen, Brabetz kitzelt, kitzelt überall, wo ein Mensch nur kitzlig sein kann, die ganze Klasse steht im Kreis, und er windet sich, kichert, lacht und glaubt immer noch, daß das eine Art Mutprobe ist, eine Feuertaufe, die jedem Neuen hier blüht, ein Ritual, um aufgenommen zu werden, etwas, das man aushalten muß, um endlich dazuzugehören, und die Finger kitzeln zwischen den Rippen, in den Achselhöhlen, kitzeln, auch als aus seinem Gekicher, Gelächter Schreie werden, er bäumt sich auf wie im Krampf, wird eisern festgehalten, der Turnsaal hallt von seinem gellenden Geschrei, aber kein Lehrer taucht auf, niemand, der ihm hilft, ihn rettet, rundum grinsende Fratzen, Visagen, Gejohle, und er bald nur noch ein Betteln, Jammern, Flehen und Winseln, weit hinaus über jede Scham, ein in Konvulsionen sich biegendes Bündel, der Kopf scheint zu bersten, jetzt!, jetzt!, er stirbt!, jetzt!, er stirbt!, und da ist mit einem Mal die Qual zu Ende, Brabetz’ Finger belanglos, die ihn weiter bearbeiten, er spürt sie nicht mehr als Kitzeln, nichts mehr wehrt sich in ihm, sein Körper schlaff und gleichgültig, das Entsetzen umgekippt in eine kalte Ruhe, und er hat sich auf einmal weiden können an der lächerlichen Vergeblichkeit, mit der Brabetz ihn weiter foltern wollte, er hat im Hinaufsehen auf die Visagen über ihm auf sie richtig herabsehen können, die sich da ergötzen wollten an einer Tortur, die ihm nichts mehr bedeutete, ein solches Umkippen vielleicht auch gestern im Postamt, eine falsche Reaktion, dieses jähe, unangemessene Lachen: aber ohne daß da ein nicht länger zu ertragender Schmerz vorausgegangen wäre, aus dem er sich nicht anders als ins Gegenteil hätte flüchten können, nein, fast sofort nur das Lachen, aber Brabetz hat sich damals keineswegs geschlagen gegeben, hat in ihm nicht jemanden sehen wollen, der nicht zu besiegen ist, Brabetz hält auf einmal inne und dann – ist da wirklich ein Aufleuchten in Brabetz’ Augen gewesen?, zum ersten Mal, daß er das sah: Haß in den Augen eines Menschen? – und dann zieht er ihm mit einem Ruck die schwarze Turnhose hinunter, ein Aufjaulen noch einmal rundum, und er liegt da in seiner Blöße, noch immer festgezurrt und hilflos und so, als sei dieses Bloßlegen das Schlimmste, das einem angetan werden kann, Tränen im Hals, er schloß die Augen, drehte den Kopf zur Seite und drückte ihn ins feuchte Leder der Matte, auch das hat er niemandem erzählen können, der Mutter nicht, dem Vater schon gar nicht, und jetzt kann er ihnen nie wieder etwas sagen, auf ein Grab kann er hinunterreden, er dreht sich heftig um, stößt mit dem angewinkelten Knie gegen den rechten Vordersitz, den er nicht zurückgeklappt hat, die Vögel haben aufgehört zu schreien, nicht eine einzige Stimme mehr, ganz still ist es und schon hell, seine Hand glänzt von Schweiß, als er sie öffnet, und heiß ist ihm, er dünstet, als habe er geschlafen, aber er hat nicht geschlafen, ist er sicher, oder der Kopf ist im Dösen genauso weitergelaufen, als wäre er wach, ein wenig noch liegen, dann fährt er, in drei Stunden ist er da, und der Countdown wird auch für ihn beginnen, bis Erde auf die Särge fällt, paß auf dich auf, hat Hanna gesagt, Zell, oder Stefan?, er wird sie anrufen und sagen: komm, und dabei haben sie gemeint, die