Die Schwestern aus der Steeple Street - Donna Douglas - E-Book
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Die Schwestern aus der Steeple Street E-Book

Donna Douglas

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Beschreibung

Yorkshire, 1926. Die junge Gemeindeschwester Agnes Sheridan freut sich auf ihre neue Aufgabe in der kleinen Gemeinde Bowden. Doch schon bald muss sie feststellen, dass die Dorfbewohner ihr Vertrauen lieber der alteingesessenen Heilerin schenken als einer zugezogenen Krankenschwester aus der Stadt. Als dramatische Ereignisse die Menschen in Bowden erschüttern, will Agnes ihnen beweisen, dass sie bereit ist, für das Wohl ihrer Patienten zu kämpfen — doch wird sie ihr Vertrauen gewinnen?

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISSIG

KAPITEL EINUNDDREISSIG

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

KAPITEL DREIUNDDREISSIG

KAPITEL VIERUNDDREISSIG

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

KAPITEL DREIUNDVIERZIG

KAPITEL VIERUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG

KAPITEL ACHTUNDVIERZIG

KAPITEL NEUNUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFZIG

DANKSAGUNG

Über das Buch

Yorkshire, 1926. Die junge Gemeindeschwester Agnes Sheridan freut sich auf ihre neue Aufgabe in der kleinen Gemeinde Bowden. Doch schon bald muss sie feststellen, dass die Dorfbewohner ihr Vertrauen lieber der alteingesessenen Heilerin schenken als einer zugezogenen Krankenschwester aus der Stadt. Als dramatische Ereignisse die Menschen in Bowden erschüttern, will Agnes ihnen beweisen, dass sie bereit ist, für das Wohl ihrer Patienten zu kämpfen doch wird sie ihr Vertrauen gewinnen?

Über die Autorin

Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrem Ehemann in New York. Ihre Serie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg. Mehr über die Autorin und ihre Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.

DONNA DOUGLAS

Die Schwestern aus der Steeple Street

Rivalinnen wider Willen

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Moreno

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2017 by Donna DouglasTitel der englischen Originalausgabe: »District Nurse on Call«Originalverlag: Arrow Books, an imprint of The Random House Group Limited, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Anja Lademacher, BonnUmschlaggestaltung: Massimo Peter-BilleUnter Verwendung von Motiven von © Johnny Ring PhotographyE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8601-1

www.luebbe.dewww.lesejury.de

Für meine sehr gute Freundin June Smith-Sheppard, weil sie immer für mich da war.

KAPITEL EINS

1926

»So, da ist es, dein neues Zuhause, meine Liebe.«

Philippa hielt den Wagen auf einem Gebirgskamm an, von dem aus man über das Tal blicken konnte, und spähte durch die Windschutzscheibe. »Sehr vielversprechend sieht es ja nicht aus, finde ich.«

Agnes Sheridan stieg auf der Beifahrerseite aus und kämpfte gegen den kalten Märzwind an, der ihr das Schwesternhäubchen vom Kopf zu reißen drohte. Nachdem sie es schnell mit einer Hand ergriffen hatte, zog sie mit der anderen ihren marineblauen Mantel noch fester um sich, als sie in das Tal hinunterblickte.

Phil hatte recht, sehr vielversprechend war der Anblick wirklich nicht. Die kleine Gemeinde Bowden lag wie grauer Bodensatz in einer flachen Talsohle, die in eine mit Adlerfarn bestandene, sanft ansteigende Heidelandschaft eingebettet war. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus konnte Agnes im Zentrum der kleinen Ortschaft einige gediegen wirkende Gebäude ausmachen, eine Schule, ein paar Geschäfte und die Kirchturmspitze. Aber es war das Kohlenbergwerk, das ihren Blick so magisch anzog. Es lag östlich des Dorfs und bestand aus einer Reihe von Nebengebäuden und Höfen, Eisenbahnschienen, schwarzen Abraumhalden und den hohen, markanten Umrissen der Förderanlagen, die über den dicht an dicht stehenden Reihenhäusern aufragten.

Dies war also das Bergwerk Bowden Main. Der Grund dafür, dass das Dorf – und somit auch sie – sich an diesem Ort befanden.

Hinter sich hörte Agnes, wie Phil aus ihrem Wagen stieg.

»Stell dir nur mal vor, dass du von jetzt an für all diese Menschen verantwortlich sein wirst!«, sagte sie, als sie zu ihr trat. »Für all die Bergleute mit diesem typischen trockenen Husten, entzündeten Augen, verletzten Gliedern und Kohlenstaublungen. Bergleute sind schließlich nicht gerade für ihre gute Gesundheit bekannt, nicht wahr? Die meisten von ihnen werden vermutlich ohnehin schon auf dem letzten Loch pfeifen.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Und die Kinder … alle unterernährt und verlaust, könnte ich mir vorstellen.«

»Es kann nicht schlimmer sein als Quarry Hill«, entgegnete Agnes.

Phil erschauderte. »Gott bewahre! Nichts könnte schlimmer sein als Quarry Hill.«

Im Rahmen ihrer Ausbildung zur Gemeindeschwester hatten beide einige Zeit in den heruntergekommenen Slums von Leeds verbracht. Damals hatte Agnes es kaum erwarten können, ihr Abzeichen und einen eigenen Bezirk zu erhalten, um Quarry Hill zu entkommen. Doch nun wünschte sie, sie wäre wieder dort, in Sicherheit unter den wachsamen Augen ihrer Ausbilderin Bess Bradshaw.

Als könnte Phil erraten, was sie dachte, wandte sie sich ihr plötzlich zu und fragte: »Bist du dir auch wirklich sicher, dass du bereit bist für all das?«

Diese Frage hatte Agnes sich in den letzten Wochen schon mehrere Male selbst gestellt, seit sie von Miss Gale, der Leiterin der Gemeindepflege, die Neuigkeiten erfahren hatte. Bowden würde ihr erster offizieller Tätigkeitsbereich als Queen’s Nurse sein, und diese Verantwortung lastete schwer auf ihren Schultern. In der Nacht zuvor hatte sie fast nicht schlafen können, weil ihr so viele Fragen durch den Kopf gegangen waren.

Was, wenn dies alles zu viel für sie war und sie den Anforderungen nicht gerecht werden konnte?

Im hellen Tageslicht weigerte sie sich jedoch, solchen Ängsten nachzugeben.

»Natürlich.« Agnes zog ihren Mantel noch fester um sich und blickte auf das unter ihnen liegende Dorf herab. »Ich freue mich sogar schon darauf.«

»Du hast ja auch schon immer Herausforderungen geliebt«, entgegnete Phil. »Ganz im Gegensatz zu mir. Ein hübscher, ländlicher Bereich mit gesunden Bauersfrauen, die ebenso mühelos gebären, wie sie Erbsen schälen, mit rotbackigen Kindern und nichts Ernsterem als einer gelegentlichen Verletzung durch eine Kuh, die einer Melkerin auf den Fuß getreten ist, sind mir zehnmal lieber als das hier.«

Agnes lächelte. »Das hast du früher aber anders gesehen, als du noch täglich dreißig Meilen mit dem Fahrrad hin- und zurückfahren musstest!«

»Das war, bevor ich Veronica bekommen habe.« Phil streichelte die Motorhaube ihres Fords. Seit Agnes sie kannte, hatte Phil dem Kreisverband mit der Bitte um ein Motorrad in den Ohren gelegen, bis man schließlich nachgegeben und ihr sogar ein Auto zugeteilt hatte – vermutlich in der Hoffnung, sie damit ein für alle Mal loszuwerden, dachte Agnes lächelnd. Phil liebte Veronica über alles, aber ihre Fahrweise ließ doch sehr zu wünschen übrig. Agnes hatte auf der ganzen Fahrt von Leeds hierher mit geschlossenen Augen dagesessen und sich am Ledersitz festklammert, als sie die kurvenreichen Landstraßen entlanggebraust waren.

»Auf jeden Fall sollten wir jetzt besser weiterfahren.« Phil drückte ihre Zigarette aus und ging zum Wagen zurück. »An deinem ersten Tag willst du doch sicher einen guten Eindruck machen?«

Also fuhren sie ins Tal hinunter, und bald schon wichen das offene Ackerland und die Weiden einem wild wuchernden Waldgebiet, bevor die flacher werdende Straße in das Dorf hineinführte.

Bei näherer Betrachtung war Bowden gar nicht mal so hässlich, wie Agnes gedacht hatte. In einiger Entfernung von der Zeche und den Bergmannskaten, die sich dicht darum scharten, gab es noch ein paar andere Straßen mit größeren Häusern, die auf betuchtere Besitzer schließen ließen, und ein Flickwerk gut gepflegter Schrebergärten. Sogar ein Freizeitgelände mit Kinderspielplatz sah sie, ein paar bescheidene Kapellen und eine Reihe von Läden, die jedoch alle geschlossen waren an diesem späten Sonntagnachmittag.

Agnes biss die Zähne zusammen, als Veronica über die holprige, schmale Straße rumpelte.

»Meinst du nicht, wir sollten ein bisschen langsamer fahren?«, sagte sie.

»Ach was, hier ist doch niemand«, tat Phil ihren Einwand ab, während sie durch die Windschutzscheibe spähte. »Sag mir lieber noch mal, wonach wir hier suchen?«

»Nach dem Sitz der Bergarbeiterfürsorge. Miss Gale sagte, er befände sich gleich hinter dem Co-op.«

»Dann müssen wir das Gebäude übersehen haben, und ich kehre besser um.«

»Sei vorsichtig«, bat Agnes, als ihre Freundin mit dem Schalthebel kämpfte und alles andere als sanft den Rückwärtsgang einlegte.

