Die Panther - Louis Weinert-Wilton - E-Book

Die Panther E-Book

Louis Weinert-Wilton

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Beschreibung

Dieses eBook: "Die Panther (Ein Weinert-Wilton-Krimi)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Spang", fragte Oberinspektor Murphy und wischte sich das Naß aus den Fettpolstern um die schimmernden Äuglein, "lesen Sie denn auch wirklich den ›Sunday-Narrator‹, wie ich Ihnen empfohlen habe? Da ist jetzt wieder eine Geschichte drin" – Murphys dicke Unterlippe zuckte, und er schneuzte sich nachdrücklich – "bei der man aus dem Weinen nicht herauskommt." Der Sergeant wollte zwar den Chef wegen einer anderen Sache sprechen, blinzelte aber sofort verständnisvoll und dämpfte seine dünne Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. "Jawohl, Sir. – ›Der Vampir von Deptford‹ ..." Louis Weinert-Wilton (1875-1945) war ein sudetendeutscher Schriftsteller. In den 1960er Jahren entstand im Zuge der erfolgreichen Edgar-Wallace-Filme eine eigenständige Louis-Weinert-Wilton-Kriminalfilmreihe.

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Louis Weinert-Wilton

Die Panther

Krimi

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2152-3

INHALTSVERZEICHNIS

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Inhaltsverzeichnis

»Spang«, fragte Oberinspektor Murphy und wischte sich das Naß aus den Fettpolstern um die schimmernden Äuglein, »lesen Sie denn auch wirklich den ›Sunday-Narrator‹, wie ich Ihnen empfohlen habe? Da ist jetzt wieder eine Geschichte drin« – Murphys dicke Unterlippe zuckte, und er schneuzte sich nachdrücklich – »bei der man aus dem Weinen nicht herauskommt.«

Der Sergeant wollte zwar den Chef wegen einer anderen Sache sprechen, blinzelte aber sofort verständnisvoll und dämpfte seine dünne Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Jawohl, Sir. – ›Der Vampir von Deptford‹ ...«

»Furchtbar aufregend, was?« schnaufte der gemütvolle Murphy. »Wie das arme Ding von dem verdammten Schurken ausgebeutet wird!«

»Ich glaube, er wird es nicht mehr lange treiben«, tuschelte Spang ebenso erregt. »Höchstens noch zwei oder drei Fortsetzungen. Die Polizei ist ihm ja schon auf den Fersen, und er wird wahrscheinlich gehenkt werden.«

»Unbedingt«, entschied der Oberinspektor mit einem neuerlichen Schneuzer, aber plötzlich bekam sein gerührtes Gesicht einen höchst mißmutigen Ausdruck, und er ließ seine schaufelartige Rechte klatschend auf den geliebten »Sunday-Narrator« fallen.

»Finden Sie es in Ordnung, Spang«, knurrte er, »daß unsereiner erst solche Romane lesen muß, wenn er etwas erleben will? Ich glaube, es ist schon eine Ewigkeit her, daß wir so etwas selbst mitgemacht haben.«

»Ungefähr drei Monate, Sir. Sie wissen, die gewisse Geschichte mit dem desertierten Matrosen, der mit seiner Bande die ganze Umgebung bis hinunter nach Surrey unsicher gemacht hat. Wir sind dann auch im Gefängnishof mit dabeigewesen, und noch auf der Falltür hat er Ihnen eine lange Nase gedreht.«

Murphy erinnerte sich und nickte melancholisch.

»Es war ein schöner Frühlingsmorgen, aber verdammt kalt. Ich habe mir damals einen Schnupfen geholt, den ich wochenlang nicht loswerden konnte. Aber bei solchen Gelegenheiten wird man sich wenigstens bewußt, wozu man eigentlich da ist und hat seine Befriedigung. Armselige Defraudanten und lausige Diebe zu fangen, ist kein Beruf, und etwas anderes gibt es nicht mehr zu tun. – Höchstens noch solche verrückte Geschichten, wie jene in Essex.«

Der Sergeant fand endlich Gelegenheit, anzubringen, weshalb er eigentlich gekommen war.

»Mr. Hearson möchte Sie sprechen, Sir. Er ist aus Chesterhills, und vielleicht hängt es mit dem gewissen Fall zusammen.«

Der Oberinspektor nickte und wackelte einige Male mit seinen fleischigen Ohren, was bei ihm ein Zeichen erwachenden Interesses bedeutete. Er erwartete zwar von dem Besuch nichts Besonderes, aber man konnte schließlich nicht wissen ... Mr. Hearson, ein gut gebauter Mann von kaum fünfzig Jahren, kam in seiner Eigenschaft als Mitglied des Grafschaftsrates, aber es schien sich doch nicht um den eigenartigen Vorfall zu handeln, der sich dieser Tage in der Nähe seines Wohnsitzes abgespielt hatte.

»Ich muß vielmals um Vergebung bitten, daß ich Sie wegen einer Auskunft in Anspruch nehme«, entschuldigte er sich in seiner überaus höflichen und bescheidenen Art und rückte pedantisch an seiner Brille. »Bei der Grafschaft wissen wir uns jedoch in diesem nicht alltäglichen Fall keinen rechten Rat, und im Ministerium, wo ich eben vorsprach, hat man mich an Sie gewiesen. Ihre besonderen Vollmachten sollen sich ja auch auf unseren Distrikt erstrecken.«

Der schlanke, tadellos gekleidete Herr mit dem Gelehrtengesicht machte eine kleine Pause. Er schien von dem Oberinspektor irgendeine Aufmunterung zu erwarten, aber dieser saß mit einem breiten Lächeln da und drehte beschaulich die dicken Daumen. Es war sein Grundsatz, die Leute vorerst einmal ausreden zu lassen, und sein Besucher schien dies zu erraten, denn er fuhr nun mit geschäftsmäßiger Knappheit fort.

»Die Frage, um die es sich handelt, ist folgende: Ist es bei uns einer Privatperson gestattet, auf ihrem Grund und Boden wilde Tiere zu halten? Wir haben nämlich seit kurzem einen Mann mit dieser seltsamen Liebhaberei in unserer Gegend, und es ist möglich, daß wir uns vielleicht schon heute oder morgen von Amts wegen mit dieser Sache befassen müssen. Selbstverständlich möchten wir dabei nicht gern einen Mißgriff tun.«

Die Ohren Murphys bewegten sich unmerklich, und seine kleinen Augen begannen zu funkeln.

»Wilde Tiere ...! Schau, schau«, murmelte er überrascht. »Und die läßt er so frei herumlaufen?«

»Das eben nicht«, erklärte Mr. Hearson mit ernstem Gesicht. »Sie sind in einem großen Park in einem regelrechten Zwinger untergebracht, aber ...«

»Natürlich«, fiel der Oberinspektor verständnisvoll ein, »das will gar nichts besagen. Mit diesen wilden Tieren ist das so eine Sache. Ich habe einmal gelesen, daß zum Beispiel so ein Elefant einen riesigen Baum mit derselben Leichtigkeit ausreißt, wie unsereiner einen Rettich. Da sind ein paar Gitterstäbe für ihn die reinsten Zahnstocher.«

»Es handelt sich um schwarze Panther«, erklärte der Herr aus Chesterhills mit Nachdruck. Murphy ließ ein überraschtes Schnalzen hören und wiegte bedenklich seinen dicken Kopf.

»Auch das noch! Ich habe mir sagen lassen, daß das besonders heimtückische und gefährliche Viecher sein sollen.«

Hearson nickte bestätigend.

»Sehr richtig. Es könnte ein furchtbares Unglück geben. – Ich vertrete daher die Ansicht, daß man die Tiere unschädlich machen sollte.«

Der Oberinspektor war dafür Feuer und Flamme.

»Unbedingt. Sobald sie jemanden gefressen haben, muß man sie schleunigst umbringen. Kurzweg erschießen. Oder noch besser, vergiften. Diese großen Katzen sollen ja ein schrecklich zähes Leben haben!«. Er dämpfte plötzlich seine Schneidigkeit und zog nachdenklich an seiner schwammigen Nase. »Aber das ist eigentlich nicht Sache der Polizei«, meinte er bedächtig. »Davon verstehen wir nichts. Da müßte sich Ihr Sheriff schon einen Tierbändiger oder einen Wärter aus einer Menagerie verschreiben.«

Der besorgte Mr. Hearson war von dieser Auffassung offenbar etwas enttäuscht.

