Die Orte, an denen meine Träume wohnen - Felwine Sarr - E-Book

Die Orte, an denen meine Träume wohnen E-Book

Felwine Sarr

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Beschreibung

»Ich will dem Leben die leuchtende Seite zurückgeben - ungeachtet des vorherrschenden Zynismus«. Felwine Sarr Felwine Sarr hat in seinen Büchern über Afrikas Zukunft nachgedacht (u.a. in »Afrotopia«) und weltweit für breite Debatten gesorgt. Nun hat er seinen ersten Roman geschrieben. Die Zwillingsbrüder Fodé und Bouhel wachsen im Senegal auf und sind auf der Suche nach ihrem Selbst. Fodé ist Schreiner, er führt ein traditionelles Leben in seiner Heimat und folgt seiner spirituellen Berufung. Bouhel entscheidet sich für die Literatur und die Musik. Er studiert in Frankreich und findet in der Liebe mit Ulga, einer polnische Studentin, seine Erfüllung. Doch ein Unglück versperrt ihren gemeinsamen Weg in die Zukunft. Erst Jahre später finden die Brüder wieder zusammen. Felwine Sarr nimmt uns mit auf ihre Suche, ohne ihre Entscheidungen gegeneinander auszuspielen. »Die Orte, an denen meine Träume wohnen« ist ein philosophischer, poetischer und zutiefst menschlicher Roman. 

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Seitenzahl: 188

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Felwine Sarr

Die Orte, an denen meine Träume wohnen

Roman

 

Aus dem Französischen von Doris Heinemann

 

Über dieses Buch

 

 

»Ich will dem Leben die leuchtende Seite zurückgeben - ungeachtet des vorherrschenden Zynismus.« Felwine Sarr

 

Die Zwillingsbrüder Fodé und Bouhel wachsen im Senegal auf und sind auf der Suche nach ihrem Selbst. Fodé ist Schreiner, er führt ein traditionelles Leben in seiner Heimat und folgt seiner spirituellen Berufung. Bouhel entscheidet sich für die Literatur und die Musik. Er studiert in Frankreich und findet in der Liebe mit Ulga, einer Studentin aus Polen, seine Erfüllung. Doch ein Unglück versperrt ihren gemeinsamen Weg in die Zukunft.

Erst Jahre später finden die Brüder wieder zusammen. Felwine Sarr nimmt uns mit auf ihre Suche, ohne ihre Entscheidungen gegeneinander auszuspielen.

 

Ein philosophischer, poetischer und zutiefst menschlicher Roman. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Felwine Sarr wurde 1972 in Niodior, Senegal, geboren. Seine Bücher »Afrotopia« und »Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter« (zusammen mit Bénédicte Savoy) sorgten für weltweite Debatten. Er ist Schriftsteller, Musiker und Verleger (u.a. des Goncourt-Preisträgers Mohamed Mbougar Sarr) und unterrichtet als Ökonom an der Duke University in Durham (USA).

Zusammen mit Achille Mbembe gründete er die »Ateliers de la Pensée« mit dem Ziel, einen Ort für intellektuelle Debatten in Afrika zu schaffen. Er hat mehrere Bände mit Kurzprosa und Erzählungen veröffentlicht. »Die Orte, an denen meine Träume wohnen« ist sein erster Roman. Felwine Sarr lebt im Senegal und in den USA.

 

Doris Heinemann, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Montpellier, arbeitete als Sprachlehrerin, als Übersetzerin im Generalsekretariat des EG-Ministerrats und übersetzt seit 1997 Literatur aus dem Französischen und Englischen, u.a. von Delphine de Vigan, Christian Gailly, Gabriel Chevallier und Olivier Rolin.

Inhalt

[Widmung]

Der Bogen

Han

Die Zeit der Zyklone

Die Zeit der Thujen

Ngof geht

Ulga

Die vier Orte

Ngasobil

Luz Dum Estrela

Paradiesgarten

Les Magnolias

Jaanif

Let it Go

Wielki tydzień

Das unendliche Land

Die Weichsel

Good bye, Warsaw!