»Ach, stell dich doch nicht so an, Agnes! Du machst mich noch ganz nervös mit deinem Gejammer …«

»Vorsicht!« Agnes bemerkte, dass sich etwas hinter ihnen bewegte, als Veronica einen Satz zurück machte. Eine Sekunde später rumste es, und ein Mordsgeklapper war zu hören.

Phil stieg erschrocken auf die Bremse. »Was war das denn?«

»Ich glaube, du hast irgendetwas angefahren.«

»Oh nein!« Ihre Freundin wurde kreidebleich und blieb wie erstarrt hinter dem Lenkrad sitzen. »Was, wenn ich Veronica beschädigt habe? Dann wird der Kreisverband sie mir ganz sicher wieder wegnehmen.«

»Hör auf mit Veronica!« Agnes stieg blitzschnell aus und lief zum Heck des Wagens. Ein Mann lag auf dem Asphalt, halb begraben unter einem Fahrrad, das zur Hälfte unter Veronicas hinterer Stoßstange lag.

Agnes beugte sich zu dem Mann hinunter. »Ach, du meine Güte! Haben Sie sich wehgetan?«

»Was glauben Sie denn?« Zwei wütende schiefergraue Augen erwiderten ihren besorgten Blick. »Was zum Teufel glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun? Sie hätten mich umbringen können!«

»Na ja, aber Sie hätten mir ja auch ausweichen können, als ich zurücksetzte, nicht wahr?«, sagte Phil, die nun ebenfalls ausstieg.

Der Mann funkelte sie böse an. »Was? Wollen Sie jetzt etwa behaupten, es sei meine Schuld gewesen?«

»Na ja …«

»Natürlich nicht«, sagte Agnes mit einem warnenden Blick zu Phil. »Sagen Sie mir doch bitte, ob Sie sich bewegen können. Oder ob Sie irgendwo Schmerzen haben.«

»Ich werde es überleben – auch wenn das nicht gerade ihr Verdienst ist!« Mühsam begann er sich von seinem Fahrrad zu befreien, aber als Agnes versuchte, ihm unter die Arme zu greifen, schüttelte er sie ab.

»Ich möchte Ihnen nur helfen.«

»Ich denke, Sie haben schon genug getan.«

Schließlich rappelte er sich auf und klopfte sich den Staub von seiner Jacke. Sie war an den Ellbogen schon ziemlich abgenutzt, bemerkte Agnes, und auch sein kragenloses, etwas schmuddeliges Hemd hatte schon bessere Zeiten gesehen. Er war etwa um die dreißig und hatte schwarzes Haar und ein schmales Gesicht, aus dem nicht viel Humor sprach.

Nun bückte er sich und begann sein Fahrrad unter Veronicas Stoßstange hervorzuziehen.

»Vorsicht!«, sagte Phil. »Zerkratzen Sie mir nicht den Lack.«

Agnes sah den finsteren Gesichtsausdruck des Mannes und griff schnell wieder ein. »Ist Ihr Fahrrad beschädigt?«, fragte sie.

»Wenn ja, dann schulden Sie mir ein neues.«

Er ließ sich quälend lang Zeit, um sein Fahrrad zu untersuchen, die Räder auszuprobieren und die Lenkstange zu testen. Agnes blickte auf ihre Uhr und begann, sich Sorgen zu machen, dass sie zu spät kommen würde.

»Brauchen Sie noch länger?«, erkundigte sie sich schließlich. »Ich frage nur, weil ich einen Termin habe …«

Er warf ihr einen grimmigen Blick zu. »Aye, dass Sie es eilig hatten, habe ich gemerkt.«

Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, schien der Mann endlich zu beschließen, dass sein Fahrrad noch fahrtüchtig war.

»Ich bin froh, dass es in Ordnung ist«, sagte Agnes erleichtert.

»Das wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen, nicht?«

»Sind Sie auch ganz sicher nicht verletzt? Ich bin nämlich Krankenschwester und …«

»Eine verdammte Gefahr sind Sie!«, schnitt er ihr das Wort ab, bevor er ein Bein über sein Rad schwang und sich in Bewegung setzte.

Agnes sah ihm nach, als er verärgert vor sich hinmurmelnd die Straße hinunterradelte. Was er sagte, konnte sie natürlich nicht verstehen, doch irgendetwas sagte ihr, dass sie es auch gar nicht hören wollte.

»Was für ein charmanter Mann«, bemerkte Phil spöttisch. »Dir zuliebe hoffe ich wirklich sehr, dass hier nicht alle so übellaunig sind wie er.«

»Was man ihm aber eigentlich auch nicht verdenken kann«, entgegnete Agnes seufzend. »So viel also zu dem guten Eindruck, den ich hier machen wollte!«

Phil lachte. »An seinem Fahrrad haben wir auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck hinterlassen!«

»Das ist überhaupt nicht lustig, Phil. Ich hatte dich gebeten, nicht so schnell zu fahren. Schließlich bin ich hier, um Menschen zu pflegen, und nicht, um sie ins Krankenhaus zu bringen!«

»Es war ein Unfall«, erwiderte Phil achselzuckend. »Außerdem hast du selbst gesehen, dass ihm nichts passiert ist. Wir sollten jetzt also besser weiterfahren?«

»Ehrlich gesagt würde ich mich lieber allein zur Bergarbeiterfürsorge durchfragen«, sagte Agnes. »Vielleicht wäre es sogar einfacher zu Fuß.« Und ungefährlicher, fügte sie im Stillen hinzu.

»Aber was ist mit deinen Sachen?«

»Ach, den einen Koffer und meine Schwesterntasche müsste ich auch auf meinem Fahrrad unterbringen können.«

»Na ja, wenn du dir wirklich sicher bist?« Phil öffnete den Kofferraum und half Agnes, ihr Fahrrad und die Koffer auszuladen. Dann hielten sie für einen Moment inne und schauten sich betreten an.

»Tja, dann mach’s gut, meine Liebe.« Phil stürzte auf Agnes zu und zog sie für eine stürmische Umarmung an sich. »Du wirst mir fehlen, altes Haus«, murmelte sie an ihrer Schulter.

Agnes zögerte, war zu überrascht, um die Umarmung zu erwidern. Phil war eigentlich der eher unsentimentale Typ, ja, sie konnte manchmal sogar regelrecht gefühllos sein.

»Immer mit der Ruhe!«, sagte Agnes, um den Abschied leichter zu machen. Dann befreite sie sich aus den Armen ihrer Freundin. »Ich werde mich schon bald wieder in der Steeple Street sehen lassen. Vergiss nicht, dass ich mich regelmäßig bei Miss Gale melden muss.«

»Ja, das weiß ich. Aber es wird nicht mehr dasselbe sein wie früher, nicht?«

Nein, dachte Agnes kurz darauf, als sie beobachtete, wie Phil ihre geliebte Veronica achtlos auf die schmale Hauptstraße zurückmanövrierte. Es würde ganz und gar nicht mehr dasselbe sein wie früher …

KAPITEL ZWEI

Nachdem Agnes ein paarmal durch die menschenleeren Straßen hin und her geradelt war, fand sie schließlich das solide rote Backsteingebäude mit dem Schild »Bergarbeiterfürsorge und Lesesaal« über der Tür.

Ein älterer Mann von hochgewachsener, aber sehr hagerer Gestalt, der sich schwer auf einen Spazierstock stützte, stand wartend auf der Eingangsstufe. Als Agnes von ihrem Fahrrad stieg, kam er zu ihr hinüber.

»Miss Sheridan? Ich bin Eric Wardle vom Bergarbeiterfürsorge-Komitee und auch derjenige, der mit Ihrer Miss Gale in Briefkontakt gestanden hat.«

»Oh ja, Mr. Wardle. Sehr erfreut.« Als sie ihm die Hand reichte, blickte sie zu zwei strahlend blauen Augen auf und erkannte, dass ihr erster Eindruck von Eric Wardle falsch gewesen war. Trotz seines faltenreichen, müden Gesichts und seiner gebückten Haltung konnte er nicht älter als Ende vierzig sein. Agnes fragte sich, was für eine schwere Krankheit ihn so vorzeitig hatte altern lassen. »Es tut mir leid, dass ich mich ein bisschen verspätet habe, aber ich brauchte eine Weile, um dieses Haus zu finden.«

Eric Wardle winkte ab. »Kein Problem, junge Frau, jetzt sind Sie ja hier. Kommen Sie, ich bringe Sie gleich in den Konferenzraum, wo schon alle auf Sie warten.«

Der Sitz der Bergarbeiterfürsorge hatte etwas unverkennbar Maskulines. An den Wänden des langen Gangs, den sie hinuntergingen, hingen Fotografien von verschiedenen Sportmannschaften, die mit verschränkten Armen entweder stolz in Fußballshorts oder weißer Kricketkluft posierten, aber auch von Gruppen älterer Männer, die nicht minder stolz mit einer Taube in den Händen vor den Verschlägen der Tiere standen. In der Luft hing der Geruch von Zigarettenrauch, der sich mit dem moschusartigen Geruch von Schweiß vermischte. Aus einer halboffenen Tür am hinteren Ende des langen Korridors konnte Agnes die gedämpften Töne von Klavierspiel hören.