Distanz würde ihnen gefallen, er jedenfalls hat es gemeint, den ganzen Sommer über hat er sich auf die Reise gefreut, einen Sommer, der vergangen ist ohne ihn, er hat ihn weggearbeitet, ist über dem Zeichentisch weit weg gewesen, Pinien, in denen es rauscht, und das Schrillen der Zikaden, weiße Schaumzungen, die den Strand herauflaufen, eine flirrende Luft über den Dächern, das Geschrei am Fischmarkt, und auf dem Papier vor ihm eine Industriehalle, ein phantasieloses Hinlinieren, alles ist vorgegeben, die Klimaanlage rauscht, man spricht von einem Jahrhundertsommer, und seine Haut ist blaß wie kein Jahr zuvor, an den Herbst denkt er, er wird allein fahren, ohne Ziel, nur Süden, längst glaubt er, daß es seine Idee war, getrennt in den Urlaub zu fahren, er hat nichts geplant, weil es immer noch möglich scheint, daß sie plötzlich sagt, ich habe es mir überlegt, Zell, ich möchte mit dir, fast eine Hoffnung bisweilen, selbst wenn er nicht unbedingt mit ihr wegfahren will, es sich auch öd denkt, wochenlang nur sie, aber er hätte nicht nein gesagt, und er ist überrascht, daß er sich nicht einreden muß, wie schön es ist, allein zu fahren, nein, es gefällt ihm wirklich, welche Möglichkeiten er auf einmal hat, er sitzt draußen am Ende der Mole, übernächtig, kein Stern mehr, das Meer und der Himmel gleich bleiern, ohne Horizont, Wind geht, er fröstelt, gleichmäßig schlagen die Wellen gegen die Steinmauer, rollen heran, schwappen hoch, laufen zurück, wie ein großes Atmen, in dem leere Dosen an den Steinen klickern, dahinschmirgeln, die Stadt im Rücken noch still, ausblassende Lichter die dunklen Hügel hinauf, weit draußen färbt sich das Wasser gelblich, steigt den Himmel hinauf, läuft über die Bucht auf ihn zu, rosige Ränder an der Unterseite der Wolken, die sich aus dem Himmel heben, und dann sitzt er im Speisesaal des Hotels, der erste beim Frühstück an diesem Morgen, das Haus noch still, aber der Kellner schon eilig beim Decken, das Fenster steht einen Spalt offen, der Oleander glänzt naß, und das Sonnensegel über der Terrasse bewegt sich leicht im Wind, wie schön, hier zu sitzen und zu denken, irgendwann wird sie herunterkommen, geduscht und gekämmt, aber noch mit schläfrigen Bewegungen, Julia, denkt er, Julia, allein ihren Namen zu denken, gefällt ihm, sie wird ihn wieder ansehen mit diesem Verschwörerblick, so als sei das, was diese Nacht zwischen ihnen war, wirklich eine Verschwörung gewesen, ein Komplott gegen die Welt, neben ihrem Ohr, in dem er das Blut in der Morgensonne durchschimmern sieht, ist ein wenig Hautcreme geblieben, er tupft mit dem Finger hin, verreibt sie auf seinen Lippen, morgen, sagt er, werde ich deine Hautcreme auf Toast essen, sie macht ein enttäuschtes Gesicht, du läßt nach, sagt sie, heute nacht wolltest du viel mehr, und er beugt sich zu ihr hin, küßt ihren nackten Unterarm, faßt mit den Lippen und dann mit den Zähnen den dunklen Flaum, beißt ihn ab, sie zieht die Brauen hoch, ich grase dich ab, sagt er, eine schöne Weide, und sie bestreicht ein Brot, rupft den Rosen am Tisch ein paar Blätter aus, belegt das Brot damit, sieht sich um im Speisesaal, der längst voll mit Menschen ist, und sie steht auf, geht an einen der Tische, sagt etwas, lächelnd, aber ernsthaft, und nimmt mit