Die Oleanderschwestern - Cristina Caboni - E-Book

Die Oleanderschwestern E-Book

Cristina Caboni

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Beschreibung

Zwei Schwestern, ein Blumengarten in der Toskana und ein Sommer, der alles verändert ...

Wenn Iris inmitten ihrer Blumen ist, ist sie glücklich. Doch als eines Tages eine Frau vor ihr steht, die ihr bis aufs Haar gleicht, gerät ihre Welt ins Wanken. Wer ist sie und was hat das zu bedeuten? Wie Iris liebt es Viola, sich mit Blumen und ihren Düften zu umgeben. Die beiden sind Zwillinge und wussten bislang nichts von der Existenz der jeweils anderen. Um mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren, reisen die Frauen in die Toskana, wo sich der Landsitz der Donatis inmitten eines prachtvollen Blumengartens befindet. Die Schwestern werden bereits von ihrer Großmutter erwartet – und nur sie kann den beiden helfen, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen …

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Seitenzahl: 453

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Buch

Wenn Iris inmitten ihrer Blumen ist, ist sie glücklich. Doch als eines Tages eine Frau vor ihr steht, die ihr bis aufs Haar gleicht, gerät ihre Welt ins Wanken. Wer ist sie und was hat das zu bedeuten? Wie Iris liebt es Viola, sich mit Blumen und deren Düften zu umgeben. Die beiden sind Zwillinge und wussten bislang nichts von der Existenz der jeweils anderen. Um mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren, reisen die Frauen in die Toskana, wo sich der Landsitz der Donatis inmitten eines prachtvollen Blumengartens befindet. Die Schwestern werden bereits von ihrer Großmutter erwartet – und nur sie kann den beiden helfen, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen …

Autorin

Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien, wo sie Bienen und Rosen züchtet. Ihr Debütroman Die Rosenfrauen verzauberte die Leser weltweit und stand in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman Die Honigtöchter, der auf ihrer Heimatinsel spielt, war ebenfalls ein großer Erfolg. In ihrem dritten Roman Die Oleanderschwestern entführt Cristina Caboni ihre Leserinnen in die Welt der Blumen und Gärten.

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Cristina Caboni

Roman

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Il giardino dei fiori segreti« bei Garzanti Libri, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Cristina Caboni

License agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

JvN · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21380-0V003

www.blanvalet.de

Mein Leben ist ein Garten, und ich liebe jede einzelne Blume darin. Für euch, meine Teuersten, habe ich dieses Buch geschrieben.

Ein blühender, duftender Garten in der Morgendämmerung. Dort möchte ich meinen Tag beginnen.

Walt Whitman

Prolog

»Der Garten ist ein Ort des Innehaltens, der Einkehr und der Reflexion, vor allem aber ist der Garten ein Refugium, um Ruhe und Gelassenheit zu finden.«

Die tiefe Stimme erhebt sich über die Bäume, der Wind nimmt sie auf und trägt sie weit mit sich fort. Hinter einem Rosenstrauch versteckt, beobachtet Bianca ihren Vater. Die anderen hängen gebannt an seinen Lippen. Sie kommen fast jeden Tag, um seine Vorträge zu hören.

Bianca schlägt die Augen nieder und schaut auf das Gras, ein Gedanke legt sich um ihr Herz, sie ballt die Fäuste und hebt den Blick wieder. Sie muss ihrem Vater etwas sagen, etwas Wichtiges.

Er hat noch nicht verstanden, dass der Garten spricht und Geschichten erzählt.

Dieser Gedanke, das Bewusstsein, etwas Bedeutsames entdeckt zu haben, erfüllt sie mit Freude. Endlich wird der Vater ihr ein Lächeln schenken, wird der Mutter berichten, wie klug sie ist, und voller Stolz verkünden, dass sie eine echte Donati sei.

»Psst, still! Du weißt doch, dass wir ihn nicht stören dürfen.«

Aber Bianca hört nicht auf ihre Schwester. Ihre Augen glänzen. Natürlich weiß sie, dass sie ihm mit Respekt gegenübertreten muss. Sie weiß auch, dass sie warten müsste. Doch sie ist zu ungeduldig, ein unaufhaltsamer Drang lässt sie auf Lorenzo Donati zulaufen, ihn am Ärmel ziehen.

»Die Blütenblätter der Rose machen Geräusche, wenn sie zu Boden fallen, genau wie das Gras, wenn es wächst, und die Margeriten, wenn sie erblühen. Der Garten spricht, weißt du? Die ganze Zeit, ich habe es selbst gehört.«

Sie sagt es laut und deutlich, ohne ein einziges Mal zu stottern. Schaut ihn dabei an, aber dann schweift ihr Blick ab und wandert in die Ferne.

Bianca träumt sich zu einem Regal, in dem Bücher aufgereiht sind. Ihr Herz schlägt schneller, schon meint sie das raue Papier unter ihren Fingern zu spüren, meint die Bilder zu sehen und den Duft der getrockneten Pflanzen in sich aufzusaugen.

Ihre Sehnsucht wird übermächtig.

Die Bücher sind voller Blumen, jede Seite birgt eine Geschichte. Außerdem hat sie eine Schachtel mit Farbstiften und kleine Samenpäckchen für die Aussaat dort erspäht: Das Regal ist das Ziel ihrer Wünsche.

Plötzlich wird ihr bewusst, wie viel Zeit verstrichen ist. Das Lob ist ausgeblieben. Sie dreht sich langsam um und sieht dem Vater in die Augen, entdeckt dort kein Lächeln und schon gar keinen Stolz.

»Der Garten spricht mit mir, er erzählt mir viele Geschichten.«

Sie gibt nicht auf, wenngleich dieses Mal ihre Stimme nur ein Flüstern ist und sie zwischen den einzelnen Wörtern stockt.

Der Vater schweigt, sein strenger Blick ist Antwort genug.

Er greift nach ihrer Hand, sie gehen ein Stück, plötzlich bleibt Lorenzo stehen. Als er sie am Kinn packt, weiß Bianca, dass es kein Buch und auch keine Farbstifte geben wird.

»Du weißt doch, dass du mich nicht unterbrechen darfst.«

»Aber es stimmt, der Garten spricht.«

»Wir reden später darüber. Geh jetzt nach Hause und warte dort.«

Biancas Herz schlägt ihr bis zum Hals, ihre Augen brennen. Die Worte ihres Vaters klingen so hart, als würden Steine auf die Zwergmispelhecke neben ihr niederprasseln, deren rote Beeren in der Sonne glänzen. Sie denkt an die duftenden weißen Blüten des Ligusters am Wiesenrand, dort wo Lorenzo Donati unterrichtet. Dann fällt ihr Blick auf das schlossartige Haus, wandert über das Tal und verliert sich im Nirgendwo.

Sie kennt diesen Ort wie keinen anderen, das ist ihre Welt, hier wurde sie vor zehn Jahren geboren.

Und das ist ihr Garten.

Inzwischen sind die Worte des Vaters nicht mehr als ein Windhauch, der sich einfach verflüchtigt hat, der keinen Duft, kein Geräusch hinterlässt. Dennoch verfolgen die Worte sie – sie versucht ihnen zu entfliehen, aber sie spürt seine Enttäuschung. Zum Glück hat der Garten wieder zu sprechen begonnen. Das von ihren Schuhen niedergetrampelte Gras richtet sich auf, das Gebüsch erzittert unter ihren ungeduldigen Schritten. Und dann ist es still.

»Ich habe dich gewarnt, warum hörst du nie auf mich?« Die Schwester greift nach ihrer Hand.

Doch Bianca reißt sich los und stürmt davon.

Die Blumen lassen ihre Blütenblätter zu Boden regnen im Gleichklang mit ihren Tränen. Sie rennt im Takt dieser Musik, ihre Finger streifen die Azaleen, die Hortensien und die Kamelien.

Plötzlich öffnet sich der Wald vor ihr. Da ist er, der Rosenbusch, nach dem sie gesucht hat, ihr Zufluchtsort. Noch einen kurzen Augenblick, dann empfängt sie die tausendjährige Rose, als wollte sie Bianca mit ihren ausladenden, knotigen Ästen umarmen.