Eric Wardle humpelte voran, vorbei an einem Glasschrank voller glänzender Pokale und eine schmale Treppe hinauf, die zu einer Tür mit einem Bronzeschild führte, das die Aufschrift »Konferenzraum« trug. Hinter der Tür waren laute Männerstimmen zu hören, es wurde offenbar hitzig debattiert.

»So, da sind wir.« Eric Wardle drehte sich zu ihr um und lächelte sie an, als er die Tür aufstieß. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Schwester. Die Männer werden Sie schon nicht beißen – jedenfalls die meisten nicht.«

»Ich habe keine Angst«, versicherte sie ihm, während sie ihr Häubchen zurechtrückte und die Schultern straffte.

Mr. Wardle warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Nein, Sie kommen mir auch nicht wie der ängstliche Typ vor«, meinte er.

Vier Männer saßen an einem langen Tisch vor dem Fenster. Als Agnes hereinkam, verstummten sie sofort und erhoben sich. Aber nur drei der vier Gesichter wandten sich ihr zu. Der Mann ganz am äußeren Rand des Tisches richtete seinen Blick auf die Papiere, die vor ihm lagen. Als hätte er wichtigere Dinge im Kopf.

»So, meine Herren«, sagte Eric. »Das ist Miss Sheridan, unsere neue Gemeindeschwester.« Nachdem er den einzigen Stuhl auf der anderen Seite des Tischs für Agnes herausgezogen hatte, humpelte er zu den anderen Männern hinüber und setzte sich auf den noch freien Stuhl in ihrer Mitte. Agnes bemerkte, wie respektvoll die anderen zur Seite rückten, um ihm Platz zu machen. Dann stellte er ihr die anderen Männer vor. »Miss Sheridan, darf ich Ihnen Sam Maskell, einen der Vorarbeiter unserer Zeche, vorstellen? Die anderen Herren dort sind Reg Willis, Tom Chadwick und Seth Stanhope, unser Gewerkschaftssekretär.«

»Wir sind uns schon begegnet.« Auch Seth Stanhope erhob nun endlich den Blick von seinen Papieren, und ein unschönes Gefühl des Wiedererkennens beschlich Agnes, als sie in seine finster dreinblickenden grauen Augen sah.

»So«, fuhr Eric Wardle fort. »Als Vorsitzender des Fürsorgekomitees rufe ich die Versammlung zur Ordnung. Und lasst sie uns so schnell wie möglich zu Ende bringen, ja? Wir alle haben ein Zuhause, wo man uns erwartet, und ich wage zu behaupten, dass auch Miss Sheridan erschöpft sein wird nach ihrer Fahrt von Leeds hierher.«

Ohne Seth Stanhope weiter zu beachten, wandte Agnes sich den anderen Männern zu. Sie alle sahen so aus, als fühlten sie sich nicht besonders wohl dabei, in ihrem besten Sonntagsstaat an diesem Tisch zu sitzen. Reg Willis, der drahtige kleine Mann, der ganz am Ende saß, griff sich immer wieder mit einem Finger unter seinen gestärkten Hemdkragen, als hätte er das Gefühl, darin zu ersticken, während Tom Chadwick so heftig errötete, als ob er noch nie zuvor in seinem Leben eine Frau gesehen hätte. Nur Sam Maskell, der so bequem zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß, dass seine Weste über seinem ansehnlichen Bauch zu platzen drohte, schien entspannt zu sein.

»Nun denn, Miss Sheridan«, sagte Eric Wardle. »Wie Miss Gale Ihnen vermutlich schon gesagt hat, hatten wir hier in Bowden noch nie eine Gemeindeschwester, und ich muss gestehen, dass wir ein bisschen ratlos sind, was Ihre Aufgaben hier im Dorf angeht. Aber vielleicht könnten Sie sie uns ja erklären.«

Agnes dachte einen Moment über die Frage nach. »Nun ja«, sagte sie dann, »ich denke, eine meiner Aufgaben wird wahrscheinlich darin bestehen, dem hiesigen Arzt zur Hand zu gehen.«

»Ihm zur Hand gehen?« Sam Maskell lachte. »Da werden Sie ein schönes Leben haben, so wenig, wie der faule Sack arbeitet!«

»Nimm dich zusammen, Maskell!« Eric warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Kein Grubengeschwätz im Beisein dieser jungen Dame hier! Fahren Sie doch bitte fort, Miss Sheridan.«

»Nun, da mein Arbeitsplatz hier von der Bergarbeiterfürsorge finanziert wird, werde ich in erster Linie natürlich tun, was ich kann, um die Bergleute und ihre Familien zu betreuen«, fuhr Agnes fort. »Dazu gehört unter anderem, dass ich die chronisch kranken Patienten regelmäßig besuche und ihnen jegliche Fürsorge zukommen lassen werde, die sie benötigen. Ich werde Wunden verbinden und auch beim Waschen und Füttern der Patienten helfen. Darüber hinaus werde ich auch als Hebamme tätig sein, Mütter bezüglich der besten Pflege ihrer Kinder beraten …«

»Meine Frau würde Ihnen das nicht danken!«, fiel Reg Willis ihr ins Wort. »Sie lässt sich von niemandem was sagen.«

»Und meine genauso wenig«, stimmte ihm Sam Maskell zu. »Ratschläge fürs Kinderkriegen brauchen sie auch nicht, das haben sie schließlich jahrelang auch allein geschafft.«

»Meine Alte braucht eher einen Rat, wie man keine Kinder kriegt«, warf Tom Chadwick düster ein. »Vielleicht hätten wir dann nicht so viele hungrige Mäuler durchzufüttern.«

Sam klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn du immer noch nicht weißt, woher all diese Kinder kommen, Junge, ist dir auch nicht mehr zu helfen, nicht mal von der Schwester!«

»Es gehört auch zu den Aufgaben einer Gemeindeschwester, Krankheiten nicht nur zu behandeln, sondern ihnen auch vorzubeugen«, erhob Agnes ihre Stimme über das Gelächter. »Und das wiederum bedeutet, die Frauen zu beraten und Gesundheit und Hygiene zu fördern.«

»Ach, du liebe Güte, habt ihr das gehört?« Sam Maskell brach wieder in sein wieherndes Gelächter aus. »Dann werden Sie hier aber alle Hände voll zu tun haben, junge Frau.«

Eric nickte. »Da hat Sam recht. Hier in Bowden haben wir nämlich nicht viel übrig für Veränderungen«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Und daher bin ich mir gar nicht sicher, wie Ihre neumodischen Ideen bei uns ankommen werden.«

Agnes runzelte die Stirn. »Darf ich dann vielleicht fragen, wozu ich eigentlich hier bin?«

»Gute Frage«, murmelte Seth Stanhope am anderen Ende des Tischs.

»Weil das Fürsorgekomitee der Meinung war, es wäre an der Zeit, dass auch wir eine Gemeindeschwester im Dorf haben«, sagte Eric Wardle mit einem ärgerlichen Blick zu Seth. »Ich habe nicht gesagt, dass wir Sie nicht brauchen, Miss Sheridan. Ich denke nur, dass es ein hartes Stück Arbeit für Sie werden wird, die Leute hier für sich zu gewinnen.«

»Ich werde mein Bestes tun, um sie von meiner Denkweise zu überzeugen«, sagte Agnes.

»Ich würde sagen …, da werden Sie was zu tun haben.« Eric Wardle setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Und nun … ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber ich glaube, wir haben genug gehört. Falls also keiner mehr Fragen an Miss Sheridan hat …?« Er warf einen schnellen Blick in die Runde, doch die anderen Männer schüttelten den Kopf. »Gut. Dann werden Sie sich jetzt sicher gern in Ihrer neuen Unterkunft einrichten wollen, Miss Sheridan. Wir haben dafür gesorgt, dass Sie beim Herrn Doktor wohnen, da Sie ja ohnehin mit ihm zusammenarbeiten werden. Dr. Rutherford ist ein verwitweter älterer Herr, und seine Haushälterin, Mrs. Bannister, lebt auch unter seinem Dach, sodass diese Regelung also keineswegs unschicklich ist. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, Miss Sheridan?«

»Aber ja. Ich bin mir sicher, dass ich mich dort wohlfühlen werde«, antwortete Agnes.

»Darauf würde ich nicht wetten. Nicht, solange dieser Drachen von Haushälterin dort das Kommando hat!« Sam Maskell grinste so breit, dass seine Zahnlücken zum Vorschein kamen. »Verderben Sie es sich nicht mit ihr, Miss, kann ich Ihnen nur raten.«

»Na, na, na, Sam. Hör auf, das arme Mädchen zu verunsichern.« Eric lächelte wieder, als er sich Agnes zuwandte. »Der Herr Doktor wohnt ein gutes Stück entfernt von hier, und man kann sich auf dem Weg sehr leicht verlaufen. Einer von uns sollte Sie begleiten und Ihnen den Weg zeigen. Vielleicht wäre Seth …«

Agnes fing Seth’ Blick auf. Es war schwer zu sagen, wer von ihnen beiden entsetzter über den Vorschlag war. »Das ist nicht nötig«, sagte Agnes schnell. »Wenn Sie mir den Weg beschreiben, werde ich das Haus schon finden.«

»Sind Sie sicher, Miss? Wie gesagt, es liegt ein gutes Stück entfernt von hier.«

»Ich habe ja mein Fahrrad.« Agnes ignorierte den bösen Blick, den Seth ihr zuwarf. »Und normalerweise finde ich mich ganz gut zurecht, wenn ich eine Wegbeschreibung habe.«

Eric Wardle erhob sich langsam, und erneut fiel Agnes auf, wie schwer er sich auf seinen Gehstock stützte. Der unnatürlichen Biegung seiner Wirbelsäule nach zu urteilen, schien er unter der Pott’schen Krankheit zu leiden, vermutete sie. Außerdem hielt er sich so steif, dass er mit ziemlicher Sicherheit ein Stützkorsett unter dem Hemd trug.