Die Werkstatt

Träume

Der Frieden von Marmyal

Hortus conclusus

Katamague

Karol Wojtyła

An jedem Morgen der Welt

Buré

Andoo-ssa

Rue des Écoles

Waï-Nuk

Apouat

Karols Haus

Die Brigade

Dritte Halbzeit

Scriptorium

Die Zeit der Kirschen

Princess Erika

Jezierzany

Grübeleien

Die Große-Grube

Im Schatten der Kiefern

Picknick im Grünen

Purgatio

Kalter Stein

Polizeigewahrsam

Vladimirs Ruhe

Landing

Adansonia

Mokotów

Lamento

Dilemma

Kalligraphie

Das Meer zieht sich zurück

Kind of Blue

Deshalb leben wir

Hinweise

Für Mabousso Thiam

Der Bogen

Die Orte, an denen meine Träume wohnen, tauchen manchmal aus der Tiefe der Gewässer auf, ich erkenne sie nicht immer. Dieses ganze Land erinnert an jene von Palisaden umschlossene Zeit. Bei meinem ersten Aufenthalt hier habe ich gegenüber dem Hotel gewohnt, in dem ich jetzt abgestiegen bin. Genau gegenüber, als müsste ich dorthin zurückkehren, wo sich der Kreis schließt, und die Katastrophe oder das Durchleiden dieser Katastrophe betrachten. Ich stand in der Mitte meines Lebenswegs und damit vor dem absteigenden Teil des Bogens. Es war eine Zeit, in der sich der Lebensdrang vor allem als Schrei, glühende Lava, Strudel zeigte. Das hinter mir liegende Leben war plötzlich unter einer Lawine begraben worden, und dank diesem Land hatte ich wieder Mut fassen und frei atmen können. Ich war in dieser Landschaft voller Seen und Berge gestrandet, die so weitläufig ist wie der Raum, den Buddha sein ganzes Leben lang durchwanderte, um seine vier edlen Wahrheiten zu lehren. Über das Leiden, über dessen Ursprung, über die Beendigung des Leidens und über den Weg zu seiner Beendigung. Als er unter dem Baum der Erleuchtung erwacht war, fragte er sich, so wird berichtet, was er mit der Weisheit anfangen solle, die er gerade erlangt hatte, mit diesem Licht, das sich wie ein Abgrund vor ihm auftat. Wie sollte er diese von allen Argumentationen und Reflexionen freie, tiefgründige, schwer zu erfassende, überragende und subtile Lehre, die nur die Weisen erkennen konnten, weitergeben? Würde er sie an seinem Herzen bergen oder tauben Ohren anbieten? Er sah, dass er nicht richtig würde formulieren können, was er verstanden hatte – wie sollte er mit Worten eine Weisheit weitergeben, die er außerhalb der Sprache erlangt hatte? Im Kanon des Theravada heißt es, Buddha habe erwogen, nicht zu predigen. Sein Ideal der Hingabe und des Mitgefühls schien angesichts einer so großen Aufgabe ins Wanken zu geraten.

~

Ich war hergekommen, um Bilanz zu ziehen. Vorsicht Baustelle. Ich wollte das Leben ein wenig aufhalten, meine alten Häute abwerfen, mich verlieren. Mich niederlassen und fernab vom Wirbel der gesellschaftlichen Herausforderungen, von Plänen, Wünschen und Ambitionen über mein Leben nachdenken, mit der festen Absicht, dem Spiel danach besser gewachsen zu sein. Aber hauptsächlich und vor allem hatte ich dieses Land der stillen, tiefen Gewässer gewählt, um hier eine Last abzulegen, so groß und abgründig wie der Baikalsee.

~

In der Mitte meines Lebenswegs? In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, doch die Mitte ist dieser unabhängig von unserem Alter immer gegenwärtige Augenblick, dieser Kipppunkt, an dem, schwindelerregend, ein Sturz droht. Und ich war gestürzt.

