Die Perfekten - Caroline Brinkmann - E-Book
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Die Perfekten E-Book

Caroline Brinkmann

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Beschreibung

"Sie ist Rain. Der Regen. Der Neuanfang."


Rain ist ein Ghost. Sie lebt außerhalb des Systems. Seit ihrer Geburt ist sie auf der Flucht vor den Gesegneten, einer perfekten Weiterentwicklung der Menschen, die mit eiserner Hand regieren und das Volk unterdrücken. Rain weigert sich jedoch, sich ein Leben lang zu verstecken, und begeht einen fatalen Fehler. Sie bricht die wichtigste Regel der Ghosts: Vertraue niemandem!

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Seitenzahl: 819

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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungPROLOGTEIL 1: DER GHOST1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.TEIL 2: DIE GESEGNETE19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.TEIL 3: DIE GESANDTE35.36.37.38.39.40.41.42.43.44.Leseprobe »Die VereintenCoverEinleitung1.2.3.4.5.6.

Über das Buch

Vertraue niemandem! (Das erste Gesetz der Ghosts)

Mein Name ist Rain. Ich gehöre zu denen, die man Ghosts nennt. Mit meiner Mutter lebe ich außerhalb des Systems. Wir sind unsichtbar. Über uns allen thronen die Gesegneten. Sie gelten als perfekt. Aber das bin ich auch!

Rain und ihre Mutter Storm sind auf ständiger Flucht vor den Gesegneten, einer perfekten Weiterentwicklung der Menschen, die das Land Hope regieren. Wie für alle Menschen, die aufgrund ihrer Gene in der perfekten Welt keinen Platz haben, ist die einzige Chance zu überleben, dass sie unsichtbar bleiben. Rain missachtet diese Regel und schließt Freundschaft mit dem Jungen Lark. Doch gerade, als sie beginnt, ihn in ihr Herz zu lassen, verrät er sie an die Soldaten der Gesegneten. Eigentlich wäre das ihr sicheres Todesurteil, doch stattdessen erfährt Rain etwas Unglaubliches. Sie ist gar kein Ghost. Sie ist perfekt. Eine Gesegnete.

Über die Autorin

Caroline Brinkmann wurde 1987 im hohen Norden geboren. Heute ist sie als Ärztin tätig und schreibt, wann immer sie Zeit dafür findet. 2013 gründete sie das Tintenfeder-Autorenportal, das angehende Autoren über die Verlagsbranche aufklärt. Seit 2014 veröffentlicht sie regelmäßig Bücher. Mit ihrem Debüt belegte sie den ersten Platz in der Kategorie »Beste Debütautorin 2014« bei Lovelybooks. Sie liest regelmäßig auf Buchmessen, Conventions, in Schulen und Buchhandlungen und ist in verschiedenen Internet-Gruppen und -Foren aktiv. DIE PERFEKTEN ist Brinkmanns erster Roman, der bei ONE erscheint.

CAROLINE BRINKMANN

DIE PERFEKTEN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2017 by Caroline Brinkmann und Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, MünchenUnter Verwendung eines Motivs von © shutterstock/Aleshyn_Andrei

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4831-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Die Vereinten« von Caroline Brinkmann.

Copyright © 2018 by Caroline Brinkmann und Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock/Aleshyn_Andrei

Für dich.Weil jeder Tag mit dir ein perfekter Tag ist.

Und euch.Weil ihr meine Basisstation seid.

PROLOG

AN RAINS SECHZEHNTEM GEBURTSTAG nahm ihre Mutter sie in den Arm und flüsterte: »Für mich bist du perfekt.«

Sie kauerten unter einem selbst gebauten Unterschlupf aus Zweigen und Blättern, die zwar den Regen, aber nicht die Kälte abhielten. Eine Weile verharrten sie eng umschlungen, wärmten sich gegenseitig und starrten in den Wald, der vor ihnen lag. Grau und kalt war es, denn der Regen wusch Farben und Wärme fort.

»Nicht die Gene machen einen Menschen perfekt, sondern sein Wesen. Vergiss das nicht, mein Herz.« Ihre Mutter ließ sie los und überreichte ihr ein Armband. Es bestand aus zwei Lederkordeln, die ineinandergeschlungen waren. Es war so lang, dass Rain es sich zweimal um den Arm binden konnte. In der Mitte lag ein kleiner Glasstein, blau wie der Himmel, in der Form eines Tropfens. Eines Regentropfens. Im Inneren, eingeschlossen von dem Glas, konnte man Wasser erkennen.

»Danke. Es ist unglaublich.« Rain war sprachlos.

»Der Anhänger enthält Regenwasser«, erklärte ihre Mutter. »Weißt du, alles beginnt mit einem Tropfen. Einem Tropfen, dem Milliarden weitere Tropfen folgen. Zusammen verbünden sie sich zu einem Meer aus Wasser, das aus dem Himmel stürzt. Der Regen gibt Hoffnung. Er wäscht die Sorgen und die Spuren der Vergangenheit hinfort und schenkt einen Neuanfang. Du wurdest im Regen geboren. Ich wusste gleich, dass es ein gutes Zeichen ist.«

Rain fuhr mit klammen Fingern über das Geschenk und hoffte, dass der so gepriesene Regen, dem sie ihren Namen verdankte, bald enden würde, denn sie war durchnässt und ihr war kalt.

TEIL 1

DER GHOST

1.

DAS LÄUTEN DER SCHULGLOCKE schallte über den Hof und riss Rain aus ihren Gedanken. Es war so weit. Sie reckte ihren Kopf, um besser sehen zu können, und sie ließen nicht lange auf sich warten. Schon nach wenigen Minuten strömten Schüler in der Mitte des asphaltgrauen Schulhofs zusammen und erfüllten den tristen Platz mit Leben.

Rains Herzschlag beschleunigte sich, während ihre Augen jeder Bewegung folgten. Auf den ersten Blick sahen alle gleich aus. Wie graue, ineinanderfließende Puzzleteile, die sich in Grüppchen zusammenfanden. Wie Rain sie beneidete. Um ihr normales geregeltes Leben, um ihre grauen groben Schuluniformen. Die Art, wie sie lachen konnten und sich über Lehrer aufregten. Sie wirkten so ausgelassen.

Im Gegensatz zu ihnen fühlte sich Rain wie ein Hase auf einem weiten Feld, ständig in der Angst, dass ein Falke auf ihn aufmerksam werden würde. Ihr Blick huschte in Alarmbereitschaft zum Himmel empor, zuckte die Hauswände entlang. Nur war der Falke, den sie fürchtete, aus Metall und in der Regel gut bewaffnet.

Die Kinder auf dem Schulhof mussten nicht weglaufen und lebten nicht in der ständigen Angst, von den Sentinal entdeckt zu werden. Die Sentinal, sie waren die ausführende Hand der Gesegneten, eine Polizeiarmee, die im ganzen Land mit brutaler Kompromisslosigkeit für Ordnung sorgte.

Sie hatten ein Leben – ein einfaches, aber sicheres Leben hier im Industriezirkel des Landes Hope.

Rain zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und wagte sich ein paar Schritte näher an den Hof heran. Der Maschendrahtzaun, der sie von den anderen trennte, war nur noch wenige Zentimeter entfernt. Ein Surren ging von dem dünnen Metall aus und brachte die Luft zum Vibrieren. Rain passte auf, ihn nicht zu berühren, wohl wissend, dass das einen Alarm auslösen würde. Innerhalb weniger Minuten würde es hier von Drohnen nur so wimmeln. Also sah sie den Schülern einfach zu.

»Hey, Lark. Kommst du nachher vorbei?«, fragte ein aschblondes Mädchen. Keines der Mädchen trug das Haar länger als schulterlang, und wie es sich in der Schule gehörte, war es auch bei diesem Mädchen zu einem strengen Zopf zurückgebunden. »Nuts hat die alte Spielekonsole repariert.«

»Tut mir leid, Hail. Ich schaffe es nicht. Meine Eltern machen heute eine Doppelschicht, und ich muss auf meine Schwester aufpassen.« Die meisten Jungen trugen die Haare kurz rasiert, ebenso Lark, wenngleich seine etwas länger waren als üblich. Keine Absicht, vermutete Rain, denn sonst gab es keine Hinweise, die auf ein rebellisches Wesen hindeuteten.

»Oh, schon wieder eine Doppelschicht?« Hails Augen weiteten sich, bevor sich der Ausdruck von Mitleid in ihr Gesicht schlich.

»Sie kürzen Stellen, und meine Eltern fürchten, dass die Zweien zuerst fliegen«, erklärte Lark. Er zuckte die Schultern, vermutlich, um sich lässig zu geben, aber er sah angespannt aus. Auf seiner Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet, die durch schwarze Smogspuren noch betont wurden.

»Das habe ich auch schon gehört. Oh Lark! Es tut mir so leid, dass dein Vater keine Eins ist. Wenn wir irgendetwas tun können …«

Sie begleitete den Jungen bis zum Tor, das den einzigen Zugang zum Schulgelände darstellte. Eine unsichtbare Schranke scannte die Passierenden und überprüfte ihre Identität. Drohnen waren nicht zu sehen, doch Rain war sich sicher, dass sie nicht weit entfernt sein konnten. Wächterdrohnen. Sogenannte WatchBots. Die Falken von Hope.

