Die Pandemie - Rainer Marten - E-Book

Die Pandemie E-Book

Rainer Marten

0,0

Beschreibung

Ein aktueller philosophischer Essay zur Herausforderung, die Sars-Cov-2 für uns Menschen bedeutet – und ein leidenschaftliches Plädoyer für Solidarität und das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Der Freiburger Philosoph Rainer Marten geht in diesem Buch der Frage nach, was die Sars-CoV-2-Pandemie für den Menschen zu bedeuten hat. Denn sie bedroht zwar schon dem Wortsinne nach alle Menschen gleichermaßen, wirkt sich aber aufgrund der unsere Gesellschaften fundierenden Ungleichheiten im jeweils persönlichen Leben ganz unterschiedlich aus. In kritischer Auseinandersetzung u.a. mit Platon, Heidegger, Kant und Karl Barth betrachtet Marten die Ausnahmesituation, in der sich unsere Lebensformen, unser Naturverhältnis und menschliche Selbstbestimmung auf die Probe gestellt sehen. Er plädiert leidenschaftlich für den Menschen als anderen zugewandtes und für andere einstehendes Wesen – das sich seiner Einmaligkeit wie seiner Endlichkeit bewusst sein sollte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 126

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rainer Marten

Die Pandemie

Eine philosophische Perspektive

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4006-4

eISBN (ePub) 978-3-7873-4007-1

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH www.meiner.deFür Links mit Verweisen auf Webseiten Dritter übernimmt der Verlag keine inhaltliche Haftung. Zudem behält er sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings (§ 44 b UrhG) vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

INHALT

Die Ungleichheit der Bedrohten

»Alle Völker«

Gesellschaftliches Leben fundierende Ungleichheiten

Die Ungleichheit der Bedrohung

Leben wird durch den Tod bedroht

Wirtschaftlichen Existenzen droht der Ruin

Karrierehoffnungen werden von Hoffnungslosigkeit, Karrieren von ihrem vorzeitigen Ende bedroht

Wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit bedroht?

Die Gesellschaft wird auf die Probe gestellt

Das politische System

Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft

Werden Lebensformen in Frage gestellt?

Ist die Lebensart vor dem Ausbruch der Corona-Krise in Frage gestellt?

Werden geistige Lebensformen in Frage gestellt?

Die Absonderung der geistig-lebendigen Kräfte von den leibhaft-lebendigen Kräften oder die Diskriminierung des Leibes

Die Diskriminierung der Lebenswelt

Die Diskriminierung der Wahrheit

Die Diskriminierung des Mit- und Füreinander

Werden geistliche Lebensformen in Frage gestellt?

Die Natur ist zurück

Die Erde meldet sich

Natur wird vom Zufall regiert

Schicksalhafter Zufall

Naturbeherrschung als Zufallsbeherrschung

Menschliche Allmacht oder Der Mensch ist an allem schuld

Menschliche Allmacht oder Der Mensch kann alles selber machen

Es gibt kein perfektes Mittel

Es gibt keinen perfekten Zweck

Menschliche Selbstbestimmung

Es gibt keinen Zweck an sich selbst

Es gibt keinen letzten Sinn

Natur und Technik im Spiegel menschlicher Hybridität

Natur kennt kein Erbarmen

Die Einmaligkeit des Menschen

Anmerkungen

Personenregister

SPÄTESTENS IM MÄRZ 2020 ist den Menschen dieser Erde bewusst geworden, dass sie ohne Ausnahme von einer lebensgefährdenden Viruserkrankung bedroht sind, der die Wissenschaft den Namen Covid-19 gegeben hat. Für den altgewordenen Philosophen, der sich vor Jahrzehnten das Leben und Handeln des Menschen zu seinem zentralen Thema gemacht hat, ist das der Anstoß, im Lichte dieses Ereignisses noch einmal neu der Frage nachzugehen, die der Mensch sich selbst ist und die er sich selbst bleibt. Ziel ist es, einen umsichtigen Beitrag zur Aufklärung des Menschen über sich selbst in diesen außerordentlichen Zeiten zu leisten. Das Folgende ist im Juni 2020 geschrieben.

