Die Nelsons greifen nach den Sternen - Erin Entrada Kelly - E-Book + Hörbuch

Die Nelsons greifen nach den Sternen Hörbuch

Erin Entrada Kelly

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Beschreibung

Träume sind unendlich Die USA fiebern dem Start des Spaceshuttles Challenger entgegen. Gleichzeitig besuchen drei Geschwister im US-Staat Delaware die 7. Klasse und sind auf ihren eigenen Umlaufbahnen unterwegs: Der zwölfjährige Fitch verbringt jeden Nachmittag mit Flipperspielen und kämpft gegen sein explosives Temperament. Bird, seine Zwillingsschwester, träumt davon, die erste Shuttle-Kommandantin der NASA zu werden. Und Cash droht, ein zweites Mal in der 7. Klasse durchzurasseln. Als die Raumfähre in den Himmel abhebt und sich die Katastrophe ereignet, verändert sich das Leben der drei und bringt sie auf unerwartete Weise zusammen, enger als je zuvor.

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Zeit:3 Std. 55 min

Sprecher:Julian Greis; Hanno Koffler; Sascha Icks

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Erin Entrada Kelly

Die Nelsons greifen nach den Sternen

Aus dem Englischen von Beate Schäfer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

»Du musst träumen.

Wir alle müssen Träume haben.«

 

Christa McAuliffe, Astronautin

Mittwoch, 1. Januar 1986

FITCH

Startklar

Der Flipperautomat hatte Fitchs Vierteldollar nicht geklaut. Jedenfalls nicht richtig. Doch wenn einer der Hebel kaputt ist, macht das Weiterspielen keinen Sinn mehr. Als Fitch das begriff, blitzte etwas in ihm auf. Etwas Hässliches und Vertrautes. Er starrte auf den Schlitz, in den er vor wenigen Momenten die Münze gesteckt hatte.

Immer schön ruhig bleiben, Fitch. Geh einfach zu Mr. Hindley ins Büro und lass dir deinen Vierteldollar zurückgeben. Keine große Sache.

Die blinkenden Lichter des Flippers – das Spiel hieß Bright Star One – schienen heute völlig unpassend. Fitch sah sich in der Spielhalle um. Außer ihm war kaum jemand da.

Vielleicht war es den Leuten noch zu früh.

Ihm war es nie zu früh.

READYFORTAKEOFF, strahlten die Lichter. Von wegen startklar! Fitch ließ den Automaten stehen und marschierte in Mr. Hindleys Büro.

Wie üblich stand die Tür mit dem eingravierten MANAGER über dem Türrahmen offen. Mr. Hindley war Manager, Besitzer und Personal, alles in einem. Wenn Münzen verschluckt wurden, war er der Mann, mit dem das geklärt werden musste.

Fitch räusperte sich.

Mr. Hindley sah von seinem Kassenbuch auf. »Henry Nelson Thomas, mein liebster Stammkunde! Was kann ich für dich tun?«

Diesen Spruch brachte Mr. Hindley immer, obwohl er genau wusste, dass Fitch von keinem sonst Henry genannt wurde.

Fitch deutete halbherzig auf die Reihe von Flipperautomaten.

»Der eine ist kaputt«, erklärte er.

Mr. Hindley legte beide Hände auf den Tisch und erhob sich, als wäre er Präsident Reagan und bereit, sich den Sowjets entgegenzustellen.

»Das ist unannehmbar, Stammkunde Thomas«, sagte er.

Mr. Hindley war das, was Fitchs Mutter einen »schrägen Vogel« nennen würde. Doch egal, wie seltsam er war, er bewegte sich schnell. Innerhalb von Sekunden stand er vor dem Major-Havoc-Spiel in der Mitte der Spielhalle und schielte auf den Bildschirm.

»Nicht der«, sagte Fitch. Er zeigte auf Bright Star One. »Dieser da.«

Mr. Hindley zog die Augenbrauen hoch. »Aber du bist doch der große Major-Havoc-Mann. Einer, der die Menschheit retten will.«

Ja, das stimmte. Man konnte Fitch jeden Tag in der Spielhalle an der Main Street von Park, Delaware, antreffen und Major Havoc spielen sehen. Offiziell hieß der Laden Pinball Wizard, aber alle nannten ihn nur »die Spielhalle an der Main Street«. Fitchs bester Freund, Vern Repass, fand, Major Havoc wäre ein Möchtegern-Star-Wars, dabei war Major Havoc viel früher herausgekommen. Vern selbst war derart versessen auf Star Wars, dass Fitch eine grundlose Abneigung gegen Luke, Han Solo und die ganze Bande entwickelt hatte. (Außer Darth Vader vielleicht, der war irgendwie cool.) Je mehr Vern auf Major Havoc herumhackte, desto begeisterter war Fitch und desto hitziger verteidigte er das Spiel. Inzwischen arbeitete er so fieberhaft daran, seinen eigenen Highscore zu überbieten, dass ihm Major Havoc manchmal sogar im Traum erschien und ihm Druck machte, er müsste endlich zum Reaktor vordringen, bevor alles in die Luft flog.