Den Schülern zuzusehen, erfüllte Rain immer wieder mit einer tiefen Sehnsucht. Seit sie den Wald hinter sich gelassen hatten, beschäftigte sie dieser Wunsch. Der Wunsch nach dem, was für sie unerreichbar war, hinterließ Spuren in ihrem Herzen. Jeder Schlag begann zu schmerzen, als sie sich einmal mehr ins Bewusstsein rief, dass sie nie eine Schule besuchen würde. Sie würde nie durch die unsichtbare Schranke treten. Sie würde nie dort stehen mit grauer Schuluniform und strengem Zopf und sich mit den Mitschülern verabreden.

Sie war anders. Sie war ein Ghost. Kein wirklicher Geist, sondern jemand, der im System keinen Platz hatte. Sie war nicht registriert, und wer keine Nummer hatte, existierte nicht. Es war verboten, nicht zu existieren.

Ein lautes Aufsummen ließ die Schüler innehalten, als sich zwei Projektoren einschalteten. Die Luft über den Maschinen begann zu zittern, und ein bläuliches Bild wurde über die Köpfe der Kinder projiziert.

Rain wich instinktiv zurück, als das Hologramm einer Frau erschien. Ihr dichtes, kohleschwarzes Haar fiel in vollendeten Wellen auf ihre Schultern und umspielte ein Gesicht, in dem Zerbrechlichkeit und Stärke perfekt harmonierten. Sie sah unnatürlich schön aus.

»Liebe Schüler von Grey«, begann sie und lächelte liebevoll wie eine Mutter auf ihre Kinder hinab. »Ich bin stolz auf das, was ihr heute geleistet habt. Ich bin sicher, ihr seid fleißig und arbeitet hart daran, ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Hope kann sich glücklich schätzen, Bürger wie euch zu haben.«

Sie machte eine Pause, um ihre strahlend weißen Zähne zu enthüllen. Rain konnte sich nicht von der Sprecherin abwenden. Wie konnte ein Mensch nur so wunderschön aussehen? Ihre Haut war makellos. Keine Unebenheit, keine Falte war zu erkennen. Ihre erdbraune Farbe ließ die großen himmelblauen Augen nur umso prägnanter hervorstechen.

Bei ihrem Anblick schämte Rain sich für ihr unordentliches Haar und die Kruste aus Dreck und Staub auf ihrer Haut.

»Die Rote Seuche hat weitere Opfer aus allen zehn Zirkeln von Hope gefordert. Wir, die Gesegneten, tun alles, was in unserer Macht steht, um euch Menschen im Kampf gegen diese grausame Krankheit zu unterstützen. Wir sind voller Hoffnung und Zuversicht, dass unsere Forscher von White Pearl diese Plage in den Griff bekommen werden, wie sie einst den Krebs, die Demenz und andere Schwächen besiegten.«

Die Sprecherin war Amygdala, die Gesegnete, die das zweifelhafte Glück hatte, der amtierende Earl von Grey zu sein. Es gab immer einen Gesegneten, der für den Zirkel zuständig war und somit den Titel »Earl« trug. Auch wenn Amygdala bei ihrer Ernennung, wie alle anderen vor ihr, von einer großen Ehre gesprochen hatte, zweifelte Rain an dieser Ehre. Es war schon auffällig, wie oft die Earls von Grey wechselten.

Die Gesegnete hielt inne, um den Schülern die Möglichkeit zu geben zu applaudieren. Und sie wurde nicht enttäuscht. In Grey gab es nur vereinzelt Opfer der Roten Seuche, die vor allem in den Grenzgebieten von Hope vorkam. Trotzdem war die Angst vor der Erkrankung allgegenwärtig, denn sie konnte jeden treffen. Zumindest, wenn man ein Mensch war.

»Tapfere Wissenschaftler sind aufgebrochen, um Erkrankte in den Epidemie-Gebieten zu untersuchen. Stets in der Hoffnung, den Durchbruch in der Bekämpfung der Roten Seuche zu finden. Es ist wichtig, dass auch ihr euren Teil dazu beitragt.« Nach einer dramatischen Pause fuhr sie fort. »Haltet eure Augen offen und meldet potentielle Ghosts, denn sie verbreiten die Seuche.«

Rain erstarrte. Ein saurer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, doch sie schluckte ihn herunter. Da Ghosts nicht an den regelmäßigen medizinischen Kontrollen teilnahmen, wusste sie nicht, ob sie krank war. War sie wirklich eine Gefahr für andere? Oder war das bloß eine Masche, die Angst vor ihresgleichen zu schüren?

»Ich bin sicher, ihr werdet Hope nicht enttäuschen. Ich bin sicher, ihr werdet uns stolz machen und eure Aufgabe voller Hingabe erfüllen.« Amygdala sah auf die eifrig klatschenden Schüler hinab, wie ein stolzer Hirte auf seine kostbare Schafherde. »Nun. Gibt es etwas, was ich für euch tun kann?«

Die Earls hatten einerseits die Aufgabe, für Ordnung in ihrem Zirkel zu sorgen, andererseits vertraten sie die Interessen ihres Zirkels im Regierungssitz Aventin. Viel holten sie für Grey allerdings nicht raus.

Hail, das Mädchen, mit den aschblonden Haaren, warf einen Blick auf ihre Mitschüler und trat vor. Sie streckte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und berührte mit ihnen erst ihr Herz und dann die Stirn, eine sehr höfliche Art der Begrüßung. Für ein einfaches »Hallo« hätte ein Berühren der Stirn gereicht, aber sie wollte der Gesegneten ihre Loyalität unter Beweis stellen. Rain verdrehte die Augen, da sie es für übertrieben hielt. Schleimerin!

»Wir sind sehr dankbar für das, was du für uns tust«, stammelte Hail und klammerte sich mit den Händen am Saum ihrer Uniform fest. »Im Moment leiden wieder viele Bewohner in Grey an dem Smog der Fabriken.«

Der Smog verseuchte seit einiger Zeit ganze Stadtteile. Die Bewohner brauchten teure Schutzkleidung und Filtermasken, um sich zu schützen. Andernfalls riskierten sie, sich die Schleimhäute zu verätzen. Eine unbedeutende Angelegenheit für die Gesegneten, die alle Hände voll zu tun hatten, die Rote Seuche in den Griff zu bekommen, die Grenzen ihres Landes zu verteidigen und etwas gegen die Rebellen und Ghosts zu unternehmen.

»Ich weiß, was ihr erdulden müsst. Ich fühle mit euch und verspreche, dass wir uns auch darum kümmern werden.« Das Hologramm warf dem Mädchen ein aufmunterndes Lächeln zu. »Bist du eine G-Eins?«

Hail drückte den Rücken durch und reckte das Kinn. Ihr Gesicht glühte, und sie schien vor Stolz beinahe zu platzen, wodurch sie an einen aufgeplusterten Vogel erinnerte.

Rain musterte sie genauer. Um eine Eins zu sein, mussten Intelligenz und körperliche Verfassung überdurchschnittlich hoch sein. Mit den Voraussetzungen würde sie es nicht schwer haben, eine gute Arbeit zu finden. Vielleicht sogar jenseits der Fabriken und jenseits von Greys Rauch spuckenden Schloten.

»Wenn du fleißig bist und hart arbeitest, erhältst du womöglich bald selbst die Gelegenheit, in Hopes Forschungseinrichtungen nach einer Lösung für euer Smogproblem zu suchen.« Amygdalas Blick lag fest auf dem Mädchen. Es hieß, Gesegnete konnten Gedanken lesen. Es hieß, sie wussten alles über die Menschen. Ob das wohl stimmte? Eine Gänsehaut kroch über Rains Rücken.

»Das wäre wunderbar.« Hail nickte eifrig.

»Ich glaube an euch. Ihr seid die Grundsteine unserer Gesellschaft.« Mit diesen Worten verschwand die Gesegnete, und mit den Projektoren erlosch das Bild. Die Schüler applaudierten und gratulierten Hail, die ihr Glück noch kaum fassen konnte.

»Greys ganzer Stolz«, scherzte Lark und drückte seine Finger auf sein Herz, um ihr scherzhaft seinen Respekt zu zollen.

»Wenn du dich anstrengst, darfst du mir die Koffer tragen, wenn es so weit ist«, antwortete sie grinsend.

Langsam lösten sich die Grüppchen an Schülern auf und verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Sie machten sich auf den Weg nach Hause. Rain wollte nicht zurückbleiben und folgte ein paar Schülern vorsichtig. Für einen Moment gönnte sie sich den Luxus zu träumen. Sie stellte sich vor, selbst von der Schule zu kommen. Woran würde sie denken? Würde sie sich über die Lehrer ärgern? Oder die Hausaufgaben, die auf sie warteten? Oder würde sie von einer Karriere in den Forschungseinrichtungen träumen? Für diese Gelegenheit müsste sie allerdings auch eine Eins, wenn nicht sogar eine Eins Plus sein, denn nur die Besten erhielten die Chance auf eine derartige Ausbildung.

Sie zog ihren Rucksack fester, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie lächelte nicht oft, denn es gab nicht viel Grund dazu.

Die Straßen waren bis auf einige automatisch gesteuerte Transport- und Lastenfahrzeuge leer. Alle, die nicht mehr schulpflichtig waren, waren noch bei der Arbeit. Erst gegen Abend würden sich die Straßen füllen, wenn die Tagschicht endete.