»Sie können das Haus nicht verfehlen«, sagte er. »Es liegt direkt am Rand des Dorfs. Sie werden auf diesem Weg auch hergekommen sein, nehme ich an. Die Straße von Leeds führt dort entlang.«

»Dort draußen leben all die feinen Leute«, warf Reg Willis ein. »So weit entfernt wie möglich von der Zeche, weil sie den Rauch und den Geruch nicht mögen.«

»Das Haus des Doktors steht am anderen Ende des Dorfs, wie ich schon sagte. Gleich am Fuß der Anhöhe, die dort beginnt«, fuhr Eric fort, »und kurz vor der Einfahrt, die zum Herrenhaus hinaufführt.«

»Zum Herrenhaus?«, wiederholte Agnes.

»Ja, so nennen wir hier das Haus, in dem die Haverstocks leben«, warf Reg Willis ein. »Die Besitzer des Bergwerks«, fügte er hinzu, als Agnes ihn erstaunt anblickte.

»Sie wohnen etwas weiter oben auf dem Hügel, damit sie auf uns alle herabschauen können«, bemerkte Tom Chadwick, und die Männer lachten. Alle bis auf Seth Stanhope, der sich auch dieses Mal kein Lächeln abringen konnte.

Eric Wardle beobachtete durch das Fenster, wie Agnes Sheridan die Straße hinaufradelte, und wandte sich dann den anderen Komiteemitgliedern zu. »Und?«, fragte er. »Was haltet ihr von unserer neuen Gemeindeschwester?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie noch so jung sein würde. Oder so hübsch«, bemerkte Reg Willis mit einem anzüglichen Grinsen. »Da könnte es sich beinahe lohnen, krank zu werden, nur um sie an mein Bett zu kriegen.«

»Sie würde gar nicht erst in deine Nähe kommen«, sagte Sam Maskell. »Deine Olle hätte sie mit dem Nudelholz davongejagt, bevor sie dich in deiner Unterwäsche sehen könnte!«

»Stimmt«, gab Reg düster zu.

»Und ich glaube nicht, dass deine Olle die Einzige sein wird«, meinte Tom Chadwick. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand hier sie mögen wird. Mir kommt sie jedenfalls wie ein etwas überspanntes kleines Fräulein vor.«

»Das wird sich zeigen.« Eric blickte zu Seth Stanhope am Ende des Tischs hinüber. »Was meinst du, Seth? Du hast noch gar nichts dazu gesagt.«

Seth sammelte seine Papiere ein. »Du weißt, wie ich darüber denke.«

»Er mag sie nicht«, warf Reg grinsend ein. »Er hat was gegen sie, das kann ich sehen.«

»Es hat nichts mit ihr zu tun. Ich bin nur der Ansicht, dass das Geld besser für etwas anderes verwendet werden sollte. Besonders jetzt, wo Ärger zu erwarten ist.«

Die anderen Männer schüttelten den Kopf. »Jetzt fängt er schon wieder damit an«, seufzte Tom.

»Man könnte meinen, er sei geradezu auf Ärger aus«, murmelte Reg Willis.

»Denkst du etwa, ich wollte noch einmal einen Streik wie den letzten?«, fuhr Seth ihn an. »Diese Zeche ist vor fünf Jahren fast bankrottgegangen und wir mit ihr! Glaubst du, ich will, dass das noch einmal passiert?«

»Dazu wird’s nicht kommen, Junge«, sagte Sam beschwichtigend. »Uns steht kein Streik bevor.«

»Ach nein? Hast du denn wirklich keine Ahnung, was gespielt wird? Die Regierung hat von den Bergwerksbesitzern verlangt, unsere Schichten zu verlängern und unseren Lohn um dreizehn Prozent zu kürzen. Dreizehn Prozent! Glaubst du etwa, die Kumpel würden sich das gefallen lassen? Ich jedenfalls ganz sicher nicht.« Seth schüttelte den Kopf. »Ich sag euch, es wird Ärger geben, ob wir es wollen oder nicht. Und dafür sollten wir die Gewerkschaftsbeiträge verwenden, statt sie für verdammte Krankenschwestern zu vergeuden!«

Die anderen Männer verstummten. Alle hüteten sich vor Seth Stanhopes aufbrausendem Temperament, das derzeit viel zu oft zutage trat. Aber Eric erkannte auch die Leidenschaft – und Furcht – hinter seinen aufgebrachten Worten.

»Da hast du leider recht, mein Junge«, sagte er. »Aber leider ist dies alles schon beschlossen und das Geld dafür bereits beiseitegelegt worden, weswegen sich also jedes weitere Wort erübrigt. Außerdem können wir es uns ja jederzeit anders überlegen. Darüber war Miss Gale sich vollkommen im Klaren.«

»Ich wäre überrascht, wenn diese Gemeindeschwester nicht von selbst die Flucht ergreifen würde, sobald sie den Ort erst mal richtig kennengelernt hat«, sagte Tom.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Eric und dachte an den Ausdruck furchtloser Entschlossenheit in Agnes Sheridans braunen Augen. »Ich glaube nicht, dass sie jemand ist, der so leicht aufgibt. Sie weiß, was sie will, so viel ist sicher.«

»Aye, möge Gott uns beistehen«, murmelte Seth Stanhope.

Eric lächelte im Stillen. Agnes Sheridan war gerade mal fünf Minuten in Bowden und hatte Seth Stanhope schon so verärgert. Er fragte sich, wie viele Leute sie wohl noch gegen sich aufbringen würde …

KAPITEL DREI

Es war später Nachmittag, als Agnes Dr. Rutherfords Haus erreichte. Wie Mr. Wardle ihr erklärt hatte, befand es sich direkt am Dorfrand. Von der Straße aus war es allerdings nicht zu sehen, da es hinter einer hohen, mit Efeu überwachsenen Mauer lag. Dr. Rutherford ist anscheinend ein Mann, der großen Wert auf Ungestörtheit legt, dachte Agnes, als sie ihr Fahrrad durch das hohe, schmiedeeiserne Tor schob.

Das Haus war groß, weitläufig und sehr hübsch mit seinen Stabwerksfenstern und dem hellgrauen Mauerwerk. Agnes lehnte ihr Fahrrad an die Veranda, klopfte den Staub von ihrem Mantel und rückte ihre Haube zurecht, bevor sie den Klingelzug betätigte. Einen Augenblick später hörte sie drinnen eine Frauenstimme.

»Jinny? Es ist jemand an der Tür, Jinny!« Eine kurze Pause folgte, dann rief die Stimme noch ungeduldiger: »Jinny? Bist du da? Oh, Herrgott noch mal! Wo steckt das Mädchen nur wieder?«

Die Hand noch an der Türglocke wartete Agnes ab und fragte sich gerade, ob sie noch einmal daran ziehen sollte, als sie plötzlich Schritte hörte. Sekunden später öffnete sich die Tür, und eine Frau stand vor ihr.

Agnes’ Blick glitt zu ihrem alles andere als freundlichen Gesicht hinauf. Die Frau war etwa Mitte fünfzig, groß und von sehr aufrechter Gestalt. Nicht einmal ihr sorgfältig gelocktes, hellbraunes Haar trug etwas dazu bei, ihre grobknochigen, maskulinen Züge zu entschärfen.

»Ja?«, fragte sie knapp.

Agnes straffte ihre Schultern. »Ich bin Agnes Sheridan, die neue Gemeindeschwester hier.«

Die Frau zog ihre Mundwinkel noch mehr herunter. »Ach, dann sollten Sie also schon heute ankommen? Davon hat mir keiner etwas gesagt.« Sie stieß einen resignierten Seufzer aus. »Aber da Sie schon einmal hier sind, sollten Sie wohl besser auch hereinkommen.«

Agnes trug ihren Koffer über die Schwelle und betrat eine große, luftige Eingangshalle.

»Sie sind bestimmt Mrs. Bannister«, sagte sie zu der Frau.

Deren eisige Augen verengten sich. »Wer hat Ihnen das gesagt?«

Sie sah so verärgert aus, dass Agnes errötete und sich fragte, ob sie sich vielleicht in der Adresse geirrt hatte. »Mr. Wardle vom Bergarbeiterfürsorgekomitee.«

»Oh, das Bergarbeiterfürsorgekomitee!« Die Frau kniff verächtlich die Lippen zusammen. »Erzählen Sie mir nichts von denen. Sich die Freiheit herauszunehmen, über anderer Leute Häuser zu verfügen und deren Gutmütigkeit auszunutzen …«

Bevor Agnes etwas entgegnen konnte, kam ein erhitzt aussehendes junges Mädchen die Küchentreppe hinaufgerannt und wischte sich die Hände an ihrer übergroßen weißen Schürze ab.

»Haben Sie mich gerufen, Ma’am?«, fragte sie atemlos.

