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Der opulente Historienroman »Die Pastellmalerin« von Gabriela Galvani über die Liebe der berühmten »Pastellkönigin« jetzt als eBook bei dotbooks. Sie ist die größte Malerin des Rokokos – doch ihr Herz zutiefst zerrissen … Paris 1720: Sie ist noch gänzlich unbekannt, als Rosalba Carriera in die Stadt der Lichter und der Künste kommt – aber schnell kann sie mit ihren Gemälden mächtige Gönner für sich gewinnen. Rosalbas Aufstieg zum strahlendsten Stern von Paris scheint nichts aufhalten zu können. Doch dann legt sich ein dunkler Schatten über ihr Glück, als sie dem charismatischen John Law begegnet, dem Bankier des Königs. Sie erkennt in ihm jenen mysteriösen Mann wieder, dem sie einst während eines venezianischen Karnevals ihr Herz schenkte; inzwischen ist er jedoch an eine andere Frau gebunden und tief in die Intrigen des Hofes verstrickt! Gegen ihren Willen findet sich Rosalba bald inmitten eines gefährlichen Spiels aus Macht und Leidenschaft, Sehnsucht und Rache wieder, das sie in den Abgrund zu ziehen droht … Jahrhundertelang war sie in Vergessenheit geraten – nun wird eine der größten Malerinnen des 18. Jahrhunderts neu entdeckt: Gabriela Galvani setzt ihr mit diesem Roman ein würdiges Denkmal. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Roman »Die Pastellmalerin« von Gabriela Galvani, die unter den Namen Micaela Jary und Michelle Marly regelmäßig die Bestsellerlisten erobert. Dieser Roman ist auch bekannt unter dem Titel »Die Pastellkönigin«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 672
Veröffentlichungsjahr: 2021
Über dieses Buch:
Sie ist die größte Malerin des Rokokos – doch ihr Herz zutiefst zerrissen … Paris 1720: Sie ist noch gänzlich unbekannt, als Rosalba Carriera in die Stadt der Lichter und der Künste kommt – aber schnell kann sie mit ihren Gemälden mächtige Gönner für sich gewinnen. Rosalbas Aufstieg zum strahlendsten Stern von Paris scheint nichts aufhalten zu können. Doch dann legt sich ein dunkler Schatten über ihr Glück, als sie dem charismatischen John Law begegnet, dem Bankier des Königs. Sie erkennt in ihm jenen mysteriösen Mann wieder, dem sie einst während eines venezianischen Karnevals ihr Herz schenkte; inzwischen ist er jedoch an eine andere Frau gebunden und tief in die Intrigen des Hofes verstrickt! Gegen ihren Willen findet sich Rosalba bald inmitten eines gefährlichen Spiels aus Macht und Leidenschaft, Sehnsucht und Rache wieder, das sie in den Abgrund zu ziehen droht …
Über die Autorin:
Hinter dem Pseudonym Gabriela Galvani verbirgt sich die Bestsellerautorin Micaela Jary, die unter dem Namen Michelle Marly internationale Erfolge feiert. Sie wurde in Hamburg geboren und wuchs in der Schweiz und in München auf. Nach ihrem Studium arbeitete sie lange als Journalistin für diverse Printmedien, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Paris pendelt sie heute als freie Autorin zwischen Berlin, München und dem Landkreis Rostock.
Die Autorin im Internet:
www.gabrielagalvani.de/start.xhtml
www.micaelajary.de/
Gabriela Galvani veröffentlichte bei dotbooks ihre historischen Romane »Die Liebe der Duftmischerin«, »Die Seidenhändlerin«, »Die Königin des weißen Goldes«, »Die geheime Königin« und »Die Liebe der Buchdruckerin«. Unter Micaela Jary erscheint bei dotbooks ihr 20er-Jahre-Roman »Die Tote im weißen Kleid«.
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Dieses eBook ist bereits unter dem Titel »Die Malerin von Paris« erschienen.
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eBook-Neuausgabe Januar 2021
Dieses Buch erschien bereits unter dem Namen Micaela Jary und dem Titel »Die Pastellkönigin« 2005 bei Droemer Knaur und 2013 bei Weltbild. Unter dem Titel »Die Malerin von Paris« erschien es 2021 bereits bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Micaela Jary
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Gemäldes von Nicolas Jean Baptiste Raguenet »A View of Paris with the Ile de la Cite« und shutterstock/VeronArt16
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-470-1
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Gabriela Galvani
Die Pastellmalerin
Historischer Roman
dotbooks.
Der Maler verleiht der Gestalt Seele,der Dichter dem Gefühl und Gedanken Gestalt.
Nicolas Chamfort(1741-1794)
Der Akrobat wagte die ersten Schritte auf dem Hochseil. Zögernd, fast übertrieben vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.
Ein kurzer Blick in die Tiefe. Es schien, als sei der Seiltänzer nicht schwindelfrei. Er erschrak wohl, taumelte ...
Die Zuschauer hielten den Atem an. Ob aus Sensationslust, Neugier oder Aufregung war schwer zu sagen, denn die Venezianer waren ein verwöhntes Publikum, und jeder Gaukler musste sich schon etwas Besonderes einfallen lassen, um beim Karneval Erfolg zu haben. Der Spaziergang über das quer über den Markusplatz gespannte Hochseil war ebenso Tradition wie die Stierhatz auf dem Campo Santo Stefano, die mit der Enthauptung eines Stieres endete, oder der Türkenflug, wenn zwölf lebende Schweine aus neunzig Metern Höhe vom Campanile herabgestürzt wurden.
Verzweifelt versuchte der Seiltänzer, sein Publikum mit ein wenig Effekthascherei zu fesseln. Da er schon bei den ersten Schritten mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hatte, hoffte er, die Aufmerksamkeit der Menge einige Minuten länger auf sich ziehen zu können, bevor die ersten Zuschauer übersättigt von dem Angebot des bunten Treibens in einen der Ballsäle, ins Theater oder in eine Taverne flohen – oder ganz einfach zu einem anderen Schausteller abwanderten. Niemals durften sich die Masken bei einem Spektakel langweilen. Das war das Ende eines jeden Akteurs. Doch allzu leicht wurden Einheimische wie Touristen abgelenkt von den vielen anderen Attraktionen: von glutäugigen Feuerschluckern aus dem Orient, Fakiren aus Indien, Schlangenmenschen aus China, Jongleuren, Clowns, Pantomimen, Schauspielern der Commedia dell'arte oder den besten Orchestern aus ganz Italien, die unter den Arkaden der Prokuratien zum Tanz aufspielten. Die Gefährlichkeit des Spaziergangs in luftiger Höhe allein reichte deshalb nicht aus, ein bisschen Balancieren brachte nicht den großen Beifall. Vom Applaus hing der verzweifelt ersehnte Lohn ab: eine Arbeit im Arsenale und damit lebenslange Sicherheit. Der Artist, der sein Publikum am besten unterhielt, würde den Kontrakt erhalten. Der Mehrzahl der Gaffer war dies jedoch nicht bekannt oder ganz einfach gleichgültig.
Rosalba Carriera legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Sie hatte ihren Verkaufsstand so aufgestellt, dass sie sowohl von dem Treiben auf dem Markusplatz profitieren als auch den meisten Attraktionen zuschauen konnte. Durch die guten Kontakte ihres Vaters zur Signoria hatte sie einen der heißbegehrten Plätze am Ende der Piazza San Marco zugewiesen bekommen – ein Glücksfall im doppelten Sinne. Es war fast, als throne sie in einer der Logen der Nobili. Zwar zog es ein bisschen von den Arkaden her, aber im Vergleich zu den erheblich ungünstigeren Verhältnissen auf dem Hochseil war der stete Wind wie ein Kinderkuss.
Im Gegensatz zu den meisten Zuschauern wusste Rosalba, warum sich der junge Mann da oben auf dem Seil so abmühte. Ihr Vater war Kanzleischreiber bei der Militärbehörde und hatte ihr erzählt, was es mit manchen Laienakrobaten auf sich hatte, die ihr Glück beim Karneval in Venedig versuchten. Es tat der kaum Zwanzigjährigen weh, mit ansehen zu müssen, wie der arme Teufel in der Hoffnung auf Arbeit zur Belustigung der Massen sein Leben riskierte. Finanzielle Schwierigkeiten waren ihr nicht fremd. Andrea Carriera war kein reicher Mann, lebte aber mit seiner Gattin und den drei Töchtern in einem so großbürgerlichen Stil, dass die weiblichen Mitglieder des Haushalts zum Unterhalt beitragen mussten. Deshalb saß das älteste der Carriera-Mädchen täglich bis tief in die Nacht hinein an seinem Stand auf der berühmtesten Piazza der Welt und hoffte, möglichst viele Waren unter das Volk bringen zu können. Dass es bitterkalt war und ihre Zehen in den Überschuhen aus Filz entsetzlich froren, spielte keine Rolle. Hauptsache, ihre Finger blieben warm und beweglich, denn die Hände waren wie die Augen das Kapital – und die einzige Mitgift – des jungen Mädchens.
Seit frühester Kindheit schon war Rosalba eine vortreffliche Künstlerin, die es verstand, modische Spitzenkragen und -manschetten zu entwerfen oder – wie es die neueste Mode verlangte – Miniaturen und Tabaksdosen mit zauberhaften Portraits anzufertigen. Sie besaß das Talent, das Antlitz eines gewöhnlichen Menschen mit der sanften Sinnlichkeit eines Engels zu versehen, was ihren Kunden immer wieder Begeisterungsrufe entlockte. Ihre Klientel bestand hauptsächlich aus Reisenden, vornehmlich den allerorts anzutreffenden englischen Touristen, die auf der Suche nach einem besonderen Souvenir aus Venedig waren.