»Sie glauben also nicht, daß schon jetzt irgendwelcher behördlicher Zwang zur Abschaffung der Tiere erfolgen könnte? Es ist doch einigermaßen unverantwortlich, zuzuwarten, bis etwas geschieht.«

»Sehr unverantwortlich sogar«, pflichtete Murphy bei. »Dasselbe sage ich auch immer, weil wir unsere schweren Jungens erst aufknüpfen dürfen, wenn sie einen um die Ecke gebracht haben.«

Der Herr aus Chesterhills zuckte mit den Achseln und machte Miene, sich zu erheben.

»Ich hätte gern einen anderen Bescheid mitgenommen. Unsere Bevölkerung ist nämlich sehr beunruhigt, und ich kann dies nach den letzten Vorkommnissen einigermaßen verstehen.«

Der Oberinspektor wackelte wieder einmal ganz leicht mit den Ohren.

»Haben Sie Vorkommnisse gehabt? Was Sie nicht sagen!« meinte er leichthin, und als der andere ihn mit einem etwas überraschten Seitenblick streifte, begegnete er einem so nichtssagenden, interesselosen Gesicht, daß er ganz verwirrt wurde.

»Ich dachte, daß Sie davon wüßten. Man spricht ja bei uns sogar davon, daß Ihnen der Fall übertragen worden sei. – Die gewisse Sache von dem Schwerverletzten«, fügte er erklärend hinzu, »der vor einigen Tagen bei Kelvedon aufgefunden wurde, aber spurlos verschwunden war, als man ihn bergen wollte.«

Murphy sah einige Sekunden völlig verständnislos drein, dann schlug er sich plötzlich an die breite Stirn, daß es nur so klatschte.

»Richtig«, platzte er triumphierend heraus, um jedoch sofort in einen etwas wehmütigen Seufzer überzugehen. »Mit dem Gedächtnis hatte ich leider schon immer mein Kreuz. Aber wenn man ihm etwas nachhilft, geht es schon. Sie werden sofort sehen.« Er kniff die kleinen Augen noch mehr zusammen und starrte krampfhaft nach der Decke, als ob es dort schwarz auf weiß geschrieben stünde. »Am verflossenen Samstag«, begann er dann den amtlichen Bericht herunterzuleiern, »also vor vier Tagen, kurz nach ein Uhr nachts, stieß eine Straßenpatrouille der Automobile Association etwa eine Meile südwestlich von Kelvedon auf einen verlassenen Wagen. Als der Motorradfahrer anhielt, vernahm er plötzlich aus einem kleinen Gehölz neben der Straße einen wilden Schrei und im selben Augenblick auch einen Schuß. Er eilte der Stelle zu und fand nach etwa hundertfünfzig Schritten einen bewußtlosen Mann mit einer tiefen, schweren Wunde, die vom Hinterkopf bis zur rechten Schulter lief. Der Patrouillenfahrer legte dem Schwerverletzten in aller Eile einen Notverband an und machte sich dann schleunigst auf den Weg, um ärztliche Hilfe und einen Krankenwagen herbeizuholen. Als er in dieser Begleitung nach etwa einer halben Stunde zurückkehrte, war jedoch der so arg zugerichtete Mann nicht mehr aufzufinden, und es ist bisher nicht gelungen, über sein Verbleiben und seine Person irgendwelche Anhaltspunkte zu gewinnen. Nur soviel steht fest, daß er selbst sich nicht entfernen konnte und daß in der fraglichen Zeit kein Auto und auch kein anderes Fahrzeug die betreffende Straßenstrecke passiert hat. Der führerlose Ford-Wagen befand sich noch immer auf seinem Platz, aber er trug keine Nummer und enthielt auch nicht die geringste Kleinigkeit, die einen Schluß auf seinen Besitzer zugelassen hätte. – Nun«, schloß der Oberinspektor und blinzelte seinen Besucher selbstgefällig an, »habe ich die Geschichte im Kopf, ha?«

»Vollkommen«, gab Mr. Hearson verbindlich zu. »Es ist tatsächlich alles, was bisher über den eigenartigen Vorfall bekannt geworden ist. Was sonst noch gesprochen wird, sind natürlich unkontrollierbare Gerüchte. Die Leute entwickeln bei solchen Gelegenheiten immer eine sehr rege Phantasie. So will beispielsweise ein Forstwart in dem betreffenden Gehölz die Fährte von großen Raubtieren entdeckt haben«, – der Herr aus Chesterhills rückte wieder an seiner Brille und lächelte nachsichtig – »und es sind nun die wildesten Gerüchte im Umlauf. Man lebt in einer geradezu panikartigen Furcht, und niemand traut sich mehr aus seinen vier Mauern.«

»Diese verdammten Löwen!« knurrte Murphy verzweifelt, aber Hearson verbesserte ihn höflich.

»Panther. Schwarze Panther.«

»Selbstverständlich. Ich habe mich nur versprochen. Das passiert mir öfters. Und schließlich ist es ja auch ganz egal, ob den Mann Löwen oder Panther verspeist haben. Jedenfalls ist er weg, und wir haben nun die Scherereien. Ich werde wohl selbst einmal hinschauen müssen, obwohl ich kein Freund von solchen Landpartien bin. Aber mit den Bestien möchte ich nicht in Berührung kommen. Wo sind sie und wem gehören sie?«

»In Spittering Farm. Der Besitzer dieses alten Landhauses soll ein gewisser Aubrey Rayne sein. Er hält sich aber, soviel ich weiß, die meiste Zeit in London auf, und draußen haust ein Mann, der sich Forge nennt. Ich kenne aber weder den einen noch den anderen persönlich und vermag leider keine weitere Auskunft zu geben.«

Einige Minuten, nachdem Mr. Hearson aus Chesterhills sich empfohlen hatte, veränderten sich die Züge des Oberinspektors mit einem Schlag, und er sah mit verkniffenen Augen und gespitzten Lippen vor sich hin. Dann holte er aus seiner dickleibigen Brieftasche einen arg zerknitterten und verwaschenen Papierfetzen hervor und betrachtete ihn zum soundsovielten Male innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden eingehend von allen Seiten. Dieses verschmutzte Stückchen Papier war so ziemlich die einzige Ausbeute der Nacht, die er geopfert hatte, um sich völlig allein auf dem Schauplatz der rätselhaften Begebenheit in Essex umzusehen. Er wußte aber zur Stunde noch immer nicht, ob sein Fund mit dieser Sache überhaupt zusammenhing. Das segmentförmige Schnitzel war offenbar vom Rand eines Schriftstückes abgerissen, und nur die unverkennbaren Blutspuren gaben ihm einige Bedeutung. Die wenigen zusammenhängenden Worte in Maschinenschrift, die es enthielt, waren völlig belanglos, und bloß die deutlich lesbare Stelle »... der kleinen Lady mit der Pantherkatze ...« gab Murphy plötzlich zu denken.

Wenn er dazu noch das sorgfältig ausgestochene Lehmstück mit dem ungewöhnlichen Fährtenabdruck nahm, das er ebenfalls von seinem nächtlichen Ausflug mitgebracht, und die Angelegenheit, die den ängstlichen Mr. Hearson aus Chesterhills eben zu ihm geführt hatte, so fand er, daß es um ihn mit einem Male von unheimlichen Großkatzen wimmelte.

2

Inhaltsverzeichnis

Schon in der nächsten halben Stunde sollte Murphy nochmals diese Feststellung machen können.

Wenn Ben Kitson gerade ein reines Gewissen hatte, hielt er es für überflüssig, sich der Polizei gegenüber jener respektvollen Höflichkeit zu befleißigen, die er sonst vor diesen gefürchteten Herren an den Tag zu legen pflegte.

