Zukunftspläne aussichtslos? - Carmen von Lindenau - E-Book

Zukunftspläne aussichtslos? E-Book

Carmen von Lindenau

5,0

Beschreibung

Die neue Praxis Dr. Norden - So war es nicht geplant, doch Dr. Danny Norden betrachtet es als Chance. Äußere Umstände zwingen ihn zu einem Neustart. Und diesen nimmt Danny tatkräftig in Angriff, auch, wenn er mit Abschied, Trennung, Wehmut verbunden ist. Dr. Danny Norden praktiziert jetzt in seiner neuen, modernen, bestens ausgestatteten Praxis. Mit Kompetenz, Feingefühl und Empathie geht er auf seine Patienten zu und schafft ein Klima, das die Genesung fördert: eben Dr. Danny Norden, wie er leibt und lebt, und er wird immer besser! »Das ist eine mutige Entscheidung«, stellte Daniel mit unverhohlener Bewunderung fest, nachdem er erfahren hatte, was Johann Baumstetter, sein letzter Patient an diesem Vormittag, plante. »Es ist die einzig richtige Entscheidung. Solange ich mich noch gut fühle, will ich das Leben spüren. Ich werde mich nicht in meiner Wohnung verkriechen und auf das Ende warten. Ich werde mir noch ein paar Träume erfüllen«, erklärte der attraktive Mann mit dem silbergrauen Haar und den stahlblauen Augen, der zum ersten Mal bei ihm war. Johann war ganz offensichtlich bereit, sein Schicksal anzunehmen. Er hatte sich damit abgefunden, dass der Hirntumor, der vor einigen Wochen bei ihm diagnostiziert wurde, inoperabel war und er nur noch ein paar Monate zu leben hatte. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich daran denke, meine Zelte hier abzubrechen, um näher bei meiner Familie zu sein. Meine Tochter lebt schon seit über zehn Jahren in Sydney. Sie hat zwei kleine Mädchen, vier und sechs Jahre alt. Ich werde sie nicht aufwachsen sehen, das bedauere ich sehr, deshalb möchte ich noch so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen.« »Sie werden ärztliche Hilfe benötigen, wenn die Krankheit fortschreitet«, sagte Daniel. »Das ist mir bewusst. Ich habe eine Klinik gefunden, die mich aufnehmen wird, sobald es so weit ist. Glücklicherweise habe ich finanzielle Rücklagen, die mir dieses Arrangement erlauben. Ich habe nicht vor, meiner Familie zur Last zu fallen.« »Sie dürfen aber ruhig ein wenig Hilfe annehmen«

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Die neue Praxis Dr. Norden – 12 –

Zukunftspläne aussichtslos?

Aber vielleicht führt unser Weg ins große Glück

Carmen von Lindenau

»Das ist eine mutige Entscheidung«, stellte Daniel mit unverhohlener Bewunderung fest, nachdem er erfahren hatte, was Johann Baumstetter, sein letzter Patient an diesem Vormittag, plante.

»Es ist die einzig richtige Entscheidung. Solange ich mich noch gut fühle, will ich das Leben spüren. Ich werde mich nicht in meiner Wohnung verkriechen und auf das Ende warten. Ich werde mir noch ein paar Träume erfüllen«, erklärte der attraktive Mann mit dem silbergrauen Haar und den stahlblauen Augen, der zum ersten Mal bei ihm war.

Johann war ganz offensichtlich bereit, sein Schicksal anzunehmen. Er hatte sich damit abgefunden, dass der Hirntumor, der vor einigen Wochen bei ihm diagnostiziert wurde, inoperabel war und er nur noch ein paar Monate zu leben hatte.

»Es ist nicht das erste Mal, dass ich daran denke, meine Zelte hier abzubrechen, um näher bei meiner Familie zu sein. Meine Tochter lebt schon seit über zehn Jahren in Sydney. Sie hat zwei kleine Mädchen, vier und sechs Jahre alt. Ich werde sie nicht aufwachsen sehen, das bedauere ich sehr, deshalb möchte ich noch so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen.«

»Sie werden ärztliche Hilfe benötigen, wenn die Krankheit fortschreitet«, sagte Daniel.