spitzen Fingern ein gelbes Rosenblatt, noch eines, bedankt sich, legt die gelben Blätter zwischen die roten auf ihrem Brötchen und beißt hinein, Teerosen, sagt sie kauend, das merkt man gleich, magst du, fragt sie und hält ihm das Brot hin, natürlich mag er, mhm, das könnte man sich angewöhnen, und sie schüttelt den Kopf, siehst du, sagt sie, das bist du: aus allem will er sofort eine Gewohnheit machen, aus dir auf jeden Fall, meint er, und sie seufzt, bevor es so weit ist, will sie informiert werden, damit sie sich rechtzeitig in einen Sonnenschirm verwandeln kann, warum in einen Sonnenschirm?, möchte er vielleicht lieber ein Regenschirm sein?; jeden Tag Rosen aufs Brot!, sagt sie empört nach einer Weile und rümpft die Nase, er lächelt, nur wenn er an sie denken will, verspricht er, wird er Rosen essen, als ob das etwas mit mir zu tun hätte, sagt sie, er hat wirklich keine Ahnung von ihr, raten soll er, welche Blume sie in ihrem früheren Leben gewesen ist, schwierig, sagt er, beugt sich zu ihr und schnuppert an ihrem Hals, macht ein ratloses Gesicht, welche Farbe denn, will er wissen, na welche schon!, blau rät er, fast, lächelt sie, welche dann?, na rot natürlich, erklärt sie, oder vielleicht nicht?, wie kann er das wissen?, sie muß doch ihre Farbe kennen, Blödsinn, sagt sie, oder glaubt er vielleicht, Blumen wissen, welche Farbe sie haben?, sie ist nicht an einem Wasser gestanden, um sich spiegeln zu können, wenn sie jedoch ihn ansieht: er schon, jetzt jedenfalls spiegelt er sich, sie schaut ihn an, mit dem Gesicht ganz nahe, und er sieht sein Gesicht in ihren dunklen Augen, ich schaue nicht mich an, sagt er, sondern ich schaue das Wasser an, und dann, er faltet die Hände über dem Kopf und tut, als möchte er über den Tisch hechten, dann springe ich kopfüber hinein, soso, lächelt sie, dann warst das vielleicht auch du letzte Nacht, er nickt ernsthaft, der erste und der letzte, erklärt er, was dazwischen gewesen sei, wisse er nicht, sie hat auf einmal die Blumenvase in der Hand, will er auch von dieser Köstlichkeit, fragt sie, und er beeilt sich, die Hand auf seine Tasse zu legen, hatte ich schon, behauptet er, aber er könne das nur empfehlen, sie grinsen einander an, und sie nippt ein klein wenig, nun, sagt sie mit schiefem Mund, das ist auch nicht mehr, was es einmal war, Signore, ruft sie und hebt die Hand und redet dann auf den Kellner ein, in ihrem unverständlichen Neapolitanisch, und der Kellner lächelt, verbeugt sich, ist weg, sie haben noch ein paar Flaschen früherer Jahrgänge im Keller, behauptet sie ernst, es kitzelt ihn im Bauch, weil man von allen Tischen zu ihnen herschaut, tuschelt, er sieht sie an, sieht die Lachfalten in ihren Augenwinkeln, und er möchte jetzt nichts anderes, als daß das Leben hier stehenbleibt, daß dieses Gefühl in ihm stehenbleibt, und dann liegt er in der Sonne, döst, hört das Schlagen der Wellen, Geschrei von weither und dann Schritte im Sand, ihren Schritt, ihre Lippen sind kühl auf seiner Haut, du hast eine kalte Schnauze wie ein Hund, sagt er, Blödian, faucht sie empört, ich bin doch ein Hund, er will sich umdrehen, sie hindert ihn, wenn du dich jetzt umdrehst, hört er sie bittend, dann werde ich auf ewig ein Hund bleiben müssen, ja, wenn das so ist, gibt er