Vielleicht gelang Rosalba die feine Zeichnung eines Portraits so ausnehmend gut, weil ihr der Hochmut der meisten Schönheiten fehlte. Selbst von den wohlwollendsten Schmeichlern wurde sie nur als »ganz hübsch« bezeichnet, und tatsächlich war sie eine eher durchschnittliche Person. Schließlich war sie zu schmal, ihr Haar zu dünn, das Gesicht zu spitz, ihre Augen zu klein und stechend und ihre Lippen zu voll. Als Ausgleich für die mangelnde äußere Attraktivität besaß sie jedoch neben ihrer Begabung eine wundervolle Stimme, einen wachen Verstand und eine große Portion Humor. Sie liebte Gesellschaften und Musik, nahm Klavierunterricht und Gesangsstunden, lernte regelmäßig französische Vokabeln. Wie die meisten jungen Mädchen wünschte sie sich, einmal in ihrem Leben zu einem der großen Bälle geladen zu werden, wo die prächtige Garderobe und der kostbare Schmuck der Damen mehr wert waren als die Lagerbestände in den Handelskontoren am Rialto. Doch das würde wohl ein Traum bleiben, denn kein Mann hatte Rosalba bisher um die Ehre ihrer Begleitung gebeten. Nicht einmal ein vielversprechender Heiratskandidat war in Sicht.
Der Artist auf dem Hochseil drehte sich plötzlich um und trat seinen Rückweg an. Ein empörtes Raunen ging durch die Menge. Doch bevor sich die Masken zerstreuen konnten, griff der junge Mann in einen Seesack, den er an die Strickleiter gehängt hatte, über die er nach oben geklettert war.
Ein mit seinen gestutzten Flügeln wild flatternder Papagei tauchte im milchigen Licht der Abenddämmerung auf. Der Vogel gab schauerliche Töne von sich, als habe er mörderische Absichten. Selbst vier Meter unter ihm zuckten die Zuschauer unter der imaginären Bedrohung zusammen. Eine Frau stieß einen spitzen Schrei des Entsetzens aus, als sich die Krallen des Papageis in den Haaren des Akrobaten verfingen und der Vogel sich auf dem Kopf des jungen Mannes niederließ.
Erneut setzte sich der Seiltänzer in Bewegung. Anfangs schritt er überraschend sicher aus, doch dann taumelte er wieder und schien diesmal in ernste Schwierigkeiten zu geraten. Das Tier krächzte wie verrückt, pickte auf sein Haupt ein und schlug mit den Flügeln, woraufhin der Artist das Gleichgewicht verlor. Er stolperte, schwankte – und das Publikum starrte in die Höhe, um keine Sekunde des Spektakels zu verpassen ...
»Ich kann gar nicht mehr hinsehen«, hörte Rosalba eine zwitschernde Frauenstimme in ihrem Rücken. »Es ist so aufregend ...!«
»Eine perfekte Inszenierung«, antwortete ihr Begleiter in stark gefärbten Italienisch, »wenngleich etwas zu durchsichtig für meinen Geschmack.«
»Ach? Ihr meint, es lohnt gar nicht, dem Artisten und seinem Papagei zuzuschauen?«
Ohne lange nachzudenken, fuhr Rosalba herum. »Wie könnt Ihr nur so grausam sein?«, herrschte sie den Kritiker an.
Es war absolut ungehörig, sich in die Unterhaltung fremder Menschen einzumischen. Zumal der Mann offenbar ein Tourist aus England und damit ein potentieller Kunde war, den sie nicht vergällen durfte. Darüber hinaus waren Herren in Begleitung einer Dame stets freigebiger. Vermutlich verdarb sie sich gerade ein gutes Geschäft, aber ihr Gerechtigkeitssinn war stärker als ihr kaufmännischer Instinkt.
»Ihr könnt natürlich nicht verstehen, was ein armer Mann alles tun muss, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, aber Ihr solltet nicht auch noch stolz auf Eure Oberflächlichkeit sein.«
Die schwarze Perücke des Mannes und der elegante Schnitt seines Umhangs ließen erkennen, dass er wohlhabend war. Da er eine Maske trug, konnte sie seine Augen nicht sehen, wohl aber seinen Mund. Seine Lippen teilten sich zu einer zornigen Antwort, doch die Worte blieben ihm wohl vor Staunen im Halse stecken. Sicherlich war er es nicht gewohnt, von einer einfachen Händlerin derart angefahren zu werden. Schlagartig wurde sich Rosalba ihrer Situation bewusst und wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, als die Überraschung des vornehmen Herrn einem breiten Grinsen wich.
»Mir scheint, Ihr habt das Herz auf dem rechten Fleck, Signorina«, schmunzelte er. »Verzeiht, wenn ich es so deutlich heraussage, aber ich finde Eure kratzbürstige Art wesentlich anregender als das Geflatter des hässlichen Vogels da oben.« Er neigte leicht den Kopf und warf einen raschen Blick auf das Spektakel in schwindelnder Höhe. »Oh! Seht! Euer Freund hat das Ende des Seils wohlbehalten erreicht. Und der Papagei –im Übrigen – auch.« In diesem Moment brandete Beifall auf. Enttäuscht blickte Rosalba von dem fremden Mann auf das Ende des Hochseils, wo sich der Artist unter dem Applaus seines Publikums ungelenk verbeugte; der Papagei thronte friedlich auf der Schulter seines Herrn. Rosalba ärgerte sich, dass sie sich hatte ablenken lassen. Ihr bedeuteten traditionelle Werte ebenso viel wie althergebrachte Spektakel. Und nun hatte sie das glückliche Ende verpasst. Dem allgemeinen Geräuschpegel nach zu schließen, war der junge Mann seinem Arbeitsvertrag einen großen Schritt näher gekommen.
Doch so enthusiastisch der Beifall aufgebrandet war, so schnell legte er sich wieder. Die Menge zerstreute sich. Elegante Paare schlenderten Seite an Seite mit dem einfachen Volk unter den Arkaden entlang, schauten, staunten, plapperten und lachten. Der eine oder andere blieb an Rosalbas Stand stehen und betrachtete die Auslagen. Sie musste sich auf die vielen Hände konzentrieren, die ihre Spitzen prüften oder die Tabatieren nahmen, um sie näher in Augenschein zu nehmen, denn der Karneval war auch ein Fest für Diebe. Dennoch hob sie immer wieder den Kopf, um einen raschen Blick auf den Mann in Schwarz zu werfen.
Sie spürte, dass er sie ansah. Er lehnte gegen eine Säule und beobachtete sie, ignorierte dabei die Dame neben sich, die sich gelangweilt umschaute und wohl darauf hoffte, Bekannte zu treffen. Trotz der Maske war deutlich zu erkennen, wem die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Begleiters galt. Ein Interesse, das Rosalba verwirrte. Mit welcher Geduld er zusah, wie sie ihre Waren feilbot und die Münzen in ihrem kleinen Beutel verschwanden, wenn sie ein Stück verkaufte ...!
Besonders gut ging das Geschäft allerdings nicht. Die Leute gafften mehr, als dass sie wirklich zugriffen. Wahrscheinlich waren die wohlhabenden Passanten zu übersättigt von dem reichen Angebot. Die Ärmeren sparten für einen Theaterbesuch, der in dieser Saison immerhin einen halben Dukaten Eintritt pro Person kostete. Selbst in der größten Handelsmetropole der Welt wurde das Geld knapper. Die vielen Kriege gegen die Türken zehrten an den Guthaben von Staat und Privatpersonen. Militärische Erfolge gingen nicht mehr einher mit wirtschaftlichem Gewinn, wie dies jahrhundertelang der Fall gewesen war, und Niederlagen belasteten den Säckel eines jeden um so stärker.
Nachdem der Andrang etwas abgeebbt war, löste sich der Mann von seinem Platz und trat vor den Stand, um Rosalbas Auslagen zu begutachten. Sie schlug die Augen nieder, nahm jedoch durch den Schleier ihrer hellen Wimpern wahr, dass die Dame, die sich zuvor in seiner Gesellschaft befunden hatte, verschwunden war.
»Diese Tabaksdosen sind von ausgesuchter Qualität«, bemerkte der Engländer, während er die eine oder andere Tabatiere in die Hand nahm. Die Emailledeckel zierten überwiegend die Portraits von reizenden jungen Frauen, was seinem Sinn für das weibliche Geschlecht durchaus entgegenkam. »Was verlangt Ihr hierfür?«, fragte er schließlich und hielt ihr ein Döschen hin, das sie mit dem Konterfei ihrer Schwester Angela versehen hatte.
Rosalba hatte sich überlegt, dass sich eine Sammlung mit Miniaturen venezianischer Schönheiten hervorragend als Souvenirs eignen würde, und Angela gehörte im Gegensatz zu ihr selbst ganz gewiss zu dieser Gruppe einheimischer Mädchen. »Dreißig Zechinen«, sagte sie, während sie die Augen hob, um einzuschätzen, ob er tatsächlich ein potentieller Kunde oder nur ein aufdringlicher Kavalier war.