Aber heute war der 1. Januar und Fitch hatte beschlossen, am Neujahrstag etwas anderes auszuprobieren. Beim letzten Besuch in der Spielhalle war seine Zwillingsschwester mit dabei gewesen, und die hatte ganz verzückt vor Bright Star One gestanden mit den vielen Raumschiffen und blinkenden Lichtern. Selbst spielen wollte sie nicht – Videospiele und solche Sachen waren überhaupt nicht ihr Ding –, doch sie hatte ihn überreden wollen, dem Spiel eine Chance zu geben. Er hatte sie angeschnauzt, sie solle ihn in Ruhe lassen, und das hinterher bedauert. Daher war er heute Morgen gleich auf den Flipperautomaten zugesteuert, obwohl heute kein Mensch mehr Flipper spielte. Und jetzt hatte er den Salat.

Mr. Hindley ging zu Bright Star One und tätschelte den Automaten liebevoll.

»Was ist denn los damit?«, fragte er.

»Der rechte Flipperhebel ist kaputt«, antwortete Fitch.

Mr. Hindley drückte den Knopf. Als nichts passierte, erklärte er: »Mit nur einem Flipper anständig Pinball zu spielen, das ist unmöglich.«

Was Sie nicht sagen, dachte Fitch.

Mr. Hindley verschwand in seinem Büro und kam Sekunden später mit einem Blatt Papier zurück, auf dem in dicken schwarzen Buchstaben AUSSERBETRIEB stand. Der durchdringende Geruch des Edding-Stifts waberte durch die Luft, als er das Blatt auf Bright Star One klebte.

»Danke für den Hinweis, Stammkunde Thomas«, sagte Mr. Hindley. Er lächelte. Ein breites, angenehmes Lächeln, das fast sein ganzes Gesicht einnahm. »Kann ich dir sonst noch irgendwie weiterhelfen?«

Klar, Sie könnten mir meinen Vierteldollar zurückgeben, dachte Fitch. Aber er sagte es nicht laut. Das Feuer in ihm loderte zu grell.

BIRD

Die Stimmung im Haus

Zehn Sekunden bevor Fitchs Zwillingsschwester, Bernadette Nelson Thomas, die Augen aufschlug, dachte sie: Wenn eine Fünf auf dem Wecker steht, wird es ein guter Tag. Als die Leuchtziffern 14.32 Uhr anzeigten – keine Fünf weit und breit –, ging sie davon aus, dass dieser erste Tag des Jahres 1986 wohl zumindest wacklig werden würde. Sie hätte nicht so lange schlafen sollen, aber sie war bis vier Uhr morgens auf gewesen und hatte einen neuen Schreibtisch für ihr Zimmer zusammengebaut. Wäre sie der Bauanleitung gefolgt, hätte sie die Sache in einer halben Stunde erledigen können. Aber die 12-jährige Bernadette, die jeder Bird nannte, gehörte nicht zu den Menschen, die sich um Bauanleitungen kümmern. Sie hatte das Ding weggeworfen, den Tisch perfekt zusammengeschraubt und hinterher eine eigene Bauanleitung zu Papier gebracht. Ihr Stapel mit Schemazeichnungen wurde immer höher, und mit dem neuen Schreibtisch hatte sie endlich einen sicheren Ort für diese Werke.

Sie zwang sich aufzustehen und trat leise in den Flur.

Häuser hatten ihre eigenen Persönlichkeiten, fand Bird, und sie wusste immer gern, in welche Stimmung sie eintauchte.

Sie schlängelte sich zwischen dem Kram hindurch, der im Flur herumstand – Wäschekörbe voller Klamotten, Stapel mit Büchern und Zeitschriften, ein Karton mit altem Spielzeug (darin auch eine Barbie, mit der Bird nie gespielt hatte, und die Kinder-Werkzeugkiste ihrer Brüder, die ihr viel lieber gewesen war) –, und lauschte, während sie den unendlich vielen Turnschuhen auswich, die wie Landminen überall im Haus verstreut waren. Ihre Mutter behauptete immer, sie würde aufräumen, sobald sie Platz für alles gefunden hätte, aber wann sollte das sein? Hier im Haus war es sowieso viel zu eng. Ihre Eltern hatten nicht mal ein richtiges Schlafzimmer; sie mussten sich mit einem kleinen Nebenraum begnügen. Auch der war vollgestopft mit allem möglichen Zeug.

Ihre Eltern redeten miteinander, die Stimmen klangen leise. Ein gutes Zeichen. Bird ging ins Wohnzimmer, wo ihr Vater, Mike, vor dem Fernsehschrank saß und an den Knöpfen des neuen Videorecorders herumfummelte. Ihre Mutter, Tammy, lag mit einem Buch auf dem Sofa und sagte: »… genau das war doch der Punkt, als wir das Ding gekauft haben. Dachte ich zumindest.«

Bird bog ab in die angrenzende Küche. Sie schob die fleckigen Kaffeebecher und verstreuten Postsendungen beiseite, holte eine Schale und einen Löffel heraus und platzierte beides sorgfältig auf der Küchentheke. Dann starrte sie auf die Kellogs-Schachteln im Vorratsschrank. Mittwochs aß sie normalerweise Crunchy-Nut-Flakes, aber vielleicht sollte sie heute mal etwas anderes probieren. Fruit Loops? Nein, die gehörten Fitch, und der würde einen Anfall kriegen, wenn jemand sich an seinen Sachen vergriff. Die Haferkleie-Flocken? Bloß nicht. Es gab eine noch verschlossene Packung Frosties für Cash, der es normalerweise nicht merkte, wenn jemand etwas von seinen Sachen stibitzte. Aber Bird war nicht in der richtigen Stimmung für Frosties.