DIE UNGLEICHHEITDER BEDROHTEN

»Alle Völker«

Dem wörtlichen Sinne nach bedroht eine Pandemie das ganze Volk, alles Volk, alle Völker. Das aber heißt, dass das Virus Sars-CoV-2, das die Erkrankung Covid-19 verursacht, »vulgär« (vulgus: das gemeine Volk) ist: Es treibt sich überall herum, macht bei den Menschen keinen Unterschied, sondern verhält sich vulgivagus, die lateinische Übersetzung von griechisch pandemisch. Platon unterscheidet die pandemische Aphrodite von der uranischen, der himmlischen. Die pandemische ist die gemeine, die sinnliche Liebe, die uranische hingegen die geistige, zu der allein der geistige Mensch, der nicht alltägliche, fähig ist. In der pandemischen Bedrohung sind alle Menschen gleich, sofern sie Menschsein auf seinen allgemeinsten Nenner bringt: auf das Lebewesen sein. Wenn die Pandemie die Menschen, die jetzt die Erde bewohnen, vereint, dann einzig insofern, als jedes Exemplar ein lebendiger Organismus ist. Die den Menschen gleiche Bedrohung, an Covid-19 zu erkranken, trifft nicht das Selbstbewusstsein des Menschen, Mensch zu sein. Zu sehr dominieren die das gesellschaftliche Leben fundierenden Ungleichheiten, als dass die physiologische Gleichheit ein menschliches Einheitsgefühl erzeugen könnte. Alle Länder, alle Staaten, alle Ethnien, alle Kulturen, alle Zivilisationen, die Menschen jeder Hautfarbe – das alles unter dem Aspekt organismischer Lebendigkeit vereinigt zu sehen, nein, dazu hat diese neuartige, in ihrer Gewalt noch immer unabsehbare gegenwärtige Bedrohung keine Macht. Wer dagegen hält, dass aber doch im Tode alle gleich sind, weil er das Ende des – allen gemeinen – organischen Lebens bedeutet, hat vermutlich noch kein keltisches Fürstengrab gesehen.

Gesellschaftliches Leben fundierende Ungleichheiten

Ist schon gemeinschaftliches menschliches Leben durch Ungleichheiten der miteinander Lebenden geprägt, dann sind für das gesellschaftliche Leben Ungleichheiten die fundamentalen Impulse für das Miteinander und auch Gegeneinander. Bereits die Vielfalt der Kulturen führt dazu, dass sich der Umgang mit den fundierenden Ungleichheiten unterscheidet. Es genügt, auf die Kulturdifferenz aneinander angrenzender Länder wie Frankreich und Italien zu verweisen. Im staatlichen Coronamanagement geben die Franzosen den Jungen mehr Freiheiten als den Alten, die Italiener den Alten mehr als den Jungen. Doch Ungleichheiten differieren weit mehr noch als durch die Vielfalt der Kulturen dadurch, dass sie sich untereinander potenzieren. Das lässt sich an wenigen gesellschaftlich relevanten Ungleichheiten hinreichend demonstrieren: Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Vitale und Schwache, Reiche und Arme, Privilegierte und Benachteiligte. Wie ungleich allein schon durch dies Wenige das Alter aussieht: der gesunde und der kranke Alte, der vitale und der schwache Alte. Wer wegen Immunschwäche, angeboren oder erworben, dem Coronavirus aus eigener Natur nichts entgegenzusetzen hätte, weiß sich als Reicher, der über ein Zweithaus in einsamer Natur verfügt, ungleich besser vor der Bedrohung durch die gegenwärtige Pandemie zu schützen als der in ärmlichen Verhältnissen Lebende. Altsein in Gated Communities und in Mietskasernen – was sollte ungleicher sein? Ein armes Paar mag glücklich sein in seiner Zweizimmerwohnung, glücklich und geborgen, ein reiches unglücklich von weiter Natur oder Sicherheitskräften geschützt – das wäre nur wieder eine neue, das persönliche Leben prägende Ungleichheit, mit sich und dem Anderen im Reinen oder mit sich und dem Anderen im Unreinen zu sein. Dabei kann es sein, dass die »gleiche« Bedrohung, an Covid-19 zu erkranken, die Armen weniger ängstigt als die Reichen.