Es lebten viele Arbeiter in dem Industriezirkel Grey. Hier war alles grau. Ob es nun ihre Uniformen waren, die Straßen, Fabriken oder die aneinandergepressten Wohnblöcke … Es war nicht schwer zu erraten, wonach man ihren Zirkel benannt hatte.

Das Summen einer Drohne ließ Rain aufschrecken. Sie sprang zwischen zwei Häusern in eine schmale Gasse und verfluchte sich für ihre Unachtsamkeit. Kallisto! Sie drückte sich an eine Wand, hielt die Luft an und beobachtete, wie die flache Scheibe mit den leblosen Kameraaugen über die Gruppe Schüler hinwegschwebte. Ein WatchBot.

Das Metall glänzte, als wäre es immun gegen den Staub in der Luft, und bildete somit einen starken Kontrast zur Umgebung. Zwischen den alten Hausfassaden und den keuchenden vorbeiziehenden Fahrzeugen wirkte sie seltsam fehl am Platz.

Die Drohne gab einen fordernden Piepton von sich und brachte die Kinder zum Stehen. Automatisch entblößten sie die Tätowierung auf ihren Unterarmen, damit sie gescannt werden konnten. Einer nach dem anderen wurde von der Drohne kontrolliert. Es war bloß eine Abfolge von Buchstaben und Zahlen, doch sie gab ihnen die Berechtigung zu existieren.

Rain fuhr sich über ihren eigenen Arm. Auf der Innenseite des Handgelenkes unter dem Armband mit dem Regentropfen stand Az 1707 w – G3. Die ersten zwei Buchstaben beschrieben den Zirkel, in dem man geboren wurde, die vierstellige Zahlenfolge gaben ihre individuelle Nummer an. Die letzte Zahl stellte den Wert ihrer Gene dar.

Rains Tattoo war nicht echt. Es war mit einem Kohlestift aufgemalt und musste regelmäßig erneuert werden. So fiel sie unter den Menschen weniger auf, aber die Maschinen würde sie dadurch nicht täuschen können.

Als die Drohne außer Sichtweite war, trat Rain zurück auf die Straße. Sie zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und wollte sich gerade aus dem sprichwörtlichen Staub machen, dem man in Grey nie entkam, als sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde.

Der Junge mit dem Namen Lark stand auf der anderen Straßenseite und sah zu ihr herüber. Rain stockte der Atem. Hatte er ihr kleines Versteckspiel bemerkt?

Bevor sie reagieren konnte, drehte sich der Junge um und bog in eine Straße ab. Er wird es melden, schoss Rain durch den Kopf, also folgte sie ihm. Sie musste ihn aufhalten. Irgendwie. Er beschleunigte seinen Schritt, als ob er ahnen würde, dass sie direkt hinter ihm war. Was sollte sie tun?

»Verdammt! Kallisto!«, fluchte sie vor sich hin, während ihre Stiefel über den Asphalt flogen. Der Junge bog unerwartet in eine Seitenstraße ein und verschwand aus Rains Sichtfeld. Unschlüssig lugte sie in die schmale Gasse zwischen den Häuserreihen. Schatten und rostige Mülltonnen boten jede Menge Möglichkeiten, sich zu verstecken, ein perfekter Ort für eine Falle, schlussfolgerte sie.

Ihre Finger wanderten unter ihr Cape und schlossen sich um Sting, einen ausfahrbaren Stab, an dessen Spitze sie per Knopfdruck ein elektrisches Energiefeld generieren konnte. Dieses konnte Angreifer mit einem Stromschlag außer Gefecht setzen. Sie war stolz auf die Waffe, die sie selbst aus einer Stromfalle für Mutantenratten, einem elektronischen Dietrich und Ersatzteilen für Kohlegleiter zusammengeschraubt hatte. Das machte Sting zu etwas ganz Besonderem, zu ihrem eigenen Besitz. Auch wenn die Bestandteile geklaut waren.

Vorsichtig wagte sie sich einige Schritte in die Gasse und spürte die Anwesenheit des Jungen in der Dunkelheit. Rains Instinkt riet ihr zur Flucht, doch sie zögerte. Zögerte einen Moment zu lang. Aus dem Schatten löste sich eine Gestalt und packte sie am Arm.

»Wer bist du?«, brüllte ihr eine Stimme ins Ohr. Die Kapuze wurde ihr vom Kopf gerissen. Ohne weiter zu überlegen drehte Rain sich um die eigene Achse, um sich zu befreien, doch der Angreifer ließ sie nicht los. Rain hob ihre Arme, um das Gesicht zu schützen, wie sie es gelernt hatte. »Rede!«

Die Antwort war ein gezielter Tritt gegen das Schienbein. Während Lark vor Schmerz aufstöhnte, fuhr sie Sting aus. Der Stab wuchs auf das Doppelte seiner Größe heran.

Der Junge hielt sie immer noch am Handgelenk fest. Sie würde ihn nicht schocken können, ohne sich selbst zu verletzen, doch sie würde es riskieren. Ohne einen weiteren Gedanken an die Folgen zu verschwenden, holte sie tief Luft und stach zu. Ein brennender, kribbelnder Schmerz fuhr durch seinen Körper in ihren und warf beide zu Boden. Es fühlte sich an, als würden ihre Nerven selbst in Flammen stehen.

Verdammtes Kallisto!

Ihre Muskeln spannten sich an, nur um danach zu erschlaffen. Lark war ebenfalls zusammengebrochen und hatte sie wie erhofft losgelassen. Keuchend lagen sie wie gelähmt nebeneinander, ihre Nasen nur Zentimeter voneinander entfernt. Larks aschblondes Haar kitzelte sie an der Stirn. Sie war ihm so nah, dass sie Spuren von Ruß darin entdecken konnte.

Rain biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen Stings lähmende Wirkung an. Es dauerte einige Sekunden, bis sie die Kraft hatte, sich zu drehen und erneut nach ihrer Waffe zu greifen. Der Stab war in diesem Moment nutzlos, da er sich erst wieder aufladen musste, aber das wusste ihr Gegenüber ja nicht. Sie richtete Sting auf Lark, während sie sich hochrappelte. Der Junge hielt sich die Stelle, an dem der Strom in seinen Körper geflossen war, und starrte mit hasserfüllten Augen zu ihr empor.

»Was hattest du vor?«, keuchte Rain, um nicht zu viel preiszugeben. Es gab eine Chance, dass er nicht ahnte, dass sie ein Ghost war. Eine verdammt kleine Chance, aber immerhin. »Warum bist du weggelaufen?«

»Weil du ein Lauscher bist.« Er spuckte die letzten Worte förmlich aus.

»Was?« Rain war von dieser Behauptung so überrascht, dass sie länger als gewohnt brauchte, um zu reagieren. Sie versetzte dem Jungen den Tritt, den er für diese Anschuldigung verdiente. »Willst du mich beleidigen?«

»Dreckiger Lauscher!«, keuchte er erneut und schlug nach ihr, doch Rain wich seinem Angriff aus. Wütend versuchte sie, ihm einen weiteren Hieb zu verpassen. Im gleichen Moment trat er nach ihrem Schienbein. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, doch sie ignorierte ihn und warf sich mit dem Gewicht ihres ganzen Körpers auf den Jungen. Dieser griff nach ihren Haaren und zog so fest daran, dass Rain für einen Moment fürchtete, er würde ihr den Büschel samt Wurzeln ausreißen.

Sie zögerte nicht lang und biss ihm in die Schulter. Er schrie erschrocken auf, aber ohne von ihr abzulassen. Sie kämpfte mit allen Mitteln und ging dabei sicherlich nicht zimperlich vor. Lark dachte allerdings ebenfalls nicht ans Aufgeben. Nicht einmal, als sie erneut zubiss, ließ er ihre Haare los. Der Stoff seiner Uniform erwies sich als widerstandsfähig genug, ihre Zähne abzuhalten. Immerhin tat es, seinem japsenden Atem nach zu urteilen, weh.

»Lass los«, keuchte sie und versuchte ihren Daumen auf sein rechtes Auge zu drücken. Wenn es um sein Augenlicht ging, würde der kleine Mistkerl ihre Haare schon loslassen, doch er drehte sich weg.

Ihre Kopfhaut schien in Flammen zu stehen, und sie wunderte sich, dass der Junge ihre Haare nicht schon längst in der Hand hielt. Sie rollten über den Boden, bis eine Mülltonne sie zum Stehen brachte. Mit seiner freien Hand versuchte Lark, Rains Gesicht wegzudrücken. Je mehr er drückte, desto wütender und verbissener kämpfte sie. Sie würde sich ganz sicherlich nicht von diesem Mistkerl unterkriegen lassen. Der metallische Geschmack von Blut füllte ihren Mund. Ob es ihr eigenes oder seins war, konnte sie nicht sagen.

Sie holte mit Sting aus und traf Lark am Arm. Er erwartete einen weiteren Stromschlag und war für einen Moment abgelenkt. Rain nutzte die Gelegenheit, rollte sich über ihn, presste ihren Daumen auf sein Auge und drückte zu. Er wich entsetzt zurück.

»Stopp! Nicht!«

»Dann lass mich los!«, forderte sie.