nach, aber in welchem Märchen sind wir denn?, sie stößt ihn in die Seite, Orpheus, sagt sie, nichts weiß er, und er hört ihr leises Lachen, ein Lachen tief hinten in der Kehle, und Eurydike war auch ein Hund?, will er wissen, was heißt »auch«?, sagt sie, nur sie war einer, und ihre kalte Schnauze stöbert weiter auf seinem Rücken, in den Achselhöhlen, und ich kann kein Hund werden?, fragt er, aber sicher, sagt sie, alles kann man, wenn man es wirklich will, er zieht die Hand unter seinem Körper hervor, ohne sich umzudrehen, und krault sie im Nacken, welche Art Hund sie denn ist, möchte er hören, sonst wird er vielleicht einer, der nicht zu ihr paßt, und da schlägt sie ihm klatschend auf den Rücken, da haben wir es wieder, schimpft sie, nicht die geringste Phantasie hat er, alles will er schriftlich, er setzt sich auf, schaut sie an, sie füllt ihren Strohhut mit Sand, Augen zu, befiehlt sie, er blinzelt gegen die Sonne, und da hat sie schon den Bund seiner Badehose gefaßt und die Ladung Sand eingefüllt, was soll das jetzt darstellen, fragt er, typisch, so kann auch nur er fragen, na was denn?, sie zieht wieder an seinem Badehosenbund, guckt mit langem Hals hinein, das ist, sagt sie, das sieht man doch, Sand in einer Badehose, sie seufzt, legt sich auf den Bauch und vergräbt den Kopf in den Armen, und er läßt lächelnd den Sand aus der Badehose rinnen, Julia, denkt er, Julia, und da ist auf einmal Hundegebell, ganz in der Nähe, die Kante des Autositzes drückt gegen die Rippen, er richtet sich auf, ein wenig taumlig, horcht, aber es ist wieder still, halb sieben, sieht er, drüben auf der Straße hat der Verkehr zugenommen, Vögel zwitschern, und irgendwo ist ein Kreischen wie von einer Kreissäge, er wischt über die Scheibe und sieht, daß er kaum fünfzig Meter von einem Haus entfernt steht, das er nachts nicht gesehen hat. Langsam steigt er aus, hinaus ins taunasse Gras, und bewegt die verspannten Schultern. Über dem Wald ist es flammend rot. Er geht ein paar Schritte den leicht ansteigenden Weg hinauf, steht, streicht sich das Haar aus der feuchten Stirn und sieht gedankenlos über eine Lichtung hinweg in den Wald hinein. Zwischen den Stämmen hängt milchiger Dunst, der sich leicht bewegt. Langsam geht er zum Auto zurück und steigt ein. Er wird Hanna nicht anrufen.
Man hat ihn zu überreden versucht, als wolle mit ihm einer sein eigenes Geburtstagsfest verlassen, ehe es richtig losgeht. Und die Schwester hat wahrscheinlich gedacht, er mißbilligt es, daß man nicht mehr flüsternd über Tote sprach, sondern sich schon zu unterhalten anfing und am unteren Ende der Tafel bereits hin und wieder ein nicht schnell genug zurückgezogenes Lachen aufsprang, dort, wo die entfernteren Verwandten saßen, Cousinen und Vettern, von denen er manche zuletzt gesehen hatte, als sie alle noch Kinder waren. Aber er war weit davon entfernt, noch irgend etwas mißbilligen zu können. Und war ein Zusammensitzen und Trinken in einer solchen Situation denn nicht das Allervernünftigste und zugleich Menschengerechteste: so lange sitzen und trinken, bis sich der bestimmte Tod, den man nicht begreifen kann, endlich in etwas Allgemein-Menschliches auflöst, das man nicht mehr persönlich nehmen muß. Wenn in ihm nur eine geringe Hoffnung gewesen