Die neun Gebote – Wie man sexuellen Missbrauch überlebt - Michael Reh - E-Book

Die neun Gebote – Wie man sexuellen Missbrauch überlebt E-Book

Michael Reh

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Beschreibung

Du kannst nicht ändern, was passiert ist, aber du kannst ändern, wie du damit umgehst. Du darfst neue Wege gehen! Was macht sexuelle Gewalt mit einem Menschen und seinem Umfeld? Diese Frage beantwortet Michael Reh, selbst Überlebender von jahrelangem sexuellem Missbrauch, in seinen neun Geboten. Der renommierte Fotograf und Autor beschreibt, wie Traumata entstehen, welche Prozesse den Betroffenen dabei helfen zu verdrängen, zu verarbeiten und zu überleben, sowie was Angehörige und Freunde tun können und welche Möglichkeiten ihnen selbst zur Verfügung stehen, um zu lernen, mit diesem letzten gesellschaftlichen Tabu umzugehen. In diesem persönlichen Leitfaden analysiert Reh nicht nur die komplexen psychologischen und gesellschaftliche Strukturen, die sexuellen Missbrauch ermöglichen, sondern lässt den Leser an seinen eigenen Erfahrungen teilhaben und zeigt Wege auf, die aus der Isolation, Scham und Schande herausführen können. Offen, schonungslos, heilend, die wahre Katharsis.

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Seitenzahl: 218

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DIE NEUN GEBOTE

Michael Reh

WIE MAN MISSBRAUCH ÜBERLEBT

Ein Leitfaden für Überlebende von sexuellem Missbrauch, deren Familien und Freunde

DU KANNST NICHT ÄNDERN WAS PASSIERT IST, ABER DU KANNST ÄNDERN, WIE DU DAMIT UMGEHST!

Der Weg vom Opfer zum Überlebenden: Die wahre Katharsis.

Für Johannes, der mutig seinen Weg geht!

Vorwort

Julia von Weiler (Innocence in Danger)

„Was hat das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern mit Ihrer Kindheit zu tun, Frau von Weiler“, fragte mich vor einiger Zeit eine junge Journalistin. Eine Frage, die mir tatsächlich bis dahin noch nie jemand so direkt gestellt hatte. Reflexartig wollte ich berichten, was ich bis dahin immer berichtet hatte. Das Thema ist 1991 mir in meinem Psychologiestudium in New York begegnet. Mein Praktikum beim „Children’s Safety Project“ hat mich sehr geprägt, denn dort unterstützte das Team Kinder und Jugendliche, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren.

Und das stimmt. Diese Zeit war sehr prägend. Aus 3 Monaten Praktikum wurde ein Jahr und es entstand eine tiefe Freundschaft zu Flora Colao, der Gründerin des Children’s Safety Project.

Ich überlegte kurz, setzte an und heraus kam das: Ich hatte eine „normal-bekloppte“ Kindheit in einem ziemlich kleinen Dorf in Niedersachsen.

Zu dieser Kindheit gehörte, dass meine Nachbarsfreundin – ein Jahr älter als ich – regelmäßig von ihrer Mutter so sehr geschlagen wurde, dass Gegenstände an ihrem Körper zerbarsten. Habe ich das zu Hause erzählt? Selbstverständlich. Aber niemand hat sich eingemischt. Und irgendwann war es der Mutter sogar egal, ob ich diese Ausbrüche als Kind miterlebte. Meine Freundin und ich haben das ausgeblendet, nie darüber gesprochen, sind zum Alltag übergegangen. Und haben gespielt.

Unsere Wege haben sich im Teenager-Alter getrennt. Gerne hätte ich später als Erwachsene mit ihr darüber noch einmal gesprochen. Aber sie starb sehr früh an Krebs. Das war keine sexualisierte Gewalt, aber massive Gewalt, ganz offen ausgelebt. Niemand half diesem Mädchen.

Zu meiner Kindheit gehörte auch die Geschichte des Grundschullehrers meines ältesten Bruders, der nachmittags Musikunterricht anbot. Bis eines Tages ein paar Väter an unserer Haustür klingelten und meinen ­Vater sprechen wollten, der damals Elternratsvorsitzender war. Einige Jungen hatten zu Hause von sexualisierter Gewalt berichtet. Der Grundschullehrer wurde angezeigt und wegen Missbrauchs verurteilt. Mein Bruder war nicht betroffen, der Großteil seiner Klassenkameraden schon. Das war Anfang der 1970er Jahre.

