Die Nightingale Schwestern - Donna Douglas - E-Book
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Die Nightingale Schwestern E-Book

Donna Douglas

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Beschreibung

LASSEN SIE SICH IN DIE WUNDERBAR NOSTALGISCHE WELT DER NIGHTINGALE-SCHWESTERN ENTFÜHREN ...

London, 1937. Die Schwesternschülerinnen Dora und Lucy sind Rivalinnen seit ihrem ersten Jahr am Nightingale Hospital. Als ihre Abschlussprüfung näher rückt, müssen sie feststellen, dass sie eine gemeinsame Sorge verbindet: Beide hüten sie ein Geheimnis, das sie ihre berufliche Zukunft kosten kann. Auch das neue Dienstmädchen Jess sehnt sich nach einem Neubeginn. Sie kommt aus schwierigen Verhältnissen und will ihre Vergangenheit endlich hinter sich lassen. Doch es gibt Menschen, die das mit aller Macht zu verhindern suchen ...

DIE TOP TEN-BESTSELLERSERIE AUS ENGLAND!

»Eine warmherzige Geschichte, bei der Sie manche Träne vergießen werden« Prima Magazine


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Seitenzahl: 661

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISSIG

KAPITEL EINUNDDREISSIG

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

KAPITEL DREIUNDDREISSIG

KAPITEL VIERUNDDREISSIG

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

KAPITEL DREIUNDVIERZIG

KAPITEL VIERUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG

KAPITEL ACHTUNDVIERZIG

KAPITEL NEUNUNDVIERZIG

DANKSAGUNG

Über die Autorin

Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrer Familie in York. Ihre Romanserie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg und eroberte die Top Ten der Sunday Times-Bestsellerliste. Neben ihrer Arbeit an weiteren Romanen schreibt die Autorin außerdem regelmäßig für verschiedene englische Zeitungen. Mehr über Donna Douglas und ihre beliebten Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.

Donna Douglas

DieNIGHTINGALE SCHWESTERN

Der Traum vom Glück

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Moreno

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2014 by Donna DouglasTitel der englischen Originalausgabe: »Nightingales on Call«

Arrow Books, an imprint of The Random House Group Limited, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Anja Lademacher, BonnTitelillustration: © Colin Thomas, London; © FinePic®, MünchenUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4174-4

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Daphne Andersonmit lieben Grüßen von Julia (und mir)

KAPITEL EINS

»Ihr Dienst wird um Punkt fünf Uhr beginnen. Sie werden das Feuer in den Öfen und Kaminen anzünden, die Vorhänge öffnen und dafür sorgen, dass der Boiler angeschaltet ist. Dann werden Sie mich um Punkt halb sechs mit einer Tasse Tee und meinem Frühstück wecken. Ich möchte zwei gekochte Eier und gebutterten Toast dazu. Weichgekochte Eier, wohlgemerkt. Ich kann Eier, die wie Gummi sind, nicht ausstehen.«

Die Heimschwester starrte Jess an, als bezweifelte sie, dass sie einer solchen Aufgabe gewachsen sein könnte. Jess antwortete mit einem Lächeln und bemühte sich redlich, nur ja keine patzige Antwort zu geben. Schließlich wollte sie diese Stelle nicht verlieren, bevor sie sie überhaupt bekommen hatte.

»Um sechs Uhr müssen Sie die Schülerinnen wecken«, fuhr Schwester Sutton fort. »Sobald sie weg sind, werden Sie die Badezimmer reinigen, alle Flure und Treppen fegen, putzen und bohnern und das Wohnzimmer der Schülerinnen aufräumen. Das sollten sie eigentlich selber tun, doch leider neigen sie dazu, sehr nachlässig zu sein«, sagte sie naserümpfend. »Ich werde mittags meine Inspektionsrunde machen und ich erwarte, dass bis dahin alles in bester Ordnung ist.« Sie starrte Jess aus ihren kleinen, dunklen Augen an, die in ihrem teigigen Gesicht ein bisschen wie Rosinen wirkten. »Sie haben schon als Dienstmädchen gearbeitet, sagten Sie?«

Jess nickte. »Seit ich dreizehn war.« Allerdings war keins der Häuser, in denen sie als Mädchen für alles eingestellt gewesen war, nur annähernd so groß gewesen wie das Schwesternheim. Mit seiner eindrucksvollen Eingangshalle, der elegant geschwungenen Treppe und den langen Fluren wirkte es wie eines der großartigen Herrenhäuser, über die sie in ihren Lieblingsromanen von Jane Austen gelesen hatte. Nur hingen hier keine Kunstwerke an den tristen, braungestrichenen Wänden, und die Böden waren mit gebohnertem Linoleum statt mit Orientteppichen bedeckt. Aber die reich verzierten Stuckarbeiten an den hohen Decken zeugten noch heute von der vornehmen Vergangenheit des Hauses.

Während die Heimschwester fortfuhr, die Pflichten ihres Dienstmädchens aufzuzählen, blickte Jess zu den kunstvoll aus Stuck gearbeiteten Weinrebenblättern und Trauben auf und fragte sich, wie sie es zustande bringen sollte, dort mit einem Staubwedel hinzukommen.

»Hören Sie mir überhaupt zu, Mädchen?«, riss Schwester Suttons scharfe Stimme sie aus ihren Überlegungen. »Sie träumen doch wohl hoffentlich nicht? Ich habe keine Zeit für Tagträumerinnen.«

»Nein, Miss. Entschuldigen Sie bitte, Miss.«

»Sprechen Sie mich bitte mit Schwester an.«

»Ja, Miss – ich meine, Schwester.«

Jess nickte ruckartig. Sie war nicht leicht einzuschüchtern, aber Schwester Sutton war ebenso beeindruckend wie das Haus, das sie führte. Sie war zwar nicht viel größer als Jess, aber mindestens dreimal so breit. Ihre graue Uniform spannte sich über ihrem massigen Körper, und unter ihrer gestärkten weißen Haube, deren Schleife sich fast in den Falten ihres wabbeligen Kinns verlor, schauten kleine Büschel drahtigen, silbergrauen Haars hervor. Um ihre Füße sprang ein Jack Russell Terrier herum, der Jess ununterbrochen ankläffte. Der Lärm erfüllte den ganzen Gang, in dem sie standen, und hallte von den Wänden wider, was Schwester Sutton jedoch gar nicht wahrzunehmen schien.

»In Ihren Referenzen steht, Sie seien eine fleißige und anstellige Arbeitskraft.« Die Heimschwester machte ein zweifelndes Gesicht, als sie den Brief in ihrer Hand zurate zog.

»Das bin ich, Miss – Schwester.«

»Ihr bisheriger Arbeitgeber schien sehr zufrieden mit Ihnen zu sein. Warum wollten Sie denn dann die Stelle wechseln?«

»Weil ich eine Arbeitsstelle mit Unterkunft suche, Schwester.«

»Wirklich?« Schwester Sutton zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Die meisten jungen Mädchen scheinen heutzutage lieber außer Haus zu wohnen.«

Die meisten jungen Mädchen kommen auch nicht von daher, wo ich herkomme, dachte Jess. »Aber ich würde es vorziehen, hier auch zu leben«, war alles, was sie sagte.

Der Terrier kratzte an ihrem Bein, und sie konnte spüren, wie seine Krallen sich durch ihre Strümpfe bohrten. Jess bückte sich, um ihn zu streicheln, aber der Hund sprang vor und schnappte nach ihren ausgestreckten Fingern. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück.

»Das würde ich an Ihrer Stelle lieber lassen. Sparky ist sehr wählerisch bei Menschen«, sagte Schwester Sutton.

Jess betrachtete den Hund, der ihren Blick aus feindseligen schwarzen Augen erwiderte, als wüsste er ganz genau, wer sie war, und woher sie kam.

Die Eingangstür öffnete sich, und zwei Schwesternschülerinnen kamen angeregt plaudernd herein. Doch kaum sahen sie Schwester Sutton, erstarrten sie und verstummten augenblicklich. Sie versuchten, sich unbemerkt zur Treppe davonzuschleichen, aber die Heimschwester fuhr herum, um sie zur Rede zu stellen.

»Sie beide! Was glauben Sie, wohin Sie gehen?«, wollte Schwester Sutton wissen.

Die Mädchen, die nicht viel älter waren als Jess, wechselten nervöse Blicke. Die eine war hübsch mit ihren blauen Augen und dunklen Locken, während die andere braunes Haar und scharfgeschnittene Gesichtszüge hatte.

»Bitte, Schwester, es ist zwei Uhr«, flüsterte die Dunkelhaarige. Sie sprach mit einem singenden irischen Akzent, der genauso reizend war wie ihr etwas rundliches Gesicht.

»Ich weiß selbst, wie spät es ist, vielen Dank auch. Warum sind Sie nicht auf Ihren Stationen?«

»Weil wir bis fünf Uhr freibekommen haben, Schwester«, erklärte die andere Schwesternschülerin. Ihre Stimme war klar und deutlich und jede Silbe so perfekt betont wie bei den Sprecherinnen, die Jess im Radio gehört hatte.

»Aha. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, O’Hara?« Schwester Sutton wandte ihre massige Gestalt wieder der jungen Irin zu.

»Ich … ähm … tut mir leid, Schwester«, murmelte sie.