»Nein, das war nicht der Punkt, Tam«, sagte ihr Vater. »Zumindest nicht der einzige. Du bist hier nicht allein im Haus.«

Crunchy Nut Flakes. Unbedingt.

Bird schüttete ihre Schale zu drei Vierteln voll. Dann goss sie Milch hinein.

»Das ist mir vollkommen bewusst, Mike«, gab ihre Mutter zurück. »Was glaubst du wohl, wer euch allen die Wäsche macht, nach einem Arbeitstag von acht Stunden?«

Bird hatte die Stimmung im Haus falsch eingeschätzt. Sie war wieder mal hereingefallen auf die leisen Stimmen ihrer Eltern. Sie hatte Dr. Jekyll erwartet, aber es war Mr. Hyde.

»Guten Morgen!«, sagte Bird mit so viel guter Laune, wie sie aufbringen konnte.

Ihre Mutter sah von ihrem Buch auf. Es hieß Kalte Glut. »Lass die Finger von dem süßen Zeug, Bird. Diese Sachen sind für deine Brüder. Du wirst nicht ewig so dünn bleiben.«

Ich wüsste gern, wie oft sie diesen Satz im neuen Jahr noch sagen wird, dachte Bird. Sie überlegte, ob sie mitzählen sollte. Vielleicht könnte sie ja einen Neujahrsvorsatz daraus machen.

Sie stellte die Milch zurück in den Kühlschrank. »Wo sind denn alle?«

»Fitch ist zur Spielhalle gegangen und Cash draußen mit seinen Freunden«, sagte Tammy.

»Ich bin gestern ganz lange aufgeblieben und habe meinen Schreibtisch zusammengebaut«, verkündete Bird und schob sich einen Löffel Crunchy-Flakes in den Mund. »Ich habe eine Weile gebraucht, aber dann habe ich es hingekriegt. Sogar die Schubladen habe ich montiert und mir ein Schema gemacht für –«

»Wahrscheinlich ist mit dem Gerät alles in Ordnung«, sagte ihr Vater, die Augen auf dem Videorecorder. »Du hast es bloß nicht richtig eingestellt.«

Seufzend blätterte ihre Mutter um. »Ich habe es exakt so gemacht, wie es in der Bedienungsanleitung stand.«

»Wenn du es exakt so gemacht hättest, würde es doch funktionieren.«

Bird trug ihre Schale zum Sessel, nahm einen Stapel Zeitungen von der Sitzfläche und ließ sich nieder. Vor ihr auf dem Teppich stand der alte Videorecorder, ganz eingestaubt und mit einem Gewirr von Kabeln.

Einen Videorecorder hatte Bird noch nie zerlegt. Das wäre ein großartiges Vorhaben für den Jahresbeginn. Mit einem simplen Schraubenzieher aus ihrer Werkzeugkiste bekäme sie den Deckel ohne Probleme herunter, und dann könnte sie das Innenleben von oben betrachten und die Eingeweide des Geräts quasi aus der Vogelperspektive studieren.

Die Eingeweide von Maschinen waren super.

»Wenn ihr den alten Videorecorder nicht mehr braucht, kann ich ihn haben?«

Ihre Frage verhallte ungehört.

»Dein Vater hat mir erkärt, dieses fantastische neue Teil würde Zeit der Sehnsucht aufnehmen, während ich bei der Arbeit bin«, sagte ihre Mutter. »Aber als ich mich heute hingesetzt habe und meine Sendung anschauen wollte, war die Kassette leer. Das blöde Ding hat einfach nichts aufgezeichnet.«

»Was läuft denn so bei Dr. Evans im Augenblick?«, fragte Bird schnell.

Marlena Evans war die Lieblingsfigur ihrer Mutter in der Serie.

»Tam, welche Ursache ist wohl wahrscheinlicher?«, sagte ihr Vater, nahm ihre Mutter in den Blick und zählte die beiden Möglichkeiten an den Fingern ab. »Erstens: Unser funkelnagelneuer Videorecorder hat ohne jeden Grund einen technischen Defekt. Oder zweitens: Du hast ihn falsch programmiert?«

Tammy legte ihr Buch in den Schoß, mit den Seiten nach unten. »Ach ja, Michael, genau, ich bin eben viel zu dämlich, um der klar und deutlich formulierten Bedienungsanleitung zu folgen. Diese Maschine ist einfach zu kompliziert für mich, was?«

»Keiner hat gesagt, dass du dämlich bist.«

Bird kaute still vor sich hin und konzentrierte sich auf eine Fussel am Boden.