Nachdenklich betrachtete er die Tabatiere, fuhr mit dem Zeigefinger über den Deckel, prüfte den Verschluss. »Ich verrate Euch ein Geheimnis«, erklärte er schließlich. »Auch ich muss mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Mein Erbe ist längst perdu.«
»Ich bedauere, wenn Euch der Preis zu hoch erscheint«, erwiderte Rosalba höflich, aber bestimmt. »Die Herstellung einer Miniatur erfordert großes Geschick, ruhige Hände und ein gutes Auge. Auch die Anschaffung des Materials verschlingt viel Geld. Die Kosten sind genau berechnet. Ich kann keine Rabatte geben.«
»Dann seid Ihr selbst die Künstlerin, die dieses wundervolle Portrait angefertigt hat?«
Unwillkürlich erhellte ein Lächeln Rosalbas Miene. Die Bewunderung ihres Talents erfüllte sie stets mit Stolz. Schon als kleines Mädchen hatte sie mit den Farben ihres Großvaters Pasquale Carriera, eines Malers aus Chioggia, experimentiert. Den ersten Pinsel hatte sie gehalten, als sie noch kaum laufen konnte. Ihre Mutter, eine begabte Kunststickerin, hatte sie ebenso unterrichtet wie der Vater, der sich neben seiner Beamtenlaufbahn als Künstler verdingte. In einer geselligen Stadt wie Venedig war es darüber hinaus einfach, Kontakt zu anderen Meistern dieses Fachs zu finden, so dass Rosalba vor geraumer Zeit einem Miniaturmaler aus Frankreich begegnet war, der sie in seine Fertigkeit eingewiesen hatte. Schon nach den ersten Übungsstunden mit Temperafarben hatte sich ihre Passion gezeigt – und dank der Mode des Tabakschnupfens ein neues Einkommen, denn Tabatieren waren zum unverzichtbaren Accessoire für vornehme Damen wie Herren geworden.
»Euer Lob macht mich verlegen«, behauptete Rosalba wohlerzogen. »In der Tat, Signor Maschera, ich verkaufe nur Waren, die ich selbst hergestellt habe.« Dass es sich bei den Spitzen auch um Arbeiten ihrer Mutter handelte, spielte ihrer Ansicht nach in diesem Moment keine Rolle. Rosalba war ein junges Mädchen, dessen Eitelkeit ein wenig Bewunderung von einem attraktiven Herrn durchaus vertragen konnte.
»Wusste ich's doch gleich!«, rief er zu ihrer Überraschung aus. »Ihr seid eine Frau nach meinem Geschmack. Keine dieser Zicklein, die nichts als Stroh im Kopf haben und sich einbilden, auf diese Weise einem Mann zu gefallen.«
Rosalba wollte ihn gerade in seine Schranken weisen, als er etwas tat, das sie noch mehr verwirrte als seine Worte. Er nahm seine Maske ab. Rosalba sah sich plötzlich dem schönsten Mann gegenüber, den sie je gesehen hatte. Einem Mann, der ihr Herz schneller schlagen und ihren Verstand zum Schmelzen bringen ließ. Sprachlos starrte sie ihn an.
Dass der Fremde von ungewöhnlich großer, schlanker Statur war, hatte sie natürlich bereits bemerkt. Doch als hätten seine Körpergröße und athletische Figur nicht ausgereicht, ihn als attraktiven Mann zu kennzeichnen, hatte ihm die Vorsehung das Antlitz einer römischen Apollo-Statue geschenkt: Er besaß ein ovales Gesicht mit fein geschnittenen Zügen, einer Habichtsnase und einem üppigen Mund. Seine grünbraunen Augen wirkten unter den schweren Lidern ein wenig verträumt, ließen aber gleichzeitig auf einen klugen Verstand und einen heiteren, gutmütigen Charakter schließen. Es mochte schon sein, dass sein Erbe verlorengegangen war, doch dass er einst ein Vermögen besessen hatte, war ihm anzusehen. Rosalbas Verehrer war ein durch und durch nobler junger Herr von mindestens großbürgerlicher, wenn nicht gar adeliger Herkunft.
»Ihr seht mich an, als hättet Ihr Lust, ein Portrait von mir anzufertigen«, stellte er amüsiert fest.
Hektische rote Flecken leuchteten auf Rosalbas Wangen. In Anbetracht ihres vortrefflichen Geschmacks und ausgeprägten Schönheitssinns hatte der Engländer vermutlich recht, doch Rosalba wäre lieber im Boden versunken, als ihn auf eine Sitzung anzusprechen. Sie hätte den Auftrag zwar gut gebrauchen können, aber ihre Verlegenheit war im Augenblick größer als ihre sonst recht ausgeprägte Geschäftstüchtigkeit.
Er schnippte mit den Fingern. Seine Miene drückte gleichsam Eifer und Ernsthaftigkeit aus. »Verflixt ... das ist eine gute Idee. Eine Tabaksdose mit meinem Bildnis ist ein wunderbares Geschenk. Ich möchte es der Dame verehren, die immer den wichtigsten Platz in meinem Herzen einnehmen wird ...«
Der Geräuschpegel auf dem Platz schien lauter zu werden. Die Musik dröhnte plötzlich in schier unerträglicher Lautstärke in Rosalbas Ohren. Wie hatte sie nur annehmen können, der Fremde interessiere sich für sie? Er war natürlich verheiratet. Oder zumindest verlobt. Es war nur ein albernes Spiel, das er mit der kleinen venezianischen Künstlerin trieb; ein Zeitvertreib bis zur nächsten Attraktion irgendeines Artisten oder Akrobaten. Rosalba schämte sich für ihren Irrtum, ihre Träume und ihre Phantasie, die dem hässlichen kleinen Entlein ganz kurz die Illusion von eigener Schönheit geschenkt hatten. Der Verlust des flüchtigen Zaubers tat weh. In Rosalbas Schläfen pochten Kopfschmerzen. Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich eine Tändelei vorzustellen?
In diesem Moment hörte sie ihn fortfahren: »Ich werde die Miniatur meiner Mutter nach Schottland schicken.«
»Eurer Mutter?«, hauchte Rosalba verblüfft.
»Ja, natürlich. Meiner Mutter. Oder dachtet Ihr, ich sei ein streunender Hund und hätte keine Familie?«
»Nein. Verzeiht.« Die Röte auf Rosalbas Wangen vertiefte sich, und sie hasste sich dafür. Wo war nur ihre in ihrer Familie fast sprichwörtliche Courage geblieben? Sie benahm sich schlimmer als die dümmste Gans, schalt sie sich in Gedanken. Dabei wollte sie dem Fremden so gerne gefallen. »Es war nicht meine Absicht, Euch zu beleidigen, Signor ...«
»Genug der Floskeln«, unterbrach er sie eine Spur ungehalten. »Ihr machtet mir anfangs den Eindruck, als würdet Ihr kein Blatt vor den Mund nehmen. Also langweilt mich jetzt nicht mit Eurer guten Erziehung, an der ich übrigens nicht zu zweifeln wage. Sprechen wir lieber über mein Geschenk.«
Er drehte und wendete sein Gesicht in verschiedene Richtungen, mal zeigte er ihr sein Profil, dann wieder blickte er sie geradeheraus an.
»Wie würdet Ihr mich gerne portraitieren?«
Rosalba lächelte. »Ich werde verschiedene Skizzen von Euch anfertigen, und dann könnt Ihr entscheiden, wie Ihr Euch am liebsten auf einer Tabatiere sehen möchtet. Keine Angst. Eure Zeit wird nicht länger beansprucht als unbedingt nötig. Ihr braucht dafür nicht lange Modell zu sitzen. Ich arbeite schnell und ...«
Erneut schnippte er mit den Fingern. »Da kommt mir eine Idee, die uns beide erheitern dürfte. Ihr blickt mich nämlich mit einer Eindringlichkeit an, die mich überrascht und – zugegebenermaßen – auch verwirrt ...« Als sie zu einer Antwort ansetzte, hob er die Hand, um sie daran zu hindern, und fügte hinzu: »Ich nehme an, es sind die taxierenden, kritischen Augen der Malerin. Würdet Ihr Euch meiner erinnern, wenn Ihr allein in Eurem Atelier weilt?«
»Selbstverständlich«, erwiderte sie, obwohl sie sich nicht sicher war, ob es ihm um ein billiges Kompliment oder die Wahrheit ging. »Ich vergesse nie ein Gesicht.«
»Perfekt. Also werdet Ihr die Skizzen aus Eurem Gedächtnis heraus in meiner Abwesenheit anfertigen. Und wir werden anschließend sehen, wie gut Ihr mich getroffen habt. Als Gewinn für Eure Mühe erhaltet Ihr den doppelten Lohn, also sechzig Zechinen. Solltet Ihr mich jedoch vergessen haben, müsst Ihr unentgeltlich weiterarbeiten. Eine famose Wette, findet Ihr nicht?«
Er ist ein Spieler, fuhr es Rosalba durch den Kopf. Ein vornehmer junger Herr, der aus tragischen Umständen von dem ihm zustehenden Platz in der Gesellschaft vertrieben wurde und sich diesen nun im Casino zurückzuerobern sucht. Das war weder unrühmlich noch ungewöhnlich.
Es gab sogar einen eigenen Stand der Hasardeure, der durchaus mit den noblen Kreisen konkurrierte. Am Spieltisch wurden auf elegante Weise Kontakte geknüpft, die den meisten Glücksrittern in einem bürgerlichen Leben verwehrt geblieben wären. Venedig war die Metropole für all jene, die bereit waren, ihre Zukunft auf eine einzige Karte oder die Roulettekugel zu setzen. Neben den zahlreichen privaten Clubs gab es sogar ein öffentliches Casino, das über die Grenzen der Republik hinaus berühmte Ridotto. Wahrscheinlich hatte dieses auch den Fremden aus Schottland in die Lagunenstadt gelockt, dachte Rosalba.