»Es ist ein Skandal, wie bei uns zu Lande ein Gentleman, der nicht das geringste ausgefressen hat, behandelt wird«, sagte er entrüstet und zog mit einem energischen Ruck wieder einmal die Hosen hoch, die an den hageren Lenden keinen rechten Halt hatten. »Wenn ich ein Lord oder ein Rothschild wäre ...«

Er vollendete nicht, was dann wäre, denn Spang war eben damit beschäftigt, die verschiedenen Dinge in Augenschein zu nehmen, die man fürsorglich aus seinen Taschen gezogen hatte, und Ben fand es geraten, sich dieses Inventar rasch noch einmal einzuprägen. Erstens, damit er auch wirklich alles zurückerhielt, wenn man ihn wieder laufen ließ, und zweitens, um nicht durch eine unangenehme Frage überrascht zu werden, falls vielleicht doch die eine oder die andere verfängliche Kleinigkeit darunter sein sollte. Aber seine Raubvogelaugen entdeckten unter den mageren Schätzen wirklich nichts, was ihn hätte in Verlegenheit bringen können, und nur der kunstvoll gebogene Stahlhaken hätte gerade nicht dabei sein müssen. Aber schließlich konnte er ja nicht dafür, daß der Schlüssel zu seiner Gartentür eine so primitive Form hatte, und solch eine Kleinigkeit rechtfertigte noch lange nicht, daß man seine beschauliche Sommerwanderung in Essex gestern rücksichtslos unterbrochen und ihn nach Scotland Yard hereingeschleift hatte. Er sollte bei einer großen Sache mitgetan haben, die vor etwa acht Tagen gedreht worden war, aber er hatte draußen in der Grafschaft ein zwanzigfaches Alibi, an dem selbst die mißtrauische und heimtückische Polizei nicht rütteln konnte. Lauter ehrenwerte, mildtätige Honoratioren, bei deren Nennung der anfangs so eklige Sergeant immer kleiner geworden war.

»Was haben Sie denn hier für eine Kostbarkeit?« fragte da Spang plötzlich und kramte unter den Habseligkeiten ein Ding hervor, das nur um weniges größer als eine Patronenkapsel war und auch genau so kupfrig schimmerte. Aber trotz der Winzigkeit mußte etwas Besonderes daran sein, denn der Sergeant besah es von allen Seiten, bog und putzte daran herum und nahm dann sogar eine Lupe zur Hand.

»Wie sind Sie dazu gekommen, Kitson?«

Der Landstreicher war auf alles eher gefaßt als auf diese Frage, aber sie gab ihm seine gute Laune vollends wieder. Von diesem Stückchen Blech, das er eines Tages fast verschluckt und dann mechanisch in die Westentasche geschoben hatte, konnte ihm keine Gefahr drohen.

»Ein Taufgeschenk von meinem seligen Herrn Paten«, erklärte er mit einem herausfordernden Grinsen. »Sie können sich denken, was für ein zarter Junge ich gewesen sein muß, wenn das Ringlein gepaßt hat. Natürlich bloß am kleinen Finger.«

Der Polizist lächelte etwas dünn und ließ noch immer kein Auge von dem verbogenen Metallstreifen.

»Passen Sie auf, daß Sie nicht auch noch ein Paar Armbänder dazu bekommen. Ich glaube, Mr. Murphy wird sich ein bißchen mit Ihnen unterhalten wollen. Jedenfalls werde ich ihn fragen.«

Ben riß wieder einmal heftig an seinen Hosen, aber sein Gesicht verriet diesmal nichts von Entrüstung, sondern arge Bestürzung. In seinen Kreisen bekam man so etwas wie Vitriolgeschmack im Mund, wenn der Name fiel, den er eben gehört hatte. Man nannte Tybald Murphy »die heulende Daumenschraube«, und wer etwas auf dem Kerbholz hatte, wußte, daß seine Stunde geschlagen hatte, wenn er es mit ihm zu tun bekam.

Der Stromer fühlte sich schuldlos wie ein neugeborenes Kind, aber trotzdem schlotterten ihm ein wenig die Knie, und seine hageren, stoppligen Wangen waren etwas fahl, als er vor dem Gefürchteten stand.

Murphy saß mit dem gleichen lebhaften Interesse über dem winzigen Kupferblättchen wie vordem sein Gehilfe, und seine Mienen wurden immer strahlender, je genauer er es sich besah. Die eingeprägte Figur war unzweifelhaft ein zum Sprung geducktes Katzentier und daneben stand die Ziffer 5. Auf der Rückseite aber war ein R eingeritzt und darunter in winzigen Buchstaben, aber deutlich lesbar »Murphy«.

Der Oberinspektor konnte sich an diesem Namen nicht genug sattsehen, und als er endlich das feiste Gesicht hob, lag darauf so leutselige Milde, daß der wanderlustige Tagedieb seine Beklemmung sofort wieder los wurde. Die schweren Jungen, die überhaupt in allem ein etwas großes Maul hätten, schienen von der »heulenden Daumenschraube« viel zu viel Wesens zu machen, und schon die ersten Worte des freundlichen Mannes bestätigten ihm dies.

»Mr. Ben Kitson? Ich freue mich immer sehr, wenn ich eine neue Bekanntschaft mache. Wahrscheinlich werden wir uns aber nun öfter sehen. Mit Kleinem fängt man an, mit Großem hört man auf. Heute ist es ein Täubchen. Natürlich nur aus Versehen, ich weiß. Ich esse Täubchen auch sehr gern«, gestand er und schmatzte mit seiner dicken Unterlippe. »Meine Wirtin kauft sie, glaube ich, immer auf dem Geflügelmarkt in Hoxton. Dort sollen die schmackhaftesten zu haben sein. – Wie sind denn sie zu dem Tierchen mit dem kleinen Blechring gekommen?«

Er blinzelte Kitson schelmisch an, und dieser bekam es wieder mit seiner guten Laune zu tun.

»Es ist mir zugeflogen, Sir«, erklärte er ernsthaft, und der Oberinspektor nickte ebenso ernsthaft zurück.

»Wie ich es mir gedacht habe. – Nachdem Sie ihm mit der Schleuder eins hinaufgebrannt hatten. – Wann war denn das und wo?«

Der Landstreicher schubste mit den Hosen, und in seine Mienen trat kühle Abwehr. Nach seiner Gesetzeskenntnis war die Geschichte mit der Taube eine Sache, die niemanden etwas anging, und er wollte sich deshalb nicht schikanieren lassen. »Die heulende Daumenschraube« sollte einmal an den Unrechten geraten sein.

»Keine Ahnung mehr«, meinte er obenhin und zuckte bedauernd mit den Achseln. »Unsereiner erlebt so viel, wenn er über Land reist ...«

Wieder nickte Murphy verständnisvoll und klappte dabei die ausgiebigen Finger seiner Rechten langsam auf und zu. Dann schloß er sie zur Faust und sah Kitson so mitleidsvoll an, daß diesem plötzlich höchst unbehaglich wurde.

»Junge«, sagte er, und seine gefühlvolle Stimme vibrierte, »es gibt kein größeres Unglück als ein schlechtes Gedächtnis. Meins ist ja auch nicht gerade das Beste, aber wenn es sein muß, bekomme ich es schon heran. Schade, daß Sie mit dem Ihren nicht auch so umspringen können.« Seine Augen hafteten traurig auf Kitsons etwas unsicherem Gesicht, und seine Faust bewegte sich wie ein Schmiedehammer gemessen auf und nieder. »Denn was wird geschehen, du Grashüpfer? – Wenn du dich binnen zwei Minuten nicht ganz genau an den Tag und den Ort erinnerst, wird dir meine Hand in den faulen Mund fahren, daß deine schönen Zähne wie Erbsen im ganzen Zimmer herumkollern werden. Und dein ganzes weiteres Leben wird selbst das weichste Täubchen für dein armes Gebiß zu hart sein.«

Ben Kitson war kein Held. Er sah noch, wie der Oberinspektor seine große silberne Taschenuhr bedächtig auf den Tisch legte, dann begannen seine langen dünnen Beine wie Rohre zu schwanken, und er mußte sich krampfhaft die Hosen halten.

»Bei Chesterhills, Euer Gnaden«, stieß er hastig hervor. »Auf einem Hügel mit einer hohen Föhre. Vorgestern, gerade so um Mittag herum.«

»Woher kam sie?« fragte Murphy sanft.