»Müsste ich aber sein, wenn ich eine simple Anleitung nicht lesen und befolgen könnte.«

»Wir wissen alle bestens Bescheid, wie schlau du bist. Wär ja auch allerhand, wenn eine Frau mit Collegeabschluss nicht wüsste, wie man einen Videorecorder bedient!«

Tammy packte das Buch auf ihrem Schoß und setzte sich auf. »Hat mir nur leider nichts genützt, dieser Abschluss. Jetzt bin ich Sekretärin für einen Haufen von –«

»Du warst doch diejenige, die unbedingt noch mal aufs College wollte. Die Schulden hätten wir uns wirklich sparen können.«

»Also ehrlich, ausgerechnet du sprichst über Schulden, wo du gerade ein Heidengeld für ein Gerät ausgegeben hast, das nicht mal funktioniert …«

Bird schaute in ihre Schüssel und dachte an Ms. Salonga, ihre Naturwissenschaftslehrerin. Vor den Weihnachtsferien hatte Ms. Salonga der Klasse erzählt, den ganzen Januar über würden sie im Unterricht Weltraumforschung machen, um damit den Start des Challenger-Space-Shuttles zu feiern. Ms. Salonga hatte ihnen alles Mögliche über das Weltall beigebracht – wobei das bei Bird gar nicht nötig war, denn sie wusste sowieso schon das meiste. Am faszinierendsten fand sie, dass es im Weltall keine Geräusche gab. Nicht so richtig jedenfalls.

Im Weltall herrscht ein Vakuum, sagte Ms. Salonga. Wenn ein Trümmerstück gegen ein Raumschiff prallt, können die Astronauten im Innern das zwar schon hören, aber draußen ist kein Geräusch wahrzunehmen.

Während Ms. Salonga erklärte, wie Geräusche Moleküle brauchen, um zu entstehen, ergab sich in Birds Kopf plötzlich ein Bild, wie bei einem Puzzle. Sie stellte sich ihre Brüder und Eltern im Innern eines Raumschiffs vor.

Und sich selbst sah sie draußen im All, schwebend in völliger Stille.

CASH

Basketball-Gott

Das Spiel war ehrlich gesagt ziemlich dumm. Ein paar Typen und eine Ziegelwand, mehr brauchte es nicht. Die Wand war in dem Fall die Ostseite der öffentlichen Bücherei von Park, zwei Blocks entfernt von der Spielhalle auf der Main Street, die Typen waren Cash Nelson Thomas, Justin »Brant« Brantley und Kenny Haskins. Die Regeln waren einfach: Zwei von ihnen rannten auf die Wand zu, sprangen im letzten Moment hoch und berührten den höchsten Ziegelstein, den sie erreichen konnten. Der dritte war Schiedsrichter und bestimmte, wer gewonnen hatte. Der 13-jährige Cash war schnell – wenn ihr Basketball-Trainer sie früher Runden drehen ließ, hatte er Kenny und Brant immer locker in die Tasche gesteckt –, also kam er meistens als Erster zur Wand. Aber das Springen war nicht so sein Ding, darum gewann er fast nie. Wobei das nichts ausmachte. Es gab keinen Preis, es ging nur um die Ehre.

Am 1. Januar waren Brant und Kenny schon vor ihm auf dem Parkplatz. Typisch. Als sie ihn sahen, die Hände tief in die Taschen seiner Sixers-Jacke geschoben, rief Brant sofort: »Kein Wunder, dass du sitzen bleibst, Mann, du kriegst ja den Hintern nicht aus dem Bett.«

»Halt die Klappe«, sagte Cash, als er nah genug war. Wie immer kamen die Worte lässig, aber energisch heraus, und wie immer bekam er einen Knoten im Hals und musste die Scham runterschlucken.

Brant und Kenny nutzten jede Gelegenheit, auf ihm herumzuhacken, weil er die siebte Klasse nicht geschafft hatte, dabei waren sie selbst keine Genies. Bird konnte die zwei locker in die Tasche stecken. Kenny war letztes Jahr selbst nur knapp durchgekommen.

Aber er hatte es eben geschafft.

»Hast du gestern Nacht geböllert?«, fragte Brant. Auf seinen blonden Locken saß eine Boston-Celtics-Mütze. Cash widerstand dem Impuls, ihm das Ding vom Kopf zu reißen. Justin kann ja nichts dafür, dass seine Eltern aus Boston sind, sagte Cashs Dad immer. Einfach aus Spaß.

»Wir haben einen Haufen Römische Lichter hochgejagt«, sagte Kenny. »Das war krass.«

Kenny hatte rote Haare und eine blasse Haut. In der Grundschule hatte er oft geheult, weil die anderen Kinder ihn Karottenkopf nannten. Inzwischen fanden die Mädchen, dass er gut aussah. Er war groß, hatte mehr Muskeln als die meisten anderen Jungs in ihrem Alter und war der Star des Park-Middle-School-Basketballteams – und Brant stand mit ihm im Rampenlicht. Cash wäre gern auch dabei gewesen, aber das hatte leider nicht ganz geklappt.