Sie schließt die Augen und legt die Stirn auf die raue Rinde, ihr Atem beruhigt sich langsam. Als sie die Augen wieder öffnet, dringt die Sonne durch das dichte Laub. Sie hebt den Blick und sieht den roten Blütenblättern nach, die durch die Luft schweben und sich schließlich auf das smaragdgrüne Moosbett zu ihren Füßen legen, ihr letzter Gruß. Und während sie die Hand ausstreckt, um nach diesen kleinen Schätzen zu greifen, berührt sie die Dornen. Sie sollte sich vor ihnen fürchten.

Ihr Vater hat sie immer wieder gewarnt: »Du musst aufpassen, an den Dornen kannst du dich verletzen!«

Aber die Rose ist ihre Freundin, sie würde ihr nie wehtun. Sie hat es ihrem Vater erklärt, doch wie immer beachtete er sie nicht.

»Hör mir zu, hör mir zu, ich bitte dich«, hat sie innerlich gefleht.

Da war er längst weg – lediglich die Erinnerung an seine ungeduldigen Blicke und sein enttäuschtes Seufzen, an seine unausgesprochenen Vorwürfe und seine missbilligend auf den Holztisch trommelnden Finger blieben zurück.

»Ich werde niemals sein, wie er es sich wünscht. Ich schaffe es einfach nicht«, flüstert sie der Rose zu, die im Wind erzittert.

Dieses Mal fallen die Blütenblätter zunächst auf sie, bevor sie zu Boden schweben, als wollten sie sie streicheln. Ihre Rose liebt sie.

Bianca weiß das, und zum ersten Mal zeichnet sich ein schüchternes Lächeln auf ihrem Gesicht ab.

1

Für den Garten braucht man Geduld, Aufmerksamkeit, Fürsorge und Ausdauer. Der Winter dient der Instandsetzung der Gartengeräte und Werkzeuge und der Vorbereitung für die neue Saison. Die sich regenerierende Erde empfängt und hütet das Geheimnis der Wiedergeburt im Frühling.

Was hatten diese jungen Leute hier zu suchen? In diesem Teil Amsterdams war nachts sonst nie jemand unterwegs.

Iris Donati hauchte ihren warmen Atem auf ihre klammen Finger. »Warum verschwindet ihr nicht?«

Ihr Flüstern wurde von einer schneidend kalten Windböe verschluckt, die ihr fast die Luft nahm. Einen Moment lang dachte sie darüber nach aufzugeben. Sie musste ein andermal wiederkommen. Doch dann fiel ihr Blick auf eine Reihe von Fenstern im zweiten Stock eines Wohnhauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite und verharrte dort.

Nein, beschloss sie. Sie wurde erwartet. Nachdenklich blickte sie zum Himmel, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße widmete.

Die jungen Leute hatten Spaß und machten einen Heidenlärm. Das Gerüst an der Fassade eines Wohnhauses klapperte, das Licht der Straßenlaternen glänzte auf der Wasseroberfläche des Kanals. Er stank furchtbar, und Iris rümpfte die Nase. Das sanfte Plätschern und das Rauschen des Windes hingegen gefielen ihr.

Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schaute erneut zu den lachenden jungen Leuten. Sie mochten in ihrem Alter sein, Studenten vielleicht oder Touristen. Das spielte keine Rolle. Was ihr auffiel, war ihre Unbekümmertheit. Sie konnte ihren Blick einfach nicht abwenden, aber als ihre Neugier sich in schmerzliche Sehnsucht verwandelte, drehte sie rasch den Kopf zur Seite.

Das Tuten eines Schiffes in der Ferne ließ sie zusammenzucken. »Ich verliere nur Zeit«, murmelte sie.

Schließlich hatte sie etwas Wichtiges zu tun, und zwar bevor die Sonne aufging. Als die jungen Leute endlich hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, seufzte sie erleichtert auf. Vorsichtig sah sie sich um, suchte nach einem dunklen Winkel, zog sich die Kapuze über den Kopf und verschwand in der Finsternis.

Was sie in dieser Nacht des zunehmenden Mondes vorhatte, war verboten. Wenn man sie erwischte, gäbe es richtig Ärger, da machte sie sich keine Illusionen. Und doch suchte sie immer neue Plätze, um einen ihrer kleinen Gärten anzulegen.

Die Welt brauchte Blumen.

Das war ihre feste Überzeugung.

Behutsam nahm sie den Rucksack ab, lockerte ihre verkrampften Muskeln und strich die Haare zurück. Ganz vorsichtig holte sie die mit Jute umhüllten Pflanzen aus ihrem feuchten Versteck. Dieses Mal hatte sie sich für Portland- und Bourbonrosen, Primeln, Alpenveilchen sowie Tulpen und Hyazinthen entschieden. Dazu ein kleines Stück Rasen, samtweich und smaragdgrün wie Moos. Zuerst würde sie die Rosen einpflanzen, dann die Primeln, die Veilchen und schließlich die Blumenzwiebeln.

In ihrer Hosentasche steckte die Mail von Anne Linth, der Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte. Sie hatte sie an die Gartenzeitschrift Onze Tuin geschickt, bei der Iris arbeitete. Für sie legte sie in dieser Nacht den Garten an. Lediglich ihr alter Freund Jonas war in das Projekt eingeweiht, aber der würde nichts verraten. Er lebte in einer anderen Welt. Außer ihm hätte keiner verstanden, warum sie im Dunkel der Nacht einen Garten für eine Unbekannte anlegte.

Ehrlich gesagt, so richtig verstand sie es selbst nicht.

Es würde ein ganz besonderer Garten werden. Das Gelb der Primeln galt als Symbol der Wiedergeburt, das Blau der Hyazinthen stand für Mut und Kraft, das Rosa der Tulpen für Hoffnung. Und die Portlandrosen umhüllten das Ganze mit ihrem Duft. Es war ein Geschenk, ein Angebot – der Versuch, einem anderen Menschen zu helfen. Es ging nicht nur um die Erfüllung ihres Wunschtraums, im Einklang mit der Natur zu leben, zu sehen, wie aus Samen Leben erwuchs, wie Pflanzen blühten und gediehen. Es ging um mehr.

Und diese Erkenntnis machte ihr ein bisschen Angst.

Iris wischte sich den Schweiß von der Stirn und arbeitete so lange weiter, bis dieser Gedanke verschwunden war. Jetzt war sie allein in ihrer Welt, inmitten von Pflanzen und Blumen, die Pflanzkelle in der Hand, und ihr Herz schlug im Gleichklang mit dem Wind.

Die Erde unter ihren Fingern war hart, ihr intensiver Geruch mischte sich mit der modrigen Ausdünstung des Kanals. Sie brauchte etwa eine halbe Stunde, dann war das Beet fertig. Nach einem letzten Blick auf ihr Werk schaute sie in den Himmel und atmete die kühle Nachtluft ein.

Als sie wieder auf ihr Rad stieg, drehte sie sich noch einmal um, packte dann den Lenker fester und radelte davon. Sie war glücklich und so voller Euphorie, dass sie aufpassen musste, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. So war es immer, wenn sie einen ihrer Gärten angelegt hatte – es war etwas geschafft, das ihrem Leben einen Sinn gab.

Sie wohnte in einer kleinen Erdgeschosswohnung in einem Mehrfamilienhaus in Begijnhof, einem der ältesten und faszinierendsten Viertel Amsterdams. Alte Häuser, dazwischen eine Wiese, umrahmt von majestätischen Kastanien, im Zentrum eine Kirche, an der sie jeden Tag vorbeikam, wenn sie zur Arbeit ging.

Egal, wo sie bisher gelebt hatte, stets war sie sich wie eine Fremde vorgekommen. Erst hier begann dieses Gefühl sich mehr und mehr zu verlieren. Dennoch konnte sie sich nur schwer daran gewöhnen, in einer Großstadt zu leben. Warum, das wusste sie selbst nicht so genau. Es war nicht die Einsamkeit, sie war ja immer von Blumen und Pflanzen umgeben. Es war eher ein Gefühl der Leere, als ob irgendetwas fehlte. Ihr erschien es wie ein leichter Schmerz, ein Hauch von Melancholie, der sie umhüllte. Meist war es rasch vorüber, doch es gab auch Tage tiefer Trauer.

Es waren diese Momente, in denen sie aufbrach, um einen neuen Garten anzulegen. Mit einem Rucksack voller Pflanzen über der Schulter suchte sie dann nach einem geeigneten Platz für ein neues Projekt.

Begijnhof war wie ein Dorf inmitten der Großstadt, hier kannte jeder jeden. Aber was sie wirklich überzeugt hatte, die horrende Miete in dieser Gegend zu zahlen, war das wohlige Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Die Wohnung war klein, hatte dafür einen Zugang zu einem hellen Innenhof, einem idealen Standort für ihre Pflanzen.