~

Ich nahm einen Job als Kellner in einer Brasserie an. Damals war es noch möglich, einen Job zu finden, indem man im Hinterhof eines Ladens zehn Minuten mit dem Betreiber redete, dann durfte man vielleicht schon am nächsten Tag probeweise anfangen. Die Arbeitszeiten passten mir sehr gut, außer am Samstag fing ich um 16 Uhr an und hörte um 22 Uhr auf. Die Brasserie war etwa zwanzig Gehminuten von dem kleinen Apartment entfernt, das ich in der Avenue Louis-Casaï Nummer 80 gemietet hatte. Bei dieser Arbeit konnte ich meine Aufmerksamkeit auf die anderen richten, auf deren geringste Wünsche, ich konnte sehen, ohne gesehen zu werden. Mein Kellnerstatus machte mich unsichtbar. Die Miete betrug ein Viertel meines Lohns. Morgens, wenn ich den Kaffee aufgesetzt, das Honigglas auf den Tisch gestellt und die Butter aus dem Kühlschrank geholt hatte, konnte ich nach unten gehen und im Tankstellen-Shop gegenüber mein helles Brot kaufen. An den Samstagnachmittagen flanierte ich durch die Buchhandlungen, ich verlor mich zwischen den endlosen Regalen, sog den Geruch der Bücher ein, streichelte sie mit Blicken, berührte ihre Oberflächen und ließ die ersten Sätze auf mich wirken. Ich beschloss, sämtliche Kontinente zu bereisen. Vorher hatte ich schon einige Male Station gemacht, hatte ein paar Städte hier, einen Weiler dort besichtigt, einen Blick auf einen grollenden Ozean geworfen und war einen verträumten Fluss hinaufgefahren. Ich begann mit Lateinamerika, Kolumbien, mit dem Dorf Macondo, wo sich jene hundert Jahre Einsamkeit ausbreiten, dann kam das andere Dorf, in dem ein junger Mann nach Pedro Páramo suchte, dann die Großstadt Buenos Aires in Begleitung von Jorge Luis, danach Chile mit Nerudas hundert Liebessonetten und schließlich Mexiko, wie es sich im Haus von Herrn Paz findet. Von diesen Breiten ermattet, wandte ich mich an den folgenden Tagen hoch hinauf zu den Nordlichtern und dann weiter südlich ins Land von Stig, den sein unersättliches Trostbedürfnis in den Selbstmord getrieben hat.

~

Dieses Land war neutral, ohne besondere Eigenheiten oder irgendwelches Getue. Eine fast perfekt organisierte Gesellschaft, Höflichkeit wehte durch die Straßen. Selbst die Revolte war sauber, zivilisiert, geordnet. Es gefiel mir hier. Die Atmosphäre schien wie von einem ewigen Burgfrieden erfüllt. Alle Kriegführenden der Welt hatten eingewilligt, ihre Waffen vor den Toren dieser verschont gebliebenen Erde niederzulegen, zum Zeichen, dass irgendwo Frieden möglich ist. Nach langem Umherirren beschloss ich, den einzigen Weg einzuschlagen, der nicht in einer Sackgasse endete, den Weg, den mein innerstes Herz mir empfahl. Ich mochte meine Arbeit, sie erfüllte meinen Tag, nicht jedoch meine Seele. Der Schnitt schien weniger deutlich, das Blut war geronnen, dennoch wollte gleichsam das Gewebe im Innern der Seele nicht vernarben. Ich musste die Wunde weit öffnen, sie dem trockenen, belebenden Wind aussetzen. Es genügte nicht, zu arbeiten und in einem fremden Land zu leben, in dem ich anonym geworden war. Ich musste darangehen, mich wirklich zu heilen. In der Zeitung hatte ich eine Anzeige gesehen, ein Angebot an Laien, sich für eine Weile in ein Kloster zurückzuziehen. Man durfte in einer Zelle wohnen und bekam drei Mahlzeiten täglich. Dabei musste man sich an ein Schweigegebot halten. Es reizte mich. Ich hatte zwar den Wunsch überwunden, die Menschen zu meiden, um Frieden zu finden, aber ich dachte, einige Tage der Stille würden mir helfen, klarer zu sehen. Ich kam an einem sonnigen Nachmittag im Kloster Marmyal an. Am späten Vormittag war ich in den Zug gestiegen und hatte dieses Land der Seen und Berge mit den vielen kleinen Bahnhöfen an der Strecke durchquert. Die Mönche empfingen mich freundlich, führten mich zu meiner Zelle und erinnerten mich an die Regeln für meinen Aufenthalt. Ich war mit mir allein, in meinem Kopf summten die Stimmen des Volkes, das in mir wohnte. Manchmal klang es polyphon, meistens kakophon. Ich streckte mich auf dem schmalen Bett aus und schlief den ganzen Nachmittag. Es heißt, der Schlaf sei eine Reise.