Laut sagte sie: »Euer Vorschlag ist reichlich unverfroren, Signor, doch besitze ich ausreichend Selbstvertrauen, um ihm zuzustimmen. Wann wünscht Ihr, dass ich Euch die Skizzen vorlege?«
»Eine Frau nach meinem Geschmack. In der Tat. Wer hat doch gleich behauptet, Stolz sei eine Sünde? Nun, einerlei ...« Er grinste. »In ein oder zwei Tagen werde ich wieder hierherkommen. Gleich nach Sonnenuntergang. Seid Ihr damit einverstanden?«
Der Gedanke, dass sie ihn wiedersehen und dann noch stärker beeindrucken würde, schnürte ihr die Kehle zu. Stumm nickte Rosalba.
Mit einer eleganten Geste setzte er die Maske wieder auf. Rosalba konnte seine Augen nun nicht mehr gut genug erkennen, aber sie glaubte, einen verschwörerischen Blick daraus aufgefangen zu haben. Er beugte sich über den Tisch und griff nach der Tabaksdose mit dem Portrait ihrer Schwester Angela, die er zuvor eingehend betrachtet und für exzellent befunden hatte. »Als Anzahlung kaufe ich Euch diese Tabatiere ab. Sie gefällt mir, und ich könnte ein neues Gefäß für meine gelegentliche Prise gebrauchen.«
»Nehmt sie als Pfand ...«
Die Worte waren heraus, bevor Rosalba überhaupt darüber nachgedacht hatte. Noch nie hatte sie einem Kunden ihre Ware umsonst angeboten, sie gab ja nicht einmal Rabatte. Ihr Gehirn schien jedoch nicht mehr wie gewohnt zu funktionieren, und ihr Herz schlug Purzelbäume vor Aufregung.
Mit einem formvollendeten Kratzfuß verbeugte sich der Kavalier. »Ihr beschämt mich, Signorina. Dennoch nehme ich Euer Geschenk dankbar entgegen. Ich bin sicher, es wird mir Glück bringen. Ich wünsche Euch einen angenehmen Abend. Auf Wiedersehen ...«
Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und küsste sie.
Die Menge verschlang ihn, kaum dass er sich umgewandt hatte. Trotzdem hielt Rosalba Ausschau nach ihm. Sie vertrieb sogar eine weibliche Maske, die sich für einen Spitzenkragen interessierte. Doch trotz seiner Körpergröße gelang es Rosalba nicht, die Gestalt des weitgereisten Fremden in dem bunten Treiben auszumachen. Sie spürte noch immer seine Lippen auf ihrer Haut, als ein Harlekin auf Stelzen in ihr Sichtfeld geriet.
John Law ließ sich vom Strom der Menge durch die Gassen treiben. Er fühlte sich so wohl wie an keinem anderen Tag in den vergangenen Wochen. Dass ihn seine Begleitung, eine eher flüchtige Bekanntschaft, während seiner Unterhaltung mit der Malerin einfach hatte stehenlassen, berührte ihn nicht weiter. Dieses offensichtliche Desinteresse an seiner Person trübte seine Hochstimmung nicht. Die junge Dame hatte ihn ohnehin zu langweilen begonnen. Rund um den Markusplatz gab es so viele amouröse Chancen, dass sich ein Kavalier ihrer eher erwehren musste, als der Gefahr ausgesetzt zu sein, lange alleine zu bleiben. Immerhin war Venedig für einen Mann so etwas wie das Paradies, und speziell für einen Glücksritter wie John Law war das gesellschaftliche Leben der Lagunenstadt wie geschaffen.
Die Tatsache, dass das Wort Casino im Italienischen sowohl Spielclub als auch Bordell bedeutete, sprach für eine gewisse Anrüchigkeit der hiesigen Etablissements. Schon an seinen ersten beiden Tagen in Venedig hatte John herausgefunden, dass sich die verruchtesten Spielhöllen am Campo San Polo befanden, wo die Huren mit entblößtem Busen in den Fenstern standen und auf Freier warteten. Eleganter, aber ebenso freizügig, waren die Casini in der Frezzaria nahe der Piazza San Marco, wo auch das Ridotto zu finden war. Hier wie dort wurde auf die eine oder andere Art dem Laster gehuldigt, doch waren es im staatlichen Casino wie auch in den privaten Clubs überwiegend Damen aus nobelster Gesellschaft, die im Schutz der Maske sündigten. Frauen also, die ihren Charme und Witz nicht mehr hinter den verschlossenen Zimmertüren ihrer Wohnungen verkümmern ließen, wie etwa ihre Geschlechtsgenossinnen in London.
Der Strudel aus Wollust, Trunkenheit und Spielleidenschaft riss jeden unweigerlich mit, der sich ins schamlose Vergnügen zu stürzen bereit war. Ganz egal, ob es Mann oder Frau war. Wer verfügte schon über einen so nüchternen Verstand, dass er den anzüglichen Gemälden an den Wänden trotzen konnte? Wer besaß die moralische Stärke, seine Ohren vor den schlüpfrigen Versen einer Dichterlesung zu verschließen und sich nicht von der Sinnlichkeit der Musik einlullen zu lassen? Und dann gab es da die verheißungsvollen Berge von Dukaten, die sich auf den Spieltischen türmten, von der Bank gehalten wurden und nur darauf warteten, gewonnen zu werden!
Der vierundzwanzigjährige John Law hatte die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens als Spieler verbracht. Nicht, dass er es – wie manch anderer Lebemann – nötig gehabt hätte, sich auf diese Weise Herkunft, Vermögen und Ansehen zu verschaffen. Johns früh verstorbener Vater, ein einflussreicher Goldschmied und Großgrundbesitzer, hatte das Münzprägerecht in Edinburgh besessen. Die Erziehung des Knaben John entsprach daher den Standards des schottischen Adels. Doch John nahm seine Schulausbildung überhaupt nicht ernst, sein Vergnügen dafür um so mehr. Als das ausschweifende Leben des Jugendlichen ein wenig zu bunt wurde, schickte ihn seine Mutter nach London. Zehn Reisetage von seiner Heimat entfernt, tobte sich John fortan in der anrüchigen Atmosphäre Londoner Herrenclubs aus – mit katastrophalen Folgen: An seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte er sein nicht unerhebliches Erbe vollständig verprasst und darüber hinaus einen gewaltigen Schuldenberg angehäuft.
Da er seine Mutter nicht um Geld bitten wollte, blieb John damals wie jetzt wenig anderes übrig, als sich nach einer »Arbeit« umzusehen. Doch gelernt hatte er eigentlich nichts. Nicht einmal die Schule hatte er abgeschlossen, von einer Universitätsausbildung konnte erst recht nicht die Rede sein. Die lukrativste Erwerbsquelle, die obendrein seinen Fähigkeiten entsprach, schien ihm das Glücksspiel zu sein. Allerdings wollte er jetzt ein ernsthaftes Geschäft mit Fortuna eingehen. Vom Schicksal mit einer ungewöhnlich großen mathematischen Begabung ausgestattet, begann er also, die Sache systematisch anzugehen und den Zufall wie ein Buchhalter zu berechnen.
In relativ kurzer Zeit wurde John zum Meister der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Er kalkulierte wie ein Stratege auf dem Schlachtfeld das Risiko, verwirrte seine Mitspieler mit seiner feingemeißelten, gleichmütigen Miene – und gewann. Man verdächtigte den plötzlich so Erfolgreichen rasch, mit gezinkten Karten zu spielen, aber beweisen konnte man ihm keine einzige Unredlichkeit. Statt dessen versuchten seine Kontrahenten, ihn zu beobachten und ihm sein Geheimnis zu entlocken. Man lud John zu Schaupartien in die Schlösser des englischen Hochadels ein, wo er die reichsten und vornehmsten Vertreter des Landes mit seiner Kunstfertigkeit und angenehmen Gesellschaft unterhielt. Auf Dauer langweilte es John, wie ein Tanzbär vorgeführt zu werden, und er verschaffte sich reichlich Abwechslung, indem er seine Stellung in den Boudoirs der Damen weidlich ausnutzte. Bald drehte sich sein Leben nur noch um Faro und Frauen. Und wieder nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Eine kleine Affäre, ein Freundschaftsdienst, ein kompromittierender Briefwechsel, eine Intrige – im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, wann der eher friedliebende John Law von einem Neider zum Duell gefordert werden würde. In einem Mann namens Edward Wilson hatten seine Feinde das willige Werkzeug gefunden, um den jungen Mann aus Schottland auszuschalten. Doch John war trotz seines Lebensstils seit jeher ein leidenschaftlicher Sportler gewesen, spielte hervorragend Tennis und hatte keine seiner Fechtstunden je nutzlos verstreichen lassen. Ein zur Faulheit neigender, übersättigter Gegner musste gegen diesen durchtrainierten Körper unweigerlich den Kürzeren ziehen.
Obwohl Zweikämpfe mit tödlichem Ausgang offiziell unter Strafe standen, wurden die Duellanten in der Regel nicht mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt. Auch war der Mann, den John mit seinem Degen niedergestreckt hatte, einer der berüchtigtsten Lebemänner Londons und keineswegs von untadeligem Ruf gewesen. Die ganze Sache wäre demnach zu regeln gewesen, hätte die Familie des dahingeschiedenen Delinquenten nicht auf Rache gesonnen. Die adelige Verwandtschaft des toten Edward Wilson – möglicherweise angetrieben von den Feinden Johns in der Londoner Gesellschaft – sorgte dafür, dass John wegen Mordes angeklagt wurde. Obwohl einflussreiche Freunde versuchten, sein Leben zu retten, verlor er den Prozess. John, der immer wieder betonte, in Notwehr gehandelt zu haben, musste erkennen, dass die Familie seines Gegners Richter und Geschworene gekauft hatte. Beweise hatte er dafür nicht. John Law wurde zum Tode verurteilt.