Jede Pflanze hatte eine Geschichte, egal, ob sie sie aus einer Mülltonne gerettet oder geschenkt bekommen hatte, weil der Vorbesitzer sie nicht mehr wollte. Einige hatte sie in erbärmlichem Zustand mitten in der Stadt gefunden an Stellen, wo sie nicht gedeihen konnten, sie dann umgepflanzt und liebevoll hochgepäppelt.

Sie stellte das Rad ab und ging ins Haus. Als sie die Kapuze vom Kopf streifte, fiel das weiche Licht der Straßenlaterne auf ihr fein modelliertes Gesicht mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen, umrahmt von langen kastanienbraunen Haaren. Dominiert wurde es jedoch vom intensiven Blick ihrer nachdenklichen Augen.

Noch Stunden später, als sie in ihrem warmen Bett lag, fixierte Iris einen imaginären Punkt in der Ferne, irgendwo jenseits des großen Fensters, das nach außen auf den Hof ging. Das Beet war schön geworden mit den sorgfältig zusammengestellten Farben, die ebenso ausgewogen waren, wie es die Düfte sein würden, sobald die Blumen erblüht wären. Sie hätte glücklich und zufrieden sein müssen wie meistens, wenn sie ein Projekt verwirklicht hatte. Aber heute war es anders, sie war von Unruhe und Sorge erfüllt.

Diesmal ging es nicht allein um sie. Sie hatte zum ersten Mal die Wünsche eines anderen Menschen in ihre Planung einbezogen, andere Vorstellungen zum Zusammenspiel von Formen, Farben und Düften bei der Gestaltung umgesetzt.

Das veränderte alles. Von diesem Augenblick an hatte sich ihre Beziehung zu ihrer Umwelt und der Welt insgesamt verändert. Bereits jetzt spürte sie das ganze Gewicht ihrer Geste.

Sie seufzte und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Es war noch früh am Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, doch die Nacht schien nicht weichen zu wollen, noch immer schien der bleiche Mond ins Fenster.

Die Bäume waren aus Silber, die Blumen aus Gold. Samen für die Vorübergehenden, Wasser für die Erde, hieß es in einem Lied.

Sie kannte alle Strophen, und alle begannen mit einer besonderen Blume. Wie in ihrem Leben. Auch da fing alles mit einer Blume an.

Ihr Vater hatte immer davon erzählt. Iris gefiel die Vorstellung, dass ihre Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, eine Blume gewesen war. Sie legte einen Arm über die Augen und dachte nach. Ihre Mutter war ganz früh aus ihrem Leben verschwunden, danach gab es nur sie und ihren Vater. An ihre Mutter besaß sie keine Erinnerungen mehr. So viele Menschen hatten sich damals um sie gekümmert, dass ihr Bild dahinter verblasst war. Sie konnte sich kaum noch an alle Namen erinnern: Mariana, Lidia, Dolores und Antonia waren die wichtigsten gewesen. Mit ihnen hatte sie am meisten Zeit verbracht …, aber das Lied verband sie mit Claudia. Dem Namen ihrer Mutter.

2

Amaryllis (Hippeastrum)Schon der Name verspricht Eleganz. Aus der riesigen Zwiebel entwickelt sich eine üppige Pflanze mit großen, fleischigen Blüten in kräftigen Farben. Sie ist leicht zu pflegen, liebt das Licht und weichen Boden, braucht wenig, jedoch regelmäßig Wasser. Und ihre Blütenblätter lieben es, gestreichelt zu werden. Pflanzt man sie im Winter, blüht sie im zeitigen Frühling. Aber Vorsicht: Wie andere besonders schöne Blumen ist auch die Amaryllis giftig.

Iris stellte ihr Fahrrad ab, kettete es an und schaute auf die Uhr. Sie hatte eine halbe Stunde. Das Pentium war gerade um die Ecke; ein Kaffee und einer der leckeren Krapfen, für die das Café berühmt war, wären ein guter Start in den Tag.

Sie könnte natürlich auch über den Blumenmarkt am Singel-Kanal schlendern, wenn die Zeit noch reichte. Sie liebte diesen Ort, viele Jahre war sie mit ihrem Vater dorthin gegangen, besondere Momente in ihrem Leben, auf die sie nicht verzichten wollte.

Als sie sich in die Menschenmenge einreihte, lächelte sie. Sie liebte den Blumenmarkt: die Blütenpracht, die Düfte, die glückseligen Seufzer der Besucher. Versonnen ließ sie den Blick über das Blumenmeer schweifen, über die Blätter, die Knospen und die Blüten. Das Schwappen des Wassers unter dem Kiel der Schiffe, die Motorengeräusche und das unablässige Gemurmel der Menschen, all das war ihr wohlvertraut.

Wie oft hatte ihr Vater sie hierher mitgenommen?

Die Menschen drängten sich vor den prall gefüllten Blumenkörben. Tulpen in allen Farben und Formen, zart duftende Fresien. Als sie an ihrem Lieblingsstand ankam, blieb sie stehen. In den Regalen an der Wand lagerten die Samentütchen in Reih und Glied, die bunten Bilder darauf verrieten, was aus dem Inhalt einmal werden sollte. Verlockende Versprechungen, die ihre Fantasie beflügelten.

»Hallo, Iris, kann ich dir weiterhelfen?«

Instinktiv schüttelte sie den Kopf. »Danke, Mark, ich schau mich nur um.«

Mark steckte die Hände in die Hosentaschen und lächelte sie an. Sein intensiver Blick war ihr unangenehm, deshalb fragte sie: »Wie geht’s deinem Onkel?«

»Sie haben ihn gestern aus dem Krankenhaus entlassen. Ich hoffe, er kann bald wieder arbeiten.«

»Sehr schön, grüß ihn von mir.«

»Und Signor Francesco? Ich hab ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Er ist immer noch in Äthiopien.« Lächelnd dachte Iris daran, dass er bald zurückkommen würde – sie vermisste ihren Vater sehr.

»Aha.« Mark räusperte sich: »Hast du heute Abend schon was vor?«

Und jetzt? Iris starrte zu Boden.

»Ich weiß, ich hab dir versprochen, nicht mehr zu fragen, aber ich verstehe es einfach nicht. Du hast dich plötzlich nicht mehr gemeldet. Hab ich was Falsches gesagt?«

Iris wusste nicht recht, was sie antworten sollte. »Nein, es hat nichts mit dir zu tun.«

Marks Lächeln war angespannt. »Womit sonst? Ich bin gern mit dir zusammen.«

Allerdings hatte er beim letzten Mal mehr gewollt, und das wussten beide. Zwar war es bloß ein spontaner Kuss gewesen, doch Iris sah sich mit einer neuen Situation konfrontiert. War das noch Freundschaft? Oder steckte mehr dahinter?

»Lass uns einfach ein bisschen warten.«

Sie mochte Mark, er war der Einzige, mit dem sie über Samen, Blumen und Pflanzen sprechen konnte, ohne sich lächerlich vorzukommen. Aber sie war bereits öfter verliebt gewesen, und jedes Mal endete es in einem Meer von Tränen.

Das lag zum einen daran, dass sie ständig umgezogen waren. Ihr Vater war Botaniker, bildete Rosenzüchter fort und hielt sich selten länger als ein Jahr an einem Ort auf. Und ständig in der Welt unterwegs zu sein, trug nicht gerade dazu bei, langfristige Freundschaften zu pflegen. Darüber hinaus lag es auch an ihr selbst, das wusste sie. Sie war anders als die anderen. Wer verbrachte seine Zeit schon damit, mit Blumen zu reden? Wer verließ mitten in der Nacht mit einem Rucksack voller Pflanzen das Haus, um sie heimlich irgendwo einzugraben, wo sie ihrer Meinung nach hingehörten? Sie hatte versucht sich anzupassen, doch eine Stimme in ihr trieb sie immer wieder zu den Pflanzen zurück.

Mark schüttelte den Kopf. »Sag nicht, dass ich dein einziger Freund bin und so, denn das glaube ich dir nicht. Tun wir so, als wäre das für mich in Ordnung, für den Moment zumindest, okay? Und jetzt schenk mir ein Lächeln. Ich will nicht, dass du traurig oder wütend auf mich bist.«

Sie musste lächeln, aber ihre Zweifel blieben. Vielleicht würde es mit Mark anders laufen? Die Frage war bloß: Wollte sie es darauf ankommen lassen?