»Ja«, sagte Cash. »Wir haben auch ordentlich geknallt.«

In Wirklichkeit hatten sie nur ein paar Wunderkerzen abgebrannt, bevor Fitch wegen irgendwas ausgeflippt und in sein Zimmer gerannt war. Ihr Vater lief ihm hinterher, weil ihre Mutter schon um elf im Sessel eingeschlafen war. Also standen am Ende nur noch Cash und Bird draußen in der Kälte. Und was hatten sie schon zu reden?

Cash und Brant stellten sich in einer festgelegten Entfernung vor der Mauer auf, während Kenny ein Stück näher bei der Wand blieb, um alles im Blick zu haben. Keiner musste groß verkünden, dass jetzt Zeit war für ihr Spiel. Sie waren schon seit der Grundschule beste Freunde und verstanden sich blind.

»Guckst du das Spiel heute Abend?«, fragte Brant.

»Was glaubst du denn?«, gab Cash zurück. »Portland kriegt heute so richtig eins in die Fresse.«

»Die Sixers werden abkrachen, wenn Dr. J sich verabschiedet«, sagte Brant. »Also genieß es, solange es läuft.«

Dr. J.

Julius Erving.

Flügelspieler bei den Philadelphia 76ern.

Basketball-Gott.

Dr. J war das letzte Gesicht, das Cash am Abend vorm Einschlafen sah, und das erste beim Aufwachen. Sein Dad hatte ihm nämlich ein Poster besorgt, und Cash hatte es stolz innen an seiner Zimmertür festgemacht.

»Macht ihr jetzt mal, oder was?«, rief Kenny herüber.

Ohne Antwort zu geben, rannte Cash los. Converse-High-Tops prallten auf kalte Kiesel. An der Mauer sprang er so hoch, wie er konnte, aber es reichte nicht.

Es reichte nie.

FITCH

Major Havoc

In der Spielhalle war es still, und so lief es richtig gut für Fitch. Vern war nicht da und konnte ihn nicht ärgern. Niemand rempelte ihn an, weil er zu Pole Position oder Star Wars wollte. Keiner lungerte in seiner Nähe herum. Es gab nur Major Havoc und ihn. Gemeinsam steuerten sie ihren Catastrofighter durch ein Wurmloch im All, um dann eine Klonarmee in den Kampf gegen die hirnlosen vaxxianischen Roboter zu führen. Fitch war gerade dabei, sein Glück so richtig zu genießen, als Bird durch die Tür stürmte und auf ihn zulief. Sie müssten sofort los. Irgendwas mit Notaufnahme und Cash. Was redete sie da?

»Cash hat sich die Hand verletzt«, erklärte Bird atemlos.

Fitchs Augen blieben auf das Spiel geheftet. »Wie meinst du das?«

»So wie ich’s sage. Wir müssen in die Notaufnahme. Komm schon.«

»Stirbt er, oder was?«

»Nein, aber …«

»Warum muss ich dann mit? Mir tut doch nichts weh.«

»Seine Hand ist dick wie ein Basketball.«

»Umso besser«, sagte Fitch. Major Havoc tauchte schon wieder in das nächste Labyrinth, er musste unbedingt zum Nuklearreaktor, bevor der explodierte. Er hatte noch drei Leben. »Das bringt ja vielleicht was bei Zweikämpfen.«

»Jetzt mach schon«, sagte Bird. »Lass dieses blöde Spiel und komm mit.«

»Du schreibst als Hobby Gebrauchsanweisungen und nennst das hier blöd?«

Draußen hupte jemand. Wahrscheinlich seine Eltern.

Mist. Warum konnten die ihn nie in Ruhe lassen? Wenn er sich doch bloß auf einen anderen Planeten beamen lassen könnte. Er wünschte sich, er wäre wirklich auf einer wichtigen Mission im Weltall, statt sich mit seiner dummen Familie herumzuschlagen. Hirnlose Vaxxianer waren ihm lieber.

»Okay«, sagte Fitch. »Ich bin hier mitten in was drin, aber egal. Ich hab noch drei Leben, aber okay.« Er ließ den Controller los und trat mit dem Turnschuh gegen den Spielautomaten. In seiner Brust brannte es wie Feuer. Eine Sekunde später wurde Major Havoc erwischt. Du durftest keinen Moment verpassen, sonst warst du im Handumdrehen ausgelöscht.

Bird war schon an der Tür, als sich Fitch endlich von dem Spiel löste und nach draußen zum Auto ging. Seine Eltern warfen ihm von den Vordersitzen her böse Blicke zu. Fitch und Bird stiegen hinten ein, wo schon Cash saß, die verletzte Hand im Schoß. Bird hatte recht – die Hand war dick angeschwollen. Nicht unbedingt so groß wie ein Basketball, aber dick genug.

»Was ist passiert?«, fragte Fitch.

Der Wagen der Familie, ein Chevy Cavalier, verließ den Spielhallenparkplatz, bog auf die Main Street ab und bewegte sich dann zügig Richtung Krankenhaus.

»Da war Eis und ich bin ausgerutscht«, sagte Cash, den Kopf ans Fenster gelehnt und mit angespanntem Gesicht.