Mrs. Bannister drehte sich stirnrunzelnd zu ihr um. »Jetzt ist es zu spät, du dummes Ding, ich habe die Tür schon selbst geöffnet. Aber in Zukunft wirst du augenblicklich kommen, wenn ich rufe!«

»Ja, Ma’am. Tut mir leid, Ma’am.«

Agnes sah das Hausmädchen mitfühlend an. Sie war noch ein Kind, kaum älter als zwölf oder dreizehn. Ein schmächtiges kleines Ding mit blassen Augen und einem schmalen, müden Gesicht unter einer weißen Leinenhaube. Agnes fragte sich, was Dottie, das Hausmädchen in der Steeple Street, getan hätte, wenn jemand so mit ihr gesprochen hätte. Vermutlich hätte sie ihre Schürze abgenommen und wäre schnurstracks zur Tür hinausmarschiert.

»Ja, ja, schon gut. Trag jetzt Miss Sheridans Gepäck hinauf, wenn ich bitten darf. Danach bringst du uns eine schöne Kanne Tee in den Salon. Und auch ein paar Schnittchen … Sie werden doch sicher etwas essen wollen?«, wandte sie sich an Agnes, und es klang fast wie ein Vorwurf.

»Das wäre sehr schön, wenn es nicht zu viel Mühe macht?«, erwiderte Agnes höflich.

»Zu viel Mühe, sagt sie!« Mrs. Bannister verdrehte die Augen. »Und du steh nicht bloß gaffend hier herum, Jinny!« Sie klatschte in die Hände, und das Mädchen setzte sich auf der Stelle in Bewegung, ergriff Agnes’ Koffer und schleppte ihn zu der elegant geschwungenen Treppe. Der Koffer war schwer, und Agnes ertrug es kaum, mitanzusehen, wie Jinny ihre dünnen Ärmchen anstrengen musste, um ihn hochzuheben.

Mrs. Bannister warf einen Blick durch die Glasscheibe neben der Eingangstür. »Ist das da draußen Ihr Fahrrad? Das werden Sie aber hinter dem Haus abstellen müssen. Es kann auf gar keinen Fall auf der Veranda stehen bleiben! Dr. Rutherford will, dass hier alles seine Ordnung hat und gepflegt aussieht.«

»Tut mir leid. Ich werde es sofort nach hinten bringen.«

»Das ist nicht nötig. Ich werde Jinny sagen, dass sie sich später darum kümmern soll, bevor der Herr Doktor heimkommt.«

»Oh. Ist Dr. Rutherford zu seinen Hausbesuchen unterwegs?«

»An einem Sonntag? Wohl kaum.« Mrs. Bannister sah regelrecht entrüstet aus. »Dr. Rutherford ist heute Nachmittag mit Sir Edward angeln gegangen und wird erst später heimkommen. Aber kommen Sie doch mit ins Wohnzimmer.«

Agnes hätte sich lieber in ihr eigenes Zimmer zurückgezogen, aber Mrs. Bannister wirkte so verstimmt, dass sie sie nicht noch mehr verärgern wollte.

Das Wohnzimmer mit seinem prasselnden Kaminfeuer und den ledernen Chesterfield-Sofas war beinahe zu perfekt, um anheimelnd zu sein. Alles war mustergültig angeordnet, von den indischen Teppichen auf dem glänzenden Parkettboden bis hin zu der stilvollen Vase mit Chrysanthemen auf dem Konsolentisch.

Es erinnerte Agnes an das große, komfortable Haus im dicht belaubten Norden Londons, wo sie aufgewachsen war. Auch ihre Mutter hatte ein so ausgeprägtes Gefühl für Stil und ein Auge fürs Detail gehabt, dass nichts je an der falschen Stelle stehen durfte.

An einem Ende des Zimmers befand sich eine zweiflügelige Glastür, die in den Garten hinausführte. Agnes ging zu ihr hinüber, um einen Blick hinauszuwerfen. Auch der Garten mit seinen gepflegten Rasenflächen, den blühenden Sträuchern und Bäumen und dem Zierteich in der Mitte war perfekt.

»Ihr Garten ist sehr schön«, bemerkte sie.

»Ja, das ist er, nicht? Der Herr Doktor ist auch sehr eigen in Bezug auf seinen Garten.«

»Im Gemeindeschwesternhaus in Leeds hatten wir auch einen großen Garten, der allerdings nicht einmal annähernd so gut gepflegt wie dieser war.« Agnes dachte an das alles überwuchernde Gras in jenem Garten, an die verwilderten Hecken und Rosenbüsche und an die Wespen, die sich an den nicht aufgelesenen Äpfeln und Pflaumen berauschten.

Agnes wandte sich von der Tür ab, als sich urplötzlich ein Kloß in ihrer Kehle bildete.

Dann öffnete sich die Tür, und die kleine Jinny kam mit einem silbernen Teetablett herein, mit dem sie offensichtlich schwer zu kämpfen hatte. Mrs. Bannister begrüßte sie mit einem säuerlichen Blick.

»Ah, da bist du ja endlich, Jinny. Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, muss ich sagen. Also steh nicht herum, sondern stell das Tablett auf den Tisch, bevor du alles fallen lässt.«

Agnes biss sich auf die Lippe und wagte fast nicht hinzusehen, als das Tablett in Jinnys Händen gefährlich schwankte. Wie durch ein Wunder gelang es der Kleinen jedoch, es abzusetzen, ohne irgendetwas zu verschütten.

Mrs. Bannister nahm den Deckel von der Teekanne und spähte hinein. »Wie viele Löffel Teeblätter hast du hineingegeben?«

Jinny senkte den Blick auf den Teppich unter ihren Füßen. »Ich … ich weiß es nicht mehr, Ma’am«, murmelte sie.

»Du weißt es nicht mehr? Himmelherrgott, Mädchen, das war doch nun wirklich eine leichte Frage! Wahrscheinlich hast du mal wieder mit offenen Augen geträumt, nicht wahr? Wie um alles in der Welt willst du je einen vernünftigen Tee aufbrühen, wenn du nicht an diese Dinge denkst?« Sie legte den Deckel wieder auf die Kanne und betrachtete das Tablett. »Und wo ist das Teesieb?«

»Ich …« Jinny schluckte. Das arme Mädchen schien den Tränen nahe zu sein.

»Na, na«, sagte Mrs. Bannister missbilligend. »Nimm das wieder mit«, befahl sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, »und komm zurück, wenn endlich alles seine Ordnung hat.«

»Ich verstehe es nicht«, fügte sie seufzend hinzu, als Jinny das Tablett wieder hinausschleppte. »Dieses Mädchen scheint nicht einmal die einfachsten Aufgaben bewältigen zu können. Man sollte meinen, sie würde allmählich aufmerksamer werden und versuchen, sich zu verbessern, nicht? Aber ich denke mal, wenn man aus einer Familie wie der ihren kommt …« Sie schüttelte den Kopf und setzte eine sehr herablassende Miene auf.

Agnes starrte Mrs. Bannisters hochmütiges Profil an und merkte plötzlich, dass es nicht nur das Haus war, das sie an ihre Mutter erinnerte. Den gleichen verächtlich verzogenen Mund hatte sie auch bei Elizabeth Sheridan gesehen, wenn irgendetwas nicht ganz ihren hohen Maßstäben entsprach. Nichts vermochte sie je zufriedenzustellen.

Auch du nicht, schoss es Agnes durch den Kopf, und der Schmerz überrumpelte sie, bevor sie sich dagegen wappnen konnte.

Schnell zwang sie sich, an etwas anderes zu denken. »Wann kommt Dr. Rutherford nach Hause?«, fragte sie Mrs. Bannister.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, entgegnete die Haushälterin. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass Sir Edward ihn zum Abendessen nach Haverstock Hall einladen wird und die beiden dann bis weit in den Abend hinein Karten spielen werden.«

»Wie schade«, sagte Agnes. »Ich hatte gehofft, er wäre vielleicht hier, um mich kennenzulernen.«

»Nun ja, ich denke, er wird genau wie ich vergessen haben, dass Sie heute kommen.« Mrs. Bannister blickte sie durchdringend an. »Vermutlich haben Sie eine ziemlich hohe Meinung von sich, Miss Sheridan, aber ich kann Ihnen versichern, dass der Herr Doktor und ich noch andere Dinge zu bedenken haben, als uns mit Ihrer Ankunft zu befassen.«

Im selben Moment kam Jinny mit einer frischen Kanne Tee zurück, der Mrs. Bannisters kritischer Prüfung glücklicherweise standhielt. Agnes merkte, dass sie ebenso den Atem anhielt wie die arme Jinny, bis die Haushälterin das Mädchen fortwinkte.

»Sie sind also aus Leeds gekommen?«, fragte Mrs. Bannister, als sie Agnes ihre Tasse reichte. »Sie klingen aber gar nicht wie jemand aus der Gegend hier.«

»Ich bin auch nicht von hier, sondern stamme ursprünglich aus London«, sagte Agnes und vermied es, Mrs. Bannister anzusehen, als sie ihren Tee umrührte.

»Aus London?« Mrs. Bannister horchte auf und stellte ihre Tasse weg. »Dann müssten Sie doch die Hollister-Bennetts kennen?«

»Da muss ich Sie enttäuschen, fürchte ich.«

»Sind Sie sicher? Die Hollister-Bennetts sind nämlich sehr prominente Mitglieder der gehobenen Gesellschaft. Und wie ist es mit den Duvalls? Oder mit Lord und Lady Penhaven?«

Agnes schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mrs. Bannister, aber ich habe noch nie von ihnen gehört.«

»Tja, ich muss schon sagen, dass mich das doch überrascht. Ich dachte, jeder hätte schon einmal von Lord Penhaven gehört.« Mrs. Bannister sah alles andere als begeistert aus, woran Agnes erkannte, dass sie gerade für ebenso unzulänglich befunden worden war wie die arme Jinny.