»Das ist mir bewusst. Ich habe eine Klinik gefunden, die mich aufnehmen wird, sobald es so weit ist. Glücklicherweise habe ich finanzielle Rücklagen, die mir dieses Arrangement erlauben. Ich habe nicht vor, meiner Familie zur Last zu fallen.«

»Sie dürfen aber ruhig ein wenig Hilfe annehmen«, sagte Daniel, als Johann nachdenklich auf die Zeiger der alten Standuhr aus rotem Ahornholz schaute, die dem ansonsten ganz in Weiß eingerichteten Sprechzimmer eine gemütliche Atmosphäre verlieh.

»Meine Familie weiß noch nichts von meiner Krankheit, Doktor Norden«, gab Johann zu, als er sich Daniel wieder zuwandte. »Ich will unsere letzten gemeinsamen Monate nicht mit diesem Wissen belasten. Es soll eine unbeschwerte Zeit für uns werden.«

»Wie haben Sie Ihren Entschluss, in Zukunft in Australien zu leben, gegenüber Ihrer Tochter begründet?«

»In meinem Beruf als Meeresbiologe bin ich viel gereist und war auch oft bei meiner Familie. Ich habe bis letztes Jahr für ein Labor in Kiel gearbeitet. Jetzt bin ich im Ruhestand und kann leben, wo immer es mich hinzieht. Zuerst war es München, die Stadt meiner Geburt. Inzwischen ist es mir aber am wichtigsten, bei meiner Familie zu sein.«

»Ihnen ist bewusst, dass sich nicht wirklich abschätzen lässt, wie lange sie noch symptomfrei sein werden. Es könnte auch plötzlich ganz schnell gehen«, erinnerte Daniel ihn daran, was er ihm bereits gesagt hatte, nachdem er den Befund aus Kiel gelesen und sich die dazugehörigen Bilder angesehen hatte.

»Ich hoffe einfach, dass es noch eine Weile so bleibt, wie es gerade ist. Hätte ich nicht vor zwei Monaten diesen Fahrradunfall gehabt, wüsste ich doch noch gar nichts von diesem Tumor.«

»Nein, vermutlich nicht«, gab Daniel ihm recht. Johann hatte ihm von dem Unfall erzählt, der ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. Er war auf einem Fahrradweg in der Innenstadt unterwegs gewesen, als ein Auto rückwärts einparkte, ihn streifte und er vom Fahrrad fiel. Wegen des Verdachtes auf eine Gehirnerschütterung wurde ein CT seines Kopfes angeordnet und der Tumor entdeckt.

»Als meine Frau vor zwölf Jahren starb, habe ich mich in die Arbeit gestürzt. Meine Tochter war damals gerade mit der Schule fertig und hatte bereits ihr eigenes Leben. Wir waren beide nur noch unterwegs. Die vielen Monate, die meine Frau unter ihrer Krankheit litt, hatte uns allen nicht viel Freiraum gelassen. Ich werde es nicht zulassen, dass meine Tochter so etwas noch einmal mitmachen muss.«

»Das verstehe ich. Wir wollen nicht, dass die Menschen, die wir lieben, leiden müssen, trotzdem haben sie die Wahrheit verdient.«

»Ich werde es meiner Tochter sagen, irgendwann, aber nicht gleich. Werden Sie mir helfen, dass ich diese Reise in einer halbwegs guten Verfassung antrete?«

»Im Moment sind Sie noch in einer guten Verfassung, Herr Baumstetter. Wir werden Sie mit den notwendigen Impfungen versorgen und einen Check-up machen. Mehr ist im Moment nicht notwendig.«

»Dann machen wir das so.«

»Gut, dann lassen Sie sich einen Termin für den Check-up geben. Wegen der Impfungen können Sie jederzeit auch ohne Termin vorbeikommen.«

»Ich danke Ihnen, Doktor Norden. Bis zum nächsten Mal«, verabschiedete sich Johann, als Daniel ihn zur Tür begleitete.

»Passen Sie auf sich auf, Herr Baumstetter«, sagte Daniel und sah Johann noch kurz nach, während er durch den Gang lief, der das Sprechzimmer mit der Empfangsdiele der Praxis verband.