»Von der Küste. Ich sah sie schon von weitem heranstreichen. Sie flog etwas unsicher und nicht sehr hoch, und ich dachte mir, daß dem Tier wohl etwas fehlen dürfte.«

Der Landstreicher hoffte, daß der ungemütliche Mann mit dem freundlichen Gesicht damit zufrieden sein werde, denn mehr hatte er wirklich nicht zu sagen. Aber der Oberinspektor saß mit geschlossenen. Lidern und vorgeschobener Unterlippe regungslos da, als ob er ein kleines Schläfchen hielte, und auch als er endlich blinzelnd erwachte, blieb er zunächst völlig stumm und machte sich nur umständlich in seinen Taschen zu schaffen. Dann legte er zwei Schillinge auf den Tisch und dazu aus einer Aschenschale zwei Zigarrenstummel von der ansehnlichen Dicke und Länge seines Daumens. »Mr. Ben Kitson«, sagte er dabei höflich und mit väterlichem Wohlwollen, »ich nehme an, daß Ihnen bei Ihrer Sommerreise das Geld ausgegangen sein dürfte. Hier haben Sie eine Kleinigkeit, damit Sie sich sattessen und durch einen Schluck stärken können, aber wenn Sie alles versaufen sollten, werden Sie in des Teufels Küche geraten. Sie sind bereits dreimal wegen Landstreicherei vorbestraft, und wenn Sie die Polizei ein viertesmal erwischt, werde ich dafür sorgen, daß Sie eine dauernde Anstellung im Arbeitshaus bekommen. Ich meine es gut mit Ihnen, und deshalb gebe ich Ihnen auch noch zwei Zigarren. Es ist ein vorzügliches Kraut, aber sie haben keinen rechten Zug. Vielleicht versuchen Sie es, ihnen mit Ihrem Sperrhaken Luft beizubringen. Wenn es nicht geht, kauen Sie sie einfach. Und gegen Abend suchen Sie Sam Waterstone in Stepney auf. Er wird Ihnen eine Unterkunft verschaffen und Sie etwas ausstaffieren, denn morgen fahren wir beide über Land! Sie werden pünktlich um neun Uhr beim Holborn Viadukt sein. Und wenn Sie zu irgend jemandem auch nur ein Wort von dem fallen lassen, worüber wir beide uns unterhalten haben, so prügele ich Sie windelweich. Es würde mir zwar schrecklich leid tun«, – er bekam nasse Augen, und seine Stimme wurde unsicher – »aber Sie können Gift darauf nehmen, daß ich es tun werde.«

Erst in gehöriger Entfernung von Scotland Yard wagte es Ben Kitson, seine eiligen Schritte zu hemmen, um zunächst einmal eine der Zigarren Mr. Murphys mit zitternden Händen in Brand zu setzen. Er brauchte dazu ziemlich lange, aber dafür qualmte dann der Stengel wie ein nasser Heuschober, und der Landstreicher konnte darangehen, sich die Ratschläge und Aufträge der »heulenden Daumenschraube« noch einmal nachdrücklich einzuprägen. Er wußte, daß diese verdammt ernst gemeint waren.

Unterdessen war Murphy eifrig damit beschäftigt, die beiden Besucher der letzten Stunde seiner Kartothek einzuverleiben. Wer immer mit ihm in Berührung kam, mußte es sich gefallen lassen, auf einem Stück Pappendeckel verewigt zu werden, und der Oberinspektor nahm diese Arbeit äußerst genau. Er notierte nicht nur alles, was er über den Betreffenden wußte und in Erfahrung bringen konnte, sondern auch alles, was er über ihn dachte, und das waren zuweilen sehr unangenehme und gefährliche Dinge. Glücklicherweise vermochte sie aber niemand zu lesen, denn die Schriftzeichen der »heulenden Daumenschraube« bestanden nur aus ungefähr millimeterstarken Schattenstrichen von verschiedener Größe und jede der schiefen Zeilen ähnelte einem abgenagten Staketenzaun. Bei Mr. Hearson aus Chesterhills nahm der Oberinspektor sein abgegriffenes »Who's who?« zu Hilfe, und je länger er an den verschiedenen Würden und Ehrenstellen und den Klubs zu schreiben hatte, desto ehrerbietiger wurde sein rundes Gesicht.

Als er endlich damit fertig war, beutelte er einige Male höchst nachdenklich an seiner Nase und setzte dann mit fester Hand noch zwei Reihen dicker Pflöcke hinzu.

Als auf sein Klingelzeichen Spang lautlos wie ein Fuchs ins Zimmer geschnürt kam und den Chef stumm und melancholisch in das riesige Tintenfaß starren sah, glaubte er etwas für dessen Zerstreuung tun zu müssen.

»Ich meine«, sagte er mit geheimnisvoller Wichtigkeit, indem er den »Sunday-Narrator« aus der Tasche zog, »daß wir mit dem alten Mann, der im letzten Kapitel plötzlich aufgetaucht ist, eine große Überraschung erleben werden. Es kommt mir ganz so vor, als ob ...«

Er konnte nicht vollenden, denn Murphys große Hand fuhr mit einem raschen Griff nach dem »Sunday-Narrator«, zerknüllte ihn und warf ihn verächtlich in eine Ecke.

»Sie sollten sich in Grund und Boden schämen, Spang, als Beamter von Scotland Yard solchen albernen Schund zu lesen«, rügte der Oberinspektor würdevoll und streng. »Sie scheinen zu wenig zu tun zu haben, aber ich werde Sie schon in Schwung bringen. – Stellen Sie fest, wo ein gewisser Aubrey Rayne wohnt, und dann machen Sie sich fertig, mich zu begleiten.«

Der Sergeant war an die wechselnden Ansichten und Launen seines Chefs gewöhnt und trollte sich eiligst.

3

Inhaltsverzeichnis

Der Assistent am Zoologischen Garten besah sich das Lehmstück, das ihm Oberinspektor Murphy ohne weitere Erklärung behutsam auf den Tisch gelegt hatte, sehr lange und eingehend, dann gab er Auftrag, einen bestimmten Aufseher zu rufen.

»Meiner Ansicht nach ist das entschieden die Fährte einer Großkatze«, meinte er, »ich möchte mich jedoch auf mein Urteil nicht ganz verlassen. Aber der Mann, der kommen wird, wird es uns mit unfehlbarer Sicherheit sagen. Er hat sich jahrelang in allen Weltteilen herumgetrieben, und gerade diese Tiere sind seine Spezialität.«

Der kleine ausgetrocknete Mann hatte aus seinen geschlitzten Augen auch kaum einen Blick auf den scharf umrissenen Abdruck geworfen, als er bereits im Bilde war.

»Die linke Vorderpranke eines Panthers. Es ist aber kein ausgewachsenes Exemplar.«

Murphys Augen funkelten, die Ohren gingen wie Wedel hin und her.

»Eines schwarzen Panthers?«

»Es kann auch ein gefleckter gewesen sein«, erklärte der alte Jäger mit einem Achselzucken.

»Wollen Sie sich vielleicht unsere Tiere ansehen?« fragte der Assistent entgegenkommend, und Murphy war von diesem Vorschlag sofort begeistert. Er hatte an diesem Vormittag schon so viel von diesen gefährlichen Bestien zu hören bekommen, daß es ihn gelüstete, sie näher kennenzulernen. Seine zoologischen Kenntnisse und Vorstellungen waren sehr verschwommener Art, wenn er aber mit einer Sache irgendwie zu tun bekam, liebte er es, darüber völlig im klaren zu sein. Der kleine dünne Spang schlürfte teilnahmslos hinter ihm drein, wie ein wohldressierter Hund hinter seinem Herrn. Er hatte keine Ahnung, worum es sich bei dieser seltsamen Exkursion eigentlich handelte, und Neugierde kannte er nicht. Er wußte, daß ihm eine vorzeitige Frage höchstens eine saftige Grobheit seines Chefs eintragen konnte. Wenn es an der Zeit war, würde ihn dieser schon auf die Fährte setzen, und dann begann seine Arbeit.

In dem ausgedehnten Raubtierhaus äugelte der Oberinspektor lebhaft nach allen Seiten, aber er mußte sich eine ziemliche Weile gedulden, ehe sie an Ort und Stelle waren. Man hatte die drei schwarzen Sundapanther, zwei alte Tiere und ein junges, sogar von ihren gefleckten Artgenossen abgesondert, da ihre unzähmbare Wildheit jede Verträglichkeit ausschloß. Sie hatten auch kaum die kleine Gruppe vor ihren Gitterstäben erblickt, als sie die langgestreckten Leiber aufschnellten und mit federnden Gelenken und fliegenden Flanken einen erregten Rundgang begannen.