Dazu gehört, dass alle im Dorf munkelten, der Vater von Marie (Name geändert) ist zu Hause ganz komisch mit ihr. Es heiße sogar, er würde manchmal nachts bei ihr im Zimmer schlafen. Na ja, er trinke ja auch wirklich viel. Also wer weiß … Geschehen ist in diesem Fall, glaube ich, auch nichts. Ich erinnere noch, wie unsicher ich als Kind war, wenn ich Marie begegnete. Sollte ich fragen? Habe ich nicht. Ich wusste nicht wie.

Von den Schützen- oder anderen Dorffesten will ich gar nicht erst anfangen. Wenn nach (viel) zu viel Alkohol die Sprüche und Grabschereien ganz öffentlich stattfanden. Wehe, das machte ich später zum Thema. Egal mit wem, stand ich sofort in der Ecke als prüde Asketin, die nicht versteht, was Spaß ist.

Während meiner Zeit auf dem Gymnasium gab es einen Sportlehrer, vor dem sich alle Mädchen warnten. Beim Turnen „verrutschte“ seine Hand bei der Hilfestellung immer wieder. Trotz Beschwerden beim Direktor passierte nichts. Ein anderer Lehrer wurde allerdings versetzt, weil er sich auf der Klassenfahrt einer 9. Klasse einer Schülerin genähert hatte. Die Gerüchte flogen. Darunter natürlich auch das Gerücht, das Mädchen hätte ja ganz besonders mit ihm geflirtet. Sie würde eh denken, sie sei was Besseres. Und der arme Kerl. Besprochen wurde es an der Schule nie. Versetzt wurde er an eine Orientierungsstufe, die es damals in Niedersachsen noch gab. Ich nehme an, man ging davon aus, dass er sich 5.- und 6.-Klässlerinnen so nicht nähern würde.

Also, ich hatte eine normal-bekloppte Kindheit in Niedersachsen und das Thema hatte sehr viel mit mir zu tun. Mit Zeit und Muße fielen mir sicher noch viele kleine und große Momente ein, in denen ich mit sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen und sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen in Berührung kam.

Beeindruckend, dass der Grundschullehrer verurteilt wurde. Immerhin. Vor einigen Jahren fragte mich jemand aus dem Ort, ob mich dieser Lehrer auch missbraucht habe und ich deswegen so kämpfe? Nein, hat er nicht. Er war schon nicht mehr an der Schule, als ich eingeschult wurde. Und ich war ja auch ein Mädchen.

Sexualisierte Gewalt an Kindern geht uns alle an. Sie betrifft uns alle. Wir alle kennen betroffene Kinder (oder heute erwachsene Betroffene) – auch wenn wir nicht wissen, dass sie es sind. Das bedeutet weiter, wir alle kennen Täter und Täterinnen – und das wollen wir nicht wissen. Das ist zu viel, das ist schwer, das ist kompliziert. Also mach ich lieber nichts. Vielleicht stimmt es ja auch gar nicht. Oder jemand anderes macht etwas.

Wir müssen lernen, uns zu stellen. Zu sprechen, voneinander zu lernen, mutig zu sein und zu handeln.

Seit den 1970er Jahren hat sich viel bewegt. Auch seit ich 1991 mit meiner Arbeit für betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene begann, hat sich viel getan.

Es sind vor allem immer wieder die Betroffenen, die mutig voran gehen. Einer dieser Menschen ist Michael Reh. Er legt seinen Finger in eine besondere Wunde unserer Gesellschaft, denn der Umgang mit Täterinnen ist immer noch ein großes Tabu. Verrückterweise sogar besonders in der Szene der psychosozialen Versorgung. Spreche ich das Thema Täterinnen an, lautet der Widerstand sofort: „Männer sind aber das viel größere Problem.“

In seinen neun Geboten schildert Michael couragiert, wie perfide seine Täterin vorging. Er beschreibt den Schmerz von allen alleingelassen zu sein und seinen Weg aus der traumatischen Belastung. Er erzählt seinen Weg zur Heilung und zum Überleben. Dazu gehören auch leidvolle Umwege und immer wieder die Erkenntnis, Verleugnung und Betäubung wirken höchstens kurzfristig. Denn, um den Autor zu zitieren: „Gefühle sind wie Kinder, die etwas wollen, sie zupfen so lange an deinem Ärmel bis sie eine Antwort bekommen. Du darfst sie nicht ignorieren!”