Hätte er den Befund nicht gelesen, den Johann aus Kiel mitgebracht hatte, wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass dieser Mann ernsthaft krank sein könnte. Seine aufrechte Haltung, seine fließenden Bewegungen hätten ihn glauben lassen, einen gesunden sportlichen Mann vor sich zu haben.

Als er ein paar Minuten später das Sprechzimmer verließ, standen Lydia und Sophia noch hinter dem weißen Tresen mit der blauen LED-Beleuchtung, die den Dielenboden erhellte. Die beiden jungen Frauen trugen türkisfarbene T-Shirts und weiße Jeans, ihre Praxiskleidung, und waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihn erst gar nicht bemerkten.

»Du hast recht, ein wirklich interessanter Mann«, hörte er Lydia sagen, die Sophias Blick zur Praxistür folgte.

»Wenn er dreißig Jahre jünger wäre, dann …«

»Dann wäre gar nichts, weil du deinen Markus liebst und dich niemals auf einen anderen einlassen würdest«, unterbrach Lydia ihre Kollegin, die ganz verträumt aussah und mit den Spitzen ihres hellblonden Haares spielte, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

»Richtig, ich liebe Markus«, stimmte Sophia ihr lächelnd zu.

»Hallo, Daniel, nicht wundern«, sagte Lydia, die ihn bemerkt hatte. »Wir sprachen gerade über Herrn Baumstetter«, klärte sie ihn auf und strich eine Strähne ihres halblangen dunkelblonden Haares aus dem Gesicht.

»Das dachte ich mir schon«, entgegnete Daniel schmunzelnd.

»Na gut, dann vergessen wir das auch mal wieder und gehen in die Mittagspause«, sagte Lydia.

»Ja, bitte, mein Magen knurrt schon.«

»Verzeihung, Baroness von Arnsberg, sollten Sie sich nicht ein bisschen gewählter ausdrücken?«, zog Lydia ihre Freundin und Kollegin mit ihrem Adelstitel auf.

»Wir sind ein altes Adelsgeschlecht und ein wenig grobschlächtig«, entgegnete Sophia lachend.

»Ich gehe dann mal, bis später, die Damen«, verabschiedete sich Daniel von den beiden und verließ die Praxis durch den Gang, der hinüber zum Wohnteil des Hauses führte. Dass Sophia und Lydia sich auch privat gut verstanden, sorgte für ein angenehmes Arbeitsklima. Das wiederum trug dazu bei, dass die Patienten sich in seiner Praxis wohlfühlten.

*

Johann war bewusst, dass der junge Arzt recht hatte, wenn er ihm riet, seine Familie über seinen Gesundheitszustand aufzuklären. Aber dann wäre es mit der Unbeschwertheit seiner letzten Wochen vorbei, alle würden in ihm nur noch den schwerkranken Mann sehen, dem sie nichts mehr zutrauten.

»Nein, das will ich nicht«, murmelte er, als er sich seinem Auto näherte, das unter einem der Ahornbäume am Ende der Straße parkte.

Er hatte den weißen Mercedes aus den 70er Jahren erst kurz vor seiner Diagnose gekauft, weil er ein Faible für Oldtimer aus dieser Zeit hatte. Nun würde er sich wieder von ihm trennen, so wie von fast allem, was er besaß. Mehr als zwei Koffer wollte er nicht mit auf seine letzte Reise nehmen. Als er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche zog, fiel er auf den Boden, und er musste sich bücken. Während er sich wieder erhob, achtete er nicht auf die Frau in dem hellgrünen Mantel, die mit einem Einkaufskorb in der Hand um die Ecke bog.

»Vorsicht!«, rief sie, als Johann sich in dem Moment aufrichtete, als sie nur noch einen Schritt von ihm entfernt war.

Aber es war schon zu spät. Johann prallte mit ihr zusammen. Sie verlor das Gleichgewicht und drohte zu stürzen. Johann reagierte sofort und fing sie in seinen Armen auf. Nur der Korb, der ihr aus der Hand glitt, fiel zu Boden.