Der Versuch, die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel auszuschöpfen, schlug fehl. Eine Begnadigung des angeblichen Mörders wurde von höchster Stelle abgelehnt. Bei Hofe wurde der Fall zwar ausgiebig diskutiert, doch der König konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen. Schließlich begann John, sich in sein tragisches Schicksal zu fügen und sich aufzugeben. Da wurde er überraschend in das wegen seiner mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen berüchtigte King's-Bench-Gefängnis verlegt. Das war seine letzte Chance: in der Nacht nach Neujahr gelang John mit Hilfe seiner mächtigsten Freunde die Flucht.
Mit derselben Nachlässigkeit, mit der seine Zelle bewacht worden war, wurde der Flüchtige verfolgt. Die Polizei – und ein paar Tage später auch die Hofgesellschaft – ging davon aus, dass sich John Law im heimischen Schottland in Sicherheit bringen wolle. Deshalb wurden nur die Straßen nach Edinburgh kontrolliert, andere Wege dagegen blieben offen. Weitere offizielle Versuche, den geflohenen, verurteilten Schwerverbrecher wieder festzusetzen, gab es nicht. Eine Anzeige in der Londoner Gazette, die die Familie des toten Edward Wilson aufgab und in der ein Kopfgeld von fünfzig Pfund auf die Ergreifung John Laws ausgesetzt wurde, brachte ebenfalls keinen Erfolg. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung befand sich der Gesuchte bereits wohlbehalten an Bord eines Postschiffes mitten auf dem Ärmelkanal.
Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt in Caen, wo man ihn einsperrte, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren, verließ John Frankreich. Er suchte sich als Ziel den am weitesten von London entfernt gelegenen Ort aus, der seinen Ansprüchen, Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprach. Eine Stadt, deren geographische Lage eine rasche Verfolgung unmöglich machte und wo ihn seine Feinde bestenfalls vermuten, aber nicht finden würden. Er reiste nach Venedig, was im Winter alles andere als angenehm war, da er eine Alpenüberquerung riskieren musste. Die Strapazen lohnten sich, denn kaum hatte er die Serenissima erreicht, wurde er eingehüllt vom Karneval mit seiner Fröhlichkeit, Frivolität und Anonymität.
Eine Brise fischte von der See auf, und wie mit langen Fingern griff der Nebel nach den Straßen und Plätzen der Lagunenstadt. Binnen kürzester Zeit verschlangen die feuchten Schwaden die Feiernden, und nur noch die flackernden Fackeln waren als deutliche Umrisse vor den Häuserzeilen zu erkennen. Schnelle Schritte klapperten auf dem alten Pflaster, und aus den Empfangsräumen eines Palazzo drangen Gelächter und Musik in die Gasse. Je weiter sich John von der Piazza San Marco entfernte, desto ruhiger wurde es, und die Menschen verloren sich im scheinbar undurchdringlichen Dunst. Es waren Ort und Stunde der Raubmörder, jener Verbrecher, die ihrem Handwerk im Verborgenen nachgingen und nicht – wie die kleinen Diebe – im hellen Tumult des Marktplatzes agierten.
Unwillkürlich tastete John in seinen Taschen nach dem Beutel mit seinem Gold. Das ihn an diesem Abend wie auf einer Wolke tragende Hochgefühl ließ ein wenig nach. Ihm waren Nebel und Gefahr aus London durchaus vertraut, doch fürchtete er, sich in dem unübersichtlichen Netz der venezianischen Gassen zu verlaufen. Ein Tourist konnte hier sehr schnell in einer Gegend landen, die man besser meiden sollte, und in falsche Gesellschaft geraten.
John schritt rein instinktiv in nordöstlicher Richtung aus; wie ein Blinder tastete er sich durch den Plan der Lagunenstadt, auf der Suche nach einem geheimnisvollen Ort. Seine frühere Begleiterin hatte ihm von einem »Casino degli Spiriti« vorgeschwärmt, einem Spukhaus, welches am Rande der Lagune den Inseln von Murano und San Michele zugewandt lag. Die Schauermärchen um den »Pavillon der Geister«, hatten ihn neugierig gemacht, obwohl die junge Dame sie wahrscheinlich nur zu seiner Erheiterung erfunden hatte. Aber sie verliehen dem Ort Esprit – ebenso wie die Gemälde von Tizian, die in diesem Renaissance-Palazzo angeblich zu besichtigen waren. Für den Schöngeist John Law war das noch weitaus anziehender, und er hoffte aus ganzem Herzen, dass es sich bei deren Beschreibung nicht um Lügengeschichten handelte. Ihn, den Liebhaber italienischer Malerei, konnte nicht einmal der unwirtliche Weg von der Besichtigung der Kunstwerke abhalten.
Als er um eine Ecke bog und die Treppen zu einer schmalen Brücke emporstieg, die über einen kleinen Kanal führte, erfasste eine Böe seinen Umhang. Der kalte Windzug ging ihm durch Mark und Bein. Wie konnte es an einem südlichen Ort so kalt sein? fuhr es dem Touristen aus Schottland durch den Kopf.
Von irgendwoher hörte er ein Flüstern. Er verstand kein Wort, nahm vielmehr nur eine Stimme wahr. Die Worte verwischten im Nebel. Seine Finger schlossen sich fester um den Besitz in seiner Tasche.
Plötzlich identifizierte John andere Laute: einen Bootsrumpf, der gegen die Kaimauer schlug, ein Seil, das mit der Regelmäßigkeit der Wellen ins Wasser klatschte. Offenbar befand sich hier irgendwo in dem Dickicht von Dunkelheit und Dunst eine Anlegestelle. Eine Gondel wäre in seiner jetzigen Situation ein Geschenk des Himmels.
»Gondole?«, rief John in die Richtung, aus der die Geräusche klangen.
»Si, si«, antwortete eine heisere Stimme, deren Besitzer John jedoch nicht erkennen konnte. »Kommt her, Signor, kommt. Ich bringe Euch an jeden Ort, den Ihr mir befehlt.«
John tastete sich die Uferbefestigung entlang bis zu einer Öffnung in der Balustrade. Erst jetzt erkannte er klar die Umrisse einer Gondel. Neben dem Baldachin schwang eine Laterne hin und her, ihr Licht warf blasse Streifen auf den roten Samt der Sitzpolster. Die Kerze reichte nicht aus, um ihm den Weg die steile, vom Hochwasser feuchte Steintreppe hinunter zur Anlegestelle zu weisen. John musste sich auf seine Füße konzentrieren, um keinen falschen Schritt zu machen und womöglich im Wasser oder, noch schlimmer, mit gebrochenem Genick auf der Kaimauer zu landen.
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihm, als er trockenen Fußes in der Gondel Platz nahm. »Casino Santo Spirito«, wies er den Venezianer an.
Fast lautlos glitt das Boot in den Kanal. Selbst als der Gondoliere das Ruder durchs Wasser zog, entstand so gut wie kein Geräusch. Der Nebel wurde noch dichter. Es schien, als pflüge die Gondel durch eine weiße Wand. In der Stille kam es John so vor, als sei er ganz alleine auf der Welt. Er legte den Kopf zurück und spürte, wie eine angenehme Trägheit seine Glieder erfasste.
Endlich ließen seine verkrampften Finger den Beutel mit seinen Goldmünzen los. Als er die Hand aus der Tasche zurückzog, ertastete er zufällig die Tabaksdose, die ihm vorhin von der jungen Malerin verehrt worden war. Offiziell ein Pfand, im Grunde aber ein Geschenk, das er auf seinem Weg durch die Gassen bereits wieder vergessen hatte.
Dabei war sein Angebot aufrichtig gewesen. Er hatte tatsächlich beabsichtigt, von den Portraitstudien Gebrauch zu machen und seiner Mutter eine Erinnerung zu schicken. Wenn er allerdings jetzt über seine Wette mit der venezianischen Künstlerin nachdachte, erschien ihm die ganze Geschichte albern und überflüssig. Dabei fiel ihm ein, dass er sogar vergessen hatte, die Malerin nach ihrem Namen zu fragen. Er hatte sich ja nicht einmal selbst vorgestellt.
Obwohl er wusste, dass er die Miniatur bei der herrschenden Beleuchtung nicht erkennen würde, zog er die Tabatiere heraus und hielt sie versuchsweise in den fahlen Kerzenschimmer. Vergeblich, aber seine Erinnerung an das Bild eines wunderschönen jungen Mädchens stellte sich deutlich ein. Während seine Finger zärtlich über die kühle Emaille strichen, fiel ihm ein, dass er die Malerin nach ihrem Modell hätte fragen sollen.