»Ich hab was für dich, warte kurz.« Mark drehte sich um, schob einige Kunden beiseite und beugte sich über eine Kiste.

An seinem Stand war einiges los. Manche Kunden hatten bereits eingekauft und drückten ihre Schätze an die Brust, andere waren noch unschlüssig und suchten: Rosen, Päonien und Gladiolen.

»Hier.« Mark hatte sich beeilt und reichte ihr ein Päckchen. »Überraschung.«

Iris lächelte. »Ganz ohne Tipp? Nicht mal die Farbe?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie brauchen Sonne und Wärme. Und wenn sie blühen, dann denkst du an mich, versprochen?«

Sie nickte und griff nach dem Geldbeutel, doch er wich zurück. »Nein, bitte nicht, das ist ein Geschenk.«

»Das kann ich nicht annehmen«, erwiderte sie nach einer Weile.

»Warum nicht, die wollte keiner haben, ich schwöre es.«

Bevor sie antworten konnte, blinzelte er ihr zu und wandte sich an eine Kundin.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Iris warf ihm einen letzten zweifelnden Blick zu, dann machte sie das Päckchen auf und schaute hinein. Das war ja glatt gelogen. Von wegen zweite Wahl, die Zwiebeln waren weder verschrumpelt noch beschädigt wie sonst, wenn Mark etwas verschenkte. Sie befanden sich sogar in einem hervorragenden Zustand, und aus ihnen würden prachtvolle Blumen sprießen. Eigentlich dürfte sie das Geschenk nicht annehmen, dachte sie, aber sie entschied sich anders und verstaute das Päckchen vorsichtig in ihrer Tasche. Sie hatte schon eine Idee, was sie mit diesen Prachtexemplaren machen würde.

Sie verließ den Markt und machte sich auf den Weg in die Stadt. An die Häuser im Zentrum von Amsterdam hatte sie sich noch immer nicht gewöhnt. Einerseits war sie von den stattlichen, himmelwärts strebenden Gebäuden mit den langen, schmalen Fenstern, den vorkragenden Gesimsen, den Dachschindeln aus Schiefer und den kräftigen Fassadenfarben fasziniert, zugleich aber erinnerten sie Iris an niedliche bonbonfarbene Puppenhäuser, in denen man nicht wohnen konnte. Der Sitz von Onze Tuin, der Zeitschrift, für die sie arbeitete, befand sich zum Beispiel in einem rosa gestrichenen Haus mit hell abgesetzten Vorsprüngen und Schornsteinen mit schneeweißen Hauben.

Man hatte den Eindruck, dass in diesem Teil der Stadt die Zeit stehen geblieben war. Iris dachte oft an all die Menschen, die hier gewohnt und gelebt hatten. Wer waren sie, was hatten sie in ihrem Leben gemacht, was war von ihnen geblieben? Hoch konzentriert beobachtete sie die einzelnen Häuser in der Hoffnung, Spuren früherer Zeiten zu finden. Selbst kleinste Details waren ihr wichtig, wie zum Beispiel die Farbstruktur der Fassaden, die Verzierung der Stützbalken über den Eingangsportalen oder der Flaschenzug, der früher dazu gedient hatte, schwere Gegenstände und Güter in die oberen Stockwerke zu hieven.

Die Vergangenheit faszinierte sie. Das Nomadenleben mit ihrem Vater hatte in Verbindung mit den ständig wechselnden Kindermädchen dafür gesorgt, dass Geschichte ihr besonders wichtig war, denn eine eigene Vergangenheit, einen Ort, wo sie verwurzelt war, hatte sie nicht.

Sie blickte in den grauen Himmel und betrat das Redaktionsgebäude von Onze Tuin. Der leichte Regen hatte ihre Haare durchnässt, eine Strähne klebte ihr an der Stirn. Nervös strich sie sie zur Seite, stieg die Treppe hinauf und blieb einen Moment vor der gläsernen Schiebetür stehen. Sie atmete tief durch und öffnete sie.

Die Redaktion lag im zweiten Stock. Zweiundvierzig Quadratmeter, Ahornparkett, holzvertäfelte Wände, einander gegenüberstehende Schreibtische. Auf jedem ein Computer, dazu überall Fotos, Gartenzeitschriften, Post-its, sogar Zimmerpflanzen. Letzteres war ihr Beitrag zur Einrichtung, sie hatte sie neben die Fenster gestellt, damit sie so viel Licht wie möglich bekamen, und sie dankten es ihr, indem sie fleißig blühten.

»Mijnheer Jansen hat dir etwas auf den Schreibtisch gelegt, es soll um vier fertig sein. Beeil dich.«

»Erst mal einen schönen guten Morgen, Egle.«

Iris schaute ihrer Kollegin nach, die mit hoch erhobenem Haupt wieder zu ihrem Schreibtisch stolzierte. Alles an ihr wirkte steif, selbst die Haare, die sie zu einem Knoten gedreht hatte. Was aß sie wohl zum Frühstück? Steine?

Sie nickte den anderen Kollegen zu, die die Szene reglos verfolgt hatten, zwang sich zu einem Lächeln und zog dann den Regenmantel aus. Insgeheim bewunderte sie die Kollegen, die Egle einfach ignorierten – sie konnte das nicht.

Als ihr Blick auf die rote Amaryllis im blauen Übertopf fiel, hob sich ihre Laune. Sie hatte ihr sogar einen Namen gegeben: Lucio. Aus den trompetenförmigen Blüten leuchteten goldgelbe Staubfäden, ein wunderbarer Anblick. Noch mehr aber liebte Iris den exotischen und gleichzeitig frischen Duft, den die Blüten verströmten. Sie stellte die Tasche ab und griff nach dem Zettel, den ihr Dolf Jansen, ihr Chef, auf den Schreibtisch gelegt hatte.

»Wie hältst du das nur aus?« Fast transparent wirkende, hellwache Augen unter einem roten Haarschopf strahlten sie an: Lena.

Iris zuckte mit den Schultern. »Es gibt schlimmere Typen.«

»Echt?«

»Echt.« Vergeblich hoffte sie, dass ihre Kollegin jetzt Ruhe gab. Weit gefehlt, denn Lena hatte etwas in petto, das sie unbedingt loswerden wollte. Iris erkannte es an ihrem Blick, an der Art, wie sie sich auf die Lippen biss und ungeduldig auf den Fußballen wippte. Warum mussten gewisse Leute immer ihre Nase in die Angelegenheiten anderer stecken? Weil sie meinten, alles besser zu wissen?

»Wer zum Beispiel? Nenn mir einen.« Lena sah sie herausfordernd an.

Iris hasste es, unter Druck gesetzt zu werden, sie hasste es, wenn man ihre Grenzen nicht respektierte. Und vor allem hasste sie Auseinandersetzungen. Ihr Unbehagen wuchs, und aus ihrer Nervosität wurde Ärger. Verzweifelt suchte sie nach einer Antwort, um Lena loszuwerden, und als ihr keine einfiel, drehte sie den Spieß um und reagierte nicht. Den anderen einfach zu ignorieren, führte oft zum Erfolg. Nichts war Menschen schließlich wichtiger, als beachtet zu werden Wenn man nicht auf sie einging, suchten sie sich jemand anderen.

Doch Lena ließ nicht locker. »Gar nicht so einfach, was? Du bist die Einzige, die Egle erträgt und mit Jonas spricht.«

»Warum auch nicht?« Iris bereute die Antwort bereits, als ihr die Worte über die Lippen kamen. Aber Jonas war ihr Freund und der netteste Mensch, den sie kannte.

»Iris, dieser Typ wirkt wie ein Landstreicher. Er wohnt auf einem Lastkahn, der so alt ist wie Methusalem, und er stinkt nach Katzen.«

»Was soll er deiner Meinung nach denn mit seinen Katzen machen? Aussetzen? Verhungern lassen?«

Iris konnte diesen mitleidigen Blick nicht mehr ertragen, ihre Geduld war zu Ende. Sie biss sich auf die Lippen, um nichts Unüberlegtes zu sagen. Ablenkung war die beste Methode, sagte sie sich und begann ihren Schreibtisch umzuräumen, während Lena wieder an die Arbeit ging.