»Das will ich auch hoffen. Und schauen Sie sich nur an! Zerknitterte Schürze, schmuddeliger Kragen – und ist das da eine Nadel, die ich aus Ihrer Haube hervorstehen sehe?« Sie holte tief Luft. »Also richten Sie sich auf der Stelle her, oder ich streiche Ihnen die freien Stunden.«

»Ja, Schwester.«

Jess schaute die Irin an, die an ihrer Haube herumzupfte, und verstand nicht, warum Schwester Sutton einen solchen Aufstand machte. Für sie war das Mädchen tadellos gekleidet in ihrem blau-weiß gestreiften Kleid und ihrer makellosen weißen Schürze. Aber sie konnte sich vorstellen, wie heiß dieser schwere Stoff und die Wollstrümpfe an einem solch warmen Aprilnachmittag sein mussten.

Sie fing den Blick des braunhaarigen Mädchens auf und schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. Das Mädchen warf den Kopf zurück, streckte ihre Stupsnase in die Luft und stolzierte direkt an ihr vorbei zur Treppe, gefolgt von der kleinen Irin, die ihr mit gesenktem Kopf nacheilte.

Wie reizend, dachte Jess und schnitt eine Grimasse, als sie dem braunhaarigen Mädchen hinterherblickte – womit sie jedoch sofort aufhörte, als sie merkte, dass die Heimschwester sie beobachtete.

»Sind Sie sicher, dass Sie zu dieser Art von Arbeit in der Lage sind?«, fragte sie. »Sie sehen so aus, als könnten Sie noch nicht mal einen Besen heben.«

Jess wusste, was Schwester Sutton dachte. Mit ihren siebzehn Jahren war sie immer noch so schmal und zierlich wie ein Kind.

»Ich bin stärker, als ich aussehe«, gab sie zurück und straffte ihre Schultern. »Geben Sie mir einfach nur eine Chance, und Sie werden sehen, was ich kann.«

Schwester Sutton schürzte die Lippen. »Sie können sich jedenfalls sehr gut verteidigen, wie ich bereits sehe.«

Jess presste die Lippen zusammen. Wie typisch, dass sie ihr Temperament mal wieder nicht zügeln konnte! Und das, obwohl sie so bemüht gewesen war, sich nicht ins falsche Licht zu rücken.

Aber dann stieß Schwester Sutton einen Seufzer aus, der ihr wabbeliges Kinn erzittern ließ, und sagte: »Na schön, Sie sollen Ihre Chance haben. Aber zunächst einmal für einen Monat, und dann werde ich entscheiden, ob Sie der Aufgabe gewachsen sind oder nicht.«

Jess löste ihre verkrampften Finger von den Falten ihres Rocks. Sie hatte sich selbst die Daumen gedrückt, seit sie vor der Tür des Schwesternheims angelangt war. »Vielen Dank«, sagte sie.

»Vielen Dank, Schwester«, berichtigte Schwester Sutton sie. »Sie müssen mich und die anderen Schwestern jederzeit korrekt ansprechen. Sie müssen auch daran denken, nur dann zu sprechen, wenn Sie angesprochen werden, und jedes Mal aufzustehen, wenn eine Oberschwester den Raum betritt. Und selbstverständlich müssen Sie auch Abstand zu den anderen Mädchen wahren. Sie sind Schwesternschülerinnen im Nightingale Hospital und als solche gesellschaftlich höhergestellt als Sie und müssen mit dem nötigen Respekt behandelt werden.«

Jess dachte an das Mädchen mit den scharfen Gesichtszügen, das so hochmütig den Kopf zurückgeworfen hatte und an ihr vorbeistolziert war, als gäbe es sie nicht. Aber nach vier Jahren als Hausmädchen war sie es gewohnt, wie ein Teil des Inventars behandelt zu werden.

Aber wenn das dazugehörte, um von ihrem Zuhause wegzukommen, würde sie nur allzu gerne unsichtbar werden.

»Und nun werde ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen«, fuhr Schwester Sutton fort und eilte den Gang hinunter, wobei der Schlüsselbund an ihrem Gürtel klirrte. Als sie die Tür am anderen Ende des Gangs erreichte, nahm sie die Schlüssel in die Hand, hielt sie dicht vor ihr Gesicht und betrachtete jeden einzelnen mit zusammengekniffenen Augen, bis sie den richtigen gefunden hatte.

»Da sind wir«, sagte sie, als sie die Tür aufschloss und aufstieß. »Das Zimmer ist klein, aber völlig ausreichend für Ihre Bedürfnisse.«

Jess trat ein. Schwester Sutton hatte recht, es war wirklich klein. Kaum größer als ein Kleiderschrank, bot es gerade genug Platz für ein schmales Bett und eine Kommode. Aber Jess kam es wie ein Palast vor. Über dem Bett hing sogar ein kleines Regal, auf das sie ihre Bücher stellen konnte.

Jess blickte sich um und atmete tief den sauberen Geruch von Möbelpolitur und frischem Bettzeug ein. Der Frühlingssonnenschein durchflutete den Raum und ließ alles hell und fröhlich erscheinen.

Sie trat ans Fenster und blickte auf den großen Garten hinaus. Welch enormer Unterschied zu dem hässlichen, tristen Mietshaus, in dem sie derzeit wohnte! Hier leben zu dürfen, würde so ähnlich sein, wie jeden Tag im Victoria Park zu erwachen, umgeben von Rasen, Bäumen und Blumen.

»Es ist wunderschön«, sagte sie leise.

Schwester Sutton schnaubte. »Wenn Sie meinen«, entgegnete sie achselzuckend. »Aber für die Bedürfnisse eines Dienstmädchens reicht es aus, wie ich schon sagte.«

Jess blickte sich noch einmal um. Was die Heimschwester auch immer denken mochte, für sie war es perfekt. Fast schon zu perfekt. Normalerweise hatte Jess Jago nämlich kein solches Glück.

Vielleicht wird 1937 ja das Jahr sein, in dem sich alles für mich ändert, dachte sie.

Jess zögerte es so lange wie möglich hinaus, nach Hause zu kommen, und schlenderte auf den Markt auf der Columbia Road zu. Mitten an einem Montagnachmittag herrschte hier ein lebhaftes Gedränge von Menschen und farbenfrohen Verkaufsständen. Die Rufe der Straßenhändler vermischten sich mit dem Geplänkel der Standinhaber, die ihre Waren anpriesen. Es gab dort so gut wie alles von gebrauchten Kleidungsstücken, Obst, Gemüse, penetrant riechendem Katzenfleisch bis hin zu indischem Konfekt. Der Kesselflicker schob sein klapperndes Fahrrad mit seinem Handwerkszeug die Straße hinauf und hinunter. Die Luft war erfüllt von dem Duft frisch gebackenen Brots und dem stärkeren Geruch des sauer eingelegten Fischs der jüdischen Lebensmittelhändler.

Jess blieb an dem Stand mit den gebrauchten Büchern stehen und stellte sich vor, was sie kaufen würde, sobald sie ein paar Pennys in der Tasche hatte, die sie dafür erübrigen könnte. Die Titel lockten sie alle, denn sie versprachen große Abenteuer und die Möglichkeit, ihrem eigenen Leben für eine Weile zu entfliehen. Allein durch das Umblättern der Seiten könnte sie sich an König Artus’ Hof oder in die Hitze der arabischen Wüste versetzen lassen. Jess wusste nicht, ob sie die letzten paar Jahre ausgehalten hätte, ohne sich ab und zu in eine stille Ecke zurückziehen und in einer Welt leben zu können, die jemand anderes erfunden hatte.

Eine Ausgabe von Große Erwartungen sprang ihr ins Auge. Das Buch hatte schon bessere Zeiten gesehen, sein Einband war fleckig und abgegriffen, der Buchrücken zerfleddert. Aber es war das Lieblingsbuch ihrer Mutter gewesen, die Geschichte eines Jungen, der von einem unbekannten Wohltäter aus seinem bescheidenen und lieblosen Zuhause geholt und zu einem vornehmen, wohlhabenden Mann erzogen wurde. Jess erinnerte sich noch an die Tränen, die ihrer Mutter über die Wangen gelaufen waren, als Sarah Jago es ihr vorgelesen hatte.

»Eines Tages wird es auch für dich so sein, Jess«, flüsterte sie dann. »Eines Tages wirst du die Möglichkeit haben, diesem Ort hier zu entkommen. Und wenn dieser Tag kommt, möchte ich, dass du gehst und nie wieder zurückblickst.«

»Nur, wenn du mitkommst«, pflegte Jess stets darauf zu erwidern. »Ich werde nirgendwohin gehen ohne dich.«

Und dann blickte ihre Mutter sich immer mit einem tieftraurigen Lächeln zwischen den feuchten, zerfallenden Mauern um. »Für mich ist es zu spät, mein Liebling«, seufzte sie.

Und sie sollte recht behalten. Dieses schmuddelige Reihenhaus war Sarah Jagos Gefängnis gewesen, bis ihre Mutter starb.

Der Standinhaber lehnte rauchend an der Wand. Er war ein junger Mann, höchstens zwanzig Jahre alt, dessen schwarzes Haar mit Brillantine glatt aus dem Gesicht zurückgekämmt war.

»Die Liebesromane für ein paar Pennys sind da drüben«, sagte er achtlos und zeigte mit seiner Zigarette auf einen Stapel Heftromane, die auf einem Bettlaken auf der Straße lagen.

»Ich lese lieber Dickens.«

Aus dem Augenwinkel sah Jess den überraschten Gesichtsausdruck des jungen Mannes.