Ein wunderschönes Portrait im Original zu erobern wäre eine prickelnde Erfahrung. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es sich bei der schönen Muse um eine rechtschaffene, gläubige Katholikin handelte, die das Keuschheitsgelübde ernst nahm und kein Interesse an einem anderen Kavalier als ihrem Verlobten verspürte. Einen Ehemann hatte das Mädchen sicher noch nicht, da Venezianerinnen häufig erst mit Ende Zwanzig heirateten, und diese Bürgerin der Republik war offensichtlich noch sehr jung. Andererseits glaubte er nicht an wirklich tugendhafte Frauen. Jedenfalls nicht in Venedig. In den Clubs erzählte man sich, dass sogar die jungen Novizinnen des Klosters auf der Insel Giudecca für Herrenbesuche aufgeschlossen waren. Er kannte den Mittelstand der Lagunenstadt zwar nicht, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sich hinter den Fassaden mancher Wohnungen ein anderer Lebensstil etabliert haben könnte als in den noblen Palazzi. Zumindest in diesem Punkt. Und selbst wenn, so machte das Wissen um die Sittsamkeit einer Angebeteten diese im Zweifel nur attraktiver.
Falls ihm später der Sinn noch danach stand, würde er sich nach der Identität der Portraitierten erkundigen, sobald er die Künstlerin wiedersah. Allerdings wollte er diese Frage davon abhängig machen, ob sich die Tabaksdose als Glücksbringer bewähren würde. Gerade an den Spieltischen eines Gespenster-Palazzos, in dem der Geist des großen venezianischen Malers Tizian umgehen sollte, würde das Bild einer kleinen Nachfolgerin seiner Profession der perfekte Talisman sein.
Mit diesem Gedanken und einem Lächeln auf den Lippen döste er ein.
Ihre Absätze klapperten auf dem unebenen Kopfsteinpflaster, als Rosalba mit gerafften Röcken durch die dunkle Calle Cent'Anni hastete. Sie kam zu spät zum Essen und musste sich beeilen, um den zu erwartenden Ärger ihres Vaters in Grenzen zu halten. Was Pünktlichkeit betraf, war Andrea Carriera mehr Beamter denn Künstler. Die Entschuldigung, dass sie zu einem Besuch bei ihrem Lehrer Giovanantonio Lazzari gewesen war, würde der Papa nicht gelten lassen, wusste er doch, dass heute nicht der Tag ihrer Unterrichtsstunden war. Dabei handelte es sich nicht einmal um eine Ausrede; nur konnte sie Andrea Carriera kaum gestehen, dass sie sich in einer Herzensangelegenheit an Marina Lazzari, die elegante Gattin des Malers, gewandt hatte.
Giovanantonio Lazzari entstammte über die Linie seiner Mutter einem alten griechischen Adelsgeschlecht und führte seinen Haushalt entsprechend diesem Status. Er war ein Seigneur großen Stils, wie auch Rosalbas erster Lehrer, der inzwischen verstorbene Pietro Liberi. Mit dem Unterschied freilich, dass Lazzari die Kunst lediglich als Liebhaberei und nicht, wie Liberi, als Passion betrieb. Rosalba hatte sich bisher wenig für die Gepflogenheiten in den jeweiligen herrschaftlichen Häusern interessiert. Ihre Aufmerksamkeit galt den Bildern und nicht den Pinselstrichen auf ihren Wangen. Unter den gegebenen Umständen erschien es ihr allerdings zwingend notwendig, einige Nachhilfestunden zu nehmen, um etwas über den formvollendeten Auftritt einer Dame von Welt zu erfahren.
Bei Tag und bei Nacht beschäftigte der Tourist aus Schottland ihre Gedanken. Ihr Tun wurde beherrscht von dem Wunsch, diesem Mann zu gefallen. Sie kannte nicht einmal seinen Namen, aber sie fühlte sich wie eine Marionette, die sich nur in seinem Sinne bewegte. Er war nicht zu dem vereinbarten Zeitpunkt gekommen, und Rosalba tröstete sich damit, dass er aufgehalten worden war. Morgen – vielleicht auch erst übermorgen – würde er an ihrem kleinen Verkaufsstand erscheinen. Obwohl sie sich im tiefsten Inneren ihres Herzens vor der Ignoranz und Leichtfertigkeit fürchtete, die einen Kavalier in diesen Tagen kennzeichnen konnte, schloss sie aus, dass er sie vergessen haben könnte. Immerhin besaß er ein kostbares Pfand, und ein Ehrenmann würde eine kleine Kunsthandwerkerin nicht ausnutzen, indem er sich ohne Gegenleistung eine Tabaksdose aneignete.
Glücklicherweise funktionierte ihr Verstand noch so weit, dass sie sich im Klaren darüber war, aus ihrer eher nüchternen Erscheinung niemals eine Femme fatale machen zu können. Sie ahnte aber auch, dass junge Herren neben geschliffenen Umgangsformen großen Wert auf eine perfekte Frisur, Maquillage und Garderobe legten. Wenn der Fremde denn also endlich ihre Verabredung einhalten wollte, beabsichtigte ihn Rosalba nicht nur mit ihren Skizzen zu beeindrucken, sondern auch mit ihrer Weiblichkeit.
Sie hatte sich nicht getraut, ihre Mutter um Rat zu bitten. Es würde einen Aufruhr in ihrer Familie geben, wenn herauskäme, dass sich Rosalba für einen Mann interessierte. Die liebevollen Spötteleien ihrer Schwestern waren das mindeste, das Rosalba fürchtete. Trotz aller Entschlossenheit und Zuversicht hatte sie Angst, sich mit ihrer Schwärmerei lächerlich zu machen. Immerhin hatten die zwei Jahre jüngere Angela und das kaum zwölfjährige Nesthäkchen Giovanna nicht an Gekicher und Getuschel gespart, als sie herausfanden, dass Rosalba stundenlang an der Studie ein und desselben Gesichts gesessen hatte. Selbst der Hinweis auf einen »wichtigen neuen Auftraggeber« hatte die beiden nicht zum Schweigen bringen können, denn es stimmte sehr wohl, dass sich Rosalba sonst niemals so lange mit einer Skizze aufhielt wie in diesem speziellen Fall. Um für das erneute Zusammentreffen mit dem Fremden gewappnet zu sein, hatte sie also bei Marina Lazzari vorgesprochen, mit dem Ergebnis, dass sie zwar etwas dazugelernt hatte, aber zu spät nach Hause kam.
Andrea Carriera bewohnte mit Frau, Töchtern und einem Dienstmädchen das Haus seines Schwiegervaters im Sestiere Dorsoduro direkt am Canal Grande. Die vornehme Adresse entsprach allerdings nicht der Ausstattung der bescheidenen Casa Biondetti. Rosalbas Zuhause verfügte zwar über eine eigene Anlegestelle, ein geschwungenes Wasserportal und eine lorbeerbegrünte Terrasse, besaß aber nicht einmal ansatzweise die architektonische Schönheit der Gebäude in der Nachbarschaft, geschweige denn deren Pracht, etwa eine marmorverkleidete Fassade mit Verzierungen aus Gold und Lapislazuli wie die des Palazzo Dario ganz in der Nähe.
Die nur einstöckige, aus gelbem Sandstein erbaute Casa Biondetti war verhältnismäßig klein und im Inneren auch eher zweckmäßig eingerichtet, zumal sich das Familienleben praktisch nur auf einer Ebene abspielte, da man wegen der Hochwassergefahr Wohnung im ersten Stock genommen hatte. Die Carrieras leisteten sich einen eigenen Musiksalon und ein Klavichord, aber dieser Luxus reduzierte andere Annehmlichkeiten auf ein Minimum. So saß man an einem feuchtkalten Winterabend wie diesem in der Küche, um die Wärme des Ofens auszunutzen und kostbares Brennholz zu sparen, das zum Beheizen des Esszimmers nötig gewesen wäre.
Während sie die Steintreppe eilig hinauflief, zog Rosalba mit der einen Hand den Schal herab, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte, und versuchte dabei mit der anderen, ihr Haar zu ordnen. Noch immer auf der Suche nach einer passenden Entschuldigung war sie so in Gedanken versunken, dass sie mit Angela zusammenprallte, die wie ein Wachposten auf der obersten Stufe stand.
»Aua!«, schrie Angela entrüstet auf. »Wer verfolgt denn dich, dass du so kopflos die Treppe heraufgerannt kommst?«
»Und warum stehst du hier im Weg herum?«
Ein Funken Schadenfreude lag in Angelas Stimme, als sie mit einer unter Schwestern ihres Alters typischen kleinen Boshaftigkeit stichelte: »Papa will dich unverzüglich sehen. Er verlangte schon vor einer Stunde nach dir. Aber keiner wusste, wo du warst. Er bat mich, dich sofort zu ihm zu schicken, sobald du auftauchst.«
Mit der Hand, die eben noch eine Haarsträhne hinter ihr Ohr geschoben hatte, fuhr sich Rosalba über die Augen. Sie zermarterte sich den Kopf nach einer Erklärung, die ihre Verspätung rechtfertigen würde. Da fiel ihr ein, dass Papa sie wohl kaum wegen des ausgefallenen Abendessens tadeln wollte, wenn er schon vor einer Stunde nach ihr gefragt hatte. Was mochte aber dann so wichtig sein, dass er sie unverzüglich zu sehen wünschte? Neugier regte sich und vertrieb die natürliche Furcht vor einer Maßregelung. Unwillkürlich strafften sich ihre Schultern, als sie sich an Angela vorbeischob, um über den Flur zum Zimmer ihres Vaters zu gehen ...
»Was hast du denn da im Gesicht?« wurde sie von Angelas Stimme zurückgehalten..
Rosalba fuhr herum.