»Okay, okay«, keuchte er und ließ von ihr ab. Rains Kopfhaut brannte, doch sie biss sich auf die Lippe und ignorierte den Schmerz. Drohend legte sie Sting an Larks Hals. Der Junge hielt die Hand zwischen sich und ihren Stab und sah zu ihr hinauf.

»Ihr habt kein Recht, uns wie Verbrecher zu behandeln. Wir haben nichts falsch gemacht«, beteuerte er. »Bitte. Wir arbeiten hart, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als uns auszuspionieren und nach Fehlern zu suchen, die ihr melden könnt? Sucht euch eine ehrliche Arbeit.«

Er hielt sie offenbar wirklich für einen Lauscher, einen bezahlten Spitzel, der für die Sentinal arbeitete.

»Ihr könnt meinen Eltern nicht wieder das Gehalt kürzen. Wir brauchen das Geld.«

»Ich glaube, du verwechselst mich. Ich bin kein Spitzel.« Rain spuckte Blut aus ihrem Mund und ließ von dem Jungen ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Vorsichtig betastete sie ihren Kopf und stellte erleichtert fest, dass sie keine kahle Stelle hatte. Allerdings musste Lark im Eifer des Gefechts ihre Nase getroffen haben. Die war schmerzhaft geschwollen, und Blut tropfte aus ihr und benetzte ihre Lippen.

»Du bist kein Lauscher?«, fragte Lark verwundert und rieb sich den Hinterkopf. Es hieß, die Sentinal unterhielten ein enges Netzwerk an Spionen, die jede Unruhe, jedes Zeichen von Gesetzesverstößen meldeten, um mögliche Rebellen zu enttarnen und Ghosts wie Rain aufzuspüren. Rain kannte die Meinung der Gesegneten nur zu gut: Die Rebellen sind missgeleitete Gruppierungen, die voller Neid auf das blicken, was wir geschaffen haben. Sie stören unsere Ordnung und unseren Frieden. Sie sind nicht nur unsere Feinde, sondern auch eure. Indem sie unsere Forschungen sabotieren, verhindern sie Fortschritt im Kampf gegen die Rote Seuche und schlimmer noch, sie verbreiten sie.

Für sie waren Ghosts und Rebellen ein und dasselbe: Eine Gefahr, die eliminiert werden musste. Für Rain jedoch gab es einen erheblichen Unterschied, denn nicht alle Rebellen waren Ghosts. Viele lebten und arbeiteten unerkannt und agierten im Geheimen. Andersherum waren auch nicht alle Ghosts Rebellen. Da Menschen eine Erlaubnis zur Fortpflanzung benötigten, waren sie oft gezwungen, ungeplante oder unerlaubte Schwangerschaften geheim zu halten. Professionelle Abtreibungen kosteten viel Geld, und die nicht professionellen waren mit hohen Risiken verbunden. Die geborenen Kinder wurden zu Ghosts, da sie nicht autorisiert waren zu leben. Es gab nur zwei Möglichkeiten für die Eltern: ihre Kinder aussetzen oder sie im Verborgenen großziehen. Rains Fall sah ähnlich aus. Mit den Rebellen hatte sie nichts zu schaffen. Im Gegenteil. Sie verachtete sie.

»Es sah so aus, als würdest du uns beschatten«, erklärte Lark.

»Hab ich nicht.« Er hatte ihr Verstecken vor den Drohnen offensichtlich fehlgedeutet. Glücklicherweise. Doch die Frage war, warum fürchtete er die Lauscher? Hatte er etwas zu verbergen, was gegen die Gesetze von Grey verstoßen würde?

»Oh! Tut mir leid. Ich habe wohl überreagiert.« Larks Augen waren von so hellem Braun, dass sie fast gelb wirkten. Wie die eines Falken, von denen es in den Wäldern viele gab. Rain hatte dort einige Jahre mit ihrer Mutter in einer Jagdhütte gelebt, verborgen vor den Sentinal und ihren Drohnen.

»Hast du.« Rain zuckte die Schultern. Larks Bedauern wirkte ehrlich, also entschied sie, Sting zurück an ihren Gürtel zu stecken.

»Interessante Waffe hast du da. So eine hab ich noch nie gesehen. Ist die autorisiert?« Lark stand ruckartig auf, klopfte seine Uniform ab und fuhr sich über das Haar.

Er war fast einen Kopf größer als Rain, und trotzdem hatte sie ihm im Kampf ganz schön zugesetzt. Seine Wange war dort gerötet, wo sie ihn erwischt hatte. Das würde nicht so schnell verschwinden.

»Nein, aber sie ist praktisch«, erklärte Rain. »Nicht dass ich sie gegen dich gebraucht hätte.«

»Du kämpfst schlimmer als meine kleine Schwester. Wie eine tollwütige Füchsin.« Als er lachte, bildeten sich kleine Grübchen auf den Wangen, die ihm einen schelmischen Ausdruck verliehen. »Wo bist du aufgewachsen? In den Slums von Pitch?«

»Nein. In einem Fischerdorf in Azure.« Das stimmte nur teilweise. Dort war sie geboren, doch die längste Zeit hatte sie mit ihrer Mutter im Wald gelebt, wo es keine Drohnen gab und man keine Zahlen auf dem Arm brauchte, um eine Existenzberechtigung zu haben.

»Meine Güte. Die armen Fische.«

»Es waren verdammt große Fische«, verteidigte sich Rain, musste aber ebenfalls lächeln. Sie war überrascht, wie freundlich Lark war. Auch wenn sie nicht sagen konnte, was sie erwartet hatte. Sie hatte noch nicht oft mit Gleichaltrigen gesprochen, da ihre Mutter ihr jeglichen näheren Kontakt zu anderen Menschen verbot.

»Wie heißt du, Fischermädchen?«

»Rain.« Wenn man nicht zu den Gesegneten gehörte, war es üblich, einfache Namen zu wählen. Namen, die nur aus einer Silbe bestanden. Rains Mutter meinte, diese Regel gäbe es nur, um den Menschen ihren Platz zu verdeutlichen, einen Platz am Fuße des Aventin. Aventin war die Heimat der Gesegneten, eine gewaltige Stadt, vielmehr ein eigener Zirkel, der einer Festung aus neuester Technologie glich. Von dort aus wurde das Land Hope regiert.

»Regen«, kommentierte Lark und ließ den Namen über die Zunge rollen, als wolle er die Bedeutung dahinter entschlüsseln. Rain jedoch war nicht gewillt, ihm weitere Erklärungen zu geben.

»Ich bin Lark.«

Das wusste sie bereits, aber sie sagte es ihm nicht. Er streckte ihr seine Hand entgegen, eine veraltete Form der Begrüßung, auf die man lieber verzichtete, da man so Krankheiten übertragen konnte. Rain ließ seinen Arm in der Luft hängen und verschränkte ihre vor der Brust.

»Du hast doch nicht etwa Angst vor meinen Keimen? Nach dem Gerangel haben wir mehr Erreger ausgetauscht als beim Küssen.« Lark zog eine Augenbraue hoch.

Das war nicht der Grund, warum sie gezögert hatte. Es war einfach ein ungewohntes Gefühl, jemanden … anzufassen. Zögernd reichte sie ihm ihre Hand, ihre Haut berührte die seine, und sie zuckte unwillkürlich zusammen.

Wann hatte sie das letzte Mal eine Hand geschüttelt? Sie konnte sich nicht daran erinnern, es jemals getan zu haben. Sie war es gewohnt, die Unsichtbare zu sein, der Schatten, der schnell wieder verschwand und den niemand wahrnahm. Nur ein Geist im Dunkel der Häuser und Türme.

»Warum kenne ich dich nicht aus der Schule, Rain?«

»Ich bin befreit«, log Rain und zog ihren Arm zurück. »Deswegen.«

Wenn man eine G Eins war, hatte man das Privileg, die Schule bis zum achtzehnten Lebensjahr besuchen zu dürfen, um die Chance auf einen gesellschaftlichen Aufstieg zu bekommen. Als G Zwei durfte man bei guten Noten bis zum vierzehnten Lebensjahr bleiben. Als G Drei jedoch musste man die Schule nach dem zehnten Lebensjahr verlassen, ein reines Basiswissen musste genügen.

Dreien. Menschen, deren körperliche oder geistige Verfassung sie davon abhielt, der Gesellschaft zu dienen. Für die meisten Familien war es äußerst beschämend, eine Drei zu haben, daher geschah es nicht selten, dass sie versteckt oder verstoßen wurden. Es gab zudem pränatale Untersuchungsmethoden, bei denen Dreien früh erkannt und abgetrieben werden konnten.

Dreien waren der Bodensatz der Gesellschaft. Genau aus diesem Grund hatte Rains Mutter ihr diese Klasse auf das Handgelenk geschrieben. Es erklärte nur zu gut, warum sie um diese Uhrzeit auf der Straße herumlief und weder bei der Arbeitsstelle war, noch die Schulbank drückte.

»Du wirkst nicht wie eine Drei«, bemerkte Lark und zog die Stirn in Falten. »Zumindest nicht, wenn du kämpfst.«

»Für dich reicht es noch.« Rain zauberte sich ein Lächeln aufs Gesicht und hoffte, dass der Junge es ihr abnahm. Er schien ihr ihren Sieg nicht übelzunehmen, ebenso wenig wie er sie für ihre vermeintlich schlechten Gene verurteilte. Das war für eine Eins wie ihn nicht selbstverständlich.