Nicht alle von der Erkrankung an Covid-19 Bedrohten wissen sich bedroht, fühlen sich bedroht. Es gibt sogar über diese Bedrohung Belehrte, die sie praktisch nicht wahrhaben wollen, so dass sie, obwohl bedroht und eigentlich darum wissend, unbedroht leben, dies mitunter bis zur eigenen Erkrankung und Erfahrung der Todesnähe. Geheilt sind sie die eifrigsten bei dem Versuch, ein Wir-Gefühl der durch Covid-19 Bedrohten zu erzeugen. Doch selbst diese gut begründeten und mit Elan betriebenen Versuche scheitern und werden das weiterhin tun. Die Ungleichheit der Bedrohten ist zu groß, ihr Eigeninteresse zu stark. Gute Chancen hat das Wir-Gefühl dagegen im Kleinen: bei den Pflegern auf einem Flur, in einem Ärzteteam, in einer Familie, bei einem Paar. Da hat es auch nichts emotional Überschwängliches, sondern ist unmittelbar von positiver lebenspraktischer Bedeutung. Nein, da ist nichts davon zu spüren, dass die Menschheit durch die Corona-Krise näher zusammenrückte. Nicht der Planet Erde als die Wohnstatt aller steht auf dem Spiel. Dafür sorgt der Klimawechsel. Nicht die Existenz des Menschen steht auf dem Spiel. Damit drohen Atomwaffen. Das persönliche Leben sehr vieler steht auf dem Spiel, und dies in komplexer Hinsicht.

DIE UNGLEICHHEITDER BEDROHUNG

Leben wird durch den Tod bedroht

In Kriegen zwischen Ethnien und Staaten werden der Befehl zum Töten und die Ausführung des Befehls belohnt. Jeder lebende Gegner ist ein Lebender zu viel. Werden eine Stadt, ein Land von einer Krankheit unbekannter Natur epidemisch überfallen, dann sind sich die Überfallenen darin einig, mit allen Kräften die Krankheit bekämpfen zu müssen. Hat im Kriege das Leben des Gegners keinen Wert, dann hat bei einer gemeinsamen Bedrohung selbstverständlich das Leben eines jeden den gleichen Wert. Als die unbekannte Pest Athen überfiel, waren Ärzte, wie Thukydides berichtet, bis zur Selbstaufopferung bereit, Menschenleben zu retten. Das ist nicht selbstverständlich. Mit einem Klumpfuß Geborene wurden im antiken Griechenland in der Wildnis ausgesetzt. Man überließ es einem Gottesurteil, ob sie überleben oder nicht. Der Freiburger Mediziner Alfred Hoche schlug in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts vor, »unwertes Leben« von Behinderten aus dem gesunden Volkskörper »auszustoßen«. Für gewisse Ethikräte und Politiker ist die Frage wieder aktuell geworden, ob es nicht sinnvoll, ja geboten ist, im Sinne des darwinistischen survival of the fittest dem jungen Leben gegenüber dem alten einen Mehrwert zuzuerkennen. Covid-19 in gesellschaftlicher Perspektive als Sterbehilfe der anderen Art? Das »Problem« mit den Alten, nämlich mit ihrem unnützen, nur Kosten verursachenden Leben, hat vielerlei »Lösungen« gefunden. Eine davon war das »Austragshäusel« im ländlichen Bayern. Es war für die beiden Alten und den schließlich nurmehr einen Alten bestimmt. Enkel trugen das Nötige zum Lebenserhalt hinüber. Es war nicht die Regel, aber auch nicht unüblich, dass die Versorgung knapp bemessen wurde, um das Leben nicht unnötig zu verlängern. Dabei hat das Alter seine ganz eigene Bedeutung für das Leben, wenn es schon alt werden darf. Ist einer nicht von außerordentlicher Vitalität, so dass er noch mit Mitte 90 am Dirigentenpult steht, so ist die Zeit des entinstrumentalisierten Lebens das Geschenk, sie als »Schule der Endlichkeit«1 zu nutzen.