»Du solltest das Schönheitspflästerchen wegwischen, bevor du eine Unterredung mit Papa führst«, bemerkte Angela, und in ihren schönen Augen glitzerte der Schalk. Sie trat dicht an Rosalba heran und betrachtete mit gespielter Kennermiene die Schminke der Älteren. In verschwörerischem Ton fragte sie schließlich: »Hast du dich für deinen neuen Auftraggeber so herausgeputzt?«
Rosalba hatte das Gefühl, der Boden gebe unter ihren Füßen nach. »Nein ...«, sie klang ein wenig heiser, räusperte sich und setzte noch einmal an: »Nein, natürlich nicht. Wieso auch?« In ihren Ohren klangen ihre Worte merkwürdig schrill, hohl und unglaubwürdig. »Ich war bei Signor Lazzari und ...«
»... und da hast du seine Farbpalette gleich für ein wenig Rouge benutzt«, vollendete Angela kichernd. »Wirklich, Rosa«, fügte sie etwas ernster hinzu, »mir kannst du nichts vormachen. Es gibt einen Mann in deinem Leben. Und es ist nicht zu übersehen, um wen es sich handelt. Sieht dein Kavalier tatsächlich so gut aus? Oder zeichnest du mit den Augen der Liebe?«
Angela verdrehte ihre Augen zur Decke, um Rosalba zu demonstrieren, was sie von derartiger Leidenschaft hielt.
»Dumme Gans!« Ohne darüber nachzudenken, fuhr Rosalbas Hand hoch, um Angela an der Haarlocke zu ziehen, die aus ihrer Spitzenhaube hervorlugte. »Ich bin nicht verliebt!« In Gedanken schalt sie sich dafür, dass sie so leicht zu durchschauen war.
Angela streckte ihr die Zunge heraus. »Wer's glaubt, wird selig. Selber dumme Gans. Warum malst du dich denn sonst an wie eine Kurtisane?«
»Halt endlich dein Schandmaul!«
Angela hüpfte von einem Bein auf das andere, drehte sich im Kreise und wich Rosalbas Drohgebärden dabei geschickt aus.
»Rosa ist verliebt ... Rosa ist verliebt ...«, skandierte sie provozierend.
»Warte nur! Dir zahl' ich's heim!«
»Fang mich doch ... Du kriegst mich ja sowieso nicht ... Du ...«
In diesem Moment flog eine Tür auf.
»Was ist denn hier los?« Alba Carriera, die Mutter der Mädchen, klatschte energisch in die Hände. »Rosa, Angela! Hört auf, euch wie toll gewordene Recken aufzuführen. In diesem Haus herrscht Frieden. Unverzüglich.«
Obwohl sie von kleinerer Statur war als ihre Töchter, besaß sie die Autorität einer Riesin. Rosalba und Angela verharrten wie angewurzelt in ihren Bewegungen. Mit niedergeschlagenen Augen senkten sie die Köpfe. Ergeben warteten die beiden auf das unvermeidliche Donnerwetter. Die Hänselei war vergessen. Die Schelte der Mutter einte die beiden sofort wieder. Doch nichts von dem, was die Schwestern befürchteten, geschah.
Mit gemessener Stimme, als sei nichts gewesen, sagte Alba: »Rosa, Papa möchte dich sprechen. Komm bitte in sein Zimmer ... Na, komm schon und schau nicht so verängstigt. Papa muss morgen zu einer seiner Dienstreisen in die terra ferma aufbrechen und möchte dich dieses Mal mitnehmen.«
Rosalba riss die Augen auf. Vollkommen sprachlos starrte sie ihre Mutter an, während Angela beeindruckt wiederholte: »Papa will mit Rosa aufs Festland fahren!«
»Zur Villa Contarini in Piazzola und zu weiteren Stationen ins Veneto«, nickte Alba. In ihrem Ton schwang Stolz mit. Immerhin würden ihr Ehemann und ihre Tochter die Ehre haben, eines der schönsten und größten Herrschaftshäuser des Landes zu besuchen. Sie nahm Rosalba am Arm, als sei es nötig, ihre Älteste zu stützen angesichts des Wissens, in das Anwesen einer Familie geladen zu sein, die seit Jahrhunderten mehrere Dogen gestellt hatte.
»Aber ich will Papa nicht die Freude nehmen, es dir selbst zu erklären. Nun schau nicht so ungläubig. Es ist kein Traum! Papa und du, ihr werdet morgen mit dem ersten Postschiff die Brenta hinauffahren bis zur Villa Contarini. Ist das nicht wunderbar, Rosa? Du hast dir so eine Reise doch immer gewünscht.« Ihre Mutter hatte recht. Schon als kleines Mädchen hatte sich Rosalba oft an der Mole herumgetrieben und den Schiffen nachgesehen, die landeinwärts segelten. Mehrmals im Jahr stand ihr Vater an Bord des posteggio, des Postschiffes, um im Auftrag des Dogen ins Veneto zu reisen. Wenn er nach Tagen oder Wochen zurückkehrte, ließ er es zu, dass sich seine Lieblingstochter an seine Seite kuschelte, und er berichtete ihr unermüdlich von den Eindrücken, die er in der terra ferma irgendwo zwischen den Burgen des Friaul und den mittelalterlichen Kaufmannshäusern Veronas gesammelt hatte. Und jedes Mal versprach er ihr, sie mitzunehmen, wenn die Zeit reif dafür wäre. Das hieß: wenn sie alt genug und die Gelegenheit günstig wäre. Rosalbas Knie wurden weich.
Nie hatte sie an dem Versprechen ihres Vaters gezweifelt, aber eigentlich hatte sie zunächst an den Besuch in einer Kleinstadt gedacht. Für den Anfang wäre ein Ausflug nach Treviso genau richtig gewesen. Der Ort war an Kanälen errichtet und glich in mancher Hinsicht der berühmten Hauptstadt der Republik. Papa hatte Rosalba erzählt, dass die Fassaden der Häuser wunderschön bemalt waren und im Duomo Fresken von Tizian zu besichtigen wären. Musste es als erstes Reiseziel ihres Lebens also ausgerechnet die Villa Contarini sein? Würde sie nicht in Ohnmacht fallen angesichts der Architektur eines Feudalbaus, an dem angeblich sogar Palladia mitgearbeitet hatte? In keinem der anderen Anwesen wurden so legendäre Feste gefeiert wie in der Villa Contarini. Würde sie, die unbedeutende Rosalba Carriera, vor einer solchen Kulisse nicht untergehen wie ein Kieselstein im Canal Grande? Ach, wenn sie doch Marina Lazzari fragen könnte, wie man sich in einem Schloss benahm!
Während sie blind vor Zweifeln und Aufregung in das Zimmer ihres Vaters taumelte, fühlte sie sich zerrissen wie nie zuvor in ihrem Leben. Sicher, sie hatte sich stets danach gesehnt, einmal etwas anderes zu sehen als die vertrauten Bauten der Serenissima. Doch erschien es ihr wie ein Frevel, mit ihren Besichtigungen sozusagen an der Spitze des Eisbergs beginnen zu müssen. Eine kalte Hand griff nach ihrem Herzen und schnürte ihr den Brustkorb ein. Da begriff Rosalba plötzlich, dass es nicht nur die natürliche Scheu vor dem Fremden war, die ihre Freude über die Reisepläne ihres Vaters dämpfte. Der Puppenspieler zerrte unaufhörlich an den Fäden seiner Marionette.
Angelas Versuch, an der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters zu lauschen, wurde durch die Mutter vereitelt, die sehr rasch dahinterkam, warum ihre mittlere Tochter scheinbar arglos durch den Flur schlenderte. Alba schickte Angela in die Küche, um bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen.
Während Angela ungeduldig die Polenta rührte, dachte sie bei sich, welches Glück Rosalba hatte, dass sie mit Papa ins Veneto fahren durfte. Auch sie wollte eines Tages hinaus in die Welt reisen und die Heimat der vielen andersartigen Menschen kennen lernen, denen sie in Venedig auf Schritt und Tritt begegnete. Stets war sie die Lebenslustigere und Mutigere der beiden älteren Carriera-Mädchen gewesen. Aber natürlich wusste sie, dass sie nicht nur zu jung als Papas Begleitung war, sondern in der Familienhierarchie hintanstehen musste. Doch Angela war davon überzeugt, dass sie eines Tages einem Kavalier begegnen würde, der ihr nur allzugern die Welt zeigen würde.
Noch ahnte Angela nur, wie bezaubernd schön sie war, aber die Blicke, die ihr die jungen Männer zuwarfen, bemerkte sie sehr wohl. Deshalb war sie trotz ihrer Jugend fest entschlossen, nur ein besonderes Exemplar als Gatten zu akzeptieren. Es musste ein Mann sein, der all ihre Sehnsüchte befriedigen könnte.
Später an diesem Abend, als die Schwestern in der gemeinsamen Schlafkammer unter dem Dach in ihren Betten lagen, brach die Neugier aus Angela heraus. Bis jetzt hatte sie sich zurückhalten können und die knappen Informationen der Eltern bei Tisch, die kaum über die vorangegangenen Erklärungen der Mutter hinausgingen, kommentarlos zur Kenntnis genommen. Zudem hatte sie gewartet, bis Giovannas Atem so tief und gleichmäßig wie der eines Babys war. Doch dann hielt sie es nicht mehr aus und fragte in die Dunkelheit: »Was ist das für ein Gefühl, Rosa, verreisen zu dürfen? Bist du sehr aufgeregt?«
Rosalba drehte sich auf die Seite, so dass sie aus dem kleinen Dachfenster blicken konnte. Sie hoffte, die Sterne zu sehen, doch der Himmel war vom Nebel verschleiert. Wenn sie sich aufrichten würde, könnte sie vielleicht als helle Punkte die Lichter der sandolo, der Lastkähne, auf dem Kanal erspähen. Die Rümpfe der Gondeln aber waren im Dunst kaum erkennbar und so verschwommen wie auf keinem Gemälde, das Rosalba kannte. Die Natur verwischte die Konturen, und keinem Maler mit Ölfarben war es bislang gelungen, dies auf einer Leinwand festzuhalten. Jedenfalls keinem, den Rosalba kannte. Obwohl sie hellwach war, stand sie nicht auf, um mit ihren Blicken den Wellen zu folgen, die sie kurz nach Sonnenaufgang davontragen würden. Sie stellte sich schlafend, da sie lieber ihren Gedanken nachhängen wollte, als Angelas Wissbegier zu befriedigen.