Sein Leitfaden gibt wertvolle Tipps, wie Betroffene sich ihren Gefühlen stellen können, um sich zu befreien. Er beschreibt, wie er es schaffte sich zu erlauben

• Angst zu haben,

• zu erkennen,

• seinen Erinnerungen zu glauben,

• seine Familie zu konfrontieren,

• bei sich zu bleiben,

• sich selbst zu bestimmen,

• ja, sich selbst zu vertrauen,

• zu überleben und

• neue Wege zu gehen.

DU DARFST – so beginnt jedes seiner Gebote. Du darfst vor allen Dingen gut zu Dir sein, so übersetze ich das Buch für mich. Du darfst Dich ehren, achten und verändern.

Eine Einladung in sich zu spüren, die Perspektive zu ändern und aktiv den eigenen Weg ins Überleben zu finden.

Dieser Leitfaden ist auch wertvolle Lektüre für Angehörige Betroffener.

EINLEITUNG

Dieses Buch, dieser Leitfaden, wie man sexuellen Missbrauch überlebt und damit umgeht, ist kein 9-Schritte-Programm, das du liest und sofort umsetzten kannst, kein Fast-Food-Ratgeber, kein Insta-Buch.

Psychische Prozesse laufen langsam und brauchen Zeit, um sich zu verändern. Sie lassen sich nicht durch Pillen, lesen auf der Überholspur oder andere vermeintliche Zauberstäbe beschleunigen.

Wir leben in einer Zeit, in der alles schnell gehen muss.

Zackzack. Hier ist die Lösung deines Problems, jetzt mach mal. Aber für diese Traumaverarbeitung gibt es kein Schnellprogramm.

Ach, du stolperst, das geht nicht so schnell, es gibt Widerstände? In dir? In deiner Umgebung? In deiner Familie? Du funktionierst nicht so, wie die Gesellschaft es von dir erwartet? Du funktionierst vielleicht nicht mal so, wie du es von dir selbst erwartest?

Was sind das für Erwartungen und woher kommen sie?

Du wirst Zeit brauchen zu heilen, zu be- und verarbeiten. Zeit, zu dir zu finden.

Überleben kostet Kraft.

Es kann sein, dass du Widerstände in dir spürst, wenn du dieses Buch liest. Sie spiegeln deine innere Abwehr, deine Angst vor der Auseinandersetzung mit deiner Geschichte. Egal ob du selbst den sexuellen Missbrauch erlebt hast oder Sekundärbetroffene*r bist. Worum geht es in deinem spezifischen Fall und wovor hast du (immer noch) Angst?

Du hast es mit einem gewaltigen Tabuthema zu tun.

Sexueller Missbrauch!

Ein überwältigendes Thema, für alle (Sekundär-)Betroffenen, die sich damit beschäftigen, um ihre eigenen Erfahrungen zu verarbeiten. Ich erzähle in diesem Leitfaden meine persönliche Geschichte, meinen Weg vom Opfer zum Überlebenden, damit du siehst, dass du nicht alleine dastehst. Damit wir die Schnittpunkte erkennen, die uns verbinden.

Uns, die wir Missbrauch überlebt haben, verbinden ganz bestimmte Dynamiken.

Herauszufinden, wie wir uns helfen können, darum geht es an erster Stelle. Unsere Stimme finden und auf lange Sicht unser Leben so leben zu können, ohne dass der Missbrauch alles überschattet. Darum geht es in diesem Buch.

Schon in meinem autobiografischen Roman „Katharsis“ habe ich über das Thema sexueller Missbrauch geschrieben und viel von meinem eigenen Beispiel einfließen lassen.

Aber „Katharsis“ ist ein Roman und beinhaltet auch Versatzstücke und Momente, die ich nicht selbst erlebt habe, so wie Mord und Pornographie, die aber Teil des Ganzen sind, mit dem wir uns hier beschäftigen.

Dieser Leitfaden ist in erster Linie an die Überlebenden von sexuellem Missbrauch gerichtet. Aber auch an diejenigen, die Missbrauch nicht selbst erlebt, jedoch mit diesem Thema zu tun haben. Familie, Freunde und auch Menschen, die beruflich damit in Berührung kommen. Erzieher*innen, Ärzt*innen, Lehrer*innen, Psychiater*innen, Heiler*innen. In einigen Kapiteln wende ich mich direkt an euch, werde Dinge, die sich besonders an Sekundärbetroffene richten, hervorheben und erklären. Denn dieses Buch soll sensibilisieren.