Wirtschaftlichen Existenzen droht der Ruin

Die Lebenswerke kleiner und großer Unternehmer sind vom Ruin bedroht. Was im viralen Frieden allenfalls durch bewusste »Vernichtung« eines konkurrierenden Unternehmens erreicht wird, bewusst im Sinne der darwinistischen Wirtschaftstheorie von Joseph Schumpeter, die in der Optimalform des kapitalistischen Wirtschaftens sich das »Niederkonkurrieren« und die »soziale Deklassierung« zum Ziel setzt, und dies nicht aus Eigennutzen, sondern in der »Freude am Werk, an der Neuschöpfung als solcher«, des »Erfolghabenwollens des Erfolgs als solchen wegen«, nicht wegen des gesellschaftlichen Nutzens, sondern aus Spaß an der Innovation um der Innovation willen:

Auch auf die ultima ratio der völligen Vernichtung der mit hoffnungslos Unangepaßtem verbundenen Existenz kann diese Wirtschaftsform nicht gut verzichten.2

Unternimmt Politik im viralen »Krieg« (Emmanuel Macron) das in ihren Augen Nötige, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, um das Funktionieren des Gesundheitssystems nicht durch Überlastung zu gefährden, dann findet das nicht allgemeine Zustimmung. Ist sich die Gesellschaft auch in der medizinischen Bekämpfung von Covid-19 im Wesentlichen einig, so sorgen politische Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Seuche für gesellschaftliche Konflikte. Wer sollte, den nahen wirtschaftlichen Ruin vor Augen, diesen nicht für bedrohlicher ansehen als die ferne Möglichkeit einer Infektion und die noch fernere einer schweren, ja tödlichen Erkrankung? Virologen warnen davor, den lock down zu lockern, Ökonomen und Unternehmer, den shut down in seinem derzeitigen Umfang beizubehalten. Kurzzeitige Ziele streiten mit langfristigen, Sorgen um das Leben mit Sorgen um die Wirtschaft. Lobbyisten und öffentliche Proteste, nicht zuletzt ideologisch gesteuerte, setzen die Politik unter Druck, auch die menschliche Natur in ihrem Freiheits- und Geselligkeitsdrang, Erlebnis- und Zerstreuungsbedürfnis. Doch was ist ein vermisstes Fußballerlebnis gegen die Insolvenz des eigenen Betriebs?

Wer sich mit seinem wirtschaftlichen Erfolg identifiziert, gerät nicht selten bei dessen Vernichtung in unmittelbare Lebensgefahr. Der berühmte zahlungsunfähige Fabrikbesitzer, der sich nach dem Nein der Banken in seinem Hotelzimmer erschießt. Nicht nur Schmerzen machen das Leben unerträglich, sondern auch soziale Deklassierung. Im Abwägen des Ausmaßes der staatlichen Infektionsprävention geht es um das Leben der von Covid-19 und der vom gesellschaftlichen Ruin Bedrohten.

Karrierehoffnungen werden von Hoffnungslosigkeit, Karrieren von ihrem vorzeitigen Ende bedroht

Wer sein öffentliches Leben mit hohem Einsatz spielt und seinen Beruf, den in Aussicht genommenen und den bereits ausgeübten, als Berufung versteht, der wird durch das jähe Nein zu einem Anfang und zu einer Fortsetzung auf unbestimmte Zeit in seinem Lebensvertrauen hart geprüft. Lebensvertrauen ist für das zu lebende Leben ein hohes Gut, ein unverzichtbares. Lebensvertrauen gehört einem Lebenden, so er es hat, weit intimer zu, als es »positives Denken«, Optimismus und Hoffnungen vermögen. Die Gefahr besteht, dass es sich im Danach, bei Aufhebung des Berufsverbots, als ein auf Dauer geschädigtes herausstellt. Vermutlich wird das jedoch, wenn überhaupt, nur selten der Fall sein. Die Lebenskräfte eines Menschen sind zu stark und zu reich differenziert, zumal die eines erfüllten Lebens, um nicht wieder mit Zuversicht, ja mit Lust das tägliche Wagnis des Lebens einzugehen.

Wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit bedroht?