Bis zur Mittagspause hatte Iris so viele Karamellbonbons in sich hineingestopft, dass sie keinen Hunger mehr hatte. Sie musste damit aufhören, dachte sie. So viel Zucker war ungesund. Doch es war die einzig erfolgreiche Strategie, den bitteren Geschmack, den ihr der alltägliche Frust verursachte, zu vertreiben.

Völlig durchnässt vom strömenden Regen, gegen den selbst ihr Regenmantel keinen Schutz bot, bog sie um die Straßenecke und erreichte einen offenen Platz. Vor ihr lag eine der vielen Brücken über den Singel. Sie ging auf die andere Seite des Kanals zu einem rot gestrichenen Boot. Unter jedem Fenster hingen bunte Blumenkästen mit Hyazinthen, Narzissen, Traubenhyazinthen, Tulpen und Fresien. Die Farbenpracht war überwältigend. Ein harmonisches Zusammenspiel von Blau, Weiß und Creme und aufeinander abgestimmte Rot-, Rosa- und Lilatöne. Manche Blüten erinnerten sie an die winzigen Schmetterlinge, die sie als Kind in Brasilien an einem Fluss gesehen hatte. Sie atmete tief durch, spürte, dass es ihr wieder besser ging. Jonas stand wie immer wartend auf der Brücke.

»Hallo, wie geht’s dir?«

Er winkte kurz und starrte weiter in den Regen.

»Darf ich mich setzen?«

Jonas wandte ihr stirnrunzelnd den Blick zu, als ob er nicht verstanden hätte, dann lächelte er. Er besaß die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte, und obwohl sie von unzähligen Fältchen umgeben waren, wirkten sie hellwach und quicklebendig. Die fast weißen Haare erinnerten an weiche Wolle, auf seinen unzähligen Löckchen glänzten Regentropfen.

»Ich hab uns Tee gemacht.«

Iris ging mit ihm unter Deck und achtete darauf, dass die Katzen, die ihr miauend um die Beine strichen, nicht nach draußen huschten. »Hier, aber verteil nicht alles an deine Lieblinge.«

Jonas nahm die Tüte, packte das Gebäck aus und roch daran. »Ringelblume und Reismehl, großartig.« Seine Stimme klang tief und rau, als ob er sie nicht oft benutzen würde.

Iris lächelte und wärmte sich die Hände am Ofen. An diesem Ort herrschte tiefer Frieden, es war warm und gemütlich, die Katzen schnurrten, man konnte den Fluss riechen. Alles hier war anheimelnd. Nach und nach fiel die Anspannung von ihr ab wie immer, wenn sie Jonas besuchte. Bei ihm fühlte sie sich wohl.

Jonas streichelte einer Katze den Rücken, dann deutete er auf den Tisch. Auf der mit Bienenwachs spiegelblank polierten Platte warteten schon zwei Teetassen und eine Kanne, die er wahrscheinlich vor zehn Jahren, als er hierher gezogen war, vom Vorbesitzer übernommen hatte.

Iris nahm Platz und schaute sich um. Überall waren Bücher aufgestapelt, auf einem Schränkchen standen zwei Teller und zwei Gläser. Jonas hatte sie, ebenso wie die zwei Tassen, irgendwann angeschafft und lud Iris seitdem regelmäßig zum Mittag- oder Abendessen ein. Vor allem dann, wenn ihr Vater unterwegs war. Sie wusste, dass er Jonas gebeten hatte, ein Auge auf sie zu haben. Anfangs war sie irritiert gewesen, sie war schließlich kein Kind mehr, doch nachdem sie bemerkt hatte, dass Jonas nie aufdringlich wurde, ließ sie es zu.

»Was ist los?«

Als Iris seine Worte hörte und seinen Blick auf sich spürte, zuckte sie zusammen. Auch wenn sie Lenas abfällige Worte über ihren Freund beiseitezuschieben versuchte, war etwas hängen geblieben – und das schmerzte. Was war das bloß zwischen ihr und Lena?

»Hast du dich jemals fehl am Platz gefühlt?«

Der alte Mann lächelte. »Nein, ich tue immer das, was ich für richtig halte. Und du?«

Sie dachte nach und schüttelte den Kopf. »Meine Kollegen geben mir ständig Ratschläge, weißt du? Immer wieder. Als erweckte ich den Eindruck, sie zu brauchen.«

Jonas sah sie lange an. »Du hast mir auf meine Frage nicht geantwortet.«

»Ich weiß, dass ich auf andere merkwürdig wirke, als wäre ich von gestern. Ich höre zu, ich bedanke mich, solche Sachen eben …« Und ich spreche mit Pflanzen, fügte sie im Stillen hinzu, das mochte sie nicht offen aussprechen.

Er lachte und reichte ihr einen Teller mit Keksen. »Klar, das ist natürlich schrecklich, all diese Freundlichkeit, da muss man sich ja schämen. Ich frage mich, mit welchen Leuten du zu tun hast, mein Mädchen.«

Iris senkte den Blick und fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind. »Bei dir wirkt das immer alles so einfach.«

»Bei mir?« Jonas hielt inne und räusperte sich. »Was gefällt dir bei Menschen am besten? Überleg dir nur eine Sache, bitte.«

Sollte das ein Ratespiel werden? Wie früher? Iris wollte nicht antworten, aber Jonas machte so wilde Faxen und schnitt Grimassen, dass sie lachen musste.

»Das Lächeln.« Man konnte so viel am Gesicht eines Menschen ablesen, wenn er lächelte. Auch das hatte ihr Jonas beigebracht.

»Richtige Antwort. Und weißt du, warum?«

Sie spürte, dass er es ihr erklären wollte, und schüttelte den Kopf.

»Das Lächeln ist ein Fenster zur Seele. Es zeigt den Menschen, wie er ist, offenbart sein Wesen, seine Humanität. Denk an das schönste Buch, dass du je gelesen, das schönste Bild, das du je gesehen, das schönste Lied, das du je gehört hast: All das ist Ausdruck der Seele.«

Iris lächelte. »Manchmal fragt man sich trotzdem, ob man in der gleichen Welt lebt wie die anderen.«

»Dann erinnere dich daran, wer du bist, an was du glaubst. Es ist nicht so schwer. Das Wichtigste ist, dass du mit dir selbst im Reinen bist. Und vergiss nie, dass die Dinge lediglich dann existieren, wenn du sie an dich heranlässt, mein Mädchen.«

Jonas begleitete Iris bis zur Mole. Während er sie davongehen sah, strich er sich über den Bart. Wie sie sich diese Herzensgüte, Warmherzigkeit und Sanftheit hatte bewahren können nach allem, was sie mit ihrem Vater erleben musste, war ihm ein Rätsel. Er schüttelte den Kopf, kehrte zu seinem Boot zurück und setzte sich auf Deck in seinen Lehnstuhl, zog seinen Regenmantel fester um sich und betrachtete das Wasser im Kanal.

Iris hatte alle Mails an die »Blumenfee«, wie ihre Kolumne hieß, heruntergeladen und bereits einige beantwortet. Zum Glück waren es einfache Fragen gewesen, eine zweite Anne Linth war nicht darunter. Der Gedanke an sie stimmte sie traurig. Sie war ein gehöriges Risiko eingegangen, als sie in der vergangenen Nacht das Beet unter ihrem Fenster bepflanzt hatte, und hoffte, dass sich die Mühe wenigstens gelohnt hatte und Anne darin etwas Trost und Seelenfrieden fand. Der Verlust ihres Mannes hatte die Frau in tiefe Verzweiflung gestürzt. Iris schob den Gedanken beiseite und wandte sich den anderen Mails zu.

»Liebe Blumenfee, ich möchte meine Terrasse bepflanzen, leider liegt sie fast immer im Schatten. Hast du ein paar Tipps für mich?«

Iris las weiter. Lilian Vos war erst vor Kurzem nach Amsterdam gezogen, um hier einen neuen Job anzunehmen. Sie war einerseits glücklich, weil sie mehr verdiente, andererseits verunsichert, weil sie auch mehr Verantwortung übernehmen musste. Sie hatte die Beschaulichkeit eines kleinen Provinzstädtchens hinter sich gelassen, und es fiel ihr schwer, ihren Lebensrhythmus an die Großstadt anzupassen.

Was man einer Unbekannten so alles erzählen konnte!