Murphy hielt seine Melone mit beiden Händen an die Brust gedrückt und wandte keinen Blick von den fast tiefschwarzen wiegenden Körpern der geschmeidigen Katzen. Erst nach langen Minuten wandte er langsam den Kopf und winkte den Sergeanten ganz nahe heran.

»Sehen Sie sich das genau an, Spang«, raunte er. »Das sind sehr bösartige wilde Tiere. Ich mache Sie darauf aufmerksam, weil man bei Ihrer Einfalt nie vorsichtig genug sein kann.«

Spang riß gehorsam die Augen auf und nickte krampfhaft, wie er es immer tat, wenn er absolut nicht wußte, was sein Chef eigentlich von ihm wollte.

Erst als sie den Regents Park schon längst passiert hatten und in einer klapprigen Autodroschke gegen Süden fuhren, öffnete der schläfrige Oberinspektor wieder den Mund, und der arme Sergeant mußte abermals eine wenig schmeichelhafte Kritik seiner geistigen Fähigkeiten über sich ergehen lassen. »Wenn ich nicht wüßte, daß es bei Ihrer Beschränktheit ganz zwecklos ist, möchte ich Sie fragen, weshalb Sie mir eigentlich diesen Tagedieb Kitson mit seinem Stückchen Blech herangeschleift haben. Wissen Sie überhaupt, was das für ein Ding war?«

Der Sergeant machte sich so dünn wie möglich und blinzelte seinen Vorgesetzten forschend von der Seite an. Wenn dieser so gesprächig und ausfallend wurde, war gewöhnlich etwas los, und Spang machte seine Hechtschnauze noch spitziger als sie ohnehin schon war.

»Ich dachte, es sei ein Ring von einer Brieftaube«, bemerkte er etwas unsicher. »Jedenfalls kam mir das Zeug verdächtig vor.«

»Was Sie nicht sagen!« höhnte Murphy. »Es kam Ihnen verdächtig vor! Wenn ich meinem Hannibal, der doch nur ein Geschöpf mit vier Beinen ist, so ein Blechstück zeigen werde, auf dem eine Zahl, ein Panther und mein schöner ehrenwerter Name in einem Kreis eingeritzt sind, wird ihm das nicht nur verdächtig vorkommen, sondern er wird sofort auch wissen, was das zu bedeuten hat. Aber das ist eben ein intelligenter Hund, mein Lieber. Intelligenz, das ist die Hauptsache, und die haben Sie nicht. Wenn Sie sie nämlich hätten, würden Sie schon längst den gelben Affen bemerkt haben, der hinter uns drein ist, seitdem wir die Nase aus Scotland Yard herausgesteckt haben. Falls Sie sich aber unterstehen sollten, jetzt den Kopf nach ihm umzudrehen«, fügte er mit leiser Drohung hastig hinzu, »so kriegen Sie einen Puff, daß Sie wie ein Ball aus dem Wagen springen. – Wo, sagten Sie, daß dieser Aubrey Rayne wohnen soll?«

»118, Brook Street«, gab Spang dienstbeflissen zurück und starrte mit steifem Hals geradeaus.

Murphy beugte sich schnaufend zu dem Schofför und gab die Adresse weiter.

»Bei dem nächsten Zigarrenladen, an dem wir vorüberkommen, können Sie einen Augenblick haltmachen«, fügte er hinzu.

Das Stoppen geschah etwas unvermittelt, da der Mann das Geschäft erst im letzten Augenblick gewahrte, und der luxuriöse offene Zweisitzer, der dicht hinter der Droschke her war, mußte sich bequemen, rasch auszuweichen und vorzufahren.

Der Fahrer war ein eleganter Herr von etwa vierzig Jahren, aber viel konnte man von ihm nicht sehen, denn es schien plötzlich an der Kupplung irgend etwas nicht in Ordnung zu sein, und er hatte den Kopf tief nach unten gebeugt.

»Haben Sie ihn?« fragte Murphy leichthin, indem er aus der Droschke kletterte.

»Totsicher«, hauchte Spang, und er wußte, was er sich zutrauen durfte. Obwohl er dem Colonel Rowcliffe nur für den Bruchteil einer Sekunde voll ins Gesicht hatte sehen können, saß das Bild fest in seinem Gedächtnis, und er war imstande, den Mann fortan unter Tausenden wieder herauszufinden. Er besaß zwar keine Intelligenz, aber dafür hatte er andere besondere Fähigkeiten.

4

Inhaltsverzeichnis

Der Mann in der Brook Street sah sehr vornehm aus, und ebenso vornehm war jedes Stück seiner Umgebung, aber Murphy hatte seine Erfahrungen und gab auf derartige Äußerlichkeiten nicht viel. Wesentlicher war für ihn das glatte männliche Gesicht mit der etwas starken geraden Nase und den scharfen grauen Augen, die ständig nur unter halbgeschlossenen Lidern hervorblickten, aber der Teufel sollte da klug werden, wenn weder in dem einen noch in dem anderen ein Ausdruck lag.

Dieser Mr. Aubrey Rayne trug eine geradezu steinerne Maske, und der phlegmatische Oberinspektor begann nervös zu werden. Er hatte geglaubt, daß die Nennung seines Namens genügen würde, den andern unruhig oder neugierig zu machen, aber der Mann mit dem tadellosen Scheitel, in dem es hie und da bereits etwas silbrig schimmerte, tat nichts dergleichen. Er blies den Rauch seiner Zigarette mit gespitzten Lippen vor sich hin und wartete mit höflicher Gelassenheit, was Scotland Yard von ihm haben wollte. Murphy kannte diese Taktik und hielt sehr viel von ihr, aber nun, da sie sein Gegenüber anwandte, wurde sie ihm höchst unsympathisch. Der Mann schien sehr viel Zeit zu haben, mehr als er selbst, und war imstande, stundenlang unerschütterlich verbindlich dreinzusehen.

Der Oberinspektor zerrte an seinen dicken Daumen, daß sie knackten, und beschloß, einen Schritt weiterzugehen.

»Es handelt sich bloß um eine kurze Information, Mr. Rayne«, sagte er bieder und bescheiden. »Sie sind wohl Ausländer?«

»Nein, ich bin Engländer«, erklärte der Herr mit dem kalten Gesicht und sah angelegentlich auf seinen eleganten Straßenschuh.

»Um so besser«, stieß Murphy aufs Geratewohl hervor, um das Gespräch, das schon wieder ins Stocken zu geraten drohte, in Fluß zu erhalten. »Aber Sie kamen wohl erst kürzlich aus dem Ausland?«

»Allerdings. Ich habe die letzten drei Jahre auf Java verbracht.«

»Java! – Sehen Sie, da haben wir's. Ein schönes und interessantes Land. So ganz anders, als unsere langweilige Insel. Und die Leute dort mögen wohl auch von einem etwas kernigeren Schlag und nicht so schreckhaft sein, wie hierzulande.« Er blinzelte nach dem Herrn des Hauses, und als dieser noch immer kein Interesse verriet, rieb er sich verzweifelt das Kinn.

»Ich kann mir ganz gut vorstellen, daß man sich zum Beispiel auf Java ein paar Panther hält, wie bei uns ein paar Hunde, und daß dies dort weiter nichts ausmacht. Aber bei uns ...«

Zum erstenmal sah der gefürchtete Mann von Scotland Yard die grauen Augen voll auf sich gerichtet und hielt unwillkürlich inne. In dem Blick lag etwas, was er sich nicht sofort zu deuten wußte.

»Sie wollen von den Tieren in Spittering Farm sprechen? Hat es irgendeinen Anstand gegeben?«

Murphy war froh, daß er endlich dort war, wohin er gelangen wollte, und hob abwehrend beide Hände.