»Ich versteh das. In meiner Familie gibt es auch eine Drei.« Sein Blick tastete Rain ab, während er überlegte, weshalb sie diese Einstufung hatte. »Bist du krank?«

»Keine Angst. Nichts Ansteckendes«, entgegnete Rain, als sie ihn dabei erwischte, wie er sich seine Hand an der Hose abwischte. Na, wer hat jetzt Angst vor Keimen?

»Du kommst aus Azure, sagtest du?«

»Ich bin vor Kurzem hergezogen.« Die Lügen formten sich automatisch in Rains Kopf. Ihre Mutter hatte ihr die neue Identität nur allzu oft eingeimpft. Sie war sehr gründlich, wenn es um so etwas ging. Immer und immer wieder hatte sie es mit ihr durchgesprochen, damit sie keine Fehler machte. Denn Fehler waren tödlich.

Azure war ein weitläufiges Gebiet im Süden, das sich auf Wasserlandwirtschaft und Fischen spezialisiert hatte. Eine wunderbare Gegend mit zahlreichen Seen und Sumpfgebieten, die durch Flussarme verbunden waren. Die Bewohner lebten in kleinen Dörfern, die sich auf Inseln befanden und teilweise auf Flößen im Wasser schwammen. Ihr Element war das Wasser, und im Rest von Hope scherzte man, dass keiner der Bewohner je festen Boden unter den Füßen hatte.

»Warum kommt ihr dann nach Grey? Nicht gerade der geeignete Ort. Hier werden kranke Leute nur noch kränker.« Sein Blick, die Art, wie er sie musterte, gefiel Rain nicht. Er wurde misstrauisch. Das konnte sie mit jeder Faser ihres Körpers spüren. Die wahre Antwort lautete: wegen der Anonymität. Hier gab es viele Arbeiter, viele leer stehende Häuser und viel Verschmutzung. Jeder kämpfte für sich, und niemand achtete so genau auf seine Mitmenschen.

»Wir waren Fischer, doch nach dem Tod meines Vaters wurde es zunehmend schwieriger für uns. Wir konnten nicht mehr mit den anderen Fischern und den neuen Maschinen mithalten.«

Es waren Drohnen entwickelt worden, um die Effizienz des Zirkels zu steigern. Durch sie hatten die Fische kaum mehr eine Chance zu entkommen, aber auch die Fischer konnten den neuen Maschinen aus Aventin nicht die Stirn bieten.

»Es gibt nur wenig Arbeit in Azure. Und in den neuen Fisch-Zucht-Betrieben ist es als Drei schwierig, Arbeit zu bekommen. Wir mussten das Boot verkaufen und sind hergezogen«, erzählte Rain so unbeschwert wie möglich.

Viele Familien aus den ländlichen Zirkeln Azure und Green kamen her, um in den Fabriken von Grey Arbeit zu finden. Es war nicht ungewöhnlich.

»An eurer Stelle wäre ich auf dem Land geblieben«, erwiderte Lark. »Es muss toll sein, inmitten der Natur zu leben. Ohne Smog. Ohne Lärm. Auf schwimmenden Häusern.«

Seine Augen glänzten bei der Vorstellung.

»Und ohne Geld für Medizin oder Nahrung«, ergänzte Rain. Insgeheim gab sie ihm recht. Die Seen von Azure und der Wald von Green hatten ihr besser gefallen als die triste Fabriklandschaft, doch sie wollte das Thema wechseln. Auch wenn es ihr nicht schwerfiel zu lügen – darin war sie schon immer gut gewesen –, wollte sie es vermeiden, sich in Ungereimtheiten zu verstricken.

»Warum habt ihr eine Drei?« Die Worte waren einfach herausgesprudelt, und sie biss sich auf die Lippen. Durfte man so etwas fragen, oder war das unverschämt?

»Der Smog ist schuld«, murmelte Lark so leise, als sei es verboten, sich über irgendetwas zu beschweren.

»Das tut mir leid«, stieß Rain ein wenig holprig hervor. Sie war nicht gut darin, Mitgefühl auszudrücken. Also versuchte sie ihm aufmunternd auf die Schulter zu klopfen, eine Geste, die er offenbar nicht kannte oder missinterpretierte. Er sprang zurück und sah sie entsetzt an. Sie hob beschwichtigend die Hände.

»Oh!« Seine Augen weiteten sich, als er verstand. »Ich bin nicht der Einzige mit veralteten Gesten, was?«

Er lachte laut auf, bevor er sich gehetzt in alle Richtungen umsah.

Es drängte sich ihr eine andere Frage auf. Eine, die noch unverschämter war als die Frage zuvor. »Und warum fürchtest du die Lauscher, Lark?«

Er zuckte zusammen, als ob sie ihn auf frischer Tat bei einem Verbrechen ertappt hätte, schluckte sichtbar und rang nach Worten. Beinahe konnte sie sehen, wie sich die Gehirnwindungen hinter seiner Stirn verrenkten, auf der Suche nach einer glaubwürdigen Erklärung.

»Ich kann sie einfach nicht ausstehen«, erklärte er langsam. »Das ist alles.«

Das war nicht alles. Rain hatte die Wahrheit so oft verdreht, dass sie eine schlechte Lüge erkannte.

»Na ja. Wer mag die schon?«, bestätigte sie dennoch.

Er sah erleichtert aus, ja beinahe dankbar, dass sie seine Worte zu schlucken schien. Verdammt! Was tat sie da? Schließe keine Freundschaften, nicht einmal Bekanntschaften, hatte ihre Mutter ihr eingebläut. Bleibe unsichtbar.

Unsichtbar war sie nicht geblieben. Larks anschwellendem Auge nach zu urteilen, hatte sie dafür gesorgt, dass er sie nicht so schnell vergessen würde.

Rain drehte sich um und schielte aus der Gasse auf die Straße hinaus. Sie war leer. Weder Menschen noch Drohnen in Sicht.

»Darf ich dich auf ein Eis einladen, um die Verwechslung wiedergutzumachen?«, fragte Lark lächelnd. Er schob sich an ihr vorbei, aus der Gasse hinaus und deutete auf ein Haus. Dort zwischen den Wohnblockreihen stand ein kleiner Laden. Unter Planen, die den Smog abwehren sollten, lagen Brote aus. Bauchige, tellerbreite Drohnen schwebten ohne Unterlass über die Backware und saugten den Smog von ihrer Oberfläche. Smog. Er war einfach überall, und keine Mauer oder Plane konnte ihn aussperren.

Ein kleines Schild wies auf den Verkauf von Eis hin, gefrorenes Wasser mit Sirup. Es gab nur eine Geschmacksrichtung. Stachelapfel. Eine mutierte Frucht, die selbst den Lebensbedingungen in Grey gewachsen war.

»Nicht nötig, danke.« Es war an der Zeit, zu gehen. Sie hatte sich schon zu lange mit dem Jungen unterhalten. »Ich muss heim.«

»Soll ich dich bringen?«

»Nein, du hältst mich bloß auf.« Rain berührte mit ihren Fingern die Stirn zum Abschied und sprintete los, ohne eine Antwort abzuwarten. Wenn sie neben dem Lügen etwas gut konnte, dann war es Rennen. Er würde ihr nicht folgen können, und so blickte sie sich kein einziges Mal um.

2.

»ICH BIN ZURÜCK.« Rain kletterte die quietschende Feuerleiter empor und schlüpfte durch das Fenster in die Wohnung. Mit ihr wehte eine Wolke aus Smog hinein, Dreck und Staub, welcher langsam auf den Boden rieselte. Sie schloss das Fenster und zog sich die Maske vom Kopf, die die Luft filterte und die Schleimhäute vor gefährlichen Dämpfen schützte. Das Haus, das sie mit ihrer Mutter bewohnte, lag nahe einer Stahlindustrieanlage und war aufgrund der extrem hohen Luftverschmutzung in der Gegend von den Vormietern verlassen worden. Allerdings gab es hier gute Lüftungssysteme, die die Luft innerhalb der Wohnung filterten, wenn man Fenster und Türen geschlossen hielt. Draußen konnte man ohne Maske nicht überleben. »Mom?«

»Rain! Mein Herz!« Ihre Mutter Storm kam in das Zimmer geeilt und drückte ihre Tochter an sich, wie sie es immer tat, wenn sie heimkehrte. Die Geste war ebenso altmodisch wie das Händeschütteln. Eine kurze Berührung der Brust über dem Herzen drückte das Gleiche aus, doch ihrer Mutter gefiel eine liebevolle Umarmung besser, und Rain stimmte ihr zu. Umarmt zu werden war so viel intensiver: Die willkommene Wärme, der beruhigende Herzschlag, den man vernahm, während man sein Kinn auf die Schulter des anderen legte und den vertrauten Geruch einatmete. All das gab einem für einen Moment Glück und das Gefühl von Geborgenheit. Ihre Mutter löste sich viel zu schnell von ihr.

»Ist irgendetwas passiert?« Erschrocken registrierte Storm die geschwollene Nase, an der noch getrocknetes Blut haftete.

»Nein, ich habe mich nur mit einem Jungen geprügelt«, entgegnete Rain, streifte sich den Mantel von der Schulter und klopfte ihn über einem Metallbehälter aus, der für diesen Zweck auf dem Boden stand. »Keine Sorge. Er weiß nicht, wer ich bin.«

Sie hängte den Mantel an einen Haken und drehte sich um. Der Blick ihrer Mutter lag weiterhin auf ihr.