»Ach ja? Und welche seiner Bücher haben Sie gelesen?«, erkundigte er sich schmunzelnd.

Jess überlegte einen Moment und zählte sie dann an den Fingern ab. »Oliver Twist, David Copperfield, Nicholas Nickleby …«

Das schien ihn zu beeindrucken. »Ist das wahr?«

»Und Sie? Wie viel haben Sie von Dickens gelesen?«, versetzte Jess.

Der junge Mann grinste. »Ich selbst bin mehr ein Racing Post-Leser.«

»Und Sie haben einen Bücherstand?« Sie konnte sich nicht vorstellen, den ganzen Tag von Büchern umgeben zu sein und sie nicht lesen zu wollen.

»Er gehört meinem Dad. Ich helfe hier nur aus, bis sich etwas anderes ergibt«, erklärte er und nahm dann einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Sein glatt zurückgekämmtes Haar betonte sein schmales Gesicht. Das und die abgewetzten Stellen an seinem Anzug erweckten bei Jess den Eindruck eines jungen Mannes, der zu angestrengt versuchte, jemand zu sein, der er nicht war.

Er blickte auf den Stapel abgegriffener Bücher hinab. »Hier herrscht keine große Nachfrage nach Dickens«, seufzte er. »Ich weiß nicht, warum mein Dad sie überhaupt gekauft hat, wenn ich ehrlich sein soll. Wahrscheinlich war es ein Restposten, an den er billig rangekommen ist.« Er betrachtete Jess interessiert. »Wissen Sie, ich hätte Sie eher für jemanden gehalten, der Liebesromane liest.«

Jess wusste, wann jemand versuchte, mit ihr zu flirten, und so blickte sie nicht von der Goldschrift auf dem Buchrücken auf. »Ich habe keine Zeit für solchen Unsinn.«

»Tatsächlich? Ich dachte, alle jungen Mädchen hätten gern ein bisschen Liebe in ihrem Leben.«

Jess ignorierte die Bemerkung. »Wie viel wollen Sie für dieses Buch?«, fragte sie und hob es hoch.

»Einen Sixpence?«, fragte er hoffnungsvoll.

Jess lachte. »Sie sagten gerade eben selbst, dass Sie sie nicht loswerden können. Außerdem fällt das Buch schon auseinander!«

»Ja, aber es sind die inneren Werte, die zählen, und nicht das Äußere, oder?«, sagte er augenzwinkernd.

Bevor Jess antworten konnte, ließ eine erboste Stimme sie beide zusammenfahren.

»He, Sie da! Machen Sie, dass Sie wegkommen.«

Jess blickte sich um und merkte, dass der barsche Zuruf ihr gegolten hatte. Ein Straßenhändler von einem nahen Obst- und Gemüsestand steuerte mit hochrotem Kopf auf sie zu. Jess sah ihm ruhig entgegen.

»Sprechen Sie mit mir, Mister?«, fragte sie.

»Ja, das tue ich. Wir wollen hier niemanden von Ihrer Sorte.«

»Erlauben Sie mal! Sie ist eine Kundin«, warf der junge Mann ein.

»Kundin?« Der Straßenhändler kräuselte die Lippen. »Dass ich nicht lache! Sie ist eins der Jago-Kinder aus den Hatcheries. Die würden Ihnen sogar die Zähne aus dem Mund klauen, wenn sie eine Möglichkeit sähen, damit durchzukommen.« Er trat auf Jess zu und fuchtelte mit seinem Zeigefinger vor ihrem Gesicht herum. »Erst heute Morgen hab ich einen von euch beim Apfelklauen an meinem Stand erwischt. Der kleine Bengel dachte, ich würde ihn nicht sehen.«

Jess trat ihrem Ankläger empört entgegen. »Ich wollte hier nichts stehlen.«

»Nee, ganz sicher nicht – weil Sie keine Gelegenheit dazu bekommen werden.« Der Straßenhändler wollte ihren Arm ergreifen, aber der junge Mann schritt ein.

»Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte er. »Sie hat das gleiche Recht wie jeder andere, sich die Bücher anzusehen.«

Der Händler schnaubte vor Lachen. »Ah, jetzt verstehe ich. Daher weht also der Wind? Tja, Sie wären nicht der Erste, der auf ein hübsches Gesicht hereinfällt, Junge. Selber schuld.« Höhnisch grinsend zeigte er auf Jess. »Sie kann wahrscheinlich nicht mal lesen. Sie wartet bloß darauf, dass Sie ihr den Rücken zukehren, damit sie was fürs Pfandhaus klauen kann.«

»Da sind Sie sich ganz sicher, was?«, fauchte Jess ihn an. »Und ich würde jede Wette eingehen, dass Ihre bessere Hälfte auch oft genug ins Pfandhaus geht.«

Mit ihrer spitzen Bemerkung schien sie ins Schwarze getroffen zu haben, da das Gesicht des Händlers sich vor Wut verzerrte. »Du unverschämtes kleines Luder! Ich werde dir eins hinter die Löffel geben …«

»Versuchen Sie’s doch mal.« Jess schreckte nicht vor ihm zurück. Sie konnte sehen, wie er seine Situation einzuschätzen versuchte. Aber sie wusste, dass sich trotz ihres Gezeters nicht viele Leute in Bethnal Green mit den Jagos anlegen würden.

»Sie sind’s nicht wert«, murmelte er.

»Was sollte das denn?«, fragte der junge Mann, als der Händler zu seinem Stand zurückstapfte.

»Ich habe keine Ahnung.« Jess streckte die Hand aus, um ihm das Buch zurückzugeben, aber er winkte ab.

»Behalten Sie’s«, sagte er.

»Das kann ich nicht annehmen …«

»Ich sagte Ihnen doch schon, dass hier nicht viel Nachfrage nach solchen Büchern herrscht.«

Jess zögerte, weil ihr bewusst war, dass der aufgebrachte Händler sie von der anderen Straßenseite aus beobachtete. Auch andere Augen waren auf sie gerichtet, und sie konnte den Leuten ansehen, was sie dachten: Typisch Jagos, immer wollen sie etwas umsonst!

Und nur deshalb entschied sie sich, das Buch abzulehnen, und drückte es dem jungen Mann wieder in die Hand. »Vielen Dank, aber ich nehme nichts an, was ich nicht bezahlt habe«, sagte sie mit fester Stimme.

Als sie sich hocherhobenen Kopfes abwandte, hörte sie den jungen Burschen seufzen.

»Verflixt noch mal! Jetzt muss ich Dad sagen, dass wir den verdammten Dickens nicht mal mehr verschenken können.«

Trotz des Zorns, der in ihr schwelte, musste Jess auf dem ganzen Heimweg über seine Bemerkung lächeln.

KAPITEL ZWEI

Den »schwarzen Montag« nannten die Einheimischen in den Hatcheries den Tag, an dem die Miete fällig war. Als Jess an Solomons Pfandleihe vorbeiging, stand dort bereits eine Schlange von Frauen mit ihren Habseligkeiten, die auf Solomon warteten, um ein paar Schillinge zu ergattern. Ihre Cousine Betty war auch darunter.

Jess ging über die Straße zu ihr hinüber. »Doch nicht schon wieder Onkel Johnnys Anzug?«, scherzte sie und zeigte auf das Bündel unter Bettys Arm.

»Das ist alles, was uns geblieben ist«, seufzte Betty. Sie war achtzehn, ein Jahr älter als Jess, und hatte das gleiche dunkle Haar wie sie. Aber sie war einen Kopf größer und zu einer Frau mit einer solch weiblichen Figur herangewachsen, dass Jess sich neben ihr immer noch wie ein Kind vorkam. »Dad wird ihn bis Ende der Woche nicht vermissen.«

»Dann wollen wir hoffen, dass er vorher nicht zu irgendeiner Beerdigung muss!«

»Oder vor Gericht erscheinen«, sagte Betty. »Was viel wahrscheinlicher ist, so wie ich meinen Dad kenne.«

Jess verzog das Gesicht. »Und ich meinen.«

Betty warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Er wird bald wieder draußen sein.«

Leider, dachte Jess. Eigentlich hätte sie traurig sein müssen, weil ihr Dad hinter Gittern saß, aber in Wahrheit hatte sie es nicht bedauert, dass der Richter ihn zu einer Gefängnisstrafe verurteilt hatte, nachdem er das Blei vom Dach eines Gemeindesaals gestohlen hatte.

Auf jeden Fall hätte sie nicht zu Hause ausziehen können, wenn er noch da gewesen wäre. Allein für den Gedanken hätte er sie mit seiner Gürtelschnalle verdroschen.

Das ist noch nicht ausgestanden, ermahnte eine innere Stimme sie.

Jess plauderte noch ein paar Minuten mit Betty und verabschiedete sich dann von ihrer Cousine, um noch tiefer in die Hatcheries vorzudringen, in denen sie zu Hause war.