Es kam Iris vor, als würde sie Lilian vor sich sehen. Und sie wusste schon, wie sie ihr helfen konnte: bei der Balkonbepflanzung ebenso wie bei der Bewältigung ihrer Lebenskrise. Mit einem Lächeln auf den Lippen schrieb sie: Für die Blumen brauchst du ein Gemisch aus fertiger Pflanzenerde, grobem Sand und Bimsstein. Für eine optimistische Sicht der Dinge pflanzt du blaue und rosafarbene Hortensien, dazu Veilchen, für einen klaren Blick weiße Alpenveilchen. Für mehr Gelassenheit Maiglöckchen, für die Aufrichtigkeit Christrosen. Um das Ganze farblich abzurunden rosa-weiße Ice-Cream-Tulpen und Efeu. Die höheren Pflanzen kommen nach hinten, die niedrigen nach vorne.

Dann kam die nächste Mail. Für fast alle Ratsuchenden schien das Gärtnern eine Art Geheimwissenschaft zu sein und das Gelingen Zufall oder Schicksal.

Doch das stimmte so nicht. Zum Gärtnern brauchte man Geduld, gesunden Menschenverstand, Kompetenz und ganz viel Herz und Seele.

Am wichtigsten war es, im Garten oder auf dem Balkon das richtige Klima zu schaffen. Pflanzen, die Wärme mögen, brauchten einen sonnigen Standort, andere Halbschatten. Voraussetzung zwei war der richtige Boden. Er musste locker und wasserdurchlässig sein. Vor der Aussaat sollte man die Samen über Nacht einweichen, danach mit einer dünnen Schicht Erde bedecken, sie bis zum Keimen feucht halten und danach nur dann gießen, wenn es nötig war, was allerdings aufmerksame Beobachtung erforderte. Die meisten Pflanzen gingen ein, weil sie zu oft gegossen wurden.

Iris arbeitete so lange weiter, bis sie sämtliche Post beantwortet hatte, dann reckte und streckte sie sich.

»Können wir uns jetzt unterhalten?«

Sie hatte Dolf Jansen nicht kommen hören. Ein Mann um die vierzig, mit blonden Haaren und einem Hang zu gutem Essen, Oldtimern und auffälligen Krawatten.

»Ja, ich bin fertig, willst du mal lesen?« Sie hielt ihm ein Blatt hin.

Dolf griff danach und überflog den Inhalt. »Sehr gut, gefällt mir.« Er gab ihr das Blatt zurück und lächelte. »Ich möchte dir was zeigen. Chelsea Flower Show. Was meinst du?«

Er legte einen Prospekt mit Artikeln und Fotos vor ihr auf den Schreibtisch, nahm sich dann einen Stuhl und setzte sich neben sie.

Iris griff nach dem Flyer und biss sich auf die Unterlippe. »Die einzige Gartenausstellung, die ich bislang nicht besucht habe.«

»Ich dachte, du warst bereits überall?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war in Deutschland auf der IPM, auf dem Salon du Végétal im französischen Angers, auf dem IFTF hier in Holland, außerdem in Genua, Nantes und Gent. Aber noch nie in London.«

»Hast du Lust zu fahren?«

Iris nickte. Natürlich, eine solche Gelegenheit bot sich nicht oft. »Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?«

»Überrasch mich. Wenn es gut läuft, verlängere ich deinen Vertrag. Wie lange bist du mittlerweile hier? Drei, vier Monate?«

»Sechs.« Sie konnte es selbst kaum glauben. Würde ihr Traum doch in Erfüllung gehen? »Hab ich das richtig verstanden? Ein guter Artikel und dann ein fester Vertrag?«

Dolf runzelte die Stirn. »Soll ich es wiederholen? Du bringst mir den besten Artikel, der je über die Chelsea Flower Show geschrieben wurde, und du hast eine feste Stelle.«

BIANCA

»Pflanzen sind lebendige Wesen. Zu ihrer Familie gehören Bäume, Büsche, Sträucher, Gräser und die Blumen, nicht zu vergessen die Farne, die Kletterpflanzen …«

Sie hält inne, plötzlich kommen ihr Zweifel, all diese Wörter sind so kompliziert. Bianca fährt mit dem Zeigefinger über ihre Notizen, dann schließt sie die Augen und versucht sich zu konzentrieren. Aber die Begriffe, die sie lernen soll, verwandeln sich in ihrem Kopf in Bilder, bunte Blüten, längliche, runde, spitze und herzförmige Blätter. Am liebsten mag sie Blättergirlanden und zarte Zweige, die mit Beeren bedeckt sind.

Ihr Blick wandert durch das große Fenster ihres Zimmers in den Garten und dann zur Tür. Und wenn sie einfach rausgehen würde? Nicht lange natürlich. Sie hat ihrer Mutter versprochen, fleißig zu sein und sich besser zu benehmen. Und das will sie auch. Unbedingt. Doch es hat aufgehört zu regnen, und ihre Beine weigern sich stillzuhalten. Das Kleidchen schwingt hin und her, ihr Bewegungsdrang lässt sich nicht mehr unterdrücken.

»Bist du fertig?«

Auf der Türschwelle steht ihre Schwester. Bianca lacht und geht zu ihr. »Nein, und du?«

»Natürlich! Es war ja bloß eine Seite. Ich gehe raus spielen.«

Bianca reißt überrascht die Augen auf. Wie war das möglich? All die vielen Begriffe? Dann wird ihr wieder bewusst, wie klug ihre Schwester ist, der ganze Stolz ihres Vaters. Alle sagen das.

Wieder allein, setzt sich Bianca im Schneidersitz auf den Boden, das Buch auf dem Schoß. Sie ist traurig, aber schon bald schaut sie wieder aus dem Fenster. Sie bleibt noch ein bisschen sitzen, dann steht sie auf.

»Ich komme gleich wieder.«

Die Katze auf dem Bett lüpft ein Augenlid und gähnt, dabei streckt sie die rosafarbene Zunge heraus. Bianca lächelt und geht zur Tür.

Die Treppe wird in ihrer Fantasie zu einem Schachbrett, über das man hopsen muss, dann zum Rücken eines Drachen und zum Flügel eines Schmetterlings. Sie ist jetzt an der Haustür und öffnet sie langsam, dabei legt sie die Hand auf den Mund, um ihre Freude zu unterdrücken. Die Stimme, die sie mahnt, wieder reinzugehen und weiterzulernen, wird immer leiser, und als sie die Stufen hinunter in den Garten läuft, ist sie ganz verschwunden. Sie fühlt sich frei und unbeschwert, die Sonne scheint, die warme Luft kitzelt sie an der Nase. Das Leben ist herrlich. Einen Augenblick später rennt sie los, die Wiese heißt sie willkommen, sie lässt sich fallen.

Da hört sie eine Stimme in der Ferne. Sie weiß sofort, wer das ist. Langsam steht sie auf, und als sie die Flecken auf ihrem Kleid sieht, erlischt ihr Lächeln. Im hellen Sonnenlicht wird man sie sofort erkennen. Sie ist noch in Gedanken, als die Stimme des Vaters lauter wird. Rasch versteckt sie sich hinter einem Busch, ihre Finger streifen die Blätter. Einen Moment lang überlegt sie, welche Form sie haben, wie ihre botanische Definition lautet. Für sie sind es schlicht Blätter, warum braucht man da einen lateinischen Namen?

»Die Blätter sind die Organe der Pflanze, in ihrem Inneren findet die Fotosynthese …«

Der Vater spricht weiter, Bianca lauscht den Erklärungen über die Zellen und die Blattnerven, findet aber keine Bilder dazu, und deshalb haben all die Worte für sie auch keinen Sinn. Mit gerunzelter Stirn betrachtet sie ein kleines grünes Blatt. Für sie ist es einfach nur schön.

Die Lektion geht weiter. Lorenzo Donatis Schüler hängen an seinen Lippen. Nach einer Weile ziehen sie weiter. Alle außer einem Mädchen. Der Vater legt ihm die Hände auf die Schultern.

»Du wirst immer klüger, mein Kind. Ich bin sehr zufrieden. Eines Tages wird dieser Garten dir gehören.«

Bianca schnappt nach Luft. Sie stellt sich vor, an der Stelle ihrer Schwester zu stehen: Das ist leicht, wo sie sich doch so ähnlich sehen. Wie sehr wünscht sie sich, dass dieses Lob ihr gelten würde. In ihrer Vorstellungswelt werden die Worte des Vaters zu Lichtern am Wegesrand.