»Einen Anstand? Keine Spur«, erwiderte er lebhaft. »Die Pantherchen sollen ja gut verwahrt sein, wie ich mir sagen ließ, und sich tadellos benehmen. Aber unsere Landbevölkerung hat zu solchen exotischen Tieren leider keine Beziehungen und traut ihnen nicht recht. Einem Javaner macht es gewiß gar nichts aus, mitten unter diesen netten Katzen spazieren zu gehen, aber so ein Engländer aus Maldon oder Chesterhills bekommt es schon mit der Angst zu tun, wenn er nur hört, daß so etwas irgendwo in der Nähe hinter Gitterstäben hockt.«

»Ist eine Beschwerde eingelaufen?« forschte Rayne mit seiner ruhigen Stimme weiter, und der Oberinspektor stellte fest, daß sie ganz zu dem seltsamen Blick paßte.

»Eine Beschwerde war es gerade nicht«, erwiderte er, »aber man wollte wissen, ob so etwas erlaubt ist. Natürlich habe ich entschieden ›ja‹ gesagt, denn wo kämen wir hin, wenn wir auf die übertriebene Ängstlichkeit gewisser Leute Rücksicht nehmen wollten. Da könnte nächstens einer sagen, daß er sich vor meinem Hannibal fürchtet und verlangen, daß dieses herrliche Tier umgebracht werden soll. Das gibt es natürlich nicht, ob es sich nun um einen Hund oder ein paar Panther handelt. Solange Ihre javanischen Haustiere hübsch in ihrem Käfig bleiben, darf ihnen nichts geschehen. Und deshalb habe ich mir eigentlich erlaubt, Sie aufzusuchen. – Sie lassen sie doch hoffentlich nicht hie und da ein bißchen auslaufen?«

Murphy machte eine kleine Pause. Er hatte in sein gemütliches, harmloses Gewäsch wieder einmal eine wichtige Frage eingeflochten und war begierig, was der zugeknöpfte Mr. Rayne darauf wohl erwidern würde. Aber die Antwort brachte ihn nicht weiter.

»Ich denke nicht daran.«

Der Oberinspektor entschloß sich, mit verständnisvollem Gesicht zu nicken, war aber weit davon entfernt, locker zu lassen.

»Sehen Sie, das habe ich mir gleich gedacht. Das wäre wohl auch keine so leichte Sache. Wenn ich meinem Hannibal von Zeit zu Zeit ein bißchen Freiheit gebe, so pfeife ich einfach, wenn ich glaube, daß es genug ist, und der Hund ist da. Oder manchmal auch nicht, weil er zuweilen seinen eigenen Kopf hat, aber schließlich kommt er doch. Nun kenne ich mich zwar in den Lebensgewohnheiten von Panthern nicht recht aus, aber ich glaube, daß diese sich nicht auf den Pfiff dressieren lassen und überhaupt nicht mehr kommen, wenn sie einmal draußen sind. Man müßte sie also wohl an der Leine führen«, fügte er nachdenklich hinzu und schob die dicke Unterlippe vor. »Kein Spaß, so etwas, aber wenn man mit den Tieren umzugehen weiß, ist vielleicht gar nicht so viel dabei.« Er faltete die Hände über dem Bauch und sah den andern mit kindlicher Naivität an. »Halten Sie das für möglich?«

Er erhielt nur ein kühles Achselzucken zur Antwort und war darüber sehr enttäuscht.

»Deshalb bin ich nämlich auch gekommen«, erklärte er niedergeschlagen. »Ich möchte, daß Sie mir als Mann, der in solchen Dingen erfahren ist, etwas helfen. Die Leute behaupten, daß außerhalb Spittering Farm Pantherspuren entdeckt worden seien. Ein Forstwart soll das aufgebracht haben, aber was versteht so ein Kaninchenjäger schon davon. Der hat in seinem Leben höchstens die Fährte einer wildernden Katze oder eines Fuchses zu Gesicht bekommen. Da hätte ich natürlich nicht das mindeste darauf gegeben. Aber nachdem man mir auch im Zoologischen Garten gesagt hat, daß es die Tatze von einem Panther sei, kenne ich mich nun nicht aus.«

Er schnaufte tief auf, und das viele Sprechen schien ihn so angestrengt zu haben, daß er für eine Weile erschöpft die Augen schließen mußte. Nur die Spitzen seiner Ohren bewegten sich unmerklich.

»Ich kann mir die Sache ebensowenig erklären«, sagte Aubrey Rayne, und es klang so gelassen und bestimmt, daß der Oberinspektor rasch die Äuglein wieder aufriß. Aber in dem beherrschten, hochmütigen Gesicht war nichts zu lesen, und Murphy dachte verzweifelt an das neue Blatt seiner Kartothek.

»Dieser Mann wird uns noch viel zu schaffen geben«, knurrte er, als er einige Minuten später zu dem wartenden Spang wieder in die Droschke kroch. »Nicht viel mehr als dreißig, aber abgebrüht wie der älteste Galgenvogel. Merken Sie sich das Haus, und wenn Sie einen Mann herauskommen sehen, den Sie für einen Gardeoffizier halten, das ist er.«

»Dieser Mann von Scotland Yard spricht zuviel, und das gefällt mir nicht«, sagte fast in demselben Augenblick Aubrey Rayne zu dem Diener mit dem würdigen weißen Haarkranz um die schimmernde Glatze, der ehrerbietig vor ihm stand. »Die Sache wird nicht so glatt ablaufen, wie wir gehofft hatten, denn man weiß, daß die Tiere draußen waren. Da muß es natürlich Lärm geben.« Er schien etwas ärgerlich und marschierte mit großen Schritten auf und ab. »Wo sind die Kleider, die ich Samstag nachts getragen habe?« fragte er dann plötzlich.

»Ich habe sie sorgfältig gereinigt und aufgebügelt.«

»Das ist zu gefährlich, denn gewisse Spuren lassen sich wahrscheinlich trotzdem nachweisen. Verbrennen Sie sie sofort«, entschied Rayne, »in einigen Stunden könnte es vielleicht schon zu spät sein. Und dann lassen Sie in Spittering Farm wissen, daß man dort alles bereithalten soll. Die Sache mit dem Mädchen muß in Ordnung gebracht werden, bevor man uns von irgendeiner Seite in die Quere kommt.« Der große breitschultrige Mann sprach bestimmt und mit einer Ruhe, als ob es sich bei seinen Anordnungen um die alltäglichsten Dinge handelte. »Wird sich das heute noch machen lassen?« Er warf einen raschen Blick nach der Uhr, und zum erstenmal klang aus seiner Stimme eine leise Ungeduld. »Es ist knapp vor eins. Bis Sie die gewissen Dinge hier besorgt haben, wird es zwei Uhr werden. Können Sie das Mädchen jederzeit erreichen?«

Der Diener verneigte sich bejahend, und in seinem ehrlichen Schafsgesicht zeigte sich ein verschlagenes Lächeln.

»Unsere Leute sind sehr geschickt und zuverlässig, Sir. Sie lassen die Lady seit einer Woche nicht eine Minute aus den Augen, und wenn Sie den Befehl geben, wird er in kürzester Zeit ausgeführt sein.«

Rayne sah aus den halbgeschlossenen Lidern auf den Mann hinab.

»Ohne jedes Aufsehen, Tom!« sagte er nachdrücklich. »Schärfen Sie das den Burschen gehörig ein. Und sagen Sie ihnen, daß ich ihnen das Genick breche, wenn sie vielleicht Gewalt anwenden sollten.«

Tom gestattete sich, leicht die Hand zu heben.

»Dazu wird es nicht kommen, Sir. Ich weiß, daß es sich um eine Lady handelt, und es wäre einigermaßen unverantwortlich, sie diesen ganz tüchtigen, aber etwas, rauhen Leuten zu überlassen. Ich werde daher die Sache selbst übernehmen.«

»Wissen Sie auch, daß nach dem englischen Gesetz mindestens fünf Jahre darauf stehen?«

Auf den kleinen Mann schien das wenig Eindruck zu machen, denn er schlug die etwas vorstehenden Augen auf und lächelte. »Ich habe doch schon Dinge gewagt, bei denen es um den Kopf ging, Sir«, bemerkte er bescheiden.