Die Hatcheries lagen zwischen Shoreditch und Bethnal Green, und kein vernünftiger Mensch begab sich auch nur in ihre Nähe. Niemand wusste genau, wie das dunkle Gewirr von stinkenden Gassen, schmalen Reihenhäusern und gepflasterten Hinterhöfen an seinen Namen gekommen war. Aber die Einheimischen nannten den Ort »Sweaters’ Hell« oder »Schinderhölle« wegen all der schwerarbeitenden Menschen in den überfüllten Häuserreihen und behelfsmäßigen Werkstätten, in denen Wäscheklammern und Kisten hergestellt wurden, Stoff und Leder verarbeitet oder Fisch gepökelt und getrocknet wurde. Die Gemeinde hatte jahrelang versucht, den Slum zu räumen, aber die Menschen dort klammerten sich erbittert an ihre abgeschlossene kleine Welt. Sie mochte zwar feucht, überfüllt und voller Ungeziefer sein, aber sie war auch ein sicherer Rückzugsort vor den neugierigen Augen der Außenwelt. Und besonders vor der Polizei. Nicht viele Außenstehende wagten sich in die Hatcheries.

In der Wärme des Nachmittags hing der Gestank von Dung, Fisch und Schwefel von der nahen Streichholzfabrik in der Luft. Fliegen umschwirrten Jess’ Gesicht, als sie eine schmale Gasse hinunterging, deren Kopfsteinpflaster glitschig war von verfaulendem Müll, und sich einen Weg durch die zwischen den Häuserfronten aufgehängte Wäsche bahnte, die an triste graue Flaggen erinnerte, da sie längst wieder schmuddelig war vom Ruß der Fabrikschornsteine.

Von den Höfen aus warfen ihr tratschende Frauen misstrauische Blicke zu, als sie vorbeiging. Mit ihrem blauschwarzen Haar, den scharfen Gesichtszügen und dunklen Augen war sie leicht als eine Jago zu erkennen, und selbst hier in diesem Slum machten die Leute einen großen Bogen um ihre Familie.

Bei ihr zu Hause wurde gestritten wie gewöhnlich. Noch bevor sie die Hintertür erreicht hatte, hörte Jess ein Baby schreien und Frauen, die einander beschimpften und verfluchten.

Sie unterdrückte einen Seufzer. Mit vier Brüdern, ihren Ehefrauen und zehn Kindern, die dicht gedrängt in einem winzigen Haus lebten, braute sich immer irgendein Streit zusammen.

Ihr zwölfjähriger Stiefbruder Cyril saß völlig unberührt von dem Spektakel auf der Stufe der Hintertür und spitzte einen Stock mit seinem Taschenmesser an.

»Was ist da drinnen los?«, fragte Jess und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür.

Cyril zog seine knochigen Schultern hoch. »Woher soll ich das wissen?«, sagte er und fuhr fort, den Stock zu bearbeiten. Er war zwar kein Blutsverwandter, aber er war genauso durchtrieben, was sich in seinem schmalen, listigen Gesicht spiegelte und dem unheimlichen Muttermal auf seinem Wangenknochen, das wie ein tiefschwarzer Daumenabdruck aussah.

»Dann sollte ich es wohl besser selbst herausfinden, was?«

Jess wappnete sich innerlich, bevor sie den Riegel an der Hintertür zurückschob. Die winzige Spülküche war wie gewöhnlich ein einziges Durcheinander. In der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr, und in dem Kessel auf dem Herd erstarrte langsam der kalte Eintopf. Baby Sal saß allein und schreiend auf dem steinernen Küchenboden, aber ihr Gejammer war bei dem Streit, der im Nebenzimmer tobte, fast nicht zu hören. Als sie Jess sah, hörte Baby Sal auf zu weinen und streckte ihre pummeligen kleinen Ärmchen nach ihr aus.

»Mama«, plärrte sie, und ihre Tränen hinterließen rosa Streifen auf ihrem schmuddeligen Gesicht.

»Wir werden sie suchen, ja?« Jess hob das Kind auf ihre Hüfte und verzog das Gesicht, als sie den durchdringenden Geruch der feuchten Windel, die das Baby trug, wahrnahm. Mit ihrer freien Hand schob Jess den Vorhang beiseite, der die Spülküche von der Küche trennte.

Keifend wie immer stand ihre Stiefmutter Gladys mitten im Raum und fuchtelte in blindwütiger Rage mit ihren Armen und ihrem Zeigefinger in der Luft herum. Mit in die Hüften gestemmten Händen stand Hannah, Onkel Johnnys Frau, ihr gegenüber, während sie sich gegenseitig Beschimpfungen und Verwünschungen ins Gesicht schrien.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich’s nicht hab, du blöde Kuh!«, kreischte Gladys. »Warum sollte ich deinen verdammten Schmuck geklaut haben? Ich hab selbst genug davon, also vielen Dank auch!«

»Ha!«, schnaubte Tante Hannah. »Du machst wohl Witze, was? Du und dein langfingriger Sohn, ihr lasst doch immer etwas mitgehen!«

»Oh, und deine Blagen sind verdammte Heilige, oder was?«

»Wir bestehlen unsere eigenen Leute nicht, so viel steht zumindest fest!«

»Niemand würde so eine hässliche alte Strassbrosche klauen, die wie Christbaumschmuck aussieht! So was würde ich nie im Leben tragen!«, erklärte Gladys und warf stolz den Kopf zurück.

»Dann gib sie mir zurück!«

»Ich sag dir doch, ich hab sie nicht, du blöde Kuh!«

»Wenn ich dahinterkomme, dass du mein Eigentum in den Fingern hattest, schwöre ich bei Gott, dass ich dir jedes deiner gefärbten Haare einzeln ausreißen werde, Gladys Jago!«

Sobald es seine Mutter sah, begann Baby Sal zu schreien und wild zu strampeln. Gladys vergaß augenblicklich den Streit mit ihrer Schwägerin und fuhr zu Jess herum.

»Was tust du hier zu Hause? Warum bist du nicht bei der Arbeit?«, herrschte sie sie an.

»Ich habe eine neue Stelle.« Jess setzte das zappelnde Baby auf ihrer Hüfte anders hin. »Und das Kind braucht frische Windeln. Sie stinkt zum Himmel.«

»Dann kümmere du dich doch darum«, erwiderte Gladys mit einem feindseligen Blick. »Ich bin beschäftigt.«

»Beschäftigt damit, anderen Leuten ihre Sachen zu klauen!«, warf Tante Hannah ein. Und schon stritten sie weiter. Jess legte Baby Sal auf den Teppich zwischen ihnen und ging in das Hinterzimmer, das sie sich mit den fünf anderen Mädchen der Familie teilte. Ein großes Bett beanspruchte fast den ganzen Raum für sich, und die verblichene Tagesdecke darauf war achtlos über eine Reihe von Kissen geworfen worden. Jess strich sie unwillkürlich glatt und fragte sich, welche ihrer Cousinen das Bett so unordentlich zurückgelassen haben mochte.

Nur gut, dass das nicht länger ihr Problem sein würde. Bald schon würde sie ein eigenes Zimmer haben, das sie so ordentlich und sauber halten konnte, wie sie wollte.

Sie klopfte gerade das letzte Kissen auf, als Gladys in der Tür erschien, wie immer aufgetakelt wie ein Pfau. Sie erzählte jedem, sie sei dreißig, doch der dick aufgetragene Puder, der sich in den Falten ihres Gesichts absetzte, erzählte eine andere Geschichte. Ihr Haar war so stark gebleicht, dass es wie das Stroh auf Dicky Fothergills Eselhof aussah. Und sie roch nach Zigaretten und billigem Parfum.

Gladys Grimshaw hatte als Bardame im Three Beggars gearbeitet, als Stan Jago sie vor vier Jahren geheiratet hatte, keine zwei Monate, nachdem Jess’ eigene Mutter verstorben war. Und zu der Zeit war Gladys schon im dritten Monat schwanger gewesen.

»Was soll das heißen, du hast eine neue Stelle?«, fragte sie.

»Ich habe Arbeit im Krankenhaus gefunden. Als Dienstmädchen.« Jess zog ihren Koffer unter dem Bett hervor.

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Ich sage es dir ja jetzt.«

»Nur nicht frech werden, ja! Ich trage hier die Verantwortung, solange dein Dad noch im Gefängnis ist. Ich bestimme, was in dieser Familie geschieht.« Gladys schürzte ihre scharlachroten Lippen. »Wozu willst du überhaupt eine andere Stelle? Du hast doch schon eine sehr gute als Hausmädchen.«

Ihr Blick fiel auf den Koffer, und Jess konnte in Gladys trüben Augen sehen, dass ihrer Stiefmutter langsam die Wahrheit dämmerte. »Diese neue Stelle ist doch wohl hoffentlich keine mit Unterkunft?«

»Anders ging es dort nicht«, erwiderte Jess achselzuckend, während sie ihre Schublade öffnete und ihre Sachen herauszuholen begann. Zum Glück hatte sie nicht viel, nur ein paar Kleidungsstücke und ihre geliebten Bücher.

»Ich wusste es, du hinterhältiges kleines Biest! Wartest, bis dein Dad weg ist, um dich davonzumachen und uns allein zu lassen …« Gladys baute sich zwischen Jess und ihrem Koffer auf. »Du kannst nicht einfach gehen! Das erlaube ich nicht. Ich brauche dich hier zu Hause. Wie soll ich allein mit all den Kindern fertigwerden?«

»Du könntest damit beginnen, nicht so lange im Pub zu hocken.« Gladys hatte keine Zeit verloren, zu ihren alten Gewohnheiten zurückzukehren, seit ihr Ehemann im Gefängnis saß. Und allem Anschein nach fehlte es ihr auch nicht an männlicher Gesellschaft.

Nicht, dass es Jess wirklich interessierte. Das Leben war erheblich leichter, wenn ihre Stiefmutter mit ihren männlichen Freunden unterwegs war.