wäre, sich mit ein paar Gläsern noch einmal in einen Zustand der Wachheit katapultieren zu können, ohne damit gleich in einen schlimmeren als den zu geraten, in dem er sich befand, hätte er wahrscheinlich nicht lange gezögert. Aber eine Müdigkeit, die man wegputschen konnte, war das in ihm längst nicht mehr. In der Kirche, ja, während des Requiems, da war ihm zum Umfallen gewesen, war allein das Hochziehen der Augenlider eine Qual. Am liebsten hätte er sich auf der Bank mit ihren verschiedenfarbigen Sitzunterlagen aus Spannteppichresten, die offenbar den Stammplatz der ständigen Kirchensitzer markierten, ausgestreckt oder sich in einen Beichtstuhl hinein verkrochen, alles, auch das Schlimmste, gestehend und Reue versprechend, wenn man ihn nur schlafen ließ. Aber bald hatte er diese Müdigkeit nicht mehr gespürt, so als habe sein Körper es aufgegeben, sich in Erinnerung zu bringen; er hatte funktioniert, war aufgestanden, hatte sich gesetzt, war gegangen, ganz automatisch, wie in Trance, und auch auf dem Weg durch die Stadt war dieser seltsame Zustand, in dem die Traumbilder schon über die Wachgrenze zu greifen schienen, nicht zergangen. Nur mit Mühe hatte er im Auto neben Günther, einem Vetter, den Sätzen folgen können, mit denen ihm eine Versicherungsbeamtenkarriere, Familienverhältnisse und Zukunftspläne für ihm unbekannte Kinder mitgeteilt wurden, und wenn er selber etwas erzählte, hatte er hinterher nicht gewußt, ob er das jetzt tatsächlich gesagt oder es sich nur eingebildet hatte. Und in dem niederen, drückenden Gewölbe, im Extrazimmer des »Stern«, wo das Totenmahl stattfand, war es ihm bald, obwohl er bloß ein paarmal an seinem Weinglas genippt hatte, so vorgekommen, als habe man Glaswände um ihn aufgestellt, das andere Ende der Tafel war für ihn weit, weit weg gewesen, alles um ihn herum überhaupt so, als müsse sein mit Watte zugestopfter Kopf einem komplizierten Theatergeschehen folgen, das immer unverständlicher wird, weil der Blick nur selten bis zur Bühne vordringt, vorher irgendwo hängenbleibt, sich festhakt, mit Gedanken, die von weit her und wie nicht die eigenen sind.
Er wollte nur noch, daß dieser Tag endlich vorbei war.
Daß er todmüde war, hat man ihm glauben müssen. Aber warum will er unbedingt in ein Hotel? Warum nicht zu Schwester und Schwager? Ins Kinderzimmer? Ganz für ihn allein. Man kann ihm auch im Wohnzimmer ein Bett machen, wenn ihm das lieber ist. Daß er nicht ins Haus der Eltern will, gut, das versteht man. Aber warum nicht zu Olga? Den ganzen oberen Stock kann er haben. Kein Mensch stört ihn dort. Den Beo stellt sie in den Keller. Auch zu uns kannst du kommen, Stefan, wenn du magst, Platz genug. Wir würden uns freuen. Das mache doch keine Umstände. Und wenn schon unbedingt, dann wenigstens gleich hier im »Stern«. Oder ins neue »Residence«. Fernsehen, Telefon, Zimmerbar, Sauna. Warum ausgerechnet in diese Keusche? Daß man sich nicht mehr am Brunnen waschen muß, ist dort der ganze Luxus. Seit wann hat er es denn mit dem einfachen Leben, gerade er? Er hatte nur den Kopf geschüttelt.
Man sieht sich dann also morgen. Vielleicht zum Frühstück? Jedenfalls beim Mittagessen. Es gibt so viel zu besprechen. Wir müssen ja langsam alles regeln.
Auch mit dem Bruder nur Händeschütteln.