Es gefällt ihr, wenn er glücklich ist, wenn er lächelt. Ein gut aussehender Mann, seine schwarzen Haare fallen ihm in die Stirn, und seine Augen leuchten wie das Meer. Und wenn er sie anlächelt, wird alles leichter. Aber das schöne Bild verschwindet, sie öffnet die Augen, und die Wirklichkeit ist zurück. Sie muss aus ihrem Versteck heraus, sie muss ihm zeigen, was sie gelernt hat. Auch sie will sein Lächeln, das ihr so lange verwehrt worden ist. Sie weiß nicht, warum. Vorher war alles anders, sie war ein braves Mädchen, und alle lächelten ihr zu.

Doch die Zeiten haben sich geändert.

3

Glyzine (Wisteria sinensis)Die beliebte Kletterpflanze gibt es in vielen Farbnuancen, am bekanntesten ist der Blauregen, der im Frühjahr überreich blauviolett blüht. Die Glyzine verströmt einen durchdringend süßlichen Geruch. Sie kann in normalen Gartenböden gepflanzt werden, verträgt aber keine Staunässe. Sie liebt Sonne, wenigstens für einige Stunden am Tag, und braucht viel Platz. Die Blüten sind essbar und verleihen Speisen und Getränken eine verführerische Note.

Seit ihrer Ankunft in London war Iris ständig unterwegs und suchte vergeblich nach Worten, die die Stadt treffend beschreiben könnten. Eine Symbiose aus Tradition und Moderne, Vergangenheit und Zukunft. Auf der einen Seite die Stahl- und Glaskolosse an der Themse, auf der anderen die hochherrschaftlichen Stadtvillen, die an längst vergangene Zeiten erinnerten.

Das Riesenrad, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte, und das Parlamentsgebäude jenseits der Westminster Bridge gehörten natürlich allen voran zur faszinierenden Kulisse der Metropole, doch Iris beeindruckte am meisten Chelsea, das Nobelviertel, in dem die Flower Show stattfand. Ein städtebauliches Juwel aus viktorianischer Zeit mit seinen blumengesäumten Alleen und den rosenbewachsenen Backsteingebäuden mit großzügigen Erkerfenstern, wo die Zeit stehen geblieben zu sein schien.

Die Chelsea Flower Show findet seit mehr als hundert Jahren in den Gärten des Royal Hospital statt. Lena hatte ihr ein paar Infos zusammengestellt. Sie ist nur auf den ersten Blick eine der üblichen Gartenausstellungen – im Grunde ist sie nämlich weit mehr.

Lena hatte recht, irgendetwas war hier anders: vom Ambiente bis zu den träumerischen Blicken der Besucher. Iris war fasziniert. Ihr Blick fiel auf eine Granitplatte, auf der ein schlichtes Orangenbäumchen so geschickt arrangiert war, dass es mit seinen glänzend grünen Blättern und den weißen Blüten den Eindruck erweckte, das Zentrum der Welt zu sein. Von hier führte der Weg durch orientalisch anmutende Granitbögen zu kleineren Gärten, die von Wasserspeiern und glitzernden Windspielen dominiert wurden.

Als sie an einer riesigen, mit Girlanden geschmückten Teekanne vorbeikam, musste sie lächeln, fühlte sich wie Alice im Wunderland. Rund um die Kanne standen vier bauchige Teetassen, die an Cupcakes erinnerten. Wenn man sich dazu noch die Cremefüllung vorstellte, war die Illusion, die man aus Abertausenden Blüten arrangiert hatte, perfekt.

Es duftete so verlockend, dass sie sich zwingen musste, nicht die Finger auszustrecken und über die Blütenblätter zu streichen. Aber es zog sie weiter, diesen Teil der Ausstellung würde sie sich ein anderes Mal ansehen, entschied sie. Immerhin hatte sie drei Tage Zeit.

»Erst ein guter Bericht, dann ein neuer Vertrag«, murmelte sie.

Sie war aufgeregt und glücklich, am liebsten hätte sie ihren Vater angerufen und ihm alles erzählt. Doch es sollte eine Überraschung werden. Wenn er wieder in Amsterdam war, würde sie ihn zum Abendessen einladen und ihm den Artikel präsentieren. Beim Gedanken an sein verblüfftes Gesicht lächelte sie in stiller Vorfreude.

Dann streifte sie stundenlang durch die Außenanlagen, vorbei an üppigen Blumenbeeten und akkurat in Form geschnittenen Sträuchern, bis sie eine Anlage mit kleinen Wasserfällen entdeckte. Das Rauschen des Wassers mischte sich mit dem Säuseln des Windes und dem Gesang der Vögel. Die Luft war erfüllt von betörenden Gerüchen.

Sie kam zu einer Margeritenpyramide. Als sich die Blumen rhythmisch im Wind bewegten, seufzte sie. Welch ein Kontrast zu dem direkt angrenzenden Ödland, das man naturgetreu gestaltet hatte. Sie schlenderte weiter und kam zu einem Hügelbeet mit Klatschmohn, Glockenblumen, Fingerhut, Pfingstrosen und violetten Schwertlilien, umrahmt von Austinrosen, erkannte die »Queen of Sweden«, einmalig in ihrer Farbenpracht.

Schon wollte sie daran riechen, als ihr eine junge Frau in einer reflektierenden Arbeitsjacke auffiel, die neben dem Beet kniete. In diesem Moment merkte Iris, dass sie versehentlich auf das Beet getreten war und wich einen Schritt zurück. Hoffentlich hatte die Gärtnerin nichts gemerkt … Wohl doch, denn plötzlich stand sie vor ihr.

Iris lächelte verlegen. Okay, sie würde sich für ihre Unachtsamkeit entschuldigen und dann weitergehen. Sie machte zwei Schritte auf die Frau zu und registrierte erst jetzt, dass die andere sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

Iris war wie gelähmt, ihr Herz schlug zum Zerspringen. »Wer bist du?«

Ihr Gegenüber antwortete nicht, sondern erwiderte den Blick. Irisierende Augen, graublau mit mannigfachen Nuancen. Diese Augen sah Iris jeden Tag, wenn sie in den Spiegel blickte. Genau wie diese langen kastanienbraunen Haare. Und das fein modellierte Gesicht mit der kecken Stupsnase. Der Körperbau, die Figur, die Größe, einfach alles! Wenn die Fremde keine Arbeitskleidung getragen hätte, stünde Iris sich gerade selbst gegenüber.

Die Gärtnerin war leichenblass.

»Wer bist du?«, wiederholte Iris, aber plötzlich drängten sich Besucher zwischen die beiden, und sie verloren sich aus den Augen.

Diese Frau sah genauso aus wie sie.

Das Gesicht, die Nase, die Lippen. Iris schaute auf, wo war sie? Wohin war sie verschwunden? Mit wild klopfendem Herzen machte sie sich auf die Suche, bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Lassen Sie mich durch, weg da, lassen Sie mich durch!«, rief sie.

Sie konnte einfach nicht glauben, was sie gerade erlebt hatte. Verwirrt taumelte sie von links nach rechts. Ein Mann vom Sicherheitsdienst packte sie am Arm, um sie zu stützen.

»Brauchen Sie Hilfe, Miss?«

»Ein Frau … eine Frau in einer Arbeitsjacke.«

Er blickte sie fragend an. »Vom Personal?«

»Ja.« Sie merkte gar nicht, dass sie brüllte und dass der Mann die Ausweise kontrollierte, die sie um den Hals trug.

»Folgen Sie mir, Miss Donati, folgen Sie mir.«

4

Weißdorn (Crataegus monogyna)In der Antike spielte dieser Strauch eine wichtige Rolle. Seine intensiv duftenden Blüten bilden üppige Doldenrispen, meistens weiß, seltener rot oder rosa. Die Blätter und die Blüten sind reich an Flavonoiden und werden als Therapeutikum und Antioxidantien eingesetzt. Der Weißdorn liebt fette Böden und viel Wasser und blüht im Frühling. Weißdorntee ist gut gegen Angst und schenkt innere Ruhe.

Die Wände des kleinen Büros waren frisch gestrichen. Iris starrte darauf, ohne etwas wahrzunehmen, während Patrick O’Brien, der Wachmann, telefonierte und sich rückversicherte, dass keine Frau ihres Aussehens aus einem der psychiatrischen Krankenhäuser der Umgebung ausgebrochen war. Kein Wunder, dass er so etwas vermutete, schoss es Iris durch den Kopf. Hektisch fuchtelte er mit dem Telefon herum, tippte etwas in den Computer, und hin und wieder warf er ihr einen Blick zu.