»Bist du sicher?« Sie warf den Kopf herum, als erwartete sie, dass jeden Moment eine Gruppe bewaffneter Sentinal durch die Wände brach. Rain rollte mit den Augen. Ihre Mutter rechnete immer mit dem Schlimmsten, doch nur aufgrund ihrer an Paranoia grenzenden Vorsicht waren sie so lange unentdeckt geblieben.

»Ja, er hat mich für einen Lauscher gehalten.«

»Du musst aufpassen. Nur der Hauch eines Verdachtes könnte uns in Gefahr bringen«, schärfte sie ihrer Tochter mit ernstem Blick ein. »Du weißt, was sie mit Menschen wie uns machen. Im besten Fall bringen sie uns um.«

Rain ließ sich von ihrer Mutter ins Bad führen, um sich das verrußte Gesicht zu waschen.

»Ich glaube nicht, dass er den Vorfall an die Sentinal verrät. Er hatte selbst etwas zu verbergen.«

Das Bad beinhaltete nicht mehr als eine Toilette, ein Waschbecken und eine Nasszelle mit einem verrosteten Duschkopf, aus dem gelegentlich sogar warmes Wasser kam. Wie immer hoffte Rain, dass heute so ein Tag war, doch sie hatte kein Glück. Aus dem Rohr drang eine kalte und trübe Flüssigkeit. Rain hielt ihre Hände unter den schwachen Strahl, und ihre Haut begann zu kribbeln. Es kostete sie einige Überwindung, sich das eisige Nass ins Gesicht zu reiben.

»Das sind die Schlimmsten, Rain. Sie versuchen von sich abzulenken und rennen zu den Gesegneten, um ihnen zu zeigen, wie loyal sie sind.« Ihre Mutter war schon zu lange auf der Flucht und hatte zu viel miterlebt. Die Furcht, entdeckt zu werden, war ihr ständiger Begleiter, seitdem die Schwangerschaft sie zu einer Gesetzlosen gemacht hatte. Sie traute niemandem. Niemandem außer Rain.

»Viele glauben an das System«, murmelte Rain, mehr zu sich selbst, während sie sich die Stirn schrubbte. »Es gibt ihnen Sicherheit.«

Sie musterte sich im Spiegel. Trotz Wasser und Seife wollte der Ruß nie ganz von der Haut verschwinden, als sei er ein fester Bestandteil von ihr. Ihre Haare waren von dunklem kräftigem Rot, doch die Asche hatte sie nahezu schwarz gefärbt. Ihre Augen hatten die Farbe des Waldes. Ein durchdringendes Grün, welches angesichts des Smogs auf der Haut umso mehr hervorstach.

»Rain. Das System ist ungerecht.« Ihre Mutter griff nach einem Lappen und schruppte ihr damit über die Stirn, ehe sie etwas dagegen unternehmen konnte. »Die Gesegneten beschützen uns Menschen nicht. Sie unterdrücken uns. Sie erlauben uns nicht, eine andere Meinung zu haben, und lassen uns für ihren Wohlstand arbeiten. Ich kenne sie… Ich habe für sie gearbeitet, bis…«

»… du Vater getroffen hast«, ergänzte Rain und nahm ihrer Mutter den Lappen weg. »Das kann ich selbst, Mom!«

Ihre Mutter hatte ein ganz normales Leben geführt und als G Eins gute Aussichten gehabt. Bis der Rebell Bolt gekommen war und sie sich u-n-s-t-e-r-b-l-i-c-h ineinander verliebt hatten.

Für immer hatten sie bei den Rebellen im Untergrund leben wollen. Ihr »Für immer« hatte genau zwei Jahre angedauert. Dann war Rain auf die Welt gekommen, und alles hatte sich verändert.

»Dein Vater und ich haben uns geliebt.«

»Muss wirklich die große Liebe gewesen sein.« Rain entfuhr ein trockenes Lachen.

»Wir wollten frei sein.« Ihre Mutter verzog das Gesicht, als hätte Rain ihr einen Schlag versetzt. Sie liebte Bolt nach all den Jahren immer noch, auch wenn sie nicht oft genug betonen konnte, was für ein »unzuverlässiger Idiot« er gewesen war.

»Tolle Freiheit«, knurrte Rain zynisch.

Egal, was ihre Mutter glaubte, viele Bewohner sahen es anders. Die Gesegneten waren mehr als bloß Menschen. Sie waren eine neue Rasse, perfekt und vollkommen in jeder Hinsicht. Sie nutzten ihre Fähigkeiten, um die Menschen zu schützen und Krankheiten zu besiegen. Kein Wunder, dass die Menschen ihnen mehr Glauben schenkten als den Rebellen.

»Die Freiheit ist alles, was wir haben. Wir müssen dafür kämpfen. Wir sind mehr als bloß Nummern und Erbgut.« Ihre Mutter machte ihrem Namen alle Ehre.

Storm.

Sie war der tobende Sturm, der niemals aufgab, wenn es um das ging, woran sie glaubte. Die Jahre auf der Flucht hatten sie nicht klein gekriegt. Das Leben in Angst hatte sie nicht zermürbt. Im Gegenteil. Sie war in jedem Jahr stärker geworden und entschlossener.

»Ich will nicht immer weglaufen, Mom.Ich will ein normales Leben führen. Ich will zur Schule gehen, Freunde finden und nicht ständig wegrennen, wenn ich eine Drohne sehe.«

»Oh, mein Herz.« Ihre Mutter griff nach einem Kamm. Langsam begann sie damit, den Smog aus dem Haar ihrer Tochter zu streichen.

Einmal mehr stellte Rain fest, wie sehr sie sich unterschieden. Ihre Mutter hatte hellblondesfast weiß wirkendes Haar, welches sie kurz geschoren trug, und große dunkle Augen. Sie war fast einen halben Kopf kleiner als ihre Tochter, aber von ebenso drahtiger Statur.

»Es tut mir so leid«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme schwankte. Der Sturm in ihrem Herzen hatte sich für den Moment beruhigt und enthüllte den liebevollen weichen Kern. »Es ist das einzige Leben, das ich dir jemals bieten kann. Ich weiß, du hattest in dieser Sache keine Wahl.«

Die hatte sie nicht gehabt. Ihre Eltern hatten entschieden, Rebellen zu sein, nicht sie. Ihretwegen war sie nun ein Ghost, ein Niemand, der nirgends dazugehörte, der nirgends zu Hause war. Sie wusste, sie hätte eine andere Wahl getroffen.

»Ich habe gehofft, dass du es verstehen würdest«, fuhr ihre Mutter fort und legte den Kamm beiseite. »Dass du es irgendwann auch so sehen könntest.«

»Ich verstehe dich ja.« Rain strich ihr Haar zurück und band es in einem strengen Zopf zusammen, wie es in Grey üblich war. »Nur, wo soll das hinführen? Sollen wir immer nur weglaufen?«

»Ruh dich aus. Ich werde uns Essen machen.«

Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Unterhaltung führten, doch sosehr Rain es sich auch wünschte, sie wusste, ihre Mutter konnte die Entscheidung nicht rückgängig machen. Nicht einmal, wenn sie es gewollt hätte.

Sie ging in ihr Zimmer. Es war ein kleiner Raum, in dem eine Hängematte hing, die ihr als Schlafplatz diente. Sie war mit Kissen und Decken gepolstert, die sie auch in kalten Nächten warmhielten. Darunter lagen einige zerschlissene Bücher, die Rain las, und Schreibfolie, auf der sie das Schreiben übte. Ihre Mutter hatte ihr alles beigebracht, was sie wusste. Lesen zu können, war ein Geschenk, denn die Bücher ermöglichten ihr, neue Welten zu entdecken, fern von Sentinal und Drohnen. Auch wenn diese nicht immer besonders realistisch waren, zum Beispiel dann, wenn Engel auftauchten, ein genetisches Mischwesen aus Mensch und Vogel. Eine sogenannte Chimäre. Das kam Rain sehr unrealistisch vor, ebenso wie die Tatsache, dass sie fliegen konnten, was aerodynamisch unmöglich war. Dafür waren die menschlichen Knochen viel zu schwer.

In manchen Büchern waren gar keine Geschichten, nur Rezepte, um Gerichte herzustellen, von denen Rain noch nie etwas gehört hatte. Auch die Zutaten kamen ihr befremdlich vor. Sie hatte auf dem Markt einmal nach Zimt gefragt, aber der Verkäufer war ebenso ratlos wie sie gewesen. Jedenfalls schien es Zimt dem fröhlichen Herrn Weihnachten, offenbar ein großer Koch der alten Welt, angetan zu haben, denn man fand es in fast all seinen Rezepten.

Die meisten Bücher stammten aus der Zeit vor dem Wandel, bevor das Land Hope sich aus der Asche der Welt erhoben hatte. Sie waren Fenster mit kleinen Einblicken in die Vergangenheit.

In einem Karton sammelte Rain Ersatzteile und ausrangierte Technikgeräte, an denen sie gelegentlich aus Spaß herumschraubte.

An der Wand neben der Hängematte war eine Stange befestigt, über die sie ihre Kleidung hängen konnte. Ihre Mutter stellte diese selbst her, wenn sie an Stoff kam, oder nähte Kleidung um, die sie im Müll fand.