Han

Madeira, Madras, Cesária Évora, eine Morna-Melodie, dann dunstige Salzwiesen an einem Sonntagmorgen um sieben Uhr. Die verschwommenen Farbflächen der Landschaft, Inselchen in der Ferne, Walker und Jogger auf der Umgehungsstraße, barfüßige junge Bettler. Jeder stellt sich dem Leben, wie er kann. Für jeden sind die Ausgangsbedingungen, wie sie eben sind, es ist an ihm, ob er mit der Hilfe des Windes einen ruhigen Garten oder ein stacheliges Gebüsch daraus macht. Ein Lied von Wasis versetzt mich in die Camargue, Dans l’arène el amor, Stiere, Blut, rote Erde und Wagemut. Han, der mit seinem kirschblütengleichen Haiku zur Schönheit dieses Morgens beiträgt, ich habe es zufällig aus einem vom Aussterben bedrohten Gegenstand namens Buch gefischt. In diesem Gedicht treibt eine Seele durch unterschiedliches Wasser. Eines, das lange erquickend war, bevor es eines Tages brackig wurde und keinen Durst mehr löschte; eines klar und ruhig wie aus einem Trinkwasserbrunnen; eines ungestüm, überbordend und atemberaubend mit wilden Sturzbächen; eines duftend und sanft, vermischt mit Ginseng und braunem Zucker.

~

Der Geist versinkt in den Tiefen des Schlafs. Im Traum sitze ich am Steuer eines Wagens. Zweihundertsiebzig Kilometer Straße in Kavalierperspektive. Die innere Welt hallt immer noch vom Lärm des Volkes, das sie bewohnt. Der innere Dialog wird – unzusammenhängend, kapriziös und diachronisch – fortgesetzt. Für das Fahren braucht es eine Mischung aus Aufmerksamkeit, Konzentration, Reaktionsschnelligkeit und Geschmeidigkeit. Die allmähliche Schaffung jenes leeren mentalen Raums, in dem Worte keinen Halt mehr finden. Katzenhafte Behändigkeit, um einem unverhofft auftauchenden Hindernis im letzten Augenblick auszuweichen. Alles kann von einer kleinen Unaufmerksamkeit abhängen: dem Moment, in dem man eine CD wechselt. Wegtreten, vielleicht sogar sterben, während man Let it Go von Wasis Diop hört. Ich denke an Saïda Ragu. An den Duft ihres Kaffees, an ihr schallendes Lachen, an die Eleganz, mit der sie ihre Zigarette hielt. In ihrer rauen Stimme Djibouti, der Jemen und Ägypten. Wasis singt:

Du warst schon fort, ehe der Hahn krähte […],

du stiegst aufs Pferd und machtest keinen Lärm beim Fortreiten.

Du hast dich lange gefragt, wie er es angestellt hat, das Glück einzubestellen.

Würde die Suche die Wege erhellen, dann hätten die Leidtragenden schon etliche Male (zehnmal) einen Halt gefunden.

Soll ich den Lastwagen überholen oder nicht? Kann ich genug sehen? Zu spät, ich bin schon daneben, und das Fahrzeug da vorn nähert sich mir mit hoher Geschwindigkeit. Mein Wagen kommt im vierten Gang nicht recht in Schwung. Entschieden und kraftvoll beschleunige ich, trete das Pedal aber nicht ganz durch, damit er mehr Spiel und Zug bekommt. Mein ganzes Sein ist auf dieses Manöver konzentriert. Das Volk, das mich bewohnt, auch. Knappes Einscheren mit Aufblenden und Hupe, um den rettenden Raum zu schaffen und das Straßenballett umzuchoreographieren. Entlang der Straße dieses Land und seine Realitäten. Obwohl ich jeden Meter dieser Strecke kenne, gibt es immer neue, nie da gewesene Konstellationen – eine ständige Erschaffung von Realität. Immer noch Wasis’ Musik: Judu bék, Galu Nobéél, Tuti Sop. Die Musik war schon vor dem Leben da. Danach wird sie weiterbestehen. Ich wache auf. Die Stille im Raum. Die Musik aus dem Traum, die noch in meinen Ohren klingt.