»Verzeihen Sie, ich habe nicht aufgepasst«, entschuldigte sich Johann und betrachtete die Frau, die er noch immer in seinen Armen hielt. Sie war umwerfend attraktiv, hatte wunderschöne helle blaue Augen und hellrotes Haar. Der verdutzte Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn anschaute, weckte in ihm den Beschützerinstinkt, der ihn dazu brachte, sie weiterhin festzuhalten. Erst als sie ihn bat, sie wieder loszulassen, reagierte er und half ihr, sich aufzurichten.

»Danke, dass Sie mich vor einem Sturz bewahrt haben«, sagte sie und ging in die Hocke, um ihren Einkauf, der aus dem Korb gefallen war, wieder aufzuheben.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte er und ging ebenfalls in die Hocke.

»Falls etwas kaputt gegangen ist, ersetze ich Ihnen selbstverständlich den Schaden«, versicherte er ihr, als er ihr die Packungen mit dem Mehl und dem Zucker reichte, die er aufgehoben hatte.

»Nein, es ist alles gut, es gibt keinen Schaden«, stellte sie mit einem kurzen Blick in die Schachtel mit den Eiern fest, die noch im Korb stand und den Sturz schadlos überstanden hatte.

»Marmorkuchen mit Schokoladenglasur, richtig?«, fragte Johann lächelnd, nachdem er ihr auch noch den Vanillezucker, die Packung mit dem Kakaopulver und die Schokolade gereicht hatte.

»Stimmt, backen Sie auch?«

»Ich habe es schon versucht, allerdings mit mäßigem Erfolg«, gab Johann zu, als er ihr schließlich noch einen weißen Umschlag reichte, aus dem die Eintrittskarte für ein Blueskonzert hervorschaute, das am nächsten Tag in einem Club in der Innenstadt stattfand.

»Es gibt inzwischen unzählige Videos im Internet, die Ihnen das Backen Schritt für Schritt erklären. Ich bin absolut sicher, Sie werden Fortschritte machen, wenn Sie es wirklich wollen«, entgegnete sie lächelnd. »Oder gehören Sie zu den Menschen, die schnell wieder aufgeben?«, fragte sie ihn, als er sich wieder erhob und ihr die Hand reichte, um auch ihr aufzuhelfen.

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete er, hielt ihre Hand umfasst und sah ihr direkt in die Augen.

»Gut, dann viel Erfolg«, sagte sie, ohne ihren Blick abzuwenden.

Wäre ich nicht dem Tod geweiht, würde ich sie jetzt nach einem Date fragen, dachte er. Es war schon lange her, dass er sich von einer Frau auf diese Weise angezogen fühlte. Andererseits war es wohl ziemlich gewagt anzunehmen, dass sie ungebunden war. Nein, diese Frau lebte nicht allein, und der Mann, der sich auf den Marmorkuchen freuen durfte, musste ein sehr glücklicher Mann sein. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte er und ließ ihre Hand los.

»Den wünsche ich Ihnen auch«, entgegnete sie, nahm ihren Korb in die Hand und ging mit einem Lächeln davon.

Bevor er in seinen Wagen stieg, schaute er noch einmal auf und sah, wie sie auf das Grundstück neben dem des jungen Arztes einbog. Das passt zu ihr, dachte er und warf einen kurzen Blick auf das Haus mit den türkisfarbenen Fensterläden, das von einem wildromantischen Garten mit Obstbäumen und Rosenbüschen umgeben war. Vielleicht würde er ihr ja wieder begegnen, wenn er das nächste Mal die Praxis Norden aufsuchte. Gleich darauf fragte er sich aber, zu was das gut sein sollte. Erstens würde er bald sterben, und zweitens lebte sie so gut wie sicher in einer festen Beziehung. Ich muss diese Begegnung schnell wieder vergessen, dachte er und setzte sich hinter das Steuer seines Wagens.

*

»Was war das denn?«, flüsterte Ottilie, die dem Oldtimer nachschaute, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie hatte auf einmal das Gefühl, auf Wolken zu schweben. Es war lange her, dass ein Mann sie derart aus der Fassung gebracht hatte. Sie sah noch immer sein Gesicht vor sich, hörte den Klang seiner Stimme und spürte den sanften Druck seiner Hand. Reiß dich zusammen, Ottilie, dachte sie. Es war sinnlos, noch länger an diesen Mann zu denken. Sie würde ihn sicher niemals wiedersehen.