»Vollidiot.«

»He! Nicht in diesem Ton«, warf ihr Vater von vorne ein.

»Immerhin hab ich meine Zeit in der echten Welt verbracht«, sagte Cash, ohne seinen Bruder anzusehen. »Mit dreidimensionalen Freunden.«

»Wenn du ein dreidimensionales Hirn hättest, würdest du nicht zum zweiten Mal durch die Siebte rasseln«, sagte Fitch. »Viel Spaß bei den Hausaufgaben übrigens, das wird mit Gipshand echt schwierig. Aber du weißt ja sowieso nicht, wie Hausaufgabenmachen geht.«

Die Hitze in Fitchs Brust prasselte und sprühte Funken. Er hatte drei Leben vergeudet. Bloß weil sein Bruder ein Vollpfosten war.

»Sei froh, dass meine Hand kaputt ist, sonst würde ich dir eine reinhauen«, sagte Cash und rutschte im Sitz ein Stück tiefer.

Auf einmal redeten alle durcheinander – Fitch blaffte zurück; ihre Mutter schimpfte; ihr Vater sagte schon wieder: »nicht in diesem Ton« –, aber am lautesten von allen war Bird.

»Ich hab eine neue Folge von Birds Blick auf die Welt fertig, vielleicht hat irgendwer Lust, mal draufzuschauen, wenn wir wieder zu Hause sind«, sagte sie.

»Kein Mensch will dein Gekritzel sehen«, gab Fitch zurück.

Im Auto wurde es still.

Was für eine Zwölfjährige zeichnete schon rein aus Spaß Schaubilder?

Wenn ich doch bloß adoptiert wäre, dachte Fitch.

BIRD

Eine vertraute Energie

Als sie wieder nach Hause kamen, waren alle erschöpft – alle außer Bird. Einerseits hatte sie bis nachmittags geschlafen, andererseits war sie so begeistert von dem Röntgengerät, mit dem Cashs Handgelenk untersucht worden war. Das Ding steckte voller Geheimnisse. Bird hatte erst gedacht, sie würde es gar nicht zu Gesicht kriegen, aber sie hatte so lange gebettelt, bis ihre Mutter sie mit in den Untersuchungsraum genommen hatte, während Fitch und Dad im Wartezimmer geblieben waren.

Sie hätte dem Röntgentechniker gern eine Million Fragen gestellt, konnte aber nur drei davon anbringen, bevor ihre Mutter sagte, sie solle still sein und den »netten jungen Mann nicht bei der Arbeit stören«, obwohl der nette junge Mann, so schien es Bird, überhaupt nichts dagegen hatte, ihre Fragen zu beantworten. Als Bird wissen wollte, wie Röntgenstrahlen funktionieren, erklärte er ihr geduldig, was es mit elektromagnetischen Wellen und Strahlungsenergie auf sich hatte. Als sie fragte, wie das Innere eines Röntgengeräts aussehe, meinte er, er sei sich nicht ganz sicher, »vielleicht so ähnlich wie ein Fotoapparat, nur eben mit Röntgenstrahlen«. Doch kaum hatte sie gefragt, wie diese Strahlen denn erzeugt würden, hatte ihre Mutter sie unterbrochen.

Auf der Fahrt nach Hause war es still im Auto gewesen. Einmal hatte ihr Vater etwas gesagt – »ich wüsste ja schon gerne, wie die Sixers gespielt haben« –, aber niemand hatte geantwortet. Bird hatte die Stille genutzt, um sich das Röntgengerät in Einzelteile zerlegt vorzustellen. Als sie nach Hause kamen, verschwanden alle in ihren Zimmern, einschließlich Bird, die Ewigkeiten damit zubrachte, in immer neuen Versuchen das Innenleben eines Röntgengeräts zu zeichnen (jedenfalls so, wie sie es sich vorstellte). Als sie auf die Uhr schaute, war es fast zwei Uhr nachts. Gar nicht gut. Morgen war schließlich Schule.

»Tee«, sagte sie laut zu sich selbst.

Kamillentee half, wenn man nicht schlafen konnte. Das wusste sie von Ms. Salonga.

Sie ging leise und trat nur auf den Fußballen auf, um keinen zu wecken, aber mindestens einer war sowieso wach. Unter der Tür von Cash kam ein dünner Streifen Licht hervor.

Bird klopfte vorsichtig an.

Keine Reaktion.

Sie klopfte noch mal, drehte den Türknopf und spähte ins Zimmer. Cash lag auf dem Bett, immer noch angezogen, nicht mal die Turnschuhe hatte er abgestreift. Er starrte die Decke an, die eingegipste Hand auf der Brust.

»Bist du okay?« Bird betrat das Zimmer und schloss die Tür. Cashs Zimmer war aufgeräumt – genau wie ihr eigenes. Ganz anders als das von Fitch, bei ihm sah es immer wie nach einer Explosion aus – überall schmutzige Kleidung, getragene Socken, halb gelesene Bücher und Atari-Kassetten. Und ganz anders als im Rest des Hauses, wo in allen Ecken Gerümpel stand und sich auf jeder ebenen Fläche Stapel türmten.