»Ich dagegen habe sehr viel Zeit in Adelskreisen verbracht, als ich bei der Familie Charteris beschäftigt war«, fuhr Mrs. Bannister fort. »Ihr Familiensitz befand sich im Norden Yorkshires, aber sie führten auch ein Haus in London, damit ihre Töchter an der Ballsaison teilnehmen konnten. Wir haben so viele interessante Leute kennengelernt und solch wundervolle Gesellschaften besucht …« Sie lächelte gerührt bei der Erinnerung. »Und aus welcher Familie stammen Sie, Miss Sheridan?«

Agnes’ Magen verkrampfte sich bei der Frage. »Mein Vater ist Arzt.«

»Was für eine Art von Arzt?«, hakte Mrs. Bannister schnell nach.

»Er hat als praktischer Arzt gearbeitet, aber mittlerweile ist er im Ruhestand.« Dafür hatte der Erste Weltkrieg gesorgt. Charles Sheridan war als völlig anderer Mensch aus Frankreich zurückgekehrt. Er war außerstande gewesen, die in den Schützengräben miterlebten Gräuel zu vergessen, und hatte daher nicht nur seine geliebte Praxis aufgegeben, sondern sich auch von seiner Familie zurückgezogen.

»Und Ihre Mutter? Wahrscheinlich ist sie jemand, der sich sehr für wohltätige Zwecke engagiert?«

»Ich nehme es an.« Agnes’ Herz verkrampfte sich, als sie an Elizabeth Sheridan dachte.

»Sie nehmen es an? Soll das etwa heißen, Sie wissen es gar nicht?«

Agnes starrte in ihre Tasse, weil sie Angst hatte, dass Mrs. Bannister ihre Gefühle erraten könnte, falls sie zuließ, dass die Frau ihr in die Augen sah. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was die Haushälterin sagen würde, wenn sie erführe, dass sie ihre Mutter seit Monaten weder gesehen noch gesprochen hatte.

»Es ist nicht leicht, Kontakt zu ihr zu halten, sie ist immer sehr beschäftigt«, erwiderte sie deshalb nur.

»Hm.« Mrs. Bannister schwieg für einen Moment und fragte dann: »Haben Sie einen jungen Mann?«

Verblüfft über die Frage, sah Agnes sie aus großen Augen an. »Ich verstehe nicht …?«

»Die Frage ist doch wohl einfach genug. Haben Sie einen Freund oder Verlobten, Miss Sheridan?«

Agnes blickte auf ihre linke Hand herab, an der sie einmal Daniels Verlobungsring getragen hatte. Der Abdruck war inzwischen natürlich längst verblasst. »Nein«, antwortete sie.

»Das freut mich zu hören.« Mrs. Bannister schenkte sich noch eine Tasse Tee ein. »Wir haben hier eine gesellschaftliche Stellung zu bewahren, und ich würde Dr. Rutherfords guten Namen nicht gefährden wollen.«

»Gefährden?«

»Ach, Sie wissen schon, was ich meine. Wir sind hier weder in London noch in Leeds, Miss Sheridan. Hier weiß jeder über die Angelegenheiten der anderen Bescheid. Wenn Sie also allerlei Herrenbesuche bekämen, könnte das viel Tratsch erzeugen.«

»Sie werden noch feststellen, dass ich eine sehr seriöse Person bin«, entgegnete Agnes mit schmalen Lippen. Bereits während sie es sagte, konnte sie den abfälligen Blick ihrer Mutter sehen.

Du hast Schande über die Familie gebracht, Agnes.

»Das werden wir dann ja sehen, nicht wahr? Allerdings muss ich zugeben, dass ich immer noch nicht glücklich über diese Unterkunftsregelung bin. Ich weiß nicht, warum Dr. Rutherford seine Zustimmung dazu gegeben hat, ohne mich vorher gefragt zu haben. Denn abgesehen von all der zusätzlichen Arbeit ist es doch wohl nicht gerade schicklich, wenn eine unverheiratete junge Frau unter demselben Dach lebt wie ein Witwer.«

Agnes warf einen Blick auf die Fotografien, die in silbernen Rahmen auf dem Beistelltischchen standen. Auf einigen von ihnen war ein älterer, weißhaariger Mann zu sehen, den sie für den ihr bislang noch unbekannten Doktor hielt. Diese Mrs. Bannister glaubte doch wohl nicht allen Ernstes, sie könnte es auf ihn abgesehen haben?

»Ich bin mir sicher, dass Dr. Rutherford und ich eine grundsolide Arbeitsbeziehung pflegen können«, erwiderte sie und musste sich beherrschen, um nicht laut herauszulachen.

»Dennoch wäre es mir lieber, wenn wir von Anfang an bestimmte Regeln festlegen würden«, meinte Mrs. Bannister.

»Zum Beispiel …?«

Nach fünf Minuten begann Agnes zu bereuen, die Frage gestellt zu haben, weil ihr schon jetzt der Kopf schwirrte von der Liste der Regeln und Verfügungen der Haushälterin. Zu welchen Zeiten sie das Bad in Anspruch nehmen durfte, welche der unteren Zimmer sie benutzen konnte und welche nicht, welche Besucher als angemessen betrachtet wurden und zu welcher Zeit sie vorbeischauen konnten.

Agnes hörte aufmerksam zu, obwohl sie all das kaum aufnehmen konnte. Wieder einmal sehnte sie sich nach der Steeple Street zurück, wo Miss Gale es geschafft hatte, ein Haus voller Gemeindeschwestern mit wenig mehr als gegenseitigem Vertrauen und Vernunft in perfekter Ordnung zu halten.

»Im Übrigen möchte ich, dass Sie in der Küche essen, da Dr. Rutherford es vorzieht, allein zu speisen«, sagte Mrs. Bannister gerade. »Die Mahlzeiten und auch die Reinigung ihres Zimmers sind in Kost und Logis mit inbegriffen, aber falls Sie wollen, dass Jinny sich um Ihre Wäsche kümmert, werden Sie eine private Vereinbarung mit ihr treffen müssen. Halten Sie sich bitte vor Augen, dass wir Dr. Rutherfords Angestellte sind und nicht dazu da, für Sie das Dienstmädchen zu spielen, Miss Sheridan.«

»Das würde ich auch gar nicht erwarten«, antwortete Agnes, während sie ein Gähnen unterdrücken musste. Sie konnte es wirklich kaum noch erwarten, dieser Frau zu entkommen und sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen.

Plötzlich erinnerte sie sich an Mr. Maskells Worte. Verderben Sie es sich nicht mit ihr, Miss, das ist alles, was ich dazu sage.

»Es freut mich, dass wir uns verstehen«, sagte Mrs. Bannister. »Noch ein Sandwich, Miss Sheridan?«

Agnes blickte auf den Teller, der ihr unter die Nase gehalten wurde. Sind Sie sicher, dass ich nicht dafür bezahlen muss?, war sie versucht zu fragen. Glücklicherweise bewahrte sie das Läuten der Türklingel davor.

Hoffnungsvoll blickte sie auf. »Vielleicht ist das ja der Doktor?«

»Ich bezweifle sehr, dass er an seiner eigenen Haustür klingeln würde«, erwiderte Mrs. Bannister trocken und biss ein Stückchen von ihrem Schmalzfleisch-Sandwich ab.

Wieder läutete es an der Tür.

»Ich warte gern, falls Sie hinausgehen müssen, um die Tür zu öffnen«, sagte Agnes, aber die Haushälterin schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht meine Aufgabe, wie eine gewöhnliche Dienstmagd die Tür zu öffnen«, entgegnetet sie streng. »Entspannen Sie sich, Miss Sheridan. Sie sind ja nervös wie eine Katze.«

Einen Augenblick später hörten sie Jinnys schlurfende Schritte in der Halle. Mrs. Bannister war gerade dabei, Agnes darüber zu informieren, wann es vertretbar war, außerhalb der Sprechstunden mit dem Herrn Doktor zu reden, doch dann wurde sie von den Stimmen im Eingangsbereich abgelenkt.

Agnes konnte eine schrille, aufgeregte Kinderstimme hören und dann Jinnys, die so klang, als versuchte sie, den Jungen zu beruhigen. Agnes wäre liebend gern hinausgegangen, um selbst nachzusehen, was dort vor sich ging, aber Mrs. Bannisters abschreckender, kalter Blick hielt sie an Ort und Stelle fest.

Schließlich klopfte jemand, und Jinny erschien in der Tür.

»Laurie Toller ist hier, Mrs. Bannister«, berichtete sie mit sorgenvoller Miene. »Sein Vater hat wieder einen seiner Hustenanfälle und kann nicht atmen, sagt er. Er braucht den Herrn Doktor.«

»Tja, der Herr Doktor ist aber nicht hier, richtig?« Mrs. Bannister sah verärgert aus. »Außerdem müsste der Mann doch wissen, dass Dr. Rutherford sonntags keine Hausbesuche macht.«

»Aber der Junge sagt, seinem Dad ginge es sehr schlecht …«

»Vielleicht sollte ich mitgehen und nach ihm sehen?«, schlug Agnes vor und stellte ihren Teller ab.