»Wie Sie wollen«, sagte Rayne kurz. »Natürlich ist es mir lieber, weil ich weiß, daß ich mich auf Sie in jeder Hinsicht verlassen kann. Aber ich habe es Ihnen nicht geheißen. Ich werde mich auch bemühen, Sie herauszuhauen, wenn die Sache schief gehen sollte, aber das kann eine sehr geraume Zeit dauern, und ein englisches Gefängnis ist kein angenehmer Aufenthalt.«

»Man muß sich an alles gewöhnen, Sir«, meinte Tom phlegmatisch, und sein Herr zuckte kurz mit den Achseln.

»Vergessen Sie nicht die Kleider und dann verständigen Sie Mr. Forge, daß ich unterwegs bin.«

In der nächsten halben Stunde tat Tom mit pedantischer Genauigkeit alles, was ihm befohlen worden war. Er trennte Knöpfe und Schnallen von einem Bündel von Kleidern und schob dann Stück um Stück in den zugigen Küchenofen. Als er endlich fertig war, öffnete er für alle Fälle das Fenster und den Luftschacht und ließ sogar einen elektrischen Ventilator spielen.

Wenige Minuten vor zwei Uhr verließ der nett gekleidete ältere Herr das Haus. Er sah mit seinem Widdergesicht und den großen abstehenden Ohren zwar nicht sonderlich hübsch aus, aber er machte einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck, und darauf kam es schließlich vor allem an.

5

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Grace Wingrove saß mit einer zornigen Falte zwischen den dunklen Brauen und einem Zucken um den hübschen Mund in der Seitenkulisse der kleinen Parisiana-Bühne, und alles in ihr war in Empörung. Sie hatte das Gefühl, daß ihre gegenwärtige Stellung, die dritte, die sie innerhalb eines Jahres bekleidete, nur mehr von allerkürzester Dauer sein würde, aber diese Aussicht erleichterte sie eigentlich mehr, als sie sie bedrückte. Sie war eben wieder einmal hereingefallen, und je früher sie wieder loskam, desto besser war es.

Sie hatte sich, nachdem an ihr letztes Büro die Gerichtssiegel angelegt worden waren, um das verlockende Angebot einer »Sekretärin mit perfekten französischen Kenntnissen und stilistischen Fähigkeiten für ein Kunstinstitut« beworben und war in dem intimen Parisiana-Theater im Südwesten gelandet. Hier hatte sie von der Korrespondenz bis zur Verfassung der Tagesprogramme die gesamte Büroarbeit zu besorgen, denn der stets geschäftige fette Direktor huldigte dem Grundsatz, für möglichst wenig Geld möglichst viel Arbeit zu verlangen. Aber dafür durfte sie am Abend in den pikanten Schwänken französischer Herkunft, die sie selbst zu übersetzen hatte, die verständnisvollen, diskreten Stubenmädchen spielen.

Diesmal aber sollte Grace Wingrove sogar avancieren und nebenbei auch noch eine Hauptrolle, eine junge Dame in einer Badewanne, übernehmen, und deshalb war es zu dem Krach gekommen.

»Das werde ich nicht tun«, hatte sie entrüstet abgelehnt, aber der zappelige Regisseur mit dem Nußknackergesicht, der die vertrottelten Ehemänner spielte, hatte gerade einen besonders schlechten Tag.

»Sie werden es tun!« hatte er zurückgebrüllt. »Das ist doch die einzige Rolle, zu der Sie überhaupt taugen. Wenn wir hier ein anständiges Theater hätten, würde man Sie außer in einer Badewanne oder in einem Bett überhaupt nicht auf die Szene lassen. Natürlich schlafend. Sie können ja weder gehen, noch stehen, und wenn Sie den Mund aufmachen, bekommt man Krämpfe.«

Sekundenlang hatte das junge Mädchen Miene gemacht loszufahren, aber dann war es bei einem verächtlichen Blick aus den dunklen Augen und einem Achselzucken geblieben.

Mittlerweile ging auf der Szene die Probe weiter, und die geladene Atmosphäre brachte es mit sich, daß der gallige Regisseur mit dem weiblichen Star auch aneinander geriet. Miß Jetta Ormond war eine zierliche Person mit einem pikanten Gesichtchen und einem roten Bubikopf und hatte den Teufel in dem quecksilbernen Leib. Damit, und mit ihren wunderbaren Beinen, heimste sie ihre stürmischen Erfolge bei dem zumeist aus Lebemännern bestehenden Publikum des Theaters ein. Im übrigen hatte sie falsche pathetische Töne und eine etwas schrille Stimme, die zuweilen wie eine Kindertrompete klang.

Sie hatte eben in einer schwülen Liebesszene wieder einmal einige ihrer schrillen Laute zum besten gegeben, als der Regisseur sich entsetzt an die Ohren fuhr.

»Einen Augenblick, Miß Ormond, das halte ich nicht aus. Hier muß irgendwo ein Pfau sein. Ein Pfau ist ein wunderschönes Tier, aber er hat keinen Verstand, und wenn er schreit, ist das so, als ob man einem mit einer Gilletteklinge über das Trommelfell fahren würde. – Inspizient, sehen Sie nach, wo das Vieh steckt und schmeißen Sie es hinaus, denn so etwas hat nichts beim Theater zu suchen. – So, und nun setzen wir fort. Die ganze Szene noch einmal von vorne!«

Miß Ormond duckte sich wie eine gereizte Katze, und ihre funkelnden Augen suchten nach einem Gegenstand in der Nähe, mit dem sie dem Mann im Zuschauerraum bei der nächsten Anzüglichkeit die gebührende Antwort geben könnte. Vorläufig begnügte sie sich mit einer indirekten Erwiderung.

»Wenn Sie den blöden Pfau finden, Inspizient«, quietschte sie, »so fragen Sie ihn, ob er früher nicht vielleicht Regisseur war.«

Vielleicht hätte das kritische Geplänkel seine unabsehbare Fortsetzung gefunden, wenn in diesem Augenblick nicht Colonel Rowcliffe auf der Bühne erschienen wäre. Der elegante, dunkelhaarige Herr mit dem etwas verlebten gelben Gesicht durfte sich das erlauben, denn er war nicht nur der Freund von Miß Jetta, sondern auch ein Mann, den der Direktor in seinem gutturalsten Tonfall nur »Mein hochverehrter Gönner« nannte. Diese ehrenvolle Bezeichnung kostete den Colonel zwar sehr viel Geld, aber dafür durfte er in dem Theater aus- und eingehen, und schalten und walten, wie es ihm beliebte. Wenn seine Freundin, Miß Ormond, Probe hatte, kam er gewöhnlich zu dieser Stunde, um sie abzuholen.

»Darf ich warten, bis Sie fertig sind?« fragte er mit höflicher Förmlichkeit, »oder wünschen Sie, daß ich Sie später abhole?«

»Warten Sie!« entschied der Rotkopf mit einem herausfordernden Blick nach dem Zuschauerraum. »Wir werden dann rascher vom Fleck kommen, weil gewisse Leute den Mund nicht so voll nehmen werden.«

Der Regisseur klatschte etwas krampfhaft in die Hände.

»Wir probieren sofort den letzten Einakter, meine Herrschaften, den ›Besuch in der Badewanne‹. Spieldauer zwanzig Minuten. Wenn Sie alle bei der Sache sind, können wir die Kleinigkeit in einer halben Stunde fix und fertig gestellt haben. – Miß Wingrove, auf die Bühne! Wir beginnen.«

Grace trat hochaufgerichtet aus der Kulisse. Sie wußte, daß nun die Entscheidung kam, und in ihrem stolzen Gesicht und ihrer ganzen Haltung lag kampfbereite Abwehr.

»Sie wünschen?« fragte sie kurz.

Dem Regisseur lag daran, sich vor dem Colonel in Szene zu setzen.

»Ich wünsche gar nichts«, gab er brüsk zurück, »sondern wir gehen jetzt weiter. Nehmen Sie sich einen Stuhl in den Hintergrund und markieren Sie damit die Badewanne. Davor kommt ein Vorhang. Los!«

Das junge Mädchen rührte sich nicht.

»Ich habe Ihnen bereits erklärt, daß ich dafür nicht zu haben bin«, sagte sie ruhig.