Aber auch, wenn ich euch Sekundärbetroffene nicht immer direkt anspreche, so werdet ihr doch vieles erfahren. Wenn ihr meine Geschichte hört und die Dynamiken erkennt, werdet ihr Schlüsse und Anregungen, die man daraus ziehen kann, verstehen. Da viele Überlebende über ihren Missbrauch schweigen, könnt ihr durch die Lektüre Zeichen erkennen, unbewusste Hinweise und Signale, die ein*e Überlebende*r non-verbal sendet.

Dieses Buch ist kein Ratgeber, es ist als Leitfaden gedacht, auch für Traumaverarbeitung.

Denn ich kann dir keine heilende Pille geben, keine umfassende Wahrheit, kein Neun-Punkte-Programm, das absolut sicher ist. Jeder Fall von sexuellem Missbrauch, sexualisierter Gewalt ist individuell.

Es geht nicht nur um den sexuellen Akt, der von dem*der Täter*in begangen wird. Es geht um die sexualisierte Gewalt, den Übergriff, die Verletzung von Körper und Seele, die jede*r Überlebende erleidet. Um Macht und Kontrollverlust. Und die Folgen und Auswirkungen des Missbrauchs auf die Überlebenden, die Familie und die Gesellschaft.

Deine Verletzung kann nicht durch Medikamente oder eine Operation geheilt werden. Denn deine Verletzung liegt tief in deiner Seele, in deinem Unterbewusstsein und sie ist ein ständiger, oft unbewusster Begleiter in deinem Leben. Heilen kannst du dich letzten Endes nur selbst, wenn du dazu bereit bist, wenn die Zeit in deinem Leben reif ist. Du wirst es spüren! Anfangen kannst du damit jederzeit.

Jetzt zum Beispiel. In diesem Moment!

Dieses Buch ersetzt keine Therapie und nicht die Liebe und Fürsorge von Bezugspersonen und Freund*innen.

Und gerade die Akzeptanz und die Liebe von Eltern ist oft das Wichtigste für eine*n Überlebende*n, die oder der sexuell missbraucht wurde. Sei dir als Mutter oder Vater unbedingt bewusst, wie wichtig es für dein Kind ist, auch wenn es bereits erwachsen ist, dass du ihm*ihr glaubst und sie*ihn nicht alleine lässt.

Weil das Thema unbequem ist!

Weil du dich selbst hinterfragen musst!

Weil du vielleicht eine*n Partner*in hast, der*die ein*e Täter*in ist.

Weil du Angst vor den Konsequenzen hast.

Genau darum ist das Thema sexueller Missbrauch (sexualisierte Gewalt) immer noch ein Tabu. Weil zu viele Betroffene schweigen und viele Sekundärbetroffene lieber die Augen, die Ohren, den Verstand und das Herz verschließen. Das Thema weit weg von sich weisen.

Ich hoffe, dass dieses Buch dir das Gefühl und die Sicherheit gibt, dass du nicht alleine bist, dass du nicht isoliert mit deinem Problem dastehst.

Anfang der neunziger Jahre, als ich wirklich begann mich mit meinem Missbrauch auseinanderzusetzen, gab es kaum Literatur zu diesem Thema. Und wenn, war sie rein wissenschaftlich. Dann entdeckte ich 1992 ein anspruchsvolles Frauenmagazin in New York, „LEARS“.

Auf dem weißen Cover war ein schwarzes Strichmännchen, darunter in krakeliger Kinderschrift das Wort ABUSE (Missbrauch). Eine zehn Seiten lange Reportage. Was daran so wichtig für mich war? Ich verstand: Ich war nicht allein, es gab andere, denen Ähnliches wie mir passiert war, angetan wurde: Sexualisierte Gewalt durch einen Erwachsenen.

Zehn Seiten, die mein Leben veränderten.

Sexueller Missbrauch kam damals kaum in der Presse vor. Und wenn, dann verschleiert. Das Thema war nicht präsent im gesellschaftlichen Bewusstsein. Im Grunde wird sexueller Missbrauch erst seit einigen Jahren öffentlich besprochen.