Die Schwester stand in der Tür, schmal in dem schwarzen Kleid, und winkte. Er hob die Hand, als er an ihr vorüberfuhr. Der Wind drückte ihr das Kleid gegen die Beine, sie versuchte zu lächeln. Dann war ein Lastwagen zwischen ihnen. Sie versteht, hatte sie gesagt, sie versteht gut, daß er allein sein will, am liebsten möchte sie das auch. Er hatte gelächelt: Ich gedenke einen langen Schlaf zu tun, denn dieser letzten Tage Qual war groß. Er spürte noch den Geruch ihrer Haut und die Hand an seinem Arm, die langsam herabsank, als er sich abwandte: Zum ersten Mal an diesem Tag das Gefühl, sie umarmen, an sich drücken zu müssen, mit ihr irgendwo zu liegen, ganz still, und nicht den Gedanken: diese Fremde, diese fremde Frau, wie bei der wirklichen Umarmung heute bei der Ankunft und dann neben ihr in der Kirche. Seit Jahren waren sie einander immer fremder und gleichgültiger geworden, und nun auf einmal. Er hielt an der Kreuzung an und sah zurück, und es schien ihm, als stehe sie noch immer dort. Wie leicht der Gedanke, zurückzufahren, und sie steigt ein. Ob sie wohl mit anderen Männern schlief? Bei einem solchen Ärmelschoner von Ehemann! Wie recht Gottfried schon vor Jahren gehabt hatte: Mit dem kann man bestenfalls eine Pissoirtür beschriften, so eine Doppelnull ist das. Ja, sie stand noch dort, das sah er jetzt deutlich. Hinter ihm hupte es, weil die Ampel längst grün war und er nicht fuhr. Und plötzlich war ihm, als sähe er statt der Schwester die Mutter stehen, die ihm beim Wegfahren auch immer nachgeblickt hatte, bis er in der Kurve verschwand.
Er hatte nicht mehr weit zu fahren. Dreißig Kilometer Autobahn und dann noch zwanzig Minuten Landstraße, bis zu dem kleinen Dorfgasthaus, das schon einmal ein Versteck war. Ein Fluchtpunkt. Ein Zielpunkt. Ein Ausgangspunkt. Trotz der dünnen Holzwände war es ein nicht einzunehmendes Kastell gewesen. Jedes Fußbodenbrett hatte mit ihm geatmet wie ein Verbündeter. Und vor den Fenstern vibrierte die Luft über dem Stoppelfeld wie ein sichtbar gewordenes Magnetfeld. Unter dem dicken Federbett würde er versinken, aus der Welt verschwinden, sich aus ihr wegschlafen.
Langsam fuhr er durch die Stadt, über den langgestreckten Hauptplatz, wo sich der Verkehr, wie immer um diese Zeit, im Schrittempo zwischen den Halden parkender Autos, den viel zu schmalen Gehsteigen und kopflos hastenden Fußgängern hindurchzwängte und beim Salztor noch enger zusammengestaucht wurde. Dahinter, bald nach der Brücke, begann der neueste Teil der Stadt, wo damals, als sie hierher übersiedelten, noch Gärten und Wiesen gewesen waren, und wo sich nun entlang der Straße weithin LEGO-Bauten erstreckten, Wohnsiedlungen und Industriegelände einander abwechselten. Er hatte die Stadt nie besonders gemocht, von Anfang an nicht, so viele Jahre hatte er hier gewohnt, aber sich nie sonderlich zugehörig, ja nicht einmal dann betroffen gefühlt, wenn man anderswo über den angeblich wie Faschingsdienstagerbrochenes riechenden Dunst witzelte, der vom Chemiewerk kam und häufig über der ganzen Stadt hing; ewig war es nun schon her, daß er sich von hier, mit dem Gefühl, ins Freie, Große, Abenteuerliche aufzubrechen, endgültig davongemacht hatte, und doch war es jetzt eine traurige Vorstellung, daß dieses Stück Welt für ihn verloren sein würde, all die Menschen, die er hier kannte und deren Lebensgeschichten er wußte, Geschichten, die allerdings schon seit Jahren dünner und dünner, immer mehr zu Anekdoten wurden. Und bei diesen Anekdoten würde es nun bleiben: ein allmählich ausbleichender, weiß werdender Fleck mehr auf seiner Landkarte. Hin und wieder würde er die Schwester besuchen, es sich aber bestimmt viel, viel öfter vornehmen. Ein »Elternhaus«, in das er vielleicht manchmal zurückkehren oder wohin er sich wenigstens wünschen könnte, gab es ja nicht: Das Haus der Eltern, das nun wahrscheinlich verkauft werden würde, war von ihnen erst erstanden worden, als er nur mehr an den Wochenenden und in den Ferien heimkam, darin war er nicht aufgewachsen, sondern immer nur auf Besuch gewesen.