»Sie werden nichts dergleichen tun!«, fauchte Mrs. Bannister sie an. »Dr. Rutherford würde das ganz und gar nicht gutheißen, da bin ich mir sicher.« Dann wandte sie sich wieder Jinny zu. »Sag dem Kind, dass sein Vater morgen früh in die Praxis kommen soll.«

»Aber …«

»Du hast mich schon verstanden, Mädchen.«

Das junge Dienstmädchen nickte nur und ging wieder. Agnes versuchte mitzubekommen, was draußen gesprochen wurde, doch Mrs. Bannisters begann, sich über Leute zu beklagen, die unangekündigt und außerhalb der Sprechstunden erschienen, was es ihr unmöglich machte, etwas zu verstehen.

Schließlich hielt Agnes es nicht mehr aus. »Sind Sie sicher, dass ich nicht hinfahren und mir diesen Mann einmal ansehen sollte?«

Mrs. Bannister verzog den Mund. »Um Himmels willen, nein! Wenn Sie es für einen tun, werden wir zu allen möglichen Zeiten Leute vor der Tür stehen haben, die eine Behandlung erwarten. Und meist ohne einen Penny in der Tasche zu haben!«

»Wir Queen’s Nurses dürfen einem Patienten in Not nicht die Behandlung verweigern, nur weil die Leute es sich nicht leisten können, uns zu bezahlen«, sagte Agnes.

»Selber schuld.« Mrs. Bannister warf ihr aus schmalen Augen einen abschätzenden Blick zu. »Wahrscheinlich sind Sie eine dieser modernen jungen Frauen voller grandioser Ideen, wie die Welt sein sollte«, sagte sie. »Und falls das so ist, Miss Sheridan, kann ich Ihnen jetzt schon prophezeien, dass Sie hier in diesem Dorf nicht gut zurechtkommen werden. Die Leute hier sind raffiniert und werden Sie ausnutzen.« Sie bot Agnes erneut den Teller an. »Möchten Sie wirklich nicht noch ein Sandwich? Sie haben doch kaum etwas gegessen.«

»Danke, aber ich habe keinen Hunger«, lehnte Agnes ab, obwohl sie in Wahrheit sogar mehr als hungrig war. Aber sie wäre lieber verhungert, als auch nur einen Moment länger in Gesellschaft der Haushälterin zu verbringen. »Ich glaube, ich würde jetzt gerne auf mein Zimmer gehen, falls Sie nichts dagegen haben?«

»Jetzt schon? Es ist doch gerade mal sechs.« Mrs. Bannister blickte stirnrunzelnd zu der Uhr auf dem Kaminsims hinüber. »Aber wenn es das ist, was Sie wollen … Dann werden wir den Rest der Regeln eben morgen früh besprechen müssen«, sagte sie und stellte ihren Teller weg. »Und denken Sie bitte daran, dass es um Punkt acht Frühstück gibt und das Ihre in der Küche serviert werden wird. Die morgendliche Sprechstunde beginnt um neun, und vorher darf der Herr Doktor nicht gestört werden …«

Agnes ließ sie reden und ging zu ihrem Zimmer hinauf. Da sie sich all diese Regeln wahrscheinlich sowieso nicht würde merken können, war es auch kaum nötig, sie sich weiter anzuhören.

Zumindest ihr Zimmer wirkte recht behaglich. Agnes ließ sich Zeit mit dem Auspacken ihres Koffers. Der größte Teil seines Inhalts bestand aus medizinischen Geräten und Bedarfsmaterial, sodass ohnehin kaum noch Platz für ihre wenigen persönlichen Dinge blieb.

Wie ihre alte Zimmerkameradin Polly sie um all die leeren Schränke in ihrem neuen Zimmer beneiden würde, ging es Agnes durch den Kopf, als sie ihre Kleider aufhängte. Aber selbst wenn sie so endlos viel Platz wie hier hätte, würde Polly ihre Sachen wahrscheinlich dennoch überall im Zimmer herumliegen lassen …

Agnes hielt inne und wappnete sich gegen die schmerzliche Erinnerung. Obwohl sie erst vor ein paar Stunden die Steeple Street verlassen hatte, vermisste sie sie schon jetzt ganz schrecklich. Das Gemeindeschwesternhaus war während ihrer sechsmonatigen Ausbildungszeit zu ihrem Zuhause geworden. Sie sehnte sich nach der gleichbleibenden Routine des täglichen Lebens dort zurück, nach den gemeinsamen Mahlzeiten an dem großen Esstisch mit den anderen Schwestern, die dort Geschichten von ihren Krankenvisiten erzählten. Egal, wie schlecht Agnes’ Tag verlaufen war, dort hatte sie immer Mitgefühl gefunden, einen Rat oder jemanden, der sie zum Lachen brachte und sie ihre Sorgen vergessen machte. Die anderen Schwestern waren zu ihrer Familie geworden – Phil, Polly, die alte Miss Hook mit ihren schrecklichen Gedichten und sogar Miss Goode, die ihren Namen völlig zu Unrecht trug, da sie eine der boshaftesten Klatschbasen war, der Agnes je begegnet war.

Und dann war da natürlich noch Bess Bradshaw, die stellvertretende Leiterin der Gemeindepflege. Sie und Agnes hatten den denkbar schlechtesten Start gehabt, aber im Laufe der Monate hatte Agnes Mrs. Bradshaws Klugheit und Freundlichkeit schätzen gelernt.

In der Steeple Street war es Agnes gelungen, ihr zerstörtes Leben wieder aufzubauen, nachdem ihre Familie sie verstoßen hatte. Sie hatte Freundschaften geschlossen und Hoffnung gefunden auf eine Zukunft, von der sie nicht geglaubt hatte, dass sie sie einmal haben würde.

KAPITEL VIER

Das nachdrückliche Läuten einer schrillen Glocke ließ Agnes aus dem Schlaf hochfahren.

Im ersten Moment glaubte sie zu träumen. Um zehn Uhr am Abend zuvor, als sie gerade ihr Buch weggelegt hatte, um zu schlafen, war die Werkssirene zu hören gewesen, die die Bergleute zur Nachtschicht rief. Was sie jetzt hörte, klang allerdings ganz anders, fast wie ein eindringlicher Hilferuf, sodass Agnes aus dem Bett sprang, bevor sie wusste, was geschah.

Schnell lief sie zum Fenster und schaute hinaus. Dr. Rutherfords Haus lag zwar auf der anderen Seite des Dorfs, aber sie konnte trotzdem einen Strom von auf und ab tanzenden Lichtern sehen, der sich die Straße hinauf auf das Bergwerk zu bewegte.

Agnes zog ihren Morgenmantel über und eilte hinunter, wo sie Mrs. Bannister dabei antraf, wie sie gerade die Haustür schloss. Obwohl es weit nach Mitternacht war, war die Haushälterin noch vollständig bekleidet und tipptopp frisiert, als ob sie noch nicht im Bett gewesen wäre.

Sie drehte sich zu Agnes um und zog die Augenbrauen hoch. »Aber Miss Sheridan, wieso um Himmels willen sind Sie um diese Zeit noch auf den Beinen?«, fragte sie.

»Der Lärm hat mich geweckt. Was ist da draußen los?«

»Was Sie hören, ist die Alarmglocke. Sie wird geläutet, wenn es unter Tage zu einem Unfall gekommen ist.« Sie musterte Agnes von oben bis unten und presste missbilligend die Lippen zusammen. »Aber darf ich Sie daran erinnern, Miss Sheridan, dass ich bei meinen Regeln auch erwähnte, dass Sie nicht in Ihrer Nachtkleidung im Haus herumspazieren sollen? Und wenn Dr. Rutherford Sie nun so sehen würde?«

»Dr. Rutherford hat mit Sicherheit schon einmal eine Frau in einem Nachthemd gesehen!«, gab Agnes ärgerlich zurück. »Wo ist er übrigens gerade?«

»Was für eine Frage! Er ist natürlich zur Zeche hinuntergefahren. Ich habe ihn gerade erst hinausbegleitet. Und er hat sicherlich schon viele Frauen in Nachthemden gesehen, aber nicht unter diesem Dach. Miss Sheridan? Hören Sie mir überhaupt zu?« Ihre Stimme verfolgte Agnes noch, als sie schon wieder zu ihrem Zimmer hinauflief.

Auch oben verlor sie keine Zeit, zog schnell ihr blaues Kleid und ihre Schürze an und zwängte ihre Füße in ihre robusten schwarzen Schuhe. Kurz darauf eilte sie wieder hinunter, in der einen Hand ihren zweiteiligen Schwesternkoffer, während sie mit der anderen ihre kastanienbraunen Locken unter ihr Schwesternhäubchen schob.

Steif vor Entrüstung stand Mrs. Bannister noch immer in der Halle. Agnes eilte schnell an ihr vorbei zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen.

»Wo haben Sie mein Fahrrad hingebracht?«, fragte sie sie über ihre Schulter.

»In den Schuppen hinter dem Haus. Warum? Wo wollen Sie denn hin?«

»Zur Zeche natürlich. Dr. Rutherford kann vielleicht meine Hilfe brauchen.«

»Das bezweifle ich doch sehr«, antwortete die Haushälterin höhnisch lächelnd. »Was könnten Sie schon tun?«

»Woher soll ich das wissen, solange ich nicht dort bin?« Agnes ging auf die Haustür zu, aber Mrs. Bannister baute sich vor ihr auf und verstellte ihr den Weg.

»Sie werden dort nur stören«, sagte sie. »Wenn Dr. Rutherford Ihre Hilfe gewollt hätte, dann hätte er Sie mitgenommen.«

Agnes wich ihr aus und trat schnell in die kalte, windige Nacht hinaus. Sie brauchte eine Weile, um den Schuppen in der Dunkelheit zu finden, und noch länger, um ihr Fahrrad unter einem Haufen Gartengeräte hervorzuholen, unter denen Mrs. Bannister es begraben hatte. Agnes’ Hände waren verkratzt und schmutzig, als sie es endlich unter einer Schubkarre hervorgezogen hatte.