~

Ich liebte das Leben. Seine ungewisse, unstete Linie. Seine unvermuteten Freuden und seine Härten, die uns zerfurchen. Ich liebte ihren lässigen Gang. Ihre von Zärtlichkeit erfüllten Stimmen. Die mandelförmigen Augen. Dieses ganz besondere Gegenwärtigsein. Diese vertrauten Stimmen. Eine Frau ist ein lichtes Universum voller Geheimnisse. Zunächst eine Haltung. Eine Art, sich in den lockeren Boden einzudrücken. Flüchtige Wohlgerüche, die lange in meiner Erinnerung haften. Die Hüften der großen jungen Frauen aus Nguaye, Ross Béthio und Mbane, wohlgeformte, unfruchtbare Hintern – wohin geht all die Anmut? Ich liebte ihre nicht gehaltenen Versprechen. Ihr Funkeln. Die Ewigkeit einer angehaltenen Zeit, die schließlich dennoch vergeht. Ein Spiel von Schatten und Illusionen.

~

Das Erste, was ich an ihr liebte, war ihr Duft. Sanft und eindringlich. Er hat mich buchstäblich gepackt. Mein Nacken spürte ihn zuerst. Eine Welle lief an meiner Wirbelsäule entlang. Ich kam aus der Vorlesung und ging in die Mensa. Sie überholte mich, rempelte mich sogar in der langen Schlange ein wenig an. Ich konnte sie die Wendeltreppe hinaufgehen und dann in der Biegung verschwinden sehen. Sie hatte so etwas wie einen sensorischen Fingerabdruck bei mir hinterlassen. Auf einer Studentenparty habe ich sie wiedergesehen und sofort erkannt. Dieses Mal sprach ich sie an. Wir redeten, bis es fast schon Morgen wurde. Und entdeckten dabei zu unser beider Staunen, wie sehr sich unsere Interessen entsprachen. Sehr ähnliche Vorlieben in Sachen Musik und Literatur. Das Leben hatte uns auf ziemlich gleichartige Entwicklungswege geschickt. Beamteneltern, die von Stadt zu Stadt und über Land zogen und sich gegen dieses Wanderleben und die Entwurzelung behaupten mussten.

Diese Zeit vor dem Eingeständnis ist beglückend. Die Sprache breitet ganze Schätze an Feinsinnigkeit aus. Sie nutzt die Körper, die Intonation, die Blicke und wohlbedachten Gesten, die Strategien des Ermutigens und des Zurückweichens. Sich geschickt den strategisch günstigsten Platz sichern, damit man mit ihr sprechen kann, bevor sie von anderen ins Gespräch gezogen wird. Einladende Zeichen, Antworten, der zurückfedernde Ball, den man fangen muss, und besonders der Kairos: die Kunst, immer den richtigen Augenblick abzupassen, nicht zu früh und vor allem nie zu spät. Nicht den Moment zu versäumen, in dem man ihre Hand streift und dann ergreift. Diese besondere Zeit; das ganze Universum verschwört sich im Laufe einer stillen, den Atem anhaltenden Nacht.

Unsere Körper kamen sich näher.

Als der Morgen anbrach, wussten wir beide, dass wir den Weg gemeinsam weitergehen würden. Diese innere Gewissheit dämpfte die Eile. Ich versprach ihr, sie in den kommenden Tagen anzurufen, um, wie ich sagte, das Gespräch fortzusetzen. Als einzige Antwort bekam ich ein Lächeln, leuchtender als das Blau des Atlantiks.