Das erstgenannte Grundrecht im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist das Recht auf freie Enthaltung der Persönlichkeit, das zweitgenannte das Recht auf Leben. Damit sind zwei Pflichten des Staates genannt, den beiden Grundrechten praktische Geltung zu verschaffen. Das Recht auf freie Entfaltung hat dabei seine selbstverständliche Einschränkung: Es darf nicht die Rechte Anderer verletzen. Der Staat garantiert einen auf das Miteinander abgestimmten Freiheitsgebrauch des Einzelnen, keine Willkür. In Zeiten der Pandemie ist der Staat ganz besonders in die Pflicht genommen, dem Recht auf Leben Geltung zu verschaffen, was jetzt mit der Sorge verknüpft ist, Leben zu bewahren und vor einer Infektion zu schützen, die zum Tode führen kann. Dadurch wird das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht bedroht, sondern auf Zeit eingeschränkt, als Grundrecht aber nicht aufgehoben. Im Gegenteil, es wird vor seinem Missbrauch bewahrt. Das Recht der von einer Corona-Infektion Bedrohten auf größtmöglichen Schutz des Lebens bedroht kein Recht auf uneingeschränkte freie Entfaltung der Persönlichkeit, weil dies in Corona-Zeiten kein Recht ist, weil unmöglich das überlegene Recht.

Politische Extremisten mit Neigung zu Verschwörungstheorien verdrehen das pflichtgemäße Handeln des demokratischen, auf die Grundrechte achtenden Staates in ein diktatorisches Handeln. Sie gehen darin so weit, dass sie die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus bezweifeln und für einen Vorwand politischer Gruppierungen ansehen, die das Ziel verfolgen, den Menschen so weit wie nur möglich die Freiheiten zu nehmen, um totalitär über sie verfügen zu können. Als Beispiel diene eine rechtskonservative Fronde von Kardinälen, die gegen den amtierenden Papst agiert. Im Verein mit Gleichgesinnten erlässt sie im Mai 2020 einen Aufruf an alle Katholiken und Menschen guten Willens, um sie vor »Kräften« zu warnen, die in der Bevölkerung Panik erzeugen wollten mit dem Ziel, »dauerhaft Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung und der damit verbundenen Kontrolle über Personen und der Verfolgung all ihrer Bewegungen« zu schaffen. Denken sich Linke immer wieder einmal eine Weltregierung zurecht, die ein Ausbund humaner Vernünftigkeit ist, dann kontern diese Verschwörungstheoretiker das utopische Bild politischer Weltharmonie mit dem Schrecken einer »Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht«.3 Die thematische Frage muss also umgekehrt gestellt werden: Bedrohen ideologische Extremisten die Schutzmaßnahmen der Regierung, die dem Ziel dienen, zum Wohle aller die Pandemie einzudämmen?

DIE GESELLSCHAFT WIRDAUF DIE PROBE GESTELLT

Das politische System

Der Ausbruch der Corona-Seuche im Jahr 2020 hat vielfach zu der Erfahrung geführt, dass zur Begegnung der überraschenden und unbekannten Bedrohung aller nicht beratende Vernunft, sondern das Lebensgefühl politisch das Heft in die Hand genommen und die Führung übernommen hat. Es war das Lebensgefühl Einzelner, wie in Großbritannien, den USA und in Brasilien oder das Lebensgefühl einer Nation, wie in Schweden. In Deutschland hat sich die mit Wissenschaft vertraute politische Führung an die Wissenschaft gewandt, an die führenden Virologen und Epidemiologen. Die Aufklärung mit ihrer Übertreibung des Vernunftvermögens, die in Kants These von der moralisch gesetzgebenden Vernunft gipfelt, hat sie in Verruf gebracht, für die Praxis tauglich zu sein. Die reine Vernunft, die es im Haushalt menschlicher Lebenskräfte unmöglich gibt, ist erdacht für Bewohner eines Reiches reiner Geister, nicht aber für lebendige Gesellschaften. Das wusste Aristoteles noch besser, dass für praktische Belange die Vernunft tauglich ist, die berät, nicht befiehlt, die Vernunft, die mit Klugheit und Besonnenheit gepaart ist. Wer sie einbringt, wird auch von Empfindungen geleitet sein, die für Kant der Vernunft nicht nur fremd, sondern ihr Gegensatz sind. Hat jemand bei einer Handlung etwas empfunden, dann kann es sich laut Kant unmöglich um eine vernünftige Handlung gehandelt haben, weil sie nicht rein