Rain lief zum Fenster und sah eine Weile auf die Straße hinunter, über der dunkle Wolken hingen. Sie war leer, denn die meisten Bewohner Greys waren noch immer bei der Arbeit. In einer Stunde würden die Sirenen das Ende der Schicht ankündigen.

Rain schaltete das TecDec an der Wand ein, welches surrend zum Leben erwachte. Das Glas zwischen den Rahmen flimmerte und hieß Rain willkommen, bevor es sie mit den üblichen Informationen über Grey versorgte. Wetterbericht, Luftqualität, Quarantänebereiche, Statistiken über die Exporte in andere Zirkel und das übliche Gefasel darüber, wie wunderbar Greys Beitrag zum Wohle von Hope sei.

Etwas pochte gegen das Fenster. Rain hob den Blick und entdeckte Cassiopaio, der mit seinen Pfötchen am Glas schabte. Schnell sprang sie auf und entriegelte die Sicherung, um ihren Freund hineinzulassen. Er sprang an ihr vorbei, eine Wolke aus Smog hinter sich herziehend.

»Wo hast du dich herumgetrieben, Pi?« Rain langte nach einem Handtuch, um die Fuchsmanguste von der Asche zu befreien, die sich in ihrem Fell angesammelt hatte. Sie hatte das Tier im Wald aus einer Falle befreit. Seitdem folgte Cassiopaio ihr auf Schritt und Tritt. Rain war sich sicher, dass er keine normale Fuchsmanguste war, sondern ein Mutant. Sein Fell war flauschiger und röter als bei seinen wilden Verwandten. Außerdem hatte er größere Ohren, die beinahe an die eines Fenneks erinnerten. Für ein normales Tier war er zu intelligent, und er liebte es, glitzernde Gegenstände zu stibitzen. Der Verdacht lag nahe, dass jemand seinen Gencode verändert hatte. Das war nicht weiter ungewöhnlich.

Viele Mutanten oder Chimären waren ursprünglich dazu erschaffen worden, die Aufgaben, für die sich andere Tiere nicht eigneten, zu erfüllen.

Bei Mutanten hatte man bestimmte Eigenschaften manipuliert und somit das ursprüngliche Tier intelligenter, stärker, schneller oder gehorsamer gemacht. Auch ihr Aussehen konnte verändert werden. Größe, Fellbeschaffenheit, Farbe – alles war möglich. Aber nicht immer nützlich. Ein beliebter Mutant bei den Reichen in Aventin war das Modell Miu, eine Katze, die nicht größer als ein Zeigefinger war und in erster Linie aus Fell zu bestehen schien. Auch in Grey hatte es ein paar Mius gegeben. Allerdings waren sie schnell den Mutantenratten zum Opfer gefallen und ausgestorben.

Chimären waren die Kreuzung aus zwei Tierarten, aus der völlig neue Arten entstanden waren. Besonders beliebt waren dabei die Hundebären oder Ochsenpferde.

Rain legte sich in ihre Hängematte und starrte auf das TecDec, während Pi es sich auf ihrem Bauch gemütlich machte und seinen buschigen Schwanz um sich legte.

»… Wie in jedem Jahr erhalten einige Menschen unter euch die Chance ihres Lebens. Die Chance aufzusteigen.« Der Sprecher strahlte vom Bildschirm auf sie herab. Er war ein normaler Mensch. Seine Haut zeigte bereits die ersten Falten unter den Augen, und ein Muttermal prangte auf seiner Stirn. Außerdem war seine Nase ein wenig zu schief und zu groß.

»Bist du eine Eins? Oder sogar eine Eins Plus? Dann bewirb dich und erhalte die Gelegenheit deines Lebens. Die Besten kommen weiter.«

Es folgten Bilder von jubelnden Menschen, die von einem Luftschiff abgeholt wurden, um in ein neues Leben aufzubrechen. Thrax, der sogenannte Caretaker von Grey, schüttelte ihnen die Hände. Er war ein Mensch, eine Eins Plus, und Amygdalas Kontaktmann im Zirkel.

»Bist du stark? Sind deine körperlichen Leistungen überdurchschnittlich? Dann lasse dich zum Sentinal ausbilden, um unser Land zu verteidigen.« Über das TecDec flogen Bilder von den Außenmauern von Black Shell, dem Festungszirkel. Dort wurden die Elitesoldaten ausgebildet. Dann glitt die Kamera weit fort an die Grenzen des Landes, wo die Mauer stand. Soldaten verteidigten sie in einem ewigen Krieg gegen die Nachbarländer.

»Ist dein Verstand deine Waffe?«, fragte der Sprecher. »Dann brauchen wir deine Hilfe in der Forschung. Du kannst neue Impfstoffe entwickeln, Krankheiten besiegen oder technische Fortschritte erzielen.«

Es folgten Bilder der Forschungszirkel White Pearl, in denen die schlausten Köpfe von Hope lebten. Sie beschäftigten sich mit den unterschiedlichsten Dingen. Vor einiger Zeit gelang es ihnen, ein Tier zu entwickeln, welches die Gene von Kühen und Schafen miteinander vereinte. Das »Kaf« gab Milch und hatte das wollige Fell eines Schafes.

»Oder machen dich deine Gene zu etwas ganz Besonderem? Einer Eins Plus? Dann beglückwünsche ich dich. Du bist ein wahrer Segen für unsere Gesellschaft und kannst dir eine führende Position erarbeiten. Ja, mit deinen Genen kannst du es sogar bis nach Aventin schaffen, um an der Seite unserer geliebten Gesegneten zu leben.«

Rain lauschte dem Beitrag, auch wenn sie die Sätze schon so oft gehört hatte, dass sie die Worte auswendig kannte. Wie anders ihr Leben sein würde, wenn sie doch auch eine Nummer hätte. Wäre sie eine Eins? Oder eine Zwei?

Cassiopaio kläffte, um Aufmerksamkeit einzufordern. Als sie ihm über den Rücken strich, gab er ein wohliges Knurren von sich. Eigentlich konnte er Berührungen von Menschen nicht leiden, nur von Rain ließ er sich kraulen. Aber auch nur, wenn er es wollte.

»Eine neue Arbeitsstelle, ein neues Zuhause, ein neues Leben erwartet euch. Euer Erbgut ist euer Wert, es ist euer Beitrag für die Gesellschaft.«

3.

LARK ÖFFNETE DIE TÜR und schleppte sich über die Schwelle. Er war so müde, dass er befürchtete schon im Gehen einzuschlafen. In seinem Kopf sah es aus wie in einem verstopften Schornstein. Grauer Nebel, der es unmöglich machte, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Er hatte trainiert, nun, eigentlich war es Arbeit gewesen, denn abends, wenn seine Eltern von der Schicht zurückkamen, ging er los, um für vier Stunden die Züge zu beladen, die die Fabriken untereinander verbanden. Es war eine mühsame Arbeit, aber er sah es als Training, denn es war sein Wunsch, zum Sentinal ausgebildet zu werden. Seine Gene waren gut genug, um für diese ehrenwerte Aufgabe auserwählt zu werden, wenn er sich nur genug anstrengte und sich keine Fehler erlaubte. Fehler wie sich mit anderen zu prügeln.

Er wusste nicht, was in ihn gefahren war, aber als er dachte, von einem Lauscher verfolgt zu werden, waren seine ohnehin schon blanken Nerven durchgebrannt. Eine Kurzschlussreaktion, die ihn seine Zukunft hätte kosten können, wenn Rain wirklich ein Lauscher gewesen wäre.

Lark zog seinen Mantel aus, entledigte sich der klobigen Stiefel und der äußeren Hose. Der Staub hatte sich trotz Schutzbeschichtung durch seine Kleidung gefressen, und das Hemd darunter grau gefärbt, ebenso wie seine Haut. Er hängte die Kleidung auf und stellte sich auf ein Gitter. Die Vorrichtung darunter erwachte mit einem Surren zum Leben und saugte den gröbsten Dreck von seinem Körper.

Wenig später setzte sich auch der DustBot in Bewegung, eine kleine, bauchige Maschine, die rund um die Uhr Smog von Boden und Wänden fegte. Ganz sauber sah es trotzdem nie aus. Er griff nach der Drohne, die mit einem Piepton protestierte und hielt sie sich über den Kopf, damit sie sein Haar grob vom Smog befreite. Dann ließ er sie los. Ein empörtes Trällern von sich gebend, flog sie zur gegenüberliegenden Wand und setzte ihre Arbeit fort.

»Lark, du bist spät.« Seine Mutter Knot war noch wach. Sie saß am Küchentisch und hatte wie gewohnt auf ihn gewartet. Allerdings war sie beim Warten eingeschlafen, wie der Abdruck auf ihrer rechten Gesichtshälfte verriet.

»Ma, geh ins Bett. Du brauchst deinen Schlaf.« Lark ließ sich von seiner Mutter umarmen. Trotz ihrer schlanken Gestalt und der eingefallenen Wangenknochen spürte er die Kraft in ihren Armen, die Kraft, die sie tief aus dem Herzen nahm, um damit ihre Familie zu beschützen. Sie roch vertraut nach Kohle, Maschinenöl und Linsensuppe. Und ein klein wenig nach Rosenwasser. Das hatte Larks Vater ihr vor langer Zeit geschenkt, und sie benutzte es sparsam, um möglichst lang etwas von diesem bisschen Luxus zu haben.