»Schläfst du etwa schon?«, drängte Angela prompt.
»Nein, ich denke nach.« Rosalba wälzte sich wieder auf den Rücken. »Aber du solltest schlafen. Und ich will Giovanna nicht mit unserem Gerede wecken.«
»Nanina schläft wie ein Murmeltier«, behauptete Angela und schwang die Beine aus ihrem Bett. Mit bloßen Füßen tappte sie über den eiskalten Steinboden, um keine Minute später unter Rosalbas Decke zu kriechen. »Rück mal, bevor ich mir eine Erkältung hole.«
»Du bist unverbesserlich«, seufzte Rosalba ergeben und schob sich dicht an die Wand, um Angela Platz in ihrem Bett zu machen. »Wenn Angela sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bekommt sie es auch! Also, Zuanina, was willst du wissen?«
»Wie fühlt es sich an, eine Reisetasche zu packen? Was empfindest du, wenn du an morgen denkst? Glaubst du, dass du dein Zuhause vermissen wirst? Oder werden dich die Eindrücke in der Fremde so beschäftigen, dass du gar nicht mehr an uns denken kannst?«
Rosalbas leises Lachen unterbrach Angelas Eifer. »Halt, halt. Du holst ja nicht einmal Atem zwischen deinen Fragen. Wie soll ich dir das alles beantworten, wenn du dir nicht einmal selbst Zeit zum Luftholen lässt?«
»Ach, ich finde es schrecklich aufregend, dass du Papa begleiten darfst. Eine richtige Überraschung war das heute Abend, nicht wahr?«
»Allerdings. Wenn du es genau wissen willst: Ich hatte bis jetzt noch nicht einmal Zeit, wirklich darüber nachzudenken. Alles ging so schnell. Dabei dachte ich, als ich nach Hause kam, Papa würde mit mir schimpfen, weil ich zu spät war. Und dann war plötzlich alles ganz anders ...«
Rosalbas Worte verloren sich, und Angela fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Die Neuigkeit hatte sie dermaßen abgelenkt, dass sie ihre Neckerei völlig vergessen hatte. Wie hatte ihr das nur passieren können? Die andere Sache war doch fast ebenso interessant wie die bevorstehende Reise.
»Wird dein Verehrer auf dich warten, Rosa?«
Unwillkürlich versteifte sich Rosalbas Körper. Das genau war die Frage, die sie sich den ganzen Abend über gestellt hatte. Und die Antwort war ziemlich eindeutig: »Nein. Ich glaube, nicht. Warum sollte er auch?«
Sie hatte sich zwar überlegt, dass der schottische Tourist möglicherweise ein ehrliches Interesse an ihren Skizzen und dem damit verbundenen Geschenk für seine Mutter haben könnte und ihre Rückkehr daher vielleicht abwarten würde. Andererseits wusste sie nicht, wie lange er in Venedig bleiben wollte. Er würde seine Abreise ihretwegen kaum hinausschieben. Jedenfalls nicht im derzeitigen Stadium ihrer Bekanntschaft, fügte sie in Gedanken bedauernd hinzu. Außerdem war sie nicht so eitel, um nicht zu wissen, dass er auch anderswo eine schöne Miniatur erwerben könnte – vielleicht nicht von der Qualität, die ihr Geschick ihm bot, aber in der Regel handwerklich nicht wesentlich schlechter.
»Es ist doch immerhin anzunehmen, dass du dem Herrn gefällst«, meinte Angela nach einigem Nachdenken. »Ich weiß ja nicht, wie du wirklich zu ihm stehst, aber er könnte doch auch Sympathie für dich empfinden. Oder hast du ihm etwa noch nicht die Gelegenheit gegeben, dich richtig kennen zu lernen?«
»Richtig?« wiederholte Rosalba verbittert. Eine ähnliche Frage hatte ihr die lebenskluge Marina Lazzari auch gestellt. Was bedeutete schon, jemanden »richtig« zu kennen? Eine solche Begegnung war doch nur möglich, wenn es sich um einen Herrn handelte, der ihrer Familie nicht fremd war? Wenn sich etwa der Vater um den männlichen Umgang seiner Töchter kümmerte, wie dies häufig der Fall war. Rosalba kannte den Mann, der ihre Gedanken beherrschte, in diesem Sinne natürlich nicht, und doch glaubte sie, sein Wesen und seinen Charakter in seinen Gesichtszügen studiert zu haben. Wenn es darum ging, sein Innerstes zu erforschen, so war sie sicher, sich auf dem richtigen Weg befunden zu haben. Einem Weg, der ihr durch die Erfüllung eines anderen Traums nun abgeschnitten wurde.
Mit nüchterner Aufrichtigkeit gestand sie ihrer Schwester: »Wahrscheinlich sind das alles nur Hirngespinste. Wir sind einander nicht einmal vorgestellt worden. Er kam einfach an meinem Stand vorbei. Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Der attraktivste Mensch, den du dir überhaupt nur vorstellen kannst. Er hat gesagt, dass ich ...« Sie errötete und war dankbar für die Dunkelheit, die sie umgab, als sie sich an seine Worte erinnerte: »... dass ich eine Frau ganz nach seinem Geschmack wäre. Aber ... aber mehr ist nicht geschehen, weißt du.«
»Ja, hat er sich dir gegenüber denn nicht interessiert gezeigt?« wollte Angela entrüstet wissen.
»Doch, doch. Irgendwie schon. Ich sollte die Skizzen anfertigen, damit er sich ein Portrait für eine Miniatur aussuchen könnte. Er wollte mich am Stand besuchen ...« Rosalba spürte den Kloß in ihrem Hals, als sie hinzufügte: »Aber bis jetzt ist er nicht gekommen. Ich werde ihn wohl nie wiedersehen.«
Angela spürte die Tränen, die in den Augen der Schwester brannten.
Obwohl sie von Herzensdingen ebenso wenig Ahnung hatte wie Rosalba selbst, fühlte sie sich verpflichtet, diese zu trösten.
»Ich werde dich würdig an deinem Stand vertreten«, versprach sie, während sie ihr zart über die Wange strich, als sei sie die Große. »Und wenn dein Kavalier erscheint, werde ich ihm sagen, dass er auf das wunderbarste Mädchen der Welt warten muss, sonst wird er niemals glücklich werden. Einerlei, wie lange es dauert, bis du wieder zu Hause bist.«
Rosalba lächelte amüsiert. »Wie willst du ihn denn erkennen, du Dummerchen? Wenn du mit jedem Herrn, der an unseren Stand kommt, so reden willst, wirst du bald das Stadtgespräch von Venedig sein.«
»Ich habe deine Skizzen gesehen«, erwiderte Angela voller Überzeugung. »Glaubst du, ich vergesse das Gesicht des ›schönsten Mannes der Welt?«
Doch genau das sollte geschehen.
Es gab einen Ort in Venedig, der John Law fast noch mehr reizte als die Spielclubs, und das war das Geschäftsviertel am Rialto.
Auf relativ engem Raum am Fuße der Rialto-Brücke befanden sich nicht nur die großen ausländischen Handelsgesellschaften, sondern auch die Steuerverwaltung der Republik und die venezianische Staatsbank. Wohlgeordnet nach ihren jeweiligen Zünften und Waren, gab es hier eine Reihe von Zweckbauten wie etwa die Hallen der Fischverkäufer, den Gemüsemarkt, die fabbriche vecchie der Tuchhändler und die traditionellen kleinen Läden der Goldschmiedemeister. Im Schatten dieser Institutionen feilschten die privaten Geldverleiher mit ihren Kunden, von denen sie in der Regel mehr als zwanzig Prozent Zinsen verlangten, und diskontierten Geldwechsler fremde Währungen, die sich – wie fast überall in Europa – an den Wechselkursen der venezianischen Zechinen und Dukaten orientierten. Unter diese bunte Versammlung von Kaufleuten, Seefahrern, Tagelöhnern und Händlern mischten sich die staatlichen Finanzkontrolleure, die vor allem darüber wachten, dass das Wertverhältnis von Waren und Münzen eingehalten wurde. Wer etwas kaufte, musste sein Geld auf den tatsächlichen Reinheitsgehalt, also auf seinen Wert, überprüfen lassen.
John erinnerte sich daran, wie sein verstorbener Vater über die vielen Fälschungen geklagt hatte, die immer wieder in Umlauf gelangten. Der alte Law hatte seinen Sohn stets davor gewarnt, mit manipulierten Münzen in Verbindung zu kommen. Ein geschickter Gauner konnte ein Vermögen machen, wenn er den Rand eines Geldstücks ein wenig abschliff Aus dem so gewonnenen Gold- oder Silberstaub ließ sich rasch neues Geld prägen. Natürlich waren derartige Manipulationen verboten, doch hinderte es findige Geister nicht daran, sich auf diesem Wege zu bereichern. Deshalb mussten die Münzen immer wieder neu auf ihr Gewicht und damit ihren Wert geprüft werden.