Der jähe, heftige Schlag ins Gesicht traf Jess völlig unvorbereitet. Sie zuckte zurück und war wütend auf sich, weil sie ihm nicht ausgewichen war. Nach vier Jahren in ihrer Nähe konnte sie eigentlich genau vorausberechnen, wann Gladys zuschlagen würde.

»Untersteh dich, in diesem Ton mit mir zu reden!« Die Zornesröte, die Gladys ins Gesicht stieg, biss sich mit dem helleren Rouge auf ihren Wangen. »Und das nach allem, was ich für dich getan hab! Ich hab dich angenommen wie mein eigenes Kind … und das würden nicht viele Frauen tun. Ich hab dich behandelt wie mein eigen Fleisch und Blut, und so dankst du mir das jetzt.«

Trotz ihres brennenden Gesichts musste Jess sich zusammenreißen, um nicht laut zu lachen. Sie hatte nie die geringste Freundlichkeit von ihrer Stiefmutter erfahren. Jess’ Mutter war kaum unter der Erde gewesen, als die frisch eingezogene Gladys verlangt hatte, dass ihre Stieftochter von der Schule abging und sich Arbeit suchte, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

»Außerdem gehst du sowieso nicht«, sagte sie jetzt. »Ich bestimme über diese Familie, solange dein Dad im Bau ist, und was ich sage, gilt.«

»Du kannst mich nicht aufhalten«, sagte Jess.

»Kann ich nicht? Das werden wir ja sehen. Du bist noch keine einundzwanzig. Du kannst nicht einfach tun, was du willst. Du musst auf deine Mutter hören.«

»Du bist nicht meine Mutter!«

»Ich bin die einzige Mutter, die du hast!«, gab Gladys zurück. »Du kannst ein langes Gesicht ziehen, Missy, aber deine selige Mutter ist tot und beerdigt. Und gut, dass wir sie los sind nach allem, was man so hört. Du bist genau wie sie, nicht wahr? Sie hat auch immer gedacht, sie sei was Besseres.«

»Sie war etwas Besseres als du«, murmelte Jess.

»Was war das? Du wirst schon wieder pampig? Was hab ich dir zu deinen patzigen Antworten gesagt, du freches kleines Luder?«

Gladys holte wieder aus, doch diesmal war Jess darauf vorbereitet und wich ihr rechtzeitig aus.

»Na los doch«, spottete sie. »Aber wenn du mich noch einmal anrührst, werde ich Tante Hannah sagen, was aus ihrer Brosche geworden ist.«

Gladys hielt mitten in der Bewegung inne. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Ich habe den Pfandschein gefunden. In der Keksdose unter dem Bett, wo du auch alles andere versteckst.« Jess reckte kampflustig das Kinn. »Ich frage mich, was Tante Hannah wohl dazu sagen würde? Sie wäre sicher nicht gerade erfreut darüber. Und Onkel Johnny genauso wenig, könnte ich mir vorstellen.«

Gladys wurde blass unter ihrem Make-up. Obwohl sie sich so aufspielte, wusste sie doch sehr gut, dass sie die unausgesprochene Regel der Jagos gebrochen hatte, sich innerhalb der eigenen Familie nicht zu bestehlen.

Jess schlug den Kofferdeckel zu und schloss die Gürtelschnalle. »Ich gehe dann mal«, sagte sie.

Sie rechnete schon damit, dass ihre Stiefmutter versuchen würde, sie aufzuhalten, aber Gladys trat sogar zur Seite, um Jess an sich vorbeizulassen.

»Du brauchst aber nicht zu denken, du könntest wiederkommen«, rief Gladys ihr nach. »Ich warne dich, Mädchen. Wenn du dieses Haus verlässt, bist du hier nicht mehr willkommen. Dann ist das hier nicht mehr dein Zuhause!«

Gott sei Dank nicht, dachte Jess, der die Flüche ihrer Stiefmutter noch in den Ohren klangen, als sie zur Tür hinausging und sich schnell entfernte.

KAPITEL DREI

»Verbrennen Sie ihn«, sagte Schwester Parry.

Dora betrachtete den Teddybär, der von der ausgestreckten Hand der Stationsschwester herabhing, und richtete ihren Blick dann wieder auf das kleine Mädchen in dem Kinderbett. Ihr verzweifeltes Schluchzen zerriss ihr schier das Herz.

»Aber sie ist so aufgewühlt, Schwester …«

»Sie wird sich schon beruhigen«, sagte Schwester Parry schroff und ohne der Kleinen noch einen Blick zu gönnen. »Das tun sie immer, wenn sie merken, dass sie keine Beachtung finden.« Sie warf Dora den Teddy zu. »Ihre Eltern wurden über die Regeln aufgeklärt. Kein Spielzeug darf von draußen auf die Station gelangen. Weiß der Himmel, welche Bazillen in dem Ding da stecken könnten.« Sie erschauderte. »Dieses Plüschtier muss vernichtet werden, bevor es die anderen Kinder ansteckt.«

Dora blickte bedauernd auf den Teddybär hinab. Er war buchstäblich »zu Tode geliebt« worden, hatte überall kahle Stellen und nur noch ein Auge, und auch eines seiner Ohren hing nur noch an einem Faden. Dora konnte sich vorstellen, wie das kleine Mädchen ihn jede Nacht vor dem Einschlafen an sich drückte und sich mit seiner Nähe tröstete.

Und jetzt war sie ganz allein. War es nicht schlimm genug für die arme Kleine, an einen fremden Ort voller heller Lichter, unbekannter Gerüche und streng aussehender Frauen in Uniform gebracht worden zu sein, musste man ihr da auch noch ihren einzigen Trost nehmen?

Dora sah sich noch einmal zu dem Mädchen um. Die Kleine war kaum drei Jahre alt, war zwar noch zu jung, um zu verstehen, aber ihre großen, feuchten Augen waren auf Dora gerichtet, als ob sie ihre letzte Hoffnung wäre.

»Aber Schwester …«

Schwester Parry versteifte sich. »Widersprechen Sie mir etwa, Schwester Doyle?«

»Nein, nein, Schwester«, sagte Dora schnell. »Aber die Kleine ist noch so jung, und dieses Spielzeug ist alles, was sie hat. Für eine Nacht würde es doch bestimmt nicht schaden …«

»Nicht schaden? Nicht schaden?« Schwester Parrys Nasenflügel blähten sich. »Sie sind Schwesternschülerin im dritten Jahr, Doyle. Da müssten Sie inzwischen doch zumindest eine Vorstellung davon haben, wie schnell sich Krankheiten ausbreiten?«

»Ja, aber …«

»Es sind nur ein paar Bakterien nötig, um die ganze Station zu infizieren. Und wir haben einige sehr kranke Kinder hier, Schwester Doyle. Würden Sie sie sterben lassen, nur damit ein Kind sein Spielzeug behalten kann? Aber vielleicht wissen Sie es ja besser als ich?«, sagte sie. »Vielleicht glauben Sie ja, Sie wären besser als ich geeignet, diese Station zu leiten?«

Sie sahen sich in die Augen. »Nein, Schwester«, sagte Dora leise.

»Das dachte ich mir.« Schwester Parry nahm ihr den Teddy aus den Händen und gab ihn Lucy Lane, die wie immer direkt hinter ihr stand und darauf wartete, sich nützlich machen zu können. »Hier«, sagte sie. »Vielleicht würde es Ihnen ja nichts ausmachen, dieses Ding für mich in den Heizkessel zu werfen? Es sei denn, auch Sie wollen meine Autorität infrage stellen, Schwester Lane?«

»Keineswegs, Schwester.«

Dora konnte Lucys Grinsen sehen, als sie mit dem Teddy in der Hand davonschlenderte. Sie schaute nicht einmal zu dem Bett hinüber, wo das schreiende Kind noch immer flehentlich die Arme ausstreckte. Wie Dora Lucy kannte, hätte sie sogar vor den Augen der armen Kleinen ein brennendes Streichholz an das Plüschtier gehalten, wenn sie der Meinung gewesen wäre, sich damit noch mehr bei Schwester Parry einschmeicheln zu können.

»Es freut mich zu sehen, dass jemand Anweisungen zu befolgen versteht.« Schwester Parrys vernichtender Blick ließ Dora zusammenzucken. »Sie sollten aufpassen, dass Sie sich am Ende nicht noch Minuspunkte auf Ihrem Abschlussbericht einhandeln«, warnte sie. »In sechs Monaten ist Ihre Ausbildung beendet, und da wollen Sie doch gewiss nicht noch als Unruhestifterin abgestempelt werden? Ich kann mir kein Krankenhaus vorstellen, das gern eine Schwester einstellen würde, die während ihrer Ausbildung jeder simplen Anweisung widersprochen hat.«

»Nein, Schwester.« Dora unterdrückte einen Seufzer. Sie hatte schon zu viele Minuspunkte gesammelt, seit sie vor ein paar Tagen auf diese Station gekommen war.

»Und jetzt gehen Sie und beginnen Sie mit der Verbandsrunde … es sei denn, Sie wollen auch darüber mit mir diskutieren?«

Dora machte sich daran, den Verbandswagen vorzubereiten, aber selbst am anderen Ende der Station konnte sie das Jammern des kleinen Mädchens nicht aus ihrem Kopf verbannen. Wie Schwester Parry das ignorieren konnte, war ihr unbegreiflich. Dora ertrug es nicht, ein Kind weinen zu hören, sie musste zu ihm gehen und es trösten, aber die Stationsschwester schien für eine solche Verzweiflung auf beiden Ohren taub zu sein.