»Was ist mit deinem Auge passiert?«

Das Fischermädchen. Rain. Der pulsierende Schmerz im Auge und die blauen Flecken erinnerten ihn an ihre stürmische Begegnung.

»Keine Sorge, Ma. Nur eine kleine Auseinandersetzung.«

»Lark, was habe ich dir über Prügeleien gesagt? Du darfst nicht negativ auffallen. Dein Vater hat es ohnehin schon schwer, und deine Schwester…« Knot stemmte die Hände in die Hüften, aber sie sah eher müde als wütend aus. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, Schatten, die nie verblassten.

»Ich weiß. Keine Sorge. Es ist nichts.«

Dieses Mädchen, Rain, war so stark gewesen. Sie hatte es ohne Probleme mit ihm aufnehmen können. Kaum zu glauben, dass sie nur eine Drei sein sollte bei ihren Kräften. Und ihrem Aussehen. Trotz Ruß- und Schmutzschicht hatte Lark feine, fast makellose Gesichtszüge erkannt und keine Asymmetrien oder Deformierungen. Sie waren sich immerhin verdammt nah gewesen. Nein, ihr Gesicht war das einer Eins.

Aber da lag das Problem. Nicht alle Erkrankungen oder Einschränkungen konnte man auch tatsächlich sehen. Verrücktheit zum Beispiel. Und die gab es in Grey gar nicht selten. »Qualmköpfe« wurden die Betroffenen genannt, weil man fürchtete, dass der Smog ihnen das Gehirn vernebelt hatte.

»Hail war hier und hat nach dir gefragt.« Seine Mutter drückte ihn sanft auf den Stuhl und schob ihm eine Metallschüssel mit dem Rest vom Abendbrot vor die Nase. Larks Magen knurrte, auch wenn er viel zu müde war, um den Löffel zu heben. »Sie ist ein sehr nettes Mädchen.«

Lark wusste, was seine Mutter sich wünschte. Hail kam aus einer Einserfamilie mit reiner Genlinie. Niemand von ihnen war schlechter als Eins eingestuft worden, und somit hatte sie gute Aussichten auf eine bessere Zukunft in anderen Zirkeln, Zirkeln, die nicht vom Smog verseucht wurden.

»Ma! Du weißt, dass wir nur Freunde sind«, erklärte er. Eine Bindung zu ihr könnte seiner Familie aus den finanziellen Nöten und ihnen zu mehr Ansehen verhelfen.

»Sie hängt sehr an dir.«

Sie waren beste Freunde, seitdem er Hail aus einem Abwasserkanal gezogen hatte, in den sie dank eines fehlenden Kanaldeckels gefallen war.

»Wir werden nie mehr als Freunde sein, Ma. Ihre Familie steckt viel Hoffnung in sie. Sie ist ehrgeizig und hat große Pläne. Sie könnte es nach White Pearl schaffen. Eine Bindung mit mir… darum könnte ich sie nicht bitten.«

Hail träumte von einem Leben als Wissenschaftlerin. Sie war keine Eins Plus, aber dafür sehr fleißig.

»Du hast auch große Pläne. Du könntest es zum Sentinal schaffen.«

»Könnte. Das wird ihrer Familie nicht reichen.«

Lark war zu müde, um darüber zu diskutieren. Er beeilte sich, die Suppe in den Mund zu schaufeln, ohne dem faden Geschmack Beachtung zu schenken. Es war egal, wie es schmeckte. Hauptsache, es füllte seinen knurrenden Magen und gab ihm Kraft für den nächsten Tag.

»Denk wenigstens darüber nach. Ich bin sicher, ihr würdet einander sehr glücklich machen.« Knot seufzte. »Du weißt, ich würde dich nie drängen, aber…«

Knot selbst war entgegen dem Wunsch ihrer Familie einen Bund aus Liebe eingegangen, einen Bund mit einer Zwei. In den Augen der Gesellschaft etwas Unverantwortliches, denn es sorgte dafür, dass sich Schwäche vererbte.

»Ist es so schlimm?«, fragte Lark. »Pa?«

»Zweien haben es im Moment nicht leicht. Vor allem nicht mit einem Kind wie …«

Seiner kranken Schwester, die ein sichtbarer Beweis für die schlechten Gene in seiner Familie war. Das war nicht fair, einfach nicht gerecht.

»Aber mach dir keine Sorgen. Solange wir zusammenhalten, wird alles gut.«

»Ich gehe schlafen«, brummte Lark. »Tut mir leid, Ma. Ich schreibe morgen einen Test.«

Deshalb musste er ein paar Stunden eher aufstehen, um noch zu lernen. Er brauchte Bestnoten, um den Sentinal aufzufallen, denn die Konkurrenz war groß. Viele Mädchen und Jungen träumten davon, rekrutiert zu werden, um es aus Grey heraus zu schaffen.

»Danke für das Essen.«

Lark schlurfte zur Waschkabine, wo er Kopf und Hände wusch. Ein dunkles Rinnsal verschwand im Abfluss, und es dauerte eine ganze Weile, bis sich das Wasser aufhellte und der gröbste Smog aus seinem Haar gewaschen war. Lark wäre am liebsten gleich ins Bett gegangen, aber das Reinigen war tägliche Pflicht, wenn man von draußen kam, allein der Gesundheit wegen.

Er rubbelte über seinen Unterarm, um das Tattoo von Staub zu befreien. Gr 4438 m – G1. So lange er denken konnte, zierte der Code seinen Unterarm. Er kannte ihn so gut wie seinen eigenen Namen.

Richtige Seife konnten sie sich im Moment nicht leisten, nur eine Art Pulver, das zwar den Smog von der Haut löste, aber dabei die obersten Hautschichten wegätzte. Als er einigermaßen sauber war, ließ er sich von einer Art Föhn trocken pusten. Dann putzte er sich die Zähne mit einer altmodischen Zahnbürste.

Vom TecDec wusste er, dass es in Aventin Miniroboter gab, die den Mund reinigten und die Zähne polierten, aber das hatte er in Grey noch nie gesehen. Anschließend schlurfte er in sein Zimmer. Es war so klein, dass nicht mehr als eine Matratze hineinpasste, die man tagsüber hochklappen konnte. Dann verschwand sie in der Wand, und er konnte eine Tischplatte aus der anderen Wandseite ziehen, um zu arbeiten. Im Zimmer stand außerdem eine kleine Kommode, in der er seine Kleidung verstauen konnte.

Lark entledigte sich seiner Kleidung und klappte das Bett aus. An eine kleine Fensterscheibe prasselte der Regen und spielte seine Melodie. Rain. Der Regen. Er mochte den Regen, der mit seinen Tropfen den Ruß aus der Luft einfing und ihn zu Boden rieseln ließ. Er mochte den Geruch und das Gefühl auf der Haut. Er mochte das Geräusch, wenn er gegen die Scheiben trommelte und den Schmutz von den Häusern wusch. Regen. Er war die Hoffnung.

4.

ALS RAIN AM NÄCHSTEN MORGEN erwachte, war ihre Mutter fort. Auf dem Tisch lag jedoch ein Kästchen, welches mit einem schwachen Blinken Rains Aufmerksamkeit verlangte. Es war ein veraltetes Diktiergerät zum Aufzeichnen von Sprachnachrichten. Die meisten hatten heute bereits eines, bei dem der Sprecher in die Luft projiziert wurde. Eigentlich überflüssig, wie Rain fand. Die Stimme allein aufzuzeichnen, erfüllte schließlich auch seinen Zweck. Rain presste mit dem Daumen den Knopf hinunter. Storms Stimme schallte blechern aus dem kleinen Lautsprecher und teilte Rain mit, dass sie erst spät nach Hause kommen würde.

»Bis in einem Moment, mein Herz.« Das sagte Storm immer zum Abschied. »Und denk dran. Unwetter haben keine Angst.«

Es bedeutete nichts anderes als »alles wird gut« oder »keine Angst, wir haben uns«.

Unwetter. Regen und Sturm. Das waren sie. Niemand mochte Unwetter, aber es war ein schöner Gedanke, denn als Unwetter brauchte man sich nicht zu fürchten. Man war frei, tobte über den Himmel und tat, was man wollte.

Storm verließ das Haus oft früh, um nach einem Tagesjob zu suchen oder ihre selbst genähten Tücher und Taschen zu verkaufen. Normale Arbeit konnte sie nicht annehmen, da Arbeiter an den Eingängen der Fabriken und öffentlicher Gebäude gescannt wurden. Auch wenn ihr Tattoo echt war, würde es den Maschinen verraten, dass sie eine gesuchte Rebellin war. Daher fürchtete sie die Drohnen ebenso sehr wie ihre Tochter. Glücklicherweise gab es in Grey einige arbeitslose Dreien, und so war es möglich, Schwarzarbeit anzunehmen, ohne aufzufallen.

Zügig zog Rain sich frische Kleidung an, welche aus einer groben Hose, einem zu weiten Hemd und einem abgenutzten Ledergürtel bestand. Der Stoff war natürlich grau, um nicht aufzufallen. Sie zog sich ein beschichtetes Cape über, das sie vor dem Smog schützte, und setzte sich die Maske auf. Wie jeden Morgen wollte sie laufen gehen.