Die Zeit der Zyklone

Den ganzen Tag lang war Fodé von einem Gefühl der Einsamkeit erfüllt, und der Grund dafür war ihm klar. Marème war gerade für zwei Wochen nach Botswana geflogen. In den letzten Monaten war sie für ihn da gewesen, wenn er sich einsam fühlte, sie hatte sein Leben und seine Zukunftspläne verschönt. Immer schmieden wir Menschen Pläne, obwohl ihnen die Gegenwart oft entgegensteht; denn so ist es leider: Wir haben ein instinktives Bedürfnis, das gegenwärtige Tun mit einer erträumten Zukunft zu verknüpfen. Marème fehlt ihm. Er stellt sie sich vor auf ihrem langen Flug: müde, schön und gedankenvoll; vielleicht auch glücklich, mit der Unterströmung einer dumpfen Angst vor den Kämpfen, die ihr, das weiß sie, bevorstehen. Denn wer sein Lebensschiff selbst steuern will, wird bei dieser Absonderung von den anderen unweigerlich mit Gegenwind zu kämpfen haben. Am Tag vorher hatte Tonton Pierre angerufen und berichtet, das Meer habe Schwärme von toten Fischen an den Strand von Djilor geworfen. Ein Zeichen, dass ein Jaxanoora aus der großen Ahnenreihe bald Abschied nehmen würde. Fodés Gefühl von Leere vertiefte sich. Eine vorausgefühlte Einsamkeit. Dieser Jaxanoora aus der großen Ahnenreihe war ganz sicher der alte Ngof. Der Hüter des Heiligtums und der Meister der Initiationszeremonien. Tonton Pierre hatte ihn gebeten, alles stehen und liegen zu lassen und sofort loszufahren. Ngof habe ihn rufen lassen. Er war der letzte Bewahrer des Wissens und der älteste Kumax[1] der Dörfer im Loog. Er wusste um die geheimen Kräfte, mit denen man Wellen beruhigen, eine Bienenarmee rufen oder das Eisen einer Blankwaffe erweichen konnte. Fodé hatte diese Geheimnisse in den letzten Jahren mit großer Aufmerksamkeit in sich aufgenommen. Immer kurz vor Beginn der Feldarbeit. Jedes Jahr gab Ngof ein wenig mehr preis. Zehn Jahre lang hatte er Fodés Loyalität und Rechtschaffenheit auf die Probe gestellt – war er der im Lederschlauch aufbewahrten alten Weisheit würdig? Dieses Wissen hatte die große Heimsuchung überstanden, Wüsten und Fluten durchquert. Es hatte damals nur wie ein Scherz geklungen, aber Ngof hatte angekündigt, er werde am Montag nach den ersten Niederschlägen dieser Regenzeit Abschied nehmen; es sei für ihn an der Zeit, hatte er gesagt, dass er zu den Ahnen nach Jaanif gehe.

Fodé machte sich auf den Weg. Mittags um halb eins kam er in Mbour an. Er blieb dort eine halbe Stunde, kaufte Medikamente, einige Meter Perkal, Nadeln, Garn und Watte. Sobald er alles beisammen hatte, fuhr er weiter Richtung Thiadiaye. Ziemlich bald erreichte er die Kreuzung Ndiosmone und bog Richtung Fimela ab. Die Landstraße mit den unzähligen Bodenwellen, die Dörfer Djofior und Djilass, die jungen Männer aus dem Hiréna-Gebiet auf dem Heimweg von der Feldarbeit, ihre tiefschwarze Haut, vom Blau des Atlantischen Ozeans überspielt. Um 15 Uhr erreichte er Djilor, das der Überlieferung nach von Djidjack Selbé Faye gegründet wurde und in dem einst Prinzessin Siga Badial herrschte. Fodé ging sofort zum alten Ngof. Seine Tante Khady Faye würde er später besuchen. Tonton Pierre saß auf Ngofs Bettkante.

»Fodé, wo té refu?«[2]

»I, O koor o Maack.«[3]

»Ich warte schon seit gestern auf dich, ich glaubte, dein Eisenpferd würde schneller sein als Djidjacks Pferde. Der Inhalt des Schlauchs muss umgefüllt werden, die Kumax-Geheimnisse dürfen nicht verlorengehen. Für mich ist es Zeit, zu den Ahnen nach Jaanif aufzubrechen. Du kennst die Palmyrapalme im Palmenhain Katamague, unter der wir auf unseren Wanderungen immer rasteten, dort wirst du mich am siebten Tag nach meinem Fortgang erwarten. Mit einem Schlauch, den du zur Hälfte mit Wasser aus dem Brunnen von Simal gefüllt hast. Heute kann ich nicht alles herausnehmen, nur einen Teil. Bist du bereit, es zu empfangen?«