»Geben Sie keine langen Erklärungen ab«, schrie der nervöse Mann, »denn die helfen Ihnen gar nichts.«

»Dann werde ich mir eben selbst helfen.«

Die Worte flogen blitzschnell hin und wieder, und Miß Ormond begann höchst ungeduldig zu werden. Sie hatte es bisher unter ihrer Würde gefunden, an eine so unbedeutende Kollegin, wie es Grace Wingrove war, auch nur einen Blick zu verschwenden, und sie war nicht gesonnen, sich durch eine solche Person aufhalten zu lassen.

»Machen Sie keine Geschichten«, herrschte sie das junge Mädchen über die Schulter an. »Glauben Sie, ich werde Ihretwegen hier die Zeit vertrödeln?«

Die Sympathien Graces für den rotköpfigen Star waren nicht groß, und die Einmengung von dieser Seite brachte ihre mühsam behauptete Selbstbeherrschung völlig ins Wanken.

»Das verlange ich nicht. Setzen doch Sie sich in die Badewanne, und alles ist in Ordnung. Sie brauchen ja dazu überhaupt nichts mehr abzulegen.«

Miß Jetta schnellte mit wutverzerrtem Gesicht herum, und ihre Stimme überschlug sich.

»Sie unverschämtes Ding, was nehmen Sie sich heraus? Wie können Sie sich unterstehen, so mit mir zu sprechen? Bin ich Ihresgleichen? Habe ich mich wie Sie im Zirkus oder in Matrosenkneipen herumgetrieben und mir alle möglichen Dinge auf den Leib malen lassen?«

Grace stand einen Augenblick wie erstarrt, dann aber geschah etwas so blitzschnell, daß es selbst der in unmittelbarer Nähe befindliche Colonel nicht zu verhindern vermochte. Das junge Mädchen holte mit der Hand aus, und noch in derselben Sekunde gab es einen klatschenden Schall, dem ein gellender Wutschrei des Stars folgte.

Dann ging Grace Wingrove hocherhobenen Hauptes von der Bühne ab und überließ das Feld Miß Ormond, die sich wie eine Wahnsinnige gebärdete. Sie raufte sich das Haar, weinte und schrie, und als Rowcliffe versuchte, sie zu beschwichtigen, entlud sich ihr ganzer ohnmächtiger Zorn über ihn. »Das werde ich Ihnen nie vergessen, Sie jämmerlicher Feigling«, heulte sie. »Ich werde in gröbster Weise beleidigt, und Sie stehen wie ein Haubenstock daneben. So etwas muß ich mir gefallen lassen – von einer tätowierten Dirne! Sie ist genau so ein gemeines wildes Tier, wie die Katze, die sie auf der Schulter hat.«

Der Colonel faßte seine Freundin etwas unsanft am Handgelenk.

»Was hat sie?« raunte er hastig und halblaut.

Miß Ormond sah in der Gelegenheit, das Geheimnis ihrer Gegnerin ausplaudern zu können, einigen Trost und bezähmte daher den Weinkrampf, in den sie verfallen war.

»Ein wildes Tier hat sie auf der Achsel. Einen Tiger oder so etwas. Ich habe es genau gesehen, als sie sich einmal umzog. Es ist mindestens fingerlang. Scheußlich. Und von solch einem Auswurf der Menschheit muß ich mich mißhandeln lassen.«

Sie brach neuerlich in ein hysterisches Schluchzen aus und stampfte mit den Füßen, aber auf den Colonel schien das alles keinen Eindruck zu machen. Er war noch fahler als sonst und starrte sie wie geistesabwesend an. Dann griff er hastig nach Hut und Stock und stürmte ohne ein Wort in wilder Eile davon. Er hatte Glück. Grace war rasch noch in ihr Büro gelaufen, um ihre paar Habseligkeiten zusammenzuraffen, und Rowcliffe sah sie gerade durch das Tor schlüpfen, als er von der Bühne kam. Sie verließ das Gebäude in förmlicher Flucht, und der Colonel mußte gewaltig ausgreifen, wenn er sie noch einholen wollte, bevor sie in dem dichten Straßengewühl verschwand. Er kannte sie nicht persönlich, obwohl ihm ihre äußerst vornehm wirkende Erscheinung schon längst aufgefallen war, aber Miß Ormond hatte scharfe Augen und duldete keine Seitenblicke.

Nur ihr Name war ihm bekannt, und als er endlich dicht hinter ihr war, rief er sie etwas atemlos und erregt an.

Sie wandte flüchtig den Kopf, aber als sie ihn erkannte, begann sie noch mehr zu laufen. Er mußte sie jedoch unbedingt sprechen und blieb daher trotz des Aufsehens, das diese Jagd erregte, dicht auf ihren Fersen. Endlich kam er so nahe, daß er sie am Arm zu fassen vermochte.

»Miß Wingrove«, begann er hastig, aber sie versuchte sich loszureißen, und als ihr dies nicht gelang, schreckte sie selbst vor einem öffentlichen Skandal nicht zurück.

»Lassen Sie mich«, stieß sie heftig hervor. »Wollen Sie, daß ich die Hilfe der Polizei in Anspruch nehme?«

Die Sache war jedoch Rowcliffe so wichtig, daß er sie noch immer nicht freigab.

In diesem Augenblick löste sich aus der Menge, die sich bereits angesammelt hatte, ein ehrwürdiger älterer Herr mit einem Widdergesicht, lüftete vor dem jungen Mädchen mit großer Höflichkeit den Hut, maß den Colonel mit einem herausfordernden Blick und deutete dann einladend auf ein Auto, das dicht am Rand des Gehsteigs hielt.

Rowcliffe ließ unwillkürlich locker, und Grace benützte diese Gelegenheit, um ohne Bedenken in den Wagen zu schlüpfen. Gleich darauf saß der hilfsbereite Herr neben ihr, und das Auto fuhr schnell an.

Der Colonel sah ihm gespannt nach und nagte nervös an seinem buschigen dunklen Schnurrbart. Was er seit zwei Tagen vergeblich zu finden bemüht war, hatte ihm eben ein lächerlicher Zufall in den Weg geführt. Und wenn sich ihm Grace Wingrove augenblicklich auch entzogen hatte, nun, da er wußte, wer »die Lady mit der Pantherkatze« war, konnte sie ihm nicht mehr entgehen.

6

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Peter Forge stieß zwischen den verräucherten Zähnen und der ebenso verräucherten Dauerbrandpfeife einige unartikulierte Laute hervor, und diese mußten Fürchterliches bedeuten, da das gelbhäutige Gesicht, das sich eben wieder in dem Torspalt gezeigt hatte, blitzschnell verschwand.

Dann nahm er wieder seinen schwerfälligen Spaziergang längs der verwitterten Mauer von Spittering Farm auf und blickte dabei ungeduldig den Fahrweg entlang, der in einer Entfernung von etwa einer Meile in die Landstraße mündete. Weiter reichte sein Auge nicht, da die Gegend hügelig und mit Waldparzellen bestanden war, und Peter Forge bekam es immer mehr mit der Unruhe zu tun. Das Teufelsding, durch das man von hier bis hinein nach London und, wie er sich hatte sagen lassen, sogar noch viel weiter sprechen konnte, hatte ihn wieder einmal nervös gemacht, und er wäre froh gewesen, wenn er Mr. Aubrey Rayne schon an der Seite gehabt hätte.

Er watschelte in seinen weiten Beinkleidern, der losen Leinwandjacke und dem offenen Hemd breitspurig und unbeholfen wie ein Tanzbär den ausgetretenen Rasenpfad auf und ab, und seine Pfeife qualmte wie der Rauchfang einer Lokomotive. Er ähnelte dem mächtigen Strunk eines Urwaldbaumes mit vier abstehenden Aststümpfen, und es war nicht so recht zu unterscheiden, wo der kurze dicke Hals aufhörte und der gewaltige Schädel mit den ergrauenden langen Haarsträhnen ansetzte. Von den Schläfen lief um das Kinn ein schütterer Schifferbart, und das übrige Gesicht bedeckten viertelzöllige Stoppeln. Auf keinen Fall sah der Mann vertrauenerweckend aus, und wenn er zuweilen mit einem kräftigen Knüppel in der Rechten durch die Gegend wanderte, wich ihm alles auf Hunderte von Schritten aus. Peter Forge merkte das sehr wohl, und in seine harten Züge kam dann ein Grinsen, das sie noch wilder erscheinen ließ.