»Hallo, Oma!«, rief das Mädchen, das mit wehenden roten Haaren auf einem Fahrrad in die Einfahrt einbog.

»Hallo, Ophelia, wie war die Schule?«, fragte sie ihre Enkelin, die einen pinkfarbenen Rucksack aufgeschnallt hatte, vor der Garage bremste und von ihrem Fahrrad stieg.

»Ganz okay, nichts Besonderes«, antwortete das Mädchen. »Aber du hast etwas Besonderes erlebt, stimmt’s?«, fragte Ophelia und betrachtete ihre Großmutter schmunzelnd.

»Wie kommst du denn darauf?«, wunderte sich Ottilie, war sie doch davon ausgegangen, dass sie sich die Überraschung über das gerade Erlebte nicht anmerken ließ.

»Du siehst glücklich verträumt aus«, ließ Ophelia sie wissen.

»Glücklich verträumt? Nun, ich denke, das liegt daran, dass ich bereits von dem köstlichen Geschmack des Kuchens träume, den ich uns gleich backen werde«, sagte sie und hoffte, dass Ophelia sich mit dieser Erklärung zufriedengab.

»Wenn das so ist, dann bekomme ich auch gleich einen glücklich verträumten Blick«, entgegnete Ophelia lächelnd. »Aber ehrlich gesagt denke ich nicht, dass das die ganze Wahrheit ist«, fügte sie noch hinzu, als Ottilie schon glaubte, sie hätte sie überzeugt.

»Ich habe eben meine kleinen Geheimnisse«, sagte sie, um Ophelia von weiteren Fragen abzuhalten. Diese Begegnung mit dem schönen Fremden und die Gefühle, die er in ihr ausgelöst hatte, gehörten in die Schatzkiste der kleinen Geheimnisse. Über sie zu sprechen, das ließe sie wie eine Seifenblase zerplatzen, weil sie nur für den Moment gemacht waren und einer längeren Betrachtung nicht standhielten.

»Wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse, Oma«, entgegnete Ophelia lächelnd und küsste ihre Großmutter liebevoll auf die Wange, bevor sie Ottilie den Schlüssel aus der Hand nahm und die Haustür aufschloss. Sie muss etwas wirklich Schönes erlebt haben, dachte Ophelia, als sie ihre Großmutter noch einmal anschaute. Aber wenn sie nicht darüber sprechen wollte, würde sie sie auch nicht weiter ausfragen.

*

Daniel hatte im Laufe des Tages immer mal wieder an Johann Baumstetter denken müssen. Er fand es nach wie vor erstaunlich, wie fit sein Patient trotz seines Zustandes noch war. Möglicherweise lag es daran, wie er mit seiner Krankheit umging, dass er Schwäche einfach noch nicht zuließ, weil er dem Leben noch etwas abtrotzen wollte. Manchmal half ein starker Wille dabei, ein wenig Zeit zu gewinnen. Hin und wieder geschah auch ein Wunder, und jemand, der als unheilbar krank galt, war plötzlich wieder gesund, ohne dass sich dafür eine Erklärung fand. Aber diese Fälle waren extrem selten. Johann befand sich bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit. Eine Heilung war so gut wie ausgeschlossen. Er konnte nicht mehr viel für ihn tun, und das fühlte sich nicht gut an.

Nach der Sprechstunde schob er die Gedanken an Johann aber erst einmal beiseite. Er war mit Olivia zum Tennis verabredet, das würde ihm helfen, für eine Weile abzuschalten. Eine Auszeit, die er dringend brauchte, um den Kopf frei zu bekommen. Nur so konnte er jeden Tag aufs Neue mit seiner ganzen Kraft für seine Patienten da sein. Manchmal aber beschäftigte ihn die Krankheit eines Patienten so sehr, dass ihn die Gedanken daran nicht losließen.

Wenn er einen fachlichen Rat brauchte, sprach er mit seinen Eltern darüber, wenn es um die psychische Belastung ging, vertraute er sich Olivia an, so wie sie sich ihm anvertraute, wenn sie mit einem ihrer Patienten Probleme hatte.