»Ja«, sagte Cash.

»Gehst du morgen in die Schule?«

»Weiß nicht. Nein.«

»Ich frag Ms. Salonga nach Arbeitsblättern und Kopien und so«, sagte Bird. »Ich kann dir auch bei den anderen Lehrern die Hausaufgaben besorgen, wenn du willst.«

Cash antwortete nicht.

»Willst du Leute auf dem Gips unterschreiben lassen?«

Keine Antwort. Erst nach einer Weile sagte er: »Ja, glaub schon.«

»Ich hab einen schwarzen Eddingstift, falls du einen brauchst.«

Eine vertraute Energie füllte den Raum, so als gebe es viel zu sagen, aber keine Worte dafür. Die Familie Thomas war wie ein eigenes Sonnensystem. Planeten, die auf ihren Umlaufbahnen kreisten. Nein, keine Planeten. Eher Meteore oder Weltraumschrott. Schwebende Objekte, die manchmal zusammenstießen oder mit Wucht aneinanderkrachten und dann zerbrachen.

Zeit, in meine eigene Umlaufbahn zurückzukehren, dachte Bird.

»Danke, Bird«, sagte Cash, kurz bevor sie das Zimmer verließ.

CASH

Ein guter Grund

Was Cash hätte ausdrücken wollen, ging so: Was bringt das denn alles?

Wozu ging er überhaupt zur Schule? Er hatte sowieso große Schwierigkeiten, war schon einmal durchgefallen, und jetzt war auch noch seine Hand eingegipst – die Hand, die er brauchte, um mitzuschreiben und Hausaufgaben zu machen, beides Dinge, die er nicht gut konnte. In Sport war er ganz okay, Sport war das einzige Fach, das er nicht hasste (falls Sport überhaupt als Fach zählte). Aber wie sollte er mit dieser Hand beim Basketball dribbeln?

Wobei das auch schon egal war.

Er war kein Julius Erving.

Basketballspielen war das Einzige, was ihm an der Schule gefiel. Zumindest war das anfangs so gewesen. Er hatte sogar seinen Notendurchschnitt gehalten, um in der Schulmannschaft bleiben zu können. Allerdings gab es da ein Problem: Er hatte nie auch nur einen einzigen Treffer erzielt. Schnell war klar geworden, dass er dem Team nicht viel brachte, im Gegensatz zu Brant und Kenny, die Freiwürfe verwandelten, an der Dreierlinie glänzten und in einer Tour perfekte Sprungwürfe hinlegten. In der Mitte der zweiten Saison hatte Coach Farnsworth, ihr Trainer, dann laut ausgesprochen, was alle dachten.

»Du kannst gut rennen, aber nicht werfen«, hatte er gesagt. »Und wenn du nicht werfen kannst …« Er zuckte mit den Achseln.

Der Trainer schmiss ihn nicht aus dem Team. Ausgeschlossen wurde man nur, wenn die Noten zu sehr nachließen. Stattdessen versauerte Cash eben auf der Ersatzbank. Coach Farnsworth ließ ihn nur spielen, wenn sowieso ein klarer Sieg für die Mannschaft absehbar war. Dass Cash nicht mehr auf der Liste der aktiven Spieler stand, verschaffte seiner Basketballkarriere immerhin ein halbwegs glimpfliches Ende, als seine Noten – die schon immer hart am Rand gewesen waren – irgendwann unter die nötige Marke fielen.

Der Trainer hat recht, hatte Brant gesagt, Cash kann wirklich gut rennen. Der rennt jeden Abend vor den Hausaufgaben weg. Eine Weile lang war das sein Lieblingswitz gewesen.

Es war also wirklich so: Wozu ging er überhaupt in die Schule?

Na ja. Einen Grund gab es allerdings doch.

Penelope Barnard, auch Penny genannt.

In den Stunden von Ms. Salonga saß sie direkt vor ihm. Sie begrüßte ihn jeden Morgen – mit einem kurzen »Hey«, das wie Vogelgezwitscher klang –, setzte sich hin und ließ ihre braunen Haare über die Stuhllehne schwingen. Dabei verbreitete sich jedes Mal explosionsartig der Duft ihres Shampoos, und Cash fragte sich jedes Mal, wonach genau es roch.

Penny Barnard gehörte nicht zu den superbeliebten Mädchen, aber unbeliebt war sie auch nicht. Manchmal fragte sich Cash, ob außer ihm überhaupt jemandem auffiel, was für hübsche Tupfen die Sommersprossen auf ihre Nase malten, wie gut ihre Haare rochen und wie sie alle anlächelte, wenn sie einen Raum betrat.

Und jetzt hatte er einen guten Grund, mit ihr zu reden.

Er malte sich aus, wie das laufen würde.

Er: Hey, willst du auf meinem Gips unterschreiben?

Sie: Klar. Hast du einen Stift?

Er: Hab ich. Hier.

Sie: Was soll ich schreiben?

Er: Schreib einfach deinen Namen, wenn du willst.

Sie: Wie hast du dir die Hand überhaupt gebrochen?

Er: Ich hab ein bisschen mit meinen Kumpels rumgealbert und bin auf dem Eis ausgerutscht.