Gedankenlos bog er zum Autobahnzubringer ab, fuhr einfach hinter den Wagen vor ihm her. In den Scheiben der entgegenkommenden Autos spiegelte sich die untergehende Sonne, und das gelbe Laub des Ahorns strahlte grell vor dem im Osten schon fahl werdenden Himmel. In einer Stunde würde es dunkel sein und er daliegen, neben dem offenen Fenster, und den Abendgeräuschen des Dorfes zuhören. Und wegtreiben. Das Haus der Eltern wird das einzige in der Straße sein, in dem kein Licht brennt. Und auf dem Friedhof keine Bewegung mehr, nichts als das Rascheln des Windes in den Kranzschleifen. Linas Bukett wird auch dort liegen. Sie mußten weit hinten im Trauerzug gegangen sein, weil niemand sie gesehen hatte, ehe sie plötzlich dastanden, sie und Markus, als sich die Leute schon zu verlaufen angefangen haben, das Beileidgemurmel endlich vorbei ist und man nur noch ums Grab steht, weil man nicht gleich weiß, was nun, stehen sie auf einmal da, vor Peinlichkeit schief werdenden Gestalten gegenüber und selber verlegen, man hat sie nicht mehr gesehen, seit er sich von ihr getrennt hat, man hat sie abgeschrieben und nicht mehr denken können wie zuvor, Lina!, stottert man, mein Gott, Lina!, wie schön, daß ihr gekommen seid, so sieht man sich also wieder, wir können es alle noch nicht fassen, so ein Schlag für uns, aber wo seid ihr denn …?, warum seid ihr denn hinten gegangen?, ja warum nicht vorne bei uns?, vor Verlegenheit nur noch Verlogenheit, weghuschende Augen, ein Nicht-ins-Gesicht-sehen-können, ja Markus!, so groß bist du geworden, ja sowas, kennst du uns noch?, kein Wort hatte die Schwester ihm gesagt, daß man sie eingeladen, zumindest benachrichtigt hatte, und er hatte danach zu fragen vergessen, Lina hat ihm die Hand gegeben, sagt nichts, ein angedeutetes Lächeln, das gleich wieder weg ist, ein durch und durch fremder Mensch, da war sie ihm am Telefon noch vertrauter, und wie alt sie aussieht!, nach dem Requiem sind wir im »Stern«, sagt er schnell, du kommst doch?, ihr kommt doch?, verbessert er sich, aber sie schüttelt den Kopf, leider, sagt sie, es geht nicht, mehr zu den anderen redet sie als zu ihm, sie müssen dringend zurück, mit dem Zug um halb fünf, leider, und sie legt ihr Bukett zu den Kränzen. Er ist ihr fast dankbar gewesen, daß es nichts Großes, Protziges war, sondern nur ein paar Zweige und trockene Gräser. So als könnte ihm ihr Geschmack womöglich noch immer zur Last gelegt werden. Beinahe zärtlich kam ihm der Strauß vor, wie er dort unter all dem aufgeplusterten Blumenüberfluß lag. Ob sie noch wußte, wie sehr der Vater diese unscheinbaren Sträuße gemocht hatte? Oder ob es Zufall war? Wie oft hatte der Vater solche Zweige von seinen Spaziergängen mit nach Hause gebracht. Und als Markus ihm die Hand gibt, eine kalte, feuchte, drucklose Hand, und dasteht, dünn, hochaufgeschossen, ganz verbogen vor Verlegenheit, da ist ihm, als sehen ihn jetzt alle an: Vater und Sohn, was haben sie wohl für ein Verhältnis zueinander?, und er hastet Sätze heraus, die alle nach Entschuldigung klingen, ich wollte dich sowieso anrufen morgen, ich bin selber erst seit heute aus Italien zurück, wann seid ihr denn gekommen?, nutzloses Geplapper, aber etwas anderes ist plötzlich nicht in seinem Kopf gewesen. Daß sie Markus in einen schwarzen Anzug gesteckt hatte, war ihm ein wenig übertrieben vorgekommen. Hatte sie demonstrieren wollen: Er gehört dazu!? Es sind auch seine