Wir sind die erste Generation, die die Chance hat, wirklich etwas zu verändern, indem wir uns nicht aus Angst und Scham abwenden.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch Ähnliches in dir auslösen wird, wie es damals der zehnseitige Artikel in „LEARS“ für mich tat.

Dieser Leitfaden wird dir als Überlebender*Überlebendem Ideen geben können, Einsicht und Verständnis für deine eigene, individuelle Situation.

Aber auch für dich, dessen*deren Kind missbraucht wurde, dein*e Enkel*in oder dein*e Freund*in. Für dich, der*die du interessiert an diesem Thema bist, ohne dass du selbst die furchtbare Erfahrung von sexuellem Missbrauch machen musstest.

Missbrauch ist ein großes, übergreifendes Thema, das für dich als Betroffene*n jeden Aspekt deines (privaten) Lebens berührt. Das gilt auch, weitaus mehr, als wir zunächst wahrnehmen wollen, für alle innergesellschaftlichen Dynamiken.

Vielleicht kann ich dir neue Informationen geben, Denkanstöße, die deine Sichtweise und dein Verhalten in eine andere Richtung lenken und dadurch eine Veränderung mit sich bringen! Wenn du dein Denken änderst und dich auf dieses Buch wirklich einlässt, dann kannst du auch deine Muster, dein Verhalten und dein Leben ändern.

Interessanter Gedanke? Allerdings!

Ich werde in den neu(e)n Geboten auf viele Umstände, Strukturen und dir (noch) unbewusste Prozesse aufmerksam machen, die du auch kennen wirst. Und auf Fallen, in die wir immer wieder tappen können.

Wir gehen in deine Geschichte, sprechen von deinem und meinem Leben und sehr traumatischen Erlebnissen. Ein liebevoll gemeinter Rat von mir: Wenn es dir an einem Punkt beim Lesen zu viel wird, leg das Buch für einen Moment zur Seite.

Nimm dir Zeit.

Du wirst merken, wann du eine Pause brauchst.

Wenn du unruhig wirst, oder müde, dich nicht konzentrieren kannst, weglaufen möchtest. Oder lieber den Abwasch machst, als weiter zu lesen. Das ist völlig normal bei diesem Thema, selbst wenn du dich schon länger mit deiner Geschichte beschäftigst.

Dieses Buch kann viel in dir auslösen. Auch bei mir hat das Schreiben eine neue Katharsis angestoßen. Diese psychischen Prozesse brauchen Zeit. Nimm sie dir!

Setz dich niemals unter Druck. Dies ist dein Raum, dein Buch und du bestimmst das Tempo. Du bestimmst, wann du liest, wie du liest und was du daraus machst. Die Zeit wird dir helfen, Dinge zu begreifen.

Daraus kann Veränderung und Heilung entstehen.

EINFÜHRUNG

Missbrauch!

Sexueller Missbrauch.

Gewalt in der Familie, Übergriff, Vergewaltigung an Körper und Seele eines Kindes, Einsamkeit und Isolation. Absolute Macht über ungeschützte Kinder und junge Menschen! Und die daraus entstehenden langjährigen Folgen für die Betroffenen.

Harte Worte! Worte, bei denen die meisten lieber weghören.

Glauben, weghören zu müssen, da sie befürchten, das Gehörte nicht ertragen zu können.

„Ich kann es mir nicht vorstellen!“

„Das gibt’s doch gar nicht.“

„Du bist doch ein Einzelfall.“ (Wenn eine Frau dich missbraucht hat)

Ein Achselzucken, ein Blick zur Seite. Themenwechsel. Auch das habe ich, und wahrscheinlich auch du, oft genug gehört.

Was bedeutet es, wenn du als Sekundärbetroffene*r oder Nichtbetroffene*r sagst: Du kannst es dir nicht vorstellen?

Hast du nie Grimms Märchen gelesen? Hänsel und Gretel? Kinder, die eingesperrt, von den Eltern im Stich gelassen werden, die von einer bösen Frau verführt und gefressen werden? Was ist mit „Rotkäppchen“? Dem „Eisenhans“. „Die sieben Schwäne“. „Die Schneekönigin“!

Diese Geschichten sind voll von Metaphern für sexuellen Missbrauch. Kindesmissbrauch. Sexualisierte Gewalt!

Du kannst es dir nicht vorstellen? Liest du keine Zeitung? Hast du kein Internet? Schaust du kein Fernsehen, oder siehst und hörst du einfach weg, wenn es um die Missbrauchsfälle in der Kirche, in Sportvereinen, auf Campingplätzen, in Internaten, Schulen und Familien geht?