Und wenn Dora bedachte, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, auf diese Station zu kommen! Schon seit Beginn ihrer Ausbildung hatte sie Kinder pflegen wollen, doch nun, da sie hier war, merkte sie, dass dieser Ort ein völlig anderer war als der in ihrer Fantasie.

Mit Schwester Parry kam sie überhaupt nicht aus. Mit ihrer molligen Figur und den rosa Wangen sah die Stationsschwester wie ein liebes Tantchen aus, aber tief im Innern war sie hart wie Stein. Dora hatte schon am ersten Tag gewusst, dass sie sich nicht vertragen würden, als sie mitbekam, wie die Stationsschwester eine der jüngeren Lernschwestern anwies, einem kleinen Jungen die Hände auf dem Rücken zu fesseln, damit er sich an seinen von Windpocken befallenen Körperstellen nicht mehr kratzen konnte. Und dieser erste Eindruck von Schwester Parry hatte sich fortan bestätigt.

Inzwischen war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie es noch viel länger auf der Kinderstation aushalten würde, wenn sie weiterhin unter Schwester Parry arbeiten musste.

Nachdem Dora ihren Verbandswagen beladen hatte, schob sie ihn auf die Station hinaus. Es war ein langgezogener Raum mit hohen Decken und hohen Fenstern, durch die der Aprilsonnenschein die Station beschien. Auf der einen Seite standen zwanzig Betten mit Metallgestellen, auf der anderen gab es die gleiche Anzahl von Kinderbetten für die Kleinkinder. In der Mitte der Station stand ein langer Tisch und gleich daneben Schwester Parrys Schreibtisch.

Es war die Stille hier, die Dora zusetzte und ihr schon vom ersten Tag an unangenehm aufgefallen war. Alle Betten waren belegt, und trotzdem gab mit Ausnahme des kleinen Mädchens am Ende des langen Raums keines der Kinder einen Mucks von sich.

Dora hielt einen Moment inne, um zu lauschen. Sie war völlig unnatürlich, diese Stille. Selbst kranke Kinder mussten ein bisschen Lärm veranstalten.

»Alles klar, Schwester?«

Sie erschrak, als Nick Riley sich mit einem Wäschewagen an ihr vorbeischob. Sie gingen schon über sechs Monate miteinander, doch beim Anblick seiner dunklen Locken und seiner hochgewachsenen, kräftigen Gestalt in der braunen Pförtneruniform verschlug es ihr immer noch den Atem.

»Ja, danke, Mr. Riley«, erwiderte sie mit der distanzierten Höflichkeit, zu der sie auf der Station verpflichtet war. Aber ihre Augen sprachen eine völlig andere Sprache, als ihre Blicke sich begegneten. Nick konnte lächeln, ohne seine Lippen zu verziehen, und die Wärme in seinen sprechenden blauen Augen ließ Dora erröten.

Selbst nach all diesen Monaten konnte sie fast nicht glauben, dass er sie genauso sehr liebte wie sie ihn.

»Können wir uns heute Abend sehen?«, flüsterte er ihr zu. »Ich muss mit dir reden.«

Dora blickte sich um, um sicherzugehen, dass die Stationsschwester sie nicht beobachtete. Wenn sie dabei ertappt wurde, wie sie mit einem Mann sprach, gäbe es einen weiteren Minuspunkt für sie.

»Ich hab um fünf Uhr dienstfrei«, erwiderte sie leise.

»Treffen wir uns um sechs? An der gewohnten Stelle?«

Bevor sie antworten konnte, wurden sie von Lucy Lane unterbrochen.

»Schwester Parry sagt, ich müsste dir beim Verbinden helfen.« Ein mürrischer Ausdruck prägte ihre scharfen Züge.

»Das schaffe ich schon allein, danke.«

»Das scheint Schwester Parry aber nicht zu glauben, denn sonst hätte sie mich ja wohl nicht hergeschickt, oder?« Lucy wandte sich an Nick. »Und was machen Sie hier?«

»Ich sammle die Wäsche ein.«

»Na, dann sollten Sie besser weitermachen, richtig? Ich weiß nicht, warum Sie hier herumstehen und Zeit vergeuden.«

»Bin schon unterwegs, Schwester.« Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Wagen und schob ihn auf die Doppeltüren der Station zu. Dora blickte ihm hinterher. An der Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um und winkte.

Sie wollte das Lächeln erwidern, nahm sich dann aber schnell zusammen, als sie Lucys neugierigen Blick bemerkte.

»Du hast doch wohl hoffentlich nicht mit ihm geflirtet, Doyle?«

»Natürlich nicht.« Dora betete, dass Lucy nicht bemerkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie wusste, dass sie sofort entlassen werden würde, wenn die Oberin das mit ihr und Nick herausbekäme. Und wie sie Lucy Lane kannte, würde sie nur allzu eifrig bemüht sein, ihr jede ihrer Entdeckungen brühwarm zu berichten.

Dora wechselte das Thema. »Dann sollten wir weitermachen mit den Verbänden.«

»Ja, das sollten wir. Also halte dich ran, Doyle, Herrgott noch mal. Je eher wir beginnen, desto schneller haben wir es hinter uns.«

Lucy ergriff den Wagen und schob ihn auf das erste Bett zu.

Typisch Lane, dachte Dora, während sie ihr folgte. Sie musste stets das Sagen haben. In den drei Jahren ihrer Ausbildung hatte Lucy sich keine Gelegenheit entgehen lassen, sie herabzusetzen und in ein schlechtes Licht zu rücken. Aber Dora war ein Mädchen aus dem East End und viel zu zäh, um sich von einem Snob wie Lucy Lane schikanieren zu lassen. Nach drei Jahren fortwährender Streitigkeiten hatten sie immerhin gelernt, sich gegenseitig zu tolerieren, aber vierzehn Stunden am Tag auf derselben Station verbringen zu müssen, stellte Doras Geduld auf eine harte Probe.

Da Lucy das Kommando übernommen hatte, bewegten sie sich recht schnell von einem Bett zum nächsten. Wäre Dora allein gewesen, hätte sie sich die Zeit genommen, mit den Kindern zu plaudern, während sie ihre Verbände wechselte, aber Lucy arbeitete flott und ohne den Gesichtern ihrer kleinen Patienten einen Blick zu gönnen.

Als Dora einen Moment lang innehielt, um eine Zeichnung von einem der Jungen zu bewundern, stand Lucy am Fußende des Betts und trommelte mit ihren Händen ungeduldig auf das Bettgestell.

»Ach, komm schon, Doyle«, sagte sie seufzend. »Wir haben nicht den ganzen Tag. Ich zumindest habe ab fünf Uhr frei und möchte pünktlich gehen, auch wenn es dir vielleicht egal ist, wann du hier herauskommst.«

»Nun reg dich mal nicht auf, ich komm ja schon.« Dora legte die Zeichnung behutsam in den Nachttisch des Jungen zurück und folgte Lucy zum nächsten Bett.

Als sie die Verbände für den nächsten Patienten vorbereiteten, spürte sie Lucys Nervosität und gewann den Eindruck, dass sie unbedingt etwas loswerden wollte.

»Interessiert es dich denn gar nicht, warum ich heute pünktlich Schluss machen will?«, entfuhr es ihr schließlich.

»Nicht besonders«, sagte Dora achselzuckend.

Lucy ignorierte ihre Antwort. »Meine Eltern geben heute Abend eine Gesellschaft, zu der alle möglichen wichtigen Leute kommen werden«, verkündete sie stolz.

Aber natürlich werden sie kommen, dachte Dora. Lucys Vater war schließlich Sir Bernard Lane, ein Millionär, der mit der Herstellung von Glühbirnen ein Vermögen gemacht hatte. Und Lucy ließ keine Gelegenheit aus zu betonen, wie reich ihr Vater war und welch gute Beziehungen er hatte.

Als sie das Ende der Station erreichten, weinte das kleine Mädchen hinter den Gitterstäben seines Kinderbetts noch immer. Ihr Schreien war allerdings zu einem jämmerlichen Wimmern abgeflaut, das Dora noch mehr ins Herz schnitt als ihr Protestgeschrei.

»Ich wünschte, dieses verflixte Kind würde endlich mal den Mund halten«, fauchte Lucy und presste ihre Fingerspitzen an die Schläfen. »Von all dem Gejammer bekomme ich noch Kopfschmerzen.«

»Sei kein Unmensch«, sagte Dora. »Sie ist an einem fremden Ort, und man hat ihr auch noch ihren einzigen Trost genommen.«

»Du meine Güte, Doyle, das war doch bloß ein lächerlicher Teddybär!«, gab Lucy zurück. »Außerdem fiel er schon auseinander. Schwester Parry hatte recht, wahrscheinlich wimmelte er von allen möglichen Bazillen.«

Schwester Parry hatte recht, äffte Dora sie hinter ihrem Rücken nach. Kein Wunder, dass die Stationsschwester Lucy so gerne mochte. Die eine war genauso herzlos wie die andere.

»Bring du den Wagen schon mal in die Waschküche zurück, während ich die Kleine tröste«, sagte Dora.