»Ah, O koor-ohé Ngof,[4] immer bist du zu Scherzen aufgelegt. Die Ahnen in Jaanif wollen dich noch gar nicht, warum hast du es so eilig, zu ihnen zu gehen? Deine Arbeit hier ist noch nicht zu Ende. Bald findet der Ndut statt, wir sind noch nicht mit den Vorbereitungen fertig, willst du uns im Stich lassen, Ngof? Willst du wirklich nach Xonokoulou auf die Insel Sangomar gehen und uns allein lassen?«

»Du weißt genau, du unverschämter junger Kerl, dass meine Arbeit im Diesseits beendet ist. Wozu hätte ich dir sonst in den letzten Jahren all das Geheimwissen anvertrauen sollen? Du bist jetzt in der Lage, über den Ndut und über die Seelen der beschnittenen jungen Männer zu wachen. Auf dem nächsten Ndut wirst du der Kumax sein. Ich werde jetzt etwas aus dem Schlauch umfüllen.«

Nach diesen Worten richtete Ngof sich auf und setzte sich auf die Bettkante. Er winkte Fodé näher heran. Dann zeigte er auf die Metallkiste zu seiner Rechten und bedeutete ihm, er solle sie öffnen. Fodé gehorchte. Ein Geruch nach getrockneten Pflanzen, Bambus und altem Leder entströmte ihr. Ngof wies auf einen Schlauch mit Nähten an den Seiten und sagte:

»Jetzt muss Fodé sterben und der Kumax zur Welt kommen.«

Fußnoten

[1]

Kumax: Meister der Beschneidung.

[2]

»Fodé, bist du’s?«

[3]

»Ja, weiser Mann.«

[4]

»Ah, werter Ngof, …«

Die Zeit der Thujen

Ich habe ihn gestern auf der Party im Wohnheim Les Châtaigniers kennengelernt. Fred hatte mich eingeladen. Ich hatte den Jungen schon vorher auf dem Campus bemerkt. Er war mit Kappas Leuten unterwegs. Sein Name ist schwer zu behalten, aber wenn man ihn einmal intus hat, vergisst man ihn nicht mehr. Zehn Mal habe ich ihn mir vorgesagt, ihn in den Mund genommen. Bouhel. Der Vorname gefällt mir. Was er alles nicht sagt. Man weiß nicht, woher er kommt, und das mag ich so sehr. Gestern habe ich mit ihm gesprochen. Anfangs war er eher wortkarg. Dann fingen wir an, uns über Musik und Gedichte zu unterhalten, und da fand er kein Ende mehr – er sprudelte förmlich über. Ich mag seine Feinfühligkeit. Und zugleich macht sie mir Angst. Wir haben fast die ganze Nacht geredet. Ich spüre etwas wie Lava an ihm. Wir haben abgemacht, dass wir telefonieren und uns wiedersehen. Hoffentlich noch vor den Winterferien. Ich muss zu meiner Mutter nach Warschau. Gestern hat sie angerufen. Mein Bruder hatte schon wieder einen Anfall von geistiger Verwirrung. Vladimir bringt immer die ganze Familie durcheinander. Sie haben ihn ins Jüdische Krankenhaus im Czyste-Viertel gebracht. Die Ärzte wollten ihn für ein paar Tage dabehalten, damit er sich beruhigt und die Medikamente wirken können. Und dann bekommen wir ein Wrack zurück, dabei sprüht Vladimir sonst vor Energie, obwohl er so krank ist. Manchmal wirkt er abwesend. Er sieht die tiefe Welt, hat er neulich zu mir gesagt. Die wahre, nicht die Welt der Schatten und Illusionen, in der wir wohnen. Ich habe gelegentlich versucht, ihm in seine Welt zu folgen, aber mir ist zu viel darin los. Ich fühle mich verloren und kehre lieber in die Realität hier oben zurück. Die meistens öde ist, einen aber plötzlich mit etwas Schönem überraschen kann. Bouhels Gesicht. Dieses zugleich Ruhige und Glühende an ihm.