Einerseits trifft dich keine Schuld, denn es gibt immer noch zu wenig Aufklärung, was sexuellen Missbrauch betrifft.

Aber vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass dieses Thema so fremd, so überwältigend, so bedrohlich für dich ist, dass du es dir nicht vorstellen willst. Weil die Akzeptanz dieses Themas natürlich auch eine Veränderung für dich und dein Leben bedeuten würde. Besonders wenn du ein*e Sekundärbetroffene*r bist.

Die Neun Gebote wollen dir helfen, indem sie dich an das Thema heranführen und aufklären.

Missbrauch ist ein schwieriges, komplexes Thema, ein Tabuthema, auch noch heute im Jahre 2023. Und viele Menschen wissen einfach nicht, wie sie damit umgehen sollen, wenn es sie selbst oder ein Familienmitglied, eine*n Freund*in oder eine*n Schutzbefohlene*n betrifft.

Das Thema Missbrauch umgibt immer noch das Schweigen, die Scham und die Isolation.

Ich bleibe in diesem Buch gleich beim „du“, denn ich schreibe über ein Thema, das so nah, so persönlich ist, dass es ein „du“ braucht, eine Verbindung, ein sich aufeinander einlassen: du dich auf mich und dieses Buch, ich mich auf dich, indem ich es für dich schreibe. Obwohl wir uns nicht kennen. Egal, ob du ein*e Überlebende*r, oder ein*e Sekundärbetroffene*r bist. Ein*e Freund*in, ein*e Angehörige*r, eine Mutter, ein Vater, eine Schwester, ein Bruder. Oder jemand, der*die sich seiner*ihrer (beruflichen) Verantwortung nicht entziehen will, sondern verstehen, begreifen möchte.

Es gibt viele Punkte, die leider nicht bekannt sind, wenn es um sexuellen Missbrauch, sexualisierte Gewalt geht.

Wie überwindest du als Betroffene*r deine Angst, deine Gefühle, deine Einsamkeit, deine scheinbare Unfähigkeit, dich dazu zu äußern und es (vermeintlich) nicht zu können? In einer Gesellschaft, in einer Familie, die nicht darüber sprechen will, die das Thema ausklammert, weil es zu bedrohlich ist.

Ich bin kein Fachmann, kein Doktor der Psychologie, kein Sozialarbeiter, kein Therapeut, kein Professor, der Daten analysiert und daraus Erkenntnisse gewinnt. Man hat mir in den letzten Jahren oft einige dieser Fachmänner und Fachfrauen in Interviews, die ich zu meinem Buch „Katharsis“ gegeben habe, zur Seite gestellt. Einige kompetent, einige eher nicht, einige wirklich gut und erfahren, andere leider unfähig.

Es gibt ganz wunderbare Fachmänner und -frauen. Gerade im sozialen Dienst und in der psychischen Betreuung, deren Arbeit oft von unschätzbarem Wert ist. Ich selbst hatte Glück mit meiner ersten Therapeutin Eva Wellisz in New York, die erkannte, dass ich mit und durch Bilder und Bildsprache lerne. Jahre später wechselte ich zu einem anderen Therapeuten, einem Mann mit akademischem Titel und veröffentlichen Büchern, der mir empfahl, ich solle Spinat und Ananas essen, wenn ich Suchtdruck habe! Ein sehr befremdlicher Rat, den ich nicht befolgte.

Ein anderer Therapeut war sauer darüber, dass ich, ohne ihn vorher zu fragen, meine Familie und die Täterin mit meiner Geschichte konfrontierte. Hier muss man sich fragen, warum und wie Expert*innen handeln und welche Motive manche dazu veranlassen, solche Ratschläge zu geben.

Alles nur Menschen, genau wie du und ich. Mit ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Dramen. Und somit ist dieses Buch auch für diejenigen geschrieben, die professionell täglich mit diesem Thema zu tun haben.

Wenn du bereit bist für eine Therapie, schau dir dein Gegenüber genau an und entscheide selbst, ob der*die Therapeut*in der oder die Richtige für dich ist. Du hast das Recht, diese Entscheidung zu treffen.

Der erste wichtige Punkt:

Du hast das Recht, du darfst entscheiden, denn es geht um dich und deine Geschichte.

Du musst die Verantwortung für dich nicht abgeben.