Lucy starrte sie verdattert an. »Du hast doch gehört, was Schwester Parry gesagt hat. Wir sollen sie nicht beachten, bis sie aufhört zu weinen.«

»Sie hat aber nicht aufgehört, nicht wahr?«

»Aber Schwester Pa…«

»Schwester Parry ist in ihrer Pause und wird nichts davon erfahren.« Dora schob ihr den Wagen zu. »Also keine Bange, du wirst keine Regeln brechen müssen, Lane. Halte nur die Augen offen und warne mich, falls sie zurückkommt.«

Lucy reckte ihre kleine Stupsnase in die Luft wie die personifizierte Verachtung und eilte hocherhobenen Kopfes davon.

Dora ging auf Zehenspitzen zu dem Bettchen hinüber und warf einen Blick über das Schutzgitter. Das kleine Mädchen lag zusammengerollt auf der Seite, wimmerte leise vor sich hin und lutschte Trost suchend an seinem Daumen. Noch etwas, was Schwester Parry nicht gutheißen würde, dachte Dora.

»Ist alles in Ordnung, meine Kleine?« Dora ließ behutsam eins der Schutzgitter herab. Das kleine Mädchen blickte aus geröteten Augen misstrauisch zu ihr auf. Dora konnte es ihr nicht verübeln. In den wenigen Stunden, die sie auf der Station verbracht hatte, war ihr von den Schwestern in ihren Uniformen nichts als Lieblosigkeit entgegengebracht worden. »Es ist alles gut, hab keine Angst. Es ist bestimmt nicht schön für dich, von deiner Mum und deinem Dad getrennt zu sein, nicht wahr?«

»Mum?« Das kleine Mädchen nahm den Daumen aus dem Mund, und ein hoffnungsvoller Blick erschien in ihren großen Augen. »Ich will Mum!«

»Tut mir leid, Liebes, sie ist nicht hier.« Dora sah, wie die Lippen der Kleinen zu zittern begannen. »Aber du wirst sie ganz bald sehen«, sagte sie verzweifelt. »Oh nein – fang bitte nicht wieder an zu weinen …«

Aber es war bereits zu spät. Die Kleine blickte zu ihr auf, und ihre Augen füllten sich mit frischen Tränen. Und während Dora vor Schreck erstarrte und sich einen Moment lang wappnete, öffnete sich der Mund der Kleinen zu einem Aufschrei der Verzweiflung.

»Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun, Doyle?« Dora fuhr erschrocken zurück, als Schwester Parry, wieder einmal dicht gefolgt von Lucy Lane, zu ihr herübergeeilt kam.

»Ich …«

»Habe ich Sie gebeten, sich um dieses Kind zu kümmern?«

»Nein, Schwester, aber die Kleine war immer noch sehr aufgeregt …«

»Und Sie haben dafür gesorgt, dass sie sich sehr viel besser fühlt, nicht wahr?« Schwester Parry seufzte und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Es ist fünf Uhr. Lane, Sie können jetzt Feierabend machen. Sie dagegen, Doyle, werden bleiben und noch die Gummiunterlagen in der Waschküche schrubben, bevor Sie gehen. Vielleicht wird Sie das lehren, Anweisungen zu befolgen, wenn Sie welche erhalten. Und Sie können sicher sein, dass ich die Sache in meinem Stationsbericht erwähnen werde«, fügte sie mit grimmiger Miene hinzu.

Und so war es schon kurz vor sechs, als Dora endlich all ihre Aufgaben erledigt hatte. Ihre Hände waren wund vom Schrubben und brannten, als sie zum Schwesternheim hinübereilte, wo ihre Freundinnen Millie Benedict und Katie O’Hara in ihrem Schlafzimmer auf den Betten lagen und lernten. Sie blickten auf, als sie hereinkam und sich im Gehen den gestärkten Kragen abriss.

»Ich werde diese verdammte Lane erwürgen, wenn ich sie in die Finger kriege«, murmelte sie.

Millie lächelte verständnisvoll. »Was hat sie diesmal getan?«

»Dieses arrogante Luder hat mich bei Schwester Parry angeschwärzt.« Dora erzählte ihren Freundinnen, was geschehen war, während sie Schuhe und Strümpfe auszog. »Es würde mich gar nicht wundern, wenn Lane sie geholt hätte«, fügte sie hinzu. »Das ist genau die Art von Boshaftigkeit, die ich ihr zutrauen würde.«

»Aber doch gewiss nicht?«, sagte Millie mit bestürzter Miene. »Wir sitzen schließlich alle im selben Boot, da sollten wir doch zusammenhalten, oder?«

»Sie hat mich noch nie gemocht«, sagte Dora. »Erinnert ihr euch nicht mehr, wie sie versucht hat, euch alle gegen mich aufzuhetzen? Damals sagte sie, man solle mir nicht gestatten, hier meine Ausbildung zu machen, weil ich nicht gebildet genug sei. Nur weil ich nicht in einem stinkvornehmen Mädchenpensionat war, bin ich ihr nie gut genug gewesen.«

»Für Lane ist niemand gut genug«, sagte Katie O’Hara, ohne von ihrem Buch aufzusehen. »Und ich weiß, wovon ich rede, nachdem ich mir drei Jahre ein Zimmer mit ihr geteilt habe.«

»Ich weiß nicht, wie du das ausgehalten hast«, sagte Dora, während sie den Schrank öffnete und nach dem ersten Kleid griff, das ihr in die Hände fiel. »Ich hätte sie inzwischen längst im Schlaf erstickt!«

»Ihr könnt mir glauben, dass ich oft genug versucht war, das zu tun. Ständig macht sie sich über mich lustig und sagt, ich sei ein Bauerntrampel, nur weil ich aus einem kleinen Dorf in Irland komme.« Katie verzog das Gesicht. »Und sie sagt auch, ich sei zu fett …«

Millie und Dora wechselten einen Blick. Ganz unrecht hatte Lucy nicht, da Katie wirklich ein bisschen zu mollig war.

»Du scheinst es ja ganz schön eilig zu haben, Dora«, wechselte Millie schnell das Thema und blickte lächelnd zu ihr auf. »Bist du mit jemandem verabredet?«

Dora öffnete den Mund, um zu antworten, doch dann schloss sie ihn rasch wieder. Sie teilte sich seit fast drei Jahren ein Zimmer mit Millie, die darüber hinaus auch ihre beste Freundin im Nightingale war. Aber sie wagte nicht mal ihr zu sagen, dass sie Nick Rileys Freundin war.

Und in Gegenwart von Katie O’Hara, der größten Klatschbase ihrer Gruppe, würde sie erst recht nichts sagen.

»Mit niemand Besonderem«, log sie, während sie mit den Verschlüssen ihres Kleids herumhantierte. Sie wagte nicht, zu Millie aufzublicken, weil sie Angst hatte, dass ihre Miene sie verraten würde.

Und so wechselte sie schnell das Thema und wandte sich wieder Katie zu. »Zumindest wirst du dir nicht viel länger ein Zimmer mit Lane teilen müssen«, sagte sie. »Wenn wir unsere Abschlussprüfung bestanden haben, werden wir in das richtige Schwesternheim umziehen.«

»Falls ich sie bestehe«, warf Katie düster ein. Ein kurzes Schweigen entstand, als alle über ihre eigenen Erfolgsaussichten nachdachten. Es waren noch sechs Monate bis zur Staatlichen Abschlussprüfung, und während die Wochen verstrichen, fühlte Dora sich immer schlechter darauf vorbereitet. Nachts plagten sie sogar schon Albträume über Examensnoten.

»Ich hatte eigentlich gehofft, mir ein Zimmer mit meiner Schwester zu teilen, wenn sie in ein paar Wochen hier anfängt«, fuhr Katie fort. »Ich dachte, vielleicht würde Schwester Sutton mich für meine letzten paar Monate hier mit jemandem tauschen lassen. Effie wird in der ersten Zeit hier sicherlich sehr schüchtern sein, und es wäre schön für uns, wenn wir zusammen sein könnten. Ich weiß, wie besorgt meine Mutter ist.«

»Da wirst du Schwester Sutton aber bei guter Laune erwischen müssen«, sagte Millie.

»Hat Schwester Sutton denn überhaupt je gute Laune?«, wandte Dora ein und griff nach einer Haarbürste, mit der sie durch ihre dichten roten Locken fuhr.

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Katie. »Aber fragen kostet nichts und kann nicht schaden.« Plötzlich grinste sie. »Vielleicht kann Lane dann ja bei euch einziehen? Ihr habt schließlich ein leeres Bett, seit Dawson weg ist.«

Dora zeigte mit ihrer Haarbürste auf Katie. »Untersteh dich, Schwester Sutton diesen Floh ins Ohr zu setzen! Die nächsten sechs Monate werden auch ohne Lane schon anstrengend genug sein. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, ihr stundenlang zuzuhören, wenn sie mit dem Reichtum ihres Vaters angibt und sich über all die Kleider und den Schmuck auslässt, den er ihr gekauft hat, oder über all die Gesellschaften, auf denen sie gewesen ist.«

»Ganz zu schweigen von all den Gelegenheiten, bei denen ihr Foto in den Gesellschaftskolumnen erschienen ist«, sagte Katie.

»Und dass sie intelligent genug ist, um zur Universität zu gehen, aber stattdessen beschlossen hat, uns arme Unglückliche in der Krankenpflege mit ihrer Anwesenheit zu beehren …«

Dora merkte plötzlich, wie still die anderen geworden waren. Ihr war, als striche eine kalte Hand über ihren Rücken, als sie sich langsam umdrehte. Und ganz wie sie befürchtet hatte, stand Lucy Lane in der offenen Zimmertür.