Sie (leicht beunruhigt): Hat das nicht sehr weh getan?

Er: Nein. Ich musste halt in die Notaufnahme und so.

Sie: Das ist ja furchtbar!

Er: Am schlimmsten ist, dass ich im Unterricht nicht mehr mitschreiben kann.

Sie: Ich schreib dir meine Notizen ab.

Und so weiter.

Vielleicht würde er morgen mit ihr reden.

Vielleicht würde er aber auch bis Montag warten. Bis zum Anfang einer frischen neuen Woche.

Vielleicht wäre der Gips am Ende doch noch zu etwas gut.

Donnerstag, 2. Januar 1986

BIRD

Familien sind komplizierte Maschinen

Damit eine Maschine läuft wie vorgesehen, müssen alle Einzelteile funktionieren. Und was war eine Familie schon anderes als eine komplizierte Maschine? Eine lose Schraube, ein schlecht geöltes Zahnrad, und alles spielte verrückt, wurde laut und unkalkulierbar. Bird hielt sich für das zuverlässigste Zahnrad im Familiengetriebe und war stolz darauf, also gab sie sich fröhlich, als sie am nächsten Morgen die Küche betrat – so fröhlich jedenfalls, wie sie es um diese Uhrzeit hinbekam –, zugleich war sie aber auf alles gefasst.

Fitch saß an der Kücheninsel und aß kalte Pop-Tarts, während ihre Eltern eilig Sachen für ihr Büromittagessen zusammensuchten.

»Gestern Abend war es spät. Das schadet doch nichts, wenn er heute mal nicht in die Schule geht«, sagte ihr Vater.

»Aber seine Noten …«, gab ihre Mutter zurück, während sie eine Dose Abnehmpulver in die Tasche stopfte.

»Ich hab Cash schon gesagt, dass ich die Hausaufgaben bei seinen Lehrern abholen kann«, bot Bird an. Sie stellte ihren Rucksack auf den leeren Platz neben Fitch und schenkte sich Orangensaft ein, während ihr Vater an ihr vorbei nach einem Apfel griff.

»Ihr habt aber nicht die gleichen Lehrer«, wandte ihre Mutter ein.

»Bei Ms. Salonga sind wir beide«, sagte Bird.

»Fitch ist auch bei Ms. Salonga«, antwortete ihre Mutter. Sie schnipste mit den Fingern in Fitchs Richtung. »Fitch, hast du nicht ziemlich viel Unterricht zusammen mit deinem Bruder?«

»Wir haben überhaupt keine gemeinsamen Stunden.«

»Aber in ein paar Fächern seid ihr doch bei den gleichen Lehrern, richtig? Nicht nur bei Ms. Salonga.«

»Ja«, sagte Fitch mit vollem Mund. Krümel fielen auf seine neue Windjacke. Er wischte sie gedankenlos weg. »Vier oder so.«

»Kannst du dann die Aufgaben für Cash besorgen?«, fragte seine Mutter, während sie eine Dose Diät-Cola zu ihrem Abnehmpulver steckte. Tammy Nelson Thomas hielt Bird oft Vorträge darüber, wie unwichtig gutes Aussehen sei, aber sie beschäftigte sich selbst ziemlich viel damit – besonders mit ihrem Gewicht, das im Lauf der Jahre nach oben geklettert war, und dem Gewicht von Bird, das nirgendwohin kletterte, aber anscheinend jeden Augenblick in die Höhe schießen konnte.

»Ich kann das schon tun, das macht mir nichts aus«, warf Bird ein, bevor Fitch sich beschweren konnte. Von allen Zahnrädern im Familiengetriebe quietschte er am schlimmsten.

»Das ist nicht sinnvoll. Schließlich hat Fitch sowieso vier gleiche Lehrer«, verkündete ihre Mutter. »Außerdem musst du lernen, dass du dich nicht um alle zu kümmern brauchst, bloß weil du eine Frau bist.«

Ihr Vater warf in gespielter Verzweiflung den Kopf in den Nacken.

»Bird ist doch noch keine Frau, Tam«, sagte er. »Und setz ihr nicht solche Flöhe ins Hirn.«

Mrs. Thomas hörte auf, ihr Essen einzupacken, und stemmte die Hände in die Hüften. »Was für Flöhe denn?«

Die Zahnräder quietschten leise, nur ein bisschen.

»Dieses ganze Gleichberechtigungszeug«, antwortete er. »Demnächst verbrennt sie noch ihren BH hinten im Garten.«

»Ich hab nicht mal einen BH«, warf Bird ein, in einem angestrengten Versuch, das Thema zu wechseln.

Fitch zog die Jackenärmel über die Hände und hielt sich die Ohren zu. »Können wir bitte aufhören, über den BH von meiner Schwester zu reden?«

Bird preschte voran. »In Gesundheitserziehung haben wir gelernt, dass Mädchen sich in ganz unterschiedlichem Tempo entwickeln. Es kann noch ziemlich lange dauern, bis ich einen Busen kriege oder meine Tage bekomme.«

Fitch stöhnte. »Aufhören. Aufhören.«