Du bestimmst deinen Weg ab jetzt.

Warum werden Überlebende immer als Opfer dargestellt? Schwach, leidend, passiv?

Warum wurden mir, als meine Geschichte öffentlich bekannt war, immer offizielle Expert*innen zur Seite gestellt?

Reicht meine Aussage nicht? Warum muss sie durch externe Expert*innen „bewiesen“ werden?

Das hat für mich als denjenigen, der den sexuellen Missbrauch erlebt, etwas mit Schuldzuweisung zu tun. Wodurch auch eine Zurückweisung meiner Wahrheit erfolgt. Du als Überlebende*r musst dich immer rechtfertigen und beweisen.

Überlebende*r.

Den Begriff setze ich in diesem Buch ganz bewusst ein, anstelle von Opfer.

Denn Sprache ist wichtig. Wie benutzen wir sie, wie setzten wir sie ein? Wie behandeln wir uns selbst durch Sprache?

Ich will kein Opfer sein, denn dieses Wort beinhaltet für mich so viel Bestimmung von außen, zugeschriebene Unfähigkeit, eine Wehrlosigkeit, mich aus dem Missbrauch zu befreien, aus der sexuellen Gewalt, die mir als Kind angetan wurde.

Wie sprichst du also mit dir selbst? Ist es wirklich deine eigene Stimme, oder wiederholst du unbewusst die Meinung anderer?

Ich war gezwungen, mein eigener Experte zu werden, oder, um es positiv zu formulieren: Ich habe mich entschieden, auf die Suche nach den Wurzeln meines Verhaltens zu gehen, das sich durch den Missbrauch veränderte. Ein Verhalten, das oft nicht von mir selbst bestimmt wurde, so wie ich dachte, sondern überschattet war vom Missbrauch und den Zwängen und Strukturen, die sich daraus folgend ergaben.

Für mich persönlich gab es keine Hilfe als Kind. Das war Ende der sechziger Jahre bis Mitte der siebziger Jahre.

Seitdem hat sich vieles geändert und es gibt Hilfsangebote. Aber da musst du erstmal hinkommen, den Mut aufbringen, Grenzen überwinden, dich vom Ballast der Scham, Schande und Isolation befreien.

Auch das kenne ich sehr gut aus eigener Erfahrung. Ich habe im Laufe meines Lebens viele (negative) Kommentare zu meiner Person gehört.

„Du endest als Stricher am Hauptbahnhof, aus dir wird sowieso nichts“, meinte mein Vater. „Nehmen Sie den Jungen vom Gymnasium, der packt das nicht!“ meine Mathematiklehrerin. „Erst dachte er, er könnte studieren, dann schauspielern, dann Make-up machen, oder Fotograf werden. Und dann kommt er mit Mitte fünfzig auch noch daher und veröffentlicht ein Buch über Missbrauch, einen Roman. Spinnert, wildgewordener Fotograf. Der kann nur Mädchen vor Palmen fotografieren. Der Roman ist langatmig und voller Allgemeinplätze. Du weißt schon, dass das keine große Literatur ist!“

Autsch! Da wollen dich Menschen, die Medien, sogar Freunde kleinmachen, auf etwas reduzieren, ohne auf deine Möglichkeiten zu schauen.

Warum sagt jemand etwas Negatives über dich, macht dich klein, warnt dich „wohlmeinend“, aber limitiert dich in Wirklichkeit nur durch solche Äußerungen? Auch da werden wir in diesem Buch gemeinsam detailliert hinschauen.

Viel wichtiger ist hier die Gegenfrage: Warum hörst du darauf, lässt dich limitieren, klein machen?

Warum kannst du dich (noch) nicht wehren und aufschreien: „Hört auf, mich in eine Schublade zu stecken, nur weil ihr euch selbst dort befindet? Warum verbietet ihr mir den Mund, nur weil ihr selbst Angst vor dem Thema Missbrauch habt?“

Warum hörst du, so wie es auch so oft hörte: „Nun lass doch mal gut sein, irgendwann ist Schluss, es ist so lange her!“

Und warum hörst du darauf und bleibst in deinen bekannten Strukturen stecken?

Es gibt dafür eine einfache Erklärung: Weil du diese Strukturen erst einmal erkennen musst.

Deine eigenen und die der anderen. Und das dauert. Und genau darüber werden wir in den Neun Geboten sprechen.

Es ist ein immerwährender Prozess des Lernens und des sich selbst Kennenlernens. Sich in eine Richtung zu verändern, die gut für dich ist, weil sie selbst bestimmt wird. Von dir!

In der du nicht in die Fallen der alten Muster stolpern musst. Und wenn das doch mal passiert, wirst du sie rechtzeitig erkennen.

Also nimm den Druck von dir, besonders wenn du gerade damit beginnst, dich deinem Missbrauch zu stellen, deinem Trauma. Und das kann erst mit dreißig passieren, oder mit vierzig. Oder noch später.

Hauptsache es passiert.

Ein wichtiger Punkt sei hier direkt festgehalten.

Du bist ein Mann oder eine Frau oder definierst dich jenseits der Binarität, du bist vielleicht noch jung, du bist vielleicht schon älter. Dein Missbrauch liegt lange zurück und du erinnerst dich jetzt erst daran oder du lebst schon lange mit diesen Erinnerungen und hast dich bisher nicht getraut, darüber zu sprechen. Vielleicht bist du ein vergewaltigter Mann, eine vergewaltigte Frau. Vielleicht war es eine Frau, die dich missbrauchte, vielleicht handelt es sich um einen männlichen Täter. Es kann sein, dass der*die Täter*in noch jung war, und du ein Kind.

Vielleicht dauerte das Ganze Jahre, vielleicht ist es nur einmal passiert.

Es gibt viele unterschiedliche Formen von sexuellem Missbrauch, sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen. Es gibt keine Vergleiche, es gibt keine Fälle, die schlimmer sind als andere.

MISSBRAUCH IST MISSBRAUCH und verletzt die Seele und den Körper.

Ich bin ein Mann, ich bin jetzt sechzig Jahre alt und beschäftige mich seit drei Jahrzehnten mit diesem Thema. Intensiv seit 2004 und ganz spezifisch und öffentlich seit über drei Jahren. Es gibt Punkte, Verhaltensmuster, Verhaltensweisen, die auf uns als Überlebende gemeinsam zutreffen. Und diese Schnittpunkte gilt es zu erkennen und näher zu betrachten.

Da liegt auch für die Sekundärbetroffenen, für Eltern, Familie und Freund*innen eine Möglichkeit, die Zeichen zu erkennen.

Wenn es schwierig wird, weiterzulesen, hol kurz Luft, nimm dir deine Zeit. Aber bleib dran.

Dass du dich entschlossen hast, diesen Leitfaden zu lesen, zeigt, dass du dir und/oder anderen Betroffenen helfen willst.

Ein wichtiger und sehr mutiger Schritt.

Es ist nie gut!

Erst wenn du dich deiner Situation gestellt hast, sie analysiert, verstanden und begriffen hast, und zwar im Kopf und im Herzen. Dann beginnt die Veränderung und Heilung. Und dann kannst du lernen, mit diesem Thema zu leben. Gut zu leben!

Es gibt viele Wege zur Heilung. Der Weg zur Befreiung ist vielfältig. Meiner war, das Thema öffentlich zu machen, dein Weg mag ein anderer sein. Jede*r sollte die Wahl haben, wie er*sie mit seiner*ihrer Geschichte umgeht. Welche Hilfe sie wann, wo und wie suchen. Diese Wahl haben viele im Moment noch nicht, weil die Gesellschaft und auch die Gesetzgebung sie oft im Stich lässt. Wir wissen nicht, wie viele schweigen, weil sie sich dazu entschieden haben, und wie viele schweigen, weil sie keine andere Wahl haben.

Was dich als eine*n Überlebende*n von sexuellem Missbrauch oder einer Vergewaltigung betrifft, so kennst du die Ursache für deine Veränderung und die daraus entstandenen Probleme. Ich persönlich glaube, dass erst, wenn der*die Täter*in gestellt ist und du das an dir begangene Verbrechen nicht ignorierst, du dich wirklich befreien können wirst. Und nicht mehr in einer inneren Isolationshaft leben musst.

Missbrauch ist ein Lebensthema!

Der Missbrauch wird immer ein Teil deines Lebens bleiben, aber du kannst lernen, damit umzugehen und er wird dein Leben nicht bestimmen. Weil du nicht wegrennst. Du stellst dich deiner Situation. Du bist der*diejenige, der*die entscheidet, wie es weitergeht. Nicht der*die Täter*in, nicht die Gesellschaft, und auch nicht deine Familie.

Du entscheidest.