Niemand musste ihr den Weg erklären, sie brauchte nur den Menschen zu folgen, die vor ihr die Straße hinunterströmten. In der Ferne sah sie schon die markanten Umrisse des Förderturms der Zeche, der sich im Licht von Dutzenden Laternen auf unheimliche Weise vor dem dunklen Himmel abzeichnete.

Eine kleine Menschenmenge hatte sich schon vor den Zechentoren versammelt, als sie eintraf. Die meisten von ihnen waren Frauen mit Kindern und Babys in den Armen, die alle dick eingepackt waren gegen den schneidend kalten Märzwind. Einige Frauen sprachen leise miteinander, während andere schwiegen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse auf dem Zechengelände konzentrierten. Im Schein der Laternen waren ihre verkniffenen und ängstlichen Gesichter zu erkennen, und die ganze Zeit über läutete die Glocke und erfüllte die Luft mit ihrem misstönenden, unheilvollen Klang.

Agnes bahnte sich mit der Schulter einen Weg durch die Menge und ging auf den stämmigen Mann zu, der die Tore bewachte. Als er sich umdrehte, erkannte sie, dass der Mann Sam Maskell war.

Er runzelte die Stirn, als er sie sah. »Schwester Sheridan! Was machen Sie denn hier?«

»Ich bin hergekommen, um zu sehen, ob ich helfen kann. Was ist passiert?«, fragte sie.

Mit ausdrucksloser Miene blickte er sich nach den Männern um, die auf dem Hof umherrannten. »Es hat einen Unfall gegeben. Die Leute vom Rettungsdienst sind gerade eben hinuntergefahren. Sie vermuten eine Explosion durch Grubengase.«

»Grubengase?«

»Methangas, das sich unter Tage aufgestaut hatte. Da genügt ein einziger Funken, und alles fliegt in die Luft.«

»Ist jemand verletzt?«

»Das wissen wir noch nicht. Es fehlen noch immer ein paar Männer, aber der Doktor ist jetzt auch dort unten.«

»Kann ich irgendetwas tun?«

»Nicht, bevor sie die Männer heraufgebracht haben. Aber das könnte noch eine Weile dauern.«

»Sollte ich nicht besser auch hinunterfahren?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Grube ist kein Platz für Sie, Schwester.«

»Aber vielleicht könnte ich ja helfen?«

»Nein«, entgegnete er freundlich. »Wenn Sie helfen wollen, gehen Sie wieder zurück und kümmern Sie sich um die Frauen. Bald wird es schlechte Nachrichten für einige von ihnen geben«, schloss er grimmig.

Agnes blickte an ihm vorbei. Hinter den Toren konnte sie Männer hin und her eilen sehen, deren Laternen wie im Dunkeln herumtanzende Lichter aussahen. Agnes war sich kaum je so hilflos vorgekommen.

»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mich brauchen«, sagte sie, aber ihre Stimme verlor sich fast in dem scheppernden Geläut der Glocke.

»Aye«, sagte Sam, der sich jedoch schon von ihr abgewandt hatte.

Agnes kehrte zu den Frauen zurück. Es waren noch mehr geworden, sie drängten sich Schulter an Schulter mit den anderen vor den Toren. Babys weinten, aber das Geräusch vermischte sich mit dem Klang der Glocke.

Plötzlich entdeckte Agnes ein bekanntes Gesicht in der Menge. Dr. Rutherfords Dienstmädchen Jinny stand mit einer älteren Frau am Zaun, die ein Baby in den Armen hielt und drei weitere Kleinkinder dabeihatte, die sich an ihren Mantel klammerten. Sie schien sie jedoch kaum zu bemerken, als sie mit besorgtem Blick den Hof hinter den Toren absuchte.

Agnes drängte sich durch die Menge und rief das junge Mädchen.

Jinny fuhr zu ihr herum. »Miss Sheridan? Was machen Sie denn hier?«

»Ich wollte sehen, ob ich helfen kann.« Agnes nickte zu der anderen Frau hinüber. Aus der Nähe konnte sie sehen, dass Jinny und sie verwandt sein mussten, da sie die gleichen schmalen, farblosen Gesichter und blassen Augen hatten. Und selbst unter dem dicken Mantel der Frau und ihren wollenen Umschlagtüchern konnte Agnes sehen, dass die Frau genauso dünn war wie das Mädchen. »Ist das deine Mutter?«

»Ja, Miss. Mein Vater und zwei meiner Brüder sind da unten.«

Agnes schaute sie genauer an. Jinnys Gesicht war ebenso ausdruckslos wie das ihrer Mutter. »Ich bin mir sicher, dass alles gutgehen wird«, sagte Agnes tröstend.

»Ja, Miss.«

Agnes blickte zu den Toren hinüber. »Ich habe schon versucht, dort hinunterzufahren, aber das haben sie nicht zugelassen.«

»In die Grube runter? Ich glaube nicht, dass sie das wollen, Miss.« Jinny schwieg für einen Moment und sagte dann: »Sie können aber gerne mitkommen und sich zu uns stellen, wenn Sie möchten.«

Agnes folgte ihr zu der Stelle, wo ihre Mutter stand. Das Baby in ihren Armen schrie, aber sie schien es nicht zu bemerken. Jinny nahm ihr das Kind ab und wiegte es sanft. »Ma, das hier ist Miss Sheridan, die neue Gemeindeschwester, die bei Dr. Rutherford wohnt«, sagte sie.

Einige der anderen Frauen musterten Agnes interessiert und begannen miteinander zu flüstern, doch Jinnys Mutter nahm ihre Anwesenheit gar nicht wahr. Sie blickte immer noch auf den Hof hinter den Toren.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte sie. »Sie sind schon zu lange da unten. Es muss was Schlimmes sein.«

»Hören Sie nicht auf Ma«, flüsterte Jinny Agnes zu. »Sie ist immer so, wenn es zu einem Unfall unter Tage kommt. Mein Onkel ist vor knapp drei Jahren dort unten ums Leben gekommen, und das hat sie nie vergessen.«

»Und dann haben sie ihn hinten auf einem Karren, eingewickelt in ein altes Stück Sackleinen, auf dem ›Eigentum des Bergwerks Bowden Main‹ stand, zu seiner Frau zurückgeschickt«, mischte sich nun Jinnys Mutter ein, ohne Agnes anzusehen.

Das Baby begann wieder zu weinen, und als Jinny versuchte, sein Gewicht an ihrer Schulter zu verlagern, verrutschte das wollene Tuch, in das es eingehüllt war, und Agnes konnte einen kleinen Kopf in einem gestrickten Mützchen sehen.

»Ja, wen haben wir denn da?«, begann sie, doch urplötzlich schien Jinnys Mutter wieder zu sich zu kommen, riss ihrer Tochter das Baby aus den Armen und wickelte es schnell wieder in seinen warmen Schal.

»Deck ihn zu!«, fauchte sie. »Oder willst du, dass er sich erkältet?«

Ganz in der Nähe begann ein weiteres Kind zu weinen.

»M-mir ist kalt, Ma«, jammerte der Kleine und zog am Ärmel seiner Mutter.

»Ja, aber daran kann ich jetzt nichts ändern«, erwiderte die Frau schnell und legte einen Arm um das fröstelnde Kind, um es näher an sich heranzuziehen. »Es wird jetzt nicht mehr lange dauern«, sagte sie mit einem Blick zu den Toren.

»Hier.« Agnes zog ihren Mantel aus und legte ihn dem kleinen Jungen um die Schultern.

»Nein …« Seine Mutter begann zu protestieren, aber Agnes schüttelte den Kopf.

»Bitte«, sagte sie. »Da ich schon mal hier bin, kann ich mich auch ein bisschen nützlich machen.«

Die Frau nickte ihr schnell, aber ohne den Anflug eines Lächelns zu. »Besten Dank auch«, murmelte sie.

Plötzlich entstand eine hektische Betriebsamkeit hinter den Toren, und sämtliche Frauen drängten sich nach vorn, verrenkten sich die Hälse und schubsten einander, um besser sehen zu können, was geschah.

»Sie bringen sie hinauf!«, rief jemand.

Über Jinnys Schulter hinweg sah Agnes, dass Personen aus dem Hauptgebäude kamen, deren Silhouetten sich gegen das Licht abzeichneten, das aus dem offenen Eingang fiel. Einen Augenblick später öffnete sich laut scheppernd eine metallene Doppeltür, und zwei Männer mit einer Tragbahre traten heraus. Agnes konnte die Anspannung der Frauen um sich herum spüren, die alle angestrengt versuchten, mehr zu erkennen.

Dann setzte eine Flut von Geflüster ein.

»Wer ist es?«

»Kann ich nicht sehen.«

»Ist er tot?«

»Es sieht so aus. Jedenfalls haben sie ihn zugedeckt.«

Dann waren noch mehr Männer zu sehen, ein weiterer auf einer Tragbahre, andere auf ihren eigenen Beinen, wobei sie sich schwer auf ihre Begleiter stützten. Mit zum Nachthimmel gerichteten Gesichtern taumelten sie aus den Aufzugtoren und sogen tief die kalte, frische Luft ein. Ihre Gesichter konnte Agnes nicht erkennen, aber jede Linie ihrer Körper schrie förmlich ihre Erleichterung darüber heraus, dass sie noch lebten.