Iris konzentrierte sich auf ihre Hände. Diese Situation war ebenso verwirrend wie rätselhaft. Vielleicht eine Halluzination? Aber selbst wenn das eine beruhigende Vorstellung gewesen wäre und ihr merkwürdiges Verhalten erklärt hätte, glaubte sie nicht wirklich daran.

Der Wachmann lächelte ihr zu. Er war kaum über zwanzig, hatte freundliche Augen und raspelkurze kupferfarbene Haare. »Heute war die Sonne besonders stechend, die Hitze kann einem manchmal merkwürdige Streiche spielen. Nehmen Sie das Ganze nicht so ernst. Oder sie sind auf einen Doppelgänger gestoßen. Wissen Sie, dass jeder Mensch etwa fünf davon hat? Außerdem sind Ihnen als Journalistin bestimmt schon andere seltsame Sachen passiert. Wenn Sie nach Amsterdam zurückfliegen, haben Sie jetzt eine ganz besondere Geschichte zu erzählen.«

»Stimmt«, murmelte Iris, »einfach unglaublich.« Die Erklärung klang plausibel. Trotzdem musste sie das Erlebte erst einmal beiseiteschieben, sich beruhigen, sonst würde alles nur noch schlimmer.

Der junge Mann gab ihr die Tasche und den Ausweis zurück. »Warum gehen Sie nicht ins Hotel? Sie werden sehen, morgen lachen Sie über die Sache.«

Wohl kaum, dachte sie. »Danke, und entschuldigen Sie nochmals. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los war.«

Sie hatte sich für ein B & B entschieden, denn es war günstiger und hatte mehr Atmosphäre als die sterilen Hotelzimmer. Die Unterkunft in einer viktorianischen Villa unweit von Chelsea hatte sich den Charme dieser Epoche bewahrt: Nippesfiguren aus Keramik, tiefe Sessel und schwere Teppiche, Ölgemälde an den Wänden, alles Dinge mit Vergangenheit. In diesem Augenblick allerdings hatte sie keinen Blick dafür, sondern einfach bloß Angst. Sie legte sich ins Bett und starrte an die Decke.

Wer war diese Frau? Warum war sie weggelaufen? Sie konnte sich das nicht erklären. Das beklemmende Gefühl wollte sie einfach nicht loslassen.

Einige Stunden Schlaf und zwei Tassen Tee brachten Iris zwar in die Realität zurück, aber noch immer schlug ihr Herz zu schnell, und noch immer hatte sie das Gefühl, jeden Moment in Tränen ausbrechen zu müssen. Warum? Im Grunde war gar nichts passiert. Sie hatte eine junge Frau gesehen, die ihr ähnlich sah, mehr nicht. Iris ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Beim Abtrocknen fiel ihr ihr Vater ein.

Sie musste mit ihrem Vater sprechen.

Rasch schlang sie ein Handtuch um die feuchten Haare und tippte mit zitternden Händen seine Nummer ein. Inzwischen war sie noch nervöser als zuvor. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ungeduldig zählte sie die Klingeltöne.

»Iris, mein Schatz, wie geht es dir?«

»Papa, du kannst dir nicht vorstellen, was mir passiert ist.«

Er lachte. »Dann erzähl’s mir.«

»Ich hatte eine unglaubliche Begegnung.«

»Soll ich raten?«

»Keine Witze bitte, ich zittere nach wie vor am ganzen Körper.«

»Wie das? Was ist denn passiert, geht’s dir nicht gut?« Francesco Donatis Stimme klang besorgt.

»Ich bin einer jungen Frau begegnet, die mir total ähnlich sah. Ich schwöre, es war, als ob ich in den Spiegel gesehen hätte.«

Ihr Vater reagierte nicht.

»Bist du noch da? Hast du mich verstanden?«

»Ja, habe ich.«

»Eine Frau in meinem Alter, die genauso aussah wie ich, kannst du dir das vorstellen?«

Schweigen, dann die Frage: »Und wo? In Begijnhof?«

»Nein, nein, ich bin nicht zu Hause.«

»Na, so was? Wo bist du denn dann?«

»Ich bin in London.«

Sekunden verstrichen, dann seufzte er. »Was zum Teufel treibst du in England, Iris?«

Warum regte er sich so auf? »Dir ist schon klar, was ich gesagt habe?«

»Ja, trotzdem möchte ich wissen, warum du in London bist.«

Was sollte diese Frage? Und dann der Ton? So hatte Iris ihren Vater selten erlebt und ihr gegenüber eigentlich nie. Sie legte sich die Hand auf die Stirn. Das war nicht der Moment, mit ihrem Vater zu streiten, sie brauchte eine Antwort. »Papa, hör mal … Könnte es eine Verwandte gewesen sein … irgendeine? Vielleicht gibt es außer uns beiden noch jemanden …« Sie schloss die Augen, die Finger umklammerten die Bettdecke.

Das Schweigen, das nun folgte, schien nicht enden zu wollen. Schließlich räusperte sich ihr Vater. »Diese Frau … hat sie mit dir gesprochen?«

»Nein. Wir sind uns auf der Chelsea Flower Show begegnet, ich habe sie praktisch sofort wieder aus den Augen verloren, vielleicht war sie ebenfalls furchtbar erschrocken.«

»Ja …, das kann ich mir vorstellen.« Seine Stimme war jetzt so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Sie … Ging es ihr gut?«

»Ob es ihr gut ging?« Warum interessierte sich ihr Vater für eine Unbekannte?

Tief in ihr regte sich etwas, sammelte sich in ihrem Bauch und wurde dann zu einem Klumpen Angst. »Du kennst sie …«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Und als Francesco nichts sagte, hakte Iris nach einem kurzen Moment des Schweigens nach: »Wer ist diese Frau?«

In der erneuten Stille waren allein ihre Atemgeräusche zu hören.

»Ich nehme das erste Flugzeug. Du fliegst nach Hause zurück und wartest dort auf mich. Wir müssen reden.«

»Leg nicht auf!«, schrie Iris vergeblich und warf zornig das Telefon auf den Boden, begann im Raum hin und her zu wandern, um sich zu beruhigen, um nachzudenken. Am Fenster hielt sie inne. Ihr Vater kannte diese Frau oder dieses Mädchen.

Wer mochte das sein?

Sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Ein Gedanke kam in ihr auf, den sie aber sofort wieder verwarf. Nein, jetzt bloß keine Fantastereien. Es musste eine andere logische Erklärung geben.

Langsam ebbte die Angst ab.

Sie beschloss, sich wieder hinzulegen, noch eine Runde zu schlafen, aber in ihrem Kopf lief wieder und wieder derselbe Film ab, immer mehr Details ihrer Begegnung mit der Unbekannten fielen ihr ein. Sie war ihr nicht nur äußerlich ähnlich, sie war auch ähnlich gekleidet gewesen, wenn man sich die Arbeitsjacke wegdachte.

Iris sprang aus dem Bett und riss die Schranktür auf. In der Tat: Von Farben und Stil her entsprach ihre Kleidung ziemlich genau dem, was ihre Doppelgängerin getragen hatte.

»Wer bist du?«

5

Hibiskus (Hibiscus)Als Garten- und Zimmerpflanze begleitet er uns durchs Leben, seine Blätter scheinen den Geschichten zu lauschen, die man in seiner Nähe erzählt. Die intensiv duftenden, farbenprächtigen Blüten sind ein Sinnbild für Schönheit und Vitalität. Der Hibiskus liebt heiße Sommer, ist anspruchslos, was den Boden angeht, wobei ihm sparsame Düngergaben guttun. Er ist empfindlich gegen Kälte und muss regelmäßig gegossen werden. Er blüht vom Frühling bis zum Herbst. Hibiskusblüten werden auch für Tees und in der Küche verwendet, beispielswiese als besondere Note bei Süßspeisen.

Francesco Donati ließ sich am Amsterdamer Flughafen erschöpft auf die Rückbank des Taxis sinken. Er fühlte sich hundeelend.

Eine strapaziöse Reise lag hinter ihm. In Geländewagen, Armeefahrzeugen oder Lkws von Mineralölfirmen hatte er sich irgendwie nach Nairobi durchgeschlagen, ein Flugzeug nach Kairo genommen und dort eines nach Rom, dabei hatte er kaum ein Auge zugetan, sondern die ganze Zeit über die richtige Antwort auf Iris’ Fragen nachgedacht, nach einem Argument gesucht, damit er seine damalige Entscheidung rechtfertigen konnte. Aber ihm war nichts eingefallen.