Millie fand als Erste ihre Stimme wieder. »Möchtest du dich nicht zu uns setzen, Lane?«, fragte sie von ihren tadellosen Manieren geleitet.

»Nein, danke«, antwortete Lucy steif und wandte sich an Katie. »Ich wollte dich nur daran erinnern, dass ich die Erlaubnis habe, heute Abend außer Haus zu übernachten.«

Ihre Zimmerkameradin nickte, und Dora konnte sehen, dass Katies Wangen immer röter wurden von der Anstrengung, ihre Gefühle zu beherrschen.

Lucy warf Dora einen bösen Blick zu, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ließ die Schlafzimmertür hinter sich zufallen.

»Du meine Güte!«, sagte Katie kichernd.

»Das arme Mädchen«, seufzte Millie. »Es kann nicht schön für sie gewesen sein, das alles mitzukriegen.«

»Sie hat’s verdient«, sagte Katie. »Sie selbst war auch ständig gemein den anderen gegenüber. Es wurde höchste Zeit, dass sie es mal mit gleicher Münze heimgezahlt bekommt.«

Dora schwieg. Ob Lucy es nun verdiente oder nicht, Dora war sich sicher, dass es ihr eigenes Leben auf der Station nicht besser machen würde.

KAPITEL VIER

Lucy spürte sofort die Anspannung, die in der Luft lag, als sie ihr Elternhaus am Eaton Place betrat.

Es herrschte die übliche hektische Betriebsamkeit, die mit den Vorbereitungen für eine Soiree einherging. Das Personal eilte hin und her und deckte Tische, polierte Gläser und arrangierte Blumen. Jameson, der langjährige Butler der Familie, schien sich jedoch ein wenig unwohl zu fühlen, als er Lucy aus ihrem Mantel half.

»Wo ist meine Mutter?«, fragte sie und sah sich in der mit Marmor gefliesten Eingangshalle um.

»Mylady hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen, Miss Lucy.«

Eine Sekunde später zerriss ein Schrei aus der Etage über ihnen die Stille in der Halle. Lucy holte tief Luft, als sie das vertraute Gefühl der Enge in ihrer Brust verspürte.

»Ist mein Vater bei ihr?«, fragte sie.

»Ich glaube ja«, erwiderte Jameson mit unbewegter Miene. Wie Lucy hatte auch er dieses Drama schon zu viele Male seinen Verlauf nehmen sehen.

Lucy hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln. »Laufen alle Vorbereitungen für die Gesellschaft?«, fragte sie dann ruhig.

»Es ist alles in Ordnung, Miss Lucy.«

Irgendetwas krachte gegen die Decke über ihnen und brachte den Kronleuchter ins Schwanken. Jameson verzog kaum eine Miene.

»Sehr gut«, sagte Lucy. »Dann kann ich ja in mein Zimmer hinaufgehen und mich fertigmachen.«

»Werden Sie Higgins brauchen, Miss?«

Lucy schüttelte den Kopf. »Danke, Jameson, aber das schaffe ich schon allein.«

Als sie die elegant geschwungene Treppe zum ersten Stock hinaufstieg, konnte sie hören, dass der Streit an Stärke zunahm wie ein heraufziehender Sturm.

»Wo warst du?«, fragte die Stimme ihrer Mutter laut und fordernd.

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich über Nacht im Club geblieben bin.« Ihr Vater klang müde.

»Das glaube ich dir nicht! Du warst bei ihr, nicht wahr?«

»Bei wem?«

»Ihren Namen kenne ich nicht. Wie soll ich auch den Überblick behalten bei deinen zahlreichen Geliebten?«

Lucy hörte ihren Vater seufzen. »Sei nicht albern.«

»Bin ich albern? Das glaube ich kaum. Natürlich gibt es eine andere Frau. Wie willst du mir sonst all die Nächte erklären, die du angeblich in deinem Club verbringst? Du verbringst mehr Zeit mit ihr als mit mir.«

»Clarissa, bitte. Wie oft haben wir das schon besprochen …«

Ein ersticktes Aufschluchzen war hinter der Tür zu hören, dann schrie die Stimme ihrer Mutter: »Nein! Wag es nicht, mich anzufassen!«

Lucy ging auf Zehenspitzen zu ihrem eigenen Zimmer weiter. Es war ihr Zufluchtsort, dieses wunderschöne, ganz in zarten Apricot- und Lilatönen gehaltene Schlafzimmer mit der seidenen Tagesdecke auf dem Bett. Die gedämpften Geräusche der Auseinandersetzung drangen allerdings auch hier durch die Wände und fesselten ihre Aufmerksamkeit, ob sie wollte oder nicht. Inzwischen brüllte auch ihr Vater, dessen tiefe, dröhnende Stimme es mit dem Geschrei ihrer Mutter durchaus aufnehmen konnte.

Lucy setzte sich an ihre Frisierkommode und hielt sich die Ohren zu. Sie richtete den Blick auf ihr Spiegelbild, konzentrierte sich, so gut sie konnte, auf ihr Gesicht, auf das Haselbraun ihrer Augen und das wellige, kastanienbraune Haar, das ihr Gesicht weich umfloss. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie früh gelernt hatte, sich mit ihrem eigenen Spiegelbild zu trösten, während ihre Eltern nebenan lautstark stritten, wüteten und einander zur Weißglut brachten.

»Clarissa, bitte!«, hörte sie ihren Vater schreien. »Woher soll ich die Zeit für eine Geliebte nehmen, wenn ich jede Stunde, die uns der Herrgott gibt, mit Arbeiten verbringe?«

»Das sagst du!« Die Stimme ihrer Mutter war schrill und spöttisch.

»Denkst du etwa, die Fabrik führt sich von alleine?«

»Nein, aber ich denke, dass du Leute hast, die sie für dich führen. Du musst nicht jede wache Stunde dort verbringen.«

»Du hast wirklich keine Ahnung, was? Hast keinen blassen Schimmer, was es bedeutet, ein Geschäft wie meins zu führen. Dich interessiert nur, wie viel Geld du ausgeben kannst. Wenn du wüsstest, was ich durchmache …«

»Was du durchmachst? Und was ist mit mir?«

Lucy ging zu ihrem Schrank und öffnete die Türen. Hier sah sie sich einer Fülle von Seiden, Satins und Pelzen gegenüber, die in ihren nach Lavendel duftenden Hüllen steckten und alle Haute-Couture-Modelle waren, die sie und ihre Mutter zusammen ausgesucht hatten. Lucys Mutter tat nichts lieber, als einzukaufen. Es war eines der wenigen Dinge, die ihr noch Freude machten.

Lucy verschloss sich vor den lauten Stimmen und konzentrierte sich darauf, ein Kleid für den Abend herauszusuchen. Nichts Rotes, entschied sie. Auch kein Blau. Grün? Sie griff in den Schrank und zog ein elegantes, schräggeschnittenes Kleid aus mintgrüner Seide mit bronzefarbener Perlenstickerei heraus.

Sie hielt es sich vor und fragte sich, was ihre Mutter dazu sagen würde, während sie sich in ihrem Drehspiegel betrachtete. Denn Clarissa Lane war auf das Aussehen ihrer Tochter nicht weniger stolz als auf ihr eigenes.

Aussehen ist alles. Diese Worte waren Lucy von klein auf eingetrichtert worden.

»Ich bin nicht naiv, Bernard, was immer du auch von mir denken magst!«, kreischte ihre Mutter.

»Nein, aber du bist eindeutig betrunken.«

»Ist das ein Wunder, wenn du so herzlos zu mir bist?«

Ihr Vater lachte schroff. »Du glaubst, all das sei herzlos?«

»Du vernachlässigst mich«, schluchzte ihre Mutter. »Du schenkst mir nur Beachtung, wenn du mich brauchst, um deine langweiligen Freunde zu bewirten.«

»Das sind keine Freunde, Clarissa, sondern Leute, die wichtig fürs Geschäft sind.«

»Das ist alles, woran du denkst, nicht wahr? An dein verdammtes Geschäft. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich auch nur eine bessere Angestellte.«

»Glaub mir, Clarissa – wenn du eine Angestellte wärst, würde ich sehr viel mehr von dir erwarten für das Geld, das du bekommst!«

Lucy setzte sich an die Frisierkommode, um sich mit ihren Haaren zu beschäftigen, und summte vor sich hin, als sie sie aufsteckte und ihren schlanken Hals bewunderte.

»Das ist mal wieder typisch für dich! Du hältst dich für einen Gentleman, weil du ein Vermögen gemacht hast, aber unter der strahlenden Oberfläche bist du nichts weiter als ein besserer Kaufmann. Klasse und gute Erziehung lassen sich nämlich nicht kaufen, weißt du!«

»Du sagst es mir ja oft genug.«

Lucy fragte sich, ob sie ihr Haar vielleicht lieber offen und in weichen Wellen um ihr Gesicht fallen lassen sollte. Diese Frisur machte ihre scharfgeschnittenen Züge – die sie von ihrem Vater geerbt hatte – weicher, was Clarissa nie zu betonen vergaß.

»Manchmal denke ich, dass du mich nur geheiratet hast, weil du jemanden brauchtest, der dich in die vornehme